Generalaudienzen 2005-2013 18047

Mittwoch, 18. April 2007: Klemens von Alessandrien

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Liebe Brüder und Schwestern!

Nach den Festtagen kehren wir zu den normalen Katechesen zurück, auch wenn man sehen kann, daß auf dem Platz noch immer Feststimmung herrscht. Mit den Katechesen nehmen wir, wie gesagt, den früher begonnenen Faden wieder auf. Wir haben zunächst von den Zwölf Aposteln gesprochen, dann von den Schülern der Apostel und jetzt von den großen Persönlichkeiten der entstehenden Kirche, der frühen Kirche. Das letzte Mal hatten wir vom hl. Irenäus von Lyon gesprochen; heute sprechen wir über Klemens von Alexandrien, einen großen Theologen, der um die Mitte des zweiten Jahrhunderts wahrscheinlich in Athen geboren wurde. Von Athen erbte er jenes ausgeprägte Interesse für die Philosophie, das ihn zu einem der Banneträger des Dialogs zwischen Glaube und Vernunft in der christlichen Tradition machen sollte. Noch als junger Mann kam er nach Alexandrien, der »Symbolstadt« für jenes fruchtbare Zusammentreffen zwischen verschiedenen Kulturen, welches das hellenistische Zeitalter kennzeichnete. Dort war er Schüler des Pantainos, dem er dann als Leiter der Katechetenschule nachfolgte. Zahlreiche Quellen bezeugen, daß er zum Priester geweiht worden war. Während der Verfolgung von 202/203 verließ er Alexandrien und floh nach Cäsarea in Kappadozien, wo er um das Jahr 215 starb.

Seine wichtigsten auf uns gekommenen Werke sind drei: der »Protreptikos«, der »Paidagogos« und die »Stromateis«. Auch wenn es nicht die ursprüngliche Absicht des Verfassers gewesen zu sein scheint, ist es eine Tatsache, daß diese Schriften eine echte Trilogie bilden, die dazu bestimmt ist, die geistliche Reifung des Christen wirksam zu begleiten. Der »Protreptikos« ist, wie das Wort selbst sagt, eine »Mahnrede«, die sich an denjenigen richtet, der den Weg des Glaubens beginnt und sucht. Noch besser: der »Protreptikos« fällt mit einer Person zusammen: dem Sohn Gottes, Jesus Christus, der zum »Mahner« der Menschen wird, damit sie entschlossen den Weg zur Wahrheit einschlagen. Derselbe Jesus Christus wird dann zum »Paidagogos«, das heißt zum »Erzieher« derjenigen, die kraft der Taufe nunmehr zu Kindern Gottes geworden sind. Derselbe Jesus Christus ist schließlich auch »Didaskalos«, also der »Lehrer«, der die tiefsten Lehren aufzeigt. Sie sind im dritten Werk des Klemens gesammelt, den »Stromateis«; das griechische Wort bedeutet »Teppiche«: Es handelt sich nämlich um eine nicht systematische Zusammenstellung verschiedener Themen, die eine direkte Frucht der gewöhnlichen Lehrtätigkeit des Klemens ist.

Insgesamt begleitet die Katechese des Klemens Schritt für Schritt den Weg des Katechumenen und des Getauften, damit sie mit den beiden »Flügeln« des Glaubens und der Vernunft zu einer tiefen Erkenntnis der Wahrheit gelangen, die Jesus Christus, das Wort Gottes ist. Nur diese Erkenntnis der Person, die die Wahrheit ist, ist die »wahre Gnosis« - der griechische Ausdruck bedeutet »Erkenntnis«, »Wissen«. Sie ist das von der Vernunft unter dem Impuls eines übernatürlichen Prinzips errichtete Gebäude. Der Glaube selbst baut die wahre Philosophie auf, das heißt die wahre Umkehr auf dem Weg, der im Leben eingeschlagen werden soll. Die echte »Gnosis« ist daher eine Entfaltung des Glaubens, die von Jesus Christus in der mit ihm vereinten Seele hervorgerufen wird. Klemens unterscheidet sodann zwei Stufen des christlichen Lebens. Erste Stufe: Die gläubigen Christen, die den Glauben auf gewöhnliche Weise leben, die aber dennoch immer für die Horizonte der Heiligkeit offen ist. Und dann die zweite Stufe: die »Gnostiker«, das heißt diejenigen, die schon ein Leben geistlicher Vollkommenheit führen; auf jeden Fall muß der Christ von der allgemeinen Grundlage des Glaubens ausgehen, sich auf einem Weg der Suche von Christus führen lassen und so zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen und der Wahrheiten, die den Inhalt des Glaubens bilden. Eine solche Erkenntnis wird, sagt uns Klemens, in der Seele zu einer lebendigen Wirklichkeit: Sie ist keine bloße Theorie, sie ist eine Lebenskraft, sie ist eine Vereinigung verwandelnder Liebe. Die Erkenntnis Christi ist nicht nur Denken, sondern sie ist Liebe, die die Augen öffnet, den Menschen verwandelt und Gemeinschaft mit dem »Logos« stiftet, mit dem göttlichen Wort, das Wahrheit und Leben ist. In dieser Gemeinschaft, die die vollkommene Erkenntnis und Liebe ist, erlangt der vollkommene Christ die Kontemplation, die Vereinigung mit Gott.

Klemens nimmt schließlich die Lehre wieder auf, nach der es das letzte Ziel des Menschen ist, Gott ähnlich zu werden. Wir sind nach dem Bild Gottes und ihm ähnlich geschaffen, aber dies ist auch eine Herausforderung, ein Weg; denn der Zweck des Lebens, die letzte Bestimmung ist, Gott wirklich ähnlich zu werden. Das ist möglich dank der Konnaturalität mit ihm, die der Mensch im Augenblick der Schöpfung empfangen hat, weshalb er schon an sich - schon an sich - Ebenbild Gottes ist. Diese Konnaturalität gestattet es, die göttlichen Wirklichkeiten zu erkennen, zu denen der Mensch vor allem durch den Glauben gelangt; und durch den gelebten Glauben, die Übung der Tugend, kann er bis zur Kontemplation Gottes wachsen. So mißt Klemens auf dem Weg der Vollkommenheit der moralischen Erfordernis ebenso viel Bedeutung bei wie der intellektuellen. Beide gehören zusammen, denn man kann nicht erkennen, ohne zu leben, und man kann nicht leben, ohne zu erkennen. Die Angleichung an Gott und die Kontemplation Gottes können nicht allein mit der rationalen Erkenntnis erreicht werden: Zu diesem Zweck ist ein dem »Logos« gemäßes Leben, ein der Wahrheit gemäßes Leben erforderlich. Und folglich müssen die guten Werke die intellektuelle Erkenntnis begleiten, so wie der Schatten dem Leib folgt.

Vor allem zwei Tugenden schmücken die Seele des »wahren Gnostikers«. Die erste ist die Freiheit von den Leidenschaften (»apátheia«); die andere ist die Liebe, die wahre Leidenschaft, die die innige Vereinigung mit Gott sicherstellt. Die Liebe schenkt den vollkommenen Frieden und versetzt den »wahren Gnostiker« in die Lage, die größten Opfer, auch das höchste Opfer in der Nachfolge Christi auf sich zu nehmen, und läßt ihn von Stufe zu Stufe bis zum Gipfel der Tugenden emporsteigen. So wird das ethische Ideal der antiken Philosophie, nämlich die Befreiung von den Leidenschaften, von Klemens neu definiert und im unaufhörlichen Prozeß der Angleichung an Gott mit der Liebe verbunden.

Auf diese Weise schafft der Alexandriner die zweite große Gelegenheit zum Dialog zwischen der christlichen Botschaft und der griechischen Philosophie. Wir wissen, daß der hl. Paulus auf dem Areopag in Athen, wo Klemens geboren wurde, den ersten Versuch zum Dialog mit der griechischen Philosophie unternommen hatte - und damit großenteils gescheitert war -; aber die Griechen hatten zu ihm gesagt: »Darüber wollen wir dich ein andermal hören« (
Ac 17,32). Nun nimmt Klemens diesen Dialog wieder auf und veredelt ihn auf höchster Stufe in der griechischen philosophischen Tradition. Wie mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio geschrieben hat, gelangt der Alexandriner dazu, die Philosophie als »eine Vorunterweisung für den christlichen Glauben« zu interpretieren (FR 38). Und Klemens ist in der Tat so weit gegangen, zu behaupten, Gott habe den Griechen die Philosophie »wie ein ihnen eigenes Testament« gegeben (Strom. 6,8,67,1). Für ihn fällt die griechische philosophische Tradition, fast so wie das Gesetz für die Hebräer, in den Bereich der »Offenbarung«: Es sind zwei Bäche, die schließlich zum »Logos« hinfließen. So fährt Klemens fort, entschlossen den Weg dessen zu zeichnen, der über seinen Glauben an Jesus Christus »Rechenschaft geben« will. Er kann den Christen, den Katecheten und den Theologen unserer Zeit als Vorbild dienen, denen Johannes Paul II. in der eben genannten Enzyklika empfahl, »die metaphysische Dimension der Wahrheit wiederzugewinnen und besser herauszustellen, um so in einen kritischen und anspruchsvollen Dialog einzutreten … mit dem philosophischen Denken unserer Zeit« (ebd., FR 105).

Wir schließen, indem wir uns einige Worte des berühmten »Gebets an Christus ›Logos‹« zu eigen machen, mit dem Klemens seinen »Paidagogos« abschließt. So fleht er: »Sei gnädig deinen Kindern«. »Gewähre uns, daß wir in deinem Frieden leben; daß wir in deine Stadt versetzt werden; daß wir, ohne überflutet zu werden, die Wogen der Sünde durchschiffen; daß wir vom Heiligen Geist und von der unaussprechlichen Weisheit ruhig weitergetragen werden: Wir, die wir bei Tag und Nacht, bis zum letzten Tag, ein Danklied singen dem einzigen Vater …, dem Sohn, der Erzieher und Lehrer ist, zusammen mit dem Heiligen Geist. Amen!« (Paid. 3,12,101).

Heute wollen wir die Reihe unserer Betrachtungen über bedeutende Persönlichkeiten der frühen Kirche mit Klemens von Alexandrien fortsetzen. Er stammte aus dem griechischen Kulturkreis und wuchs wahrscheinlich in Athen auf; später wirkte er in Alexandrien, einer hellenistischen Kolonie in Ägypten. Klemens starb um das Jahr 215 in Kappadozien in Kleinasien.

Von den literarischen Werken des Klemens von Alexandrien sind nur wenige erhalten geblieben: unter anderem ein Buch mit dem Titel Protreptikos, eine Art Mahnrede, in der das Christentum gegenüber heidnischen Ideen von Göttern als die wahre Philosophie dargestellt wird, die ein durch den göttlichen Logos geschenkter Weg zum Heil ist. In einem weiteren Werk, dem Paidagogos, führt Klemens aus, daß Christus, der wahre Erzieher, die Menschen von sündigen Gewohnheiten befreien und zu einem besseren Leben führen will. In einem Sammelband, den Stromateis, geht Klemens dem Gedanken nach, daß auch im griechischen Denken „Samenkörner“ der Wahrheit zu finden sind. Er unterstreicht, daß nur der Christ Zugang zur „wahren Lehre“ hat. Gott schenkt dem Menschen die Vernunft, aber er hilft ihm vor allem durch die Gabe des Glaubens, die Wahrheit zu erkennen und das ewige Leben zu erlangen. Klemens legt zudem großen Wert auf ein tugendhaftes Verhalten, das den Glauben stützt. Die apátheia, die Freiheit von den Leidenschaften, gehört dazu, sie muß aber ergänzt werden durch die Gottes- und Nächstenliebe, die den Menschen für die wahre Gemeinschaft mit Gott öffnet.

Liebe Freunde, mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Fides et ratio auf ein zentrales Anliegen des Klemens von Alexandrien hingewiesen: Die griechische Philosophie war ein Streben nach richtigem Denken und Erkennen, sie ist jedoch kein Ersatz für die christliche Wahrheit, die selbst göttlichen Ursprungs ist und keiner Ergänzung bedarf (vgl. FR 38).

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Liebe Brüder und Schwestern!

Zuerst ein herzliches »Grüß Gott« euch allen, die ihr aus den deutschsprachigen Ländern gekommen seid! Aber ein bißchen geistliche Arbeit müssen wir doch auch tun. Ich bin bei einer Reihe von Betrachtungen über Gestalten, die die Kirche im Lauf der Geschichte geprägt haben. Heute spreche ich über Klemens von Alexandrien, der aus dem griechischen Kulturkreis stammte, wahrscheinlich in Athen aufgewachsen ist, dann als junger Mann nach Alexandrien kam, diesen großen Begegnungsort der Kulturen und Brennpunkt griechischer Kultur in Ägypten. Er starb dann 215 in Kappadozien in Kleinasien, der heutigen Türkei.

Von seinen literarischen Werken sind im wesentlichen nur drei erhalten geblieben: ein Buch mit dem Titel »Protreptikos«, eine Mahnrede, in der das Christentum den Göttern der Heiden gegenüber als die wahre Philosophie dargestellt wird, durch die uns der Weg zum Heil geschenkt wird. In einem weiteren Werk, dem »Paidagogos «, führt Klemens aus, daß Christus der wahre Erzieher der Menschen ist, der sie von ihren falschen Gewohnheiten befreit und zum rechten Leben führt. Und schließlich - in einem Sammelband, dem sogenannten »Stromateis« - geht Klemens dem Gedanken nach, daß auch im griechischen Denken, in der griechischen Philosophie schon »Samenkörner« der Wahrheit zu finden sind. Er unterstreicht, daß das philosophische Denken der Griechen und die Offenbarung des Alten Testaments zusammengeflossen sind, die dann in Christus ihre Mitte finden, der uns endlich den vollen Zugang zu Gott öffnet. Gott schenkt dem Menschen die Vernunft, so sagt er uns, und er hilft ihm, durch die Gabe des Glaubens, die Wahrheit zu erkennen und das ewige Leben zu erlangen. Vernunft und Glaube sind die beiden Flügel, die uns zusammen zu Gott hinauf, zur Wahrheit und zum wirklichen Leben tragen. Klemens legt dabei aber Wert darauf, daß die Erkenntnis, die der Glaube uns schenkt, eben nicht nur Denken und Erkennen ist. Die Wahrheit erkennen, Christus erkennen kann man nur, indem man die Wahrheit liebt, indem man Christus liebt. Wahrheit und Liebe, die Wahrheit und das Gute gehen ineinander, und indem wir der Wahrheit gemäß leben, indem wir recht leben, Christus gemäß leben, erkennen wir auch. Und nur indem wir Erkennende werden, werden wir auch recht leben. Die Überwindung der Leidenschaften, der falschen Leidenschaften ist das eine; das andere ist, daß wir dann die wahre Leidenschaft, die Leidenschaft der Liebe, die Leidenschaft für Christus und für Gott gewinnen und so zu rechten Menschen werden.

Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Fides et ratio gerade das zentrale Anliegen von Klemens von Alexandrien herausgestellt, das heute wieder von hoher Aktualität ist: Glaube und Vernunft gehören zusammen. Glaube ohne Vernunft wäre kein wahrhaft menschlicher Glaube. Vernunft ohne Glaube wird führungslos und kann nur zur Selbstzerstörung des Menschen führen. Gerade in unserer Zeit der Begegnung der Kulturen ist dieses Miteinander von Glaube und Vernunft von entscheidender Bedeutung, das wir immer neu lernen und vertiefen und als unsere Sendung für das persönliche Leben eines jeden sowie als unseren Auftrag für die Welt in dieser Stunde auffassen wollen.

Endlich begrüße ich ganz herzlich die Audienzteilnehmer deutscher Sprache und danke allen, die in diesen Tagen aus Anlaß meines 80. Geburtstags nach Rom gekommen sind, besonders auch für die musikalischen Beiträge. Wir werden ja wohl auch noch die Alphornbläser hören dürfen. Unter den vielen, die ich gerne persönlich grüßen würde, kann ich leider nur einige Gruppen nennen: die Pilger, ganz besonders natürlich aus dem Erzbistum München und Freising mit Kardinal Wetter, mit den Weihbischöfen und dem Domkapitel, dazu die Marianische Männerkongregation Regensburg, die Alphornbläser aus Bayern und Baden-Württemberg sowie die Deggendorfer mit ihrer Bäckerinnung. Wir haben eine gewaltige Torte zum Geschenk bekommen! Ich grüße auch gerne die großen Pilgergruppen aus den Bistümern Mainz und Trier. Ich freue mich über die Glückwünsche und danke vor allem für euer Gebet, mit dem ihr mich und meinen Hirtendienst begleitet. Vergelt’s Gott dafür! Der auferstandene Herr Jesus Christus, den uns diese österliche Festzeit in der heiligen Liturgie besonders nahebringt, stärke euch in der Gemeinschaft im Glauben und in der Liebe und schenke euch seinen Frieden. Euch alle schütze und führe der gütige Gott in diesen Tagen mit seinem Segen und mit seiner Gnade!



Mittwoch, 25. April 2007: Origenes - Leben und Werk

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Liebe Brüder und Schwestern!

In unseren Betrachtungen über die großen Persönlichkeiten der frühen Kirche lernen wir heute eine der wichtigsten von ihnen kennen. Origenes von Alexandrien ist für die gesamte Entwicklung des christlichen Denkens wirklich eine der maßgebenden Persönlichkeiten. Er nimmt das Erbe des Klemens von Alexandrien auf, über den wir am vergangenen Mittwoch nachgedacht haben, und entwirft es in derart innovativer Weise auf die Zukunft hin, daß er damit der Entwicklung des christlichen Denkens eine unumkehrbare Wende einprägt. Er war ein echter »Lehrmeister«, und so erinnerten sich seine Schüler voll Nostalgie und Rührung an ihn: Er war nicht nur ein glänzender Theologe, sondern auch ein vorbildlicher Zeuge der Lehre, die er weitergab. »Er lehrte«, schreibt sein begeisterter Biograph Eusebius von Cäsarea, »daß die Lebensführung genau dem Wort entsprechen muß, und vor allem dadurch hat er mit Hilfe der Gnade Gottes viele dazu veranlaßt, ihn nachzuahmen« (Hist. eccl. 6,3,7).

Sein ganzes Leben war von einer unaufhörlichen Sehnsucht nach dem Martyrium durchzogen. Er war siebzehn Jahre alt, als im zehnten Regierungsjahr des Kaisers Septimius Severus in Alexandrien die Verfolgung der Christen ausbrach. Sein Lehrer Klemens verließ die Stadt, und Leonides, der Vater des Origenes, wurde in den Kerker geworfen. Der Sohn hatte das brennende Verlangen nach dem Martyrium, konnte aber diesen Wunsch nicht verwirklichen. Da schrieb er dem Vater und ermahnte ihn, nicht vor dem höchsten Glaubenszeugnis zurückzuweichen. Und als Leonides enthauptet wurde, spürte der junge Origenes, daß er dessen Lebensbeispiel für sich annehmen mußte. Vierzig Jahre später brach er während einer Predigt in Cäsarea in das Bekenntnis aus: »Es nützt mir nichts, einen Märtyrer zum Vater gehabt zu haben, wenn ich nicht ein gutes Leben führe und dem Adel meines Geschlechts Ehre erweise, das heißt dem Martyrium meines Vaters und dem Zeugnis, das ihn berühmt gemacht hat in Christus« (Hom. Ez
Ez 4,8). In einer späteren Homilie - als aufgrund der großen Toleranz des Kaisers Philippus Arabs (Philipp des Arabers) die etwaige Aussicht auf ein Blutzeugnis geschwunden zu sein schien - ruft Origenes aus: »Wenn Gott es mir gewährte, in meinem Blut gewaschen zu werden, um so die zweite Taufe zu empfangen, indem ich den Tod für Christus annehme, so würde ich mich sicher von dieser Welt entfernen… Selig aber sind diejenigen, die solche Dinge verdienen« (Hom. Iud.7,12). Diese Worte offenbaren die ganze Sehnsucht des Origenes nach der Bluttaufe. Und schließlich wurde diese unwiderstehliche Sehnsucht wenigstens teilweise erfüllt. Im Jahr 250 wurde Origenes während der Verfolgung unter Decius verhaftet und grausam gefoltert. Durch die erlittenen Qualen geschwächt, starb er wenige Jahre später. Er war noch keine siebzig Jahre alt.

Wir haben auf jene »unumkehrbare Wende« hingewiesen, die Origenes der Geschichte der Theologie und des christlichen Denkens eingeprägt hat. Worin besteht aber diese »Wende«, diese so folgenreiche Neuheit? Sie entspricht im Grunde genommen der Gründung der Theologie durch die Erklärung der Heiligen Schrift. Theologie betreiben bedeutete für ihn im wesentlichen, die Schrift zu erklären, sie zu verstehen; oder wir könnten auch sagen, daß seine Theologie die vollkommene Symbiose zwischen Theologie und Exegese ist. In der Tat scheint das eigentliche Kennzeichen der Lehre des Origenes eben in der beharrlichen Aufforderung zu bestehen, vom Buchstaben zum Geist der Schrift überzugehen, um in der Erkenntnis Gottes voranzuschreiten. Und dieser sogenannte »Allegorismus« - hat von Balthasar geschrieben - »fällt genau mit der Entwicklung des christlichen Dogmas zusammen, die von der Lehre der Kirchenväter bewirkt wurde«, die - auf die eine oder andere Weise - die »Lektion« des Origenes angenommen haben. So gelangen die Überlieferung und das Lehramt, Fundament und Garant der theologischen Forschung, dahin, als »Heilige Schrift in actu« Gestalt anzunehmen (vgl. Hans Urs von Balthasar, Origene: Il mondo, Cristo e la Chiesa, italien. Ausgabe, Mailand 1972, mit einem einführenden Aufsatz von Hans Urs von Balthasar; S. 43). Wir können daher sagen, daß der zentrale Kern des immensen literarischen Werkes des Origenes in seiner »dreifachen Lesart« der Bibel besteht. Bevor wir aber diese »Lesart« darlegen, lohnt es sich, einen Gesamtblick auf das literarische Schaffen des Alexandriners zu werfen. Der hl. Hieronymus zählt in seiner Epistula 33 die Titel von 320 Büchern und 310 Homilien des Origenes auf. Leider ging der Großteil dieser Werke verloren, aber auch das Wenige, das davon übrig ist, macht aus ihm den fruchtbarsten Schriftsteller der ersten drei christlichen Jahrhunderte. Die Spannweite seiner Interessen reicht von der Exegese bis zum Dogma und weiter zur Philosophie, zur Apologetik, zur Aszetik und zur Mystik. Es ist eine grundlegende und allumfassende Sicht des christlichen Lebens.

Der inspirierende Kern dieses Werkes ist, wie wir angedeutet haben, die »dreifache Lesart« der Heiligen Schrift, die von Origenes im Lauf seines Lebens entwickelt wurde. Mit diesem Ausdruck wollen wir auf die drei wichtigsten Vorgehensweisen Bezug nehmen - sie folgen nicht aufeinander, ja häufiger überlagern sie sich -, mit denen sich Origenes dem Studium der Heiligen Schrift gewidmet hat. Zunächst las er die Bibel mit der Absicht, deren Text bestmöglich sicherzustellen und die zuverlässigste Ausgabe zu bieten. Das ist zum Beispiel der erste Schritt: wirklich zu kennen, was geschrieben steht, und zu kennen, was diese Schriftstelle am Anfang und mit welcher Absicht sagen wollte. Zu diesem Zweck führte er eine große Forschungsarbeit durch und redigierte eine Ausgabe der Bibel mit sechs parallelen Spalten, von links nach rechts, mit dem hebräischen Text in hebräischer Schrift - er hatte auch Kontakte mit den Rabbinern, um den hebräischen Urtext der Bibel richtig zu verstehen -, dann der in griechische Schrift umgeschriebene hebräische Text und dann vier verschiedene Übersetzungen in griechischer Sprache, die ihm erlaubten, die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten zu vergleichen. Daher der Titel Hexapla (»sechs Spalten«), der dieser enormen Synopse beigefügt wurde. Das ist der erste Punkt: genau das, was geschrieben steht, den Text als solchen, zu kennen. An zweiter Stelle las Origenes die Bibel systematisch mit seinen berühmten Kommentaren.Sie geben getreu die Erklärungen wieder, die der Meister beim Unterricht in Alexandrien wie in Cäsarea bot. Origenes geht nahezu Vers für Vers in genauer, breiter und vertiefter Form voran, mit Anmerkungen philologischen und lehrmäßigen Charakters. Er arbeitet mit großer Genauigkeit, um richtig zu erkennen, was die heiligen Verfasser sagen wollten.

Schließlich widmete sich Origenes auch schon vor seiner Priesterweihe ausgiebig der Verkündigung der Bibel, wobei er sich dem sehr verschieden zusammengesetzten Publikum anpaßte. Auf jeden Fall erkennt man auch in seinen Homilien den Lehrmeister,der sich ganz der systematischen Auslegung der untersuchten Perikope widmet, die nach und nach in die aufeinanderfolgenden Verse aufgeteilt wird. Auch in den Homilien ergreift Origenes jede Gelegenheit, um an die verschiedenen Dimensionen des Sinnes der Heiligen Schrift zu erinnern, die zu einem Weg im Wachsen des Glaubens verhelfen oder ihn zum Ausdruck bringen: Es gibt den »wörtlichen« Sinn, aber dieser verbirgt Tiefen, die in einem ersten Moment nicht zum Vorschein kommen; die zweite Dimension ist der »moralische« Sinn: was wir tun sollen, wenn wir das Wort leben; und schließlich der »geistliche« Sinn, das heißt die Einheit der Schrift, die in ihrer ganzen Entfaltung von Christus redet. Es ist der Heilige Geist, der uns den christologischen Gehalt und so die Einheit der Schrift in ihrer Verschiedenheit verstehen läßt. Es wäre interessant, das zu zeigen. Ein wenig habe ich in meinem Buch Jesus von Nazareth versucht, diese vielfältigen Dimensionen des Wortes, der Heiligen Schrift, die zuerst gerade im historischen Sinn respektiert werden muß, in der heutigen Situation aufzuzeigen. Aber dieser Sinn transzendiert uns auf Christus hin im Licht des Heiligen Geistes und zeigt uns den Weg, wie wir leben sollen. Ein Hinweis darauf findet sich zum Beispiel in der neunten Homilie über das Buch Numeri, in der Origenes die Schrift mit Nüssen vergleicht: »So ist die Lehre des Gesetzes und der Propheten in der Schule Christi«, sagt der Prediger; »bitter ist der Buchstabe wie es die grüne Nußschale ist; danach wirst du zur harten Schale gelangen, die die Morallehre ist; an dritter Stelle wirst du den Sinn der Geheimnisse finden, von dem sich die Seelen der Heiligen im jetzigen und im zukünftigen Leben nähren« (Hom. Num 9,7).

Vor allem auf diesem Weg gelangt Origenes dazu, die »christliche Lesart« des Alten Testaments wirksam zu fördern, indem er in brillanter Weise die Herausforderung jener Häretiker - vor allem der Gnostiker und der Markioniten - zurückweist, die die beiden Testamente einander entgegenstellten, bis sie schließlich das Alte Testament verwarfen. Darüber sagt der Alexandriner in derselben Homilie über das Buch Numeri: »Ich nenne das Gesetz nicht ein ›Altes Testament‹, wenn ich es im Geist verstehe. Das Gesetz wird nur für diejenigen ein ›Altes Testament‹, die es fleischlich verstehen wollen«, das heißt indem sie beim Buchstaben des Textes stehenbleiben. Aber »für uns, die wir es im Geist und im Sinn des Evangeliums verstehen und anwenden, ist das Gesetz immer neu, und die beiden Testamente sind für uns ein neues Testament, nicht aufgrund des zeitlichen Datums, sondern aufgrund der Neuheit des Sinnes… Für den Sünder hingegen und für jene, die den Bund der Liebe nicht achten, werden auch die Evangelien alt« (Hom. Num 9,4).

Ich lade euch dazu ein - und damit schließe ich -, die Lehre dieses großen Meisters im Glauben in euer Herz aufzunehmen. Er erinnert uns mit innerer Begeisterung daran, daß sich die Kirche in der betenden Lesung der Schrift und in einer konsequenten Lebensführung immer erneuert und verjüngt. Das Wort Gottes, das nie alt wird und sich nie erschöpft, ist das zu diesem Zweck bevorzugte Mittel. Es ist nämlich das Wort Gottes, das uns durch den Heiligen Geist immer wieder zur ganzen Wahrheit führt (vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongreß zum 40. Jahrestag der dogmatischen Konstitution »Dei verbum« , am 16/9/2005, O.R. dt., Nr. 39,30 39,9 39 S. 9). Und wir bitten den Herrn, daß er uns heute Denker, Theologen, Exegeten schenken möge, die diese Vieldimensionalität, diese ständige Aktualität der Heiligen Schrift, ihre Neuheit für heute finden. Beten wir darum, daß uns der Herr helfe, die Heilige Schrift betend zu lesen, uns wirklich von dem wahren Brot des Lebens, von seinem Wort zu nähren.

Liebe Brüder und Schwestern! In der heutigen Katechese wenden wir uns dem Leben und dem Werk des Origenes zu - wir verfolgen der Reihe nach große Persönlichkeiten der frühen Kirche. Origines war einer der fruchtbarsten Kirchenschriftsteller der ersten christlichen Jahrhunderte. Er wirkte als großer Lehrer in seiner Heimatstadt Alexandrien in Ägypten und dann in Cäsarea in Palästina. Während der Christenverfolgung unter Kaiser Decius im Jahre 250 wurde er schwerstens gefoltert und starb dann wenige Jahre darauf an den Folgen dieser Folterung. Von seinem umfangreichen Werk ist nur ein Bruchteil überliefert - er hat über 300 Bücher geschrieben und eine große Zahl von Predigten gehalten, aber geblieben ist nur ein kleiner Teil. Aber auch dieser Teil, der uns gebleiben ist, stellt eine unumkehrbare Wende in der Entwicklung des christlichen Denkens dar. Kurz zusammengefaßt könnten wir sagen: Das Wesentliche, das ihm gelungen ist und das vorbildlich bleibt, ist eine großartige Symbiose von biblischer Auslegung und christlichem Denken von der Bibel her und auf die Zeit hin und in ihr - die Symbiose von Lesen der Bibel und Verstehen unserer Existenz. Er hat sich dabei als wirklich großer Gelehrter um einen zuverlässigen Text der biblischen Bücher bemüht. Er hatte sechs Spalten nebeneinander: das Hebräische - er las auch hebräisch und war mit Rabbinen in Kontakt, um das Alte Testament recht zu verstehen - dann vier griechische Übersetzungen und eine griechische Umschrift des Alten Testaments. So versuchte er, den Text selbst in seiner Genauigkeit zu kennen, um dann in einem tiefen philologischen Auslegen des Textes in dessen Tiefe hineinzufinden, darin wirklich Christus, den Heiligen Geist sprechen zu hören und auf den eigentlich geistlichen Sinn der Schrift vorzustoßen, der mit Christus und so mit der Botschaft von seiner Liebe und dem Auftrag, sie zu leben, identisch ist.

Er hat also zwischen Dimensionen des Schriftsinns unterschieden, der wörtliche unmittelbar historische Sinn, dann der moralische Sinn, d. h.: Was wird aus dem Wort, wenn wir es leben? Und endlich der christologische Sinn: Wie zeigt dieses alles auf Christus hin, wie zeigt sich uns darin Gott selber? Diese Differenzierung hilft dem Leser, das Wort Gottes zu verstehen und darin gleichsam eine Lebenswanderung auf Gott hin zu machen. Auf diese Weise ist ihm auch gelungen, die Einheit von Altem und Neuem Testament aufzuzeigen. Er hat gesagt: Für mich gibt es kein Altes Testament, es ist nicht alt; wenn wir es recht vestehen, spricht es neu vom ewig Neuen, von Christus selbst. Und umgekehrt, wenn wir die Evangelien nur historisch lesen, dann sind auch sie alt. Wir müssen immer neu vom Alten zum Neuen, von dem bloß Vergangenen des historischen Wortes zum Immergegenwärtigen der Botschaft Christi an uns den Weg finden.

Von Herzen heiße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher willkommen. Besonders grüße ich die Wallfahrer aus dem Bistum Regensburg mit Bischof Müller und Weihbischof Pappenberger - herzlichen Glückwunsch dem neugeweihten Weihbischof. Dann grüße ich die Schwestern vom Göttlichen Erlöser, sehr herzlich auch die Hochschule und das Priesterseminar Brixen mit Bischof Egger sowie den Cartellverband der Katholischen Deutschen Studentenverbindungen. Auf den Spuren des Origenes wollen auch wir durch das betende Lesen und Betrachten der Heiligen Schrift stets Nahrung für unseren Glauben und Kraft für unser ganzes Leben schöpfen. Gottes Geist geleite euch heute und allezeit.
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Ich richte einen herzlichen Willkommensgruß an die Pilger italienischer Sprache. In besonderer Weise grüße ich die Gläubigen aus den Diözesen des »Triveneto«, die ihre Bischöfe beim »Ad-limina«-Besuch begleiten. Ihr seid hierhergekommen am Fest des hl. Markus, des Schutzpatrons der Bevölkerung des Triveneto. Liebe Brüder und Schwestern, bleibt euren fruchtbaren christlichen Traditionen treu, durch die bedeutende Werke der Nächstenliebe inspiriert und ins Leben gerufen wurden. Steht den jungen Generationen zur Seite, indem ihr sie ermutigt, dem Evangelium zu folgen. Laßt sie spüren, daß es sich auch heutzutage lohnt, sich dem Herrn im Priestertum und im Ordensleben ganz zu weihen. Mit Freude denke ich dabei an die Schar der Missionare, die von euren Gebieten aus die frohe Botschaft vom Heil in weitentfernte Länder getragen haben: Ihr Vorbild sei für alle ein Ansporn, überall Zeugnis für die Liebe Gottes zu geben.

APPELL

Auf Initiative der Vereinten Nationen ist diese Woche der Sicherheit im Straßenverkehr gewidmet. Ich richte ein Wort der Ermutigung an die öffentlichen Institutionen, die sich darum bemühen, die Sicherheit auf den Straßen zu gewährleisten und das menschliche Leben mit geeigneten Mitteln zu schützen; ebenso wende ich mich an alle, die sich der Entwicklung neuer Technologien und Strategien widmen, um die allzu vielen Unfälle auf den Straßen in aller Welt zu reduzieren. Während ich dazu einlade für die Verkehrsopfer, die Verletzten und ihre Familien zu beten, bringe ich den Wunsch zum Ausdruck, daß ein verstärktes Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem Nächsten die Autofahrer, vor allem die jungen unter ihnen, zur Vorsicht und zu mehr Respekt vor den Verkehrsregeln veranlassen möge.



Mittwoch, 2. Mai 2007: Origenes:: seine Lehre über das Gebet und das allgemeine Priestertum

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Liebe Brüder und Schwestern!

Die Katechese vom vergangenen Mittwoch war der großen Gestalt des Origenes, des alexandrinischen Lehrers des 2./3. Jahrhunderts, gewidmet. In jener Katechese haben wir das Leben und das literarische Schaffen des großen Meisters aus Alexandrien betrachtet und dabei in der von ihm durchgeführten »dreifachen Lesart« der Bibel den belebenden Kern seines Gesamtwerkes ausgemacht. Beiseite gelassen habe ich - um sie heute aufzugreifen - zwei Aspekte der Lehre des Origenes, die ich für die wichtigsten und aktuellsten halte: Ich will von seinen Lehren über das Gebet und die Kirche sprechen.

Tatsächlich verflechtet Origenes - Verfasser eines wichtigen und immer aktuellen Traktats Über das Gebet - sein exegetisches und theologisches Schaffen ständig mit Erfahrungen und Ratschlägen, die das Gebet betreffen. Trotz des ganzen theologischen Reichtums seines Denkens ist es nie eine rein akademische Abhandlung; es ist immer auf die Erfahrung des Gebets, des Kontakts mit Gott gegründet. Seiner Ansicht nach ist nämlich für das Verständnis der Heiligen Schrift mehr noch als das Studium die Vertrautheit mit Christus und das Gebet erforderlich. Er ist überzeugt, daß der bevorzugte Weg zur Erkenntnis Gottes die Liebe ist und daß es keine echte »scientia Christi« gibt, ohne sich in ihn zu verlieben. In dem Brief an Gregorios mahnt Origenes: »Widme dich der ›lectio‹ der göttlichen Schriften; bemühe dich mit Beharrlichkeit darum. Strenge dich bei der ›lectio‹ mit der Absicht an, zu glauben und Gott zu gefallen. Wenn du während der ›lectio‹ vor einer verschlossenen Tür stehst, klopfe an, und es wird sie dir jener Wächter öffnen, von dem Jesus gesagt hat: ›Der Türhüter wird sie ihm öffnen‹. Widme dich auf diese Weise der ›lectio divina‹, suche redlich und mit unerschütterlichem Gottvertrauen den Sinn der göttlichen Schriften, der sich in ihnen in reicher Fülle verbirgt. Du darfst dich jedoch nicht damit zufrieden geben, anzuklopfen und zu suchen: Um die Dinge Gottes zu verstehen, bedarfst du unbedingt der ›oratio‹. Gerade um uns zum Gebet zu ermahnen, hat der Heiland zu uns nicht nur gesagt: ›Sucht, und ihr werdet finden‹ und ›Klopft an, und euch wird geöffnet werden‹, sondern er hat hinzugefügt: ›Bittet, und ihr werdet empfangen‹« (Ep. Gr.4). Da springt gleich die »uranfängliche Rolle« in die Augen, die Origenes in der Geschichte der »lectio divina« gespielt hat. Bischof Ambrosius von Mailand - der es aus den Werken des Origenes lernen wird, die Heilige Schrift zu lesen - führt sie dann im Abendland ein, um sie an Augustinus und die nachfolgende monastische Tradition weiterzugeben.

Wie schon gesagt wurde, entspringt nach Origenes die höchste Stufe der Erkenntnis Gottes der Liebe. Und so ist es auch unter den Menschen: Einer erkennt den anderen wirklich in der Tiefe nur, wenn da Liebe ist, wenn sich die Herzen öffnen. Um das deutlich zu machen, greift Origenes auf eine Bedeutung zurück, die das Verbum erkennen manchmal im Hebräischen erhält, wenn es nämlich verwendet wird, um den Akt der menschlichen Liebe zum Ausdruck zu bringen: »Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger« (
Gn 4,1). So wird suggeriert, daß die Vereinigung in der Liebe die wahrste Erkenntnis verschafft. So wie Mann und Frau »zwei in einem Fleisch sind«, so werden Gott und der Gläubige »zwei in einem Geist«. Auf diese Weise führt das Gebet des Alexandriners zu den höchsten Stufen der Mystik, wie seine Homilien über das Hohelied bezeugen. In einem dazu passenden Abschnitt aus der ersten Homilie bekennt Origenes: »Oft - Gott ist mein Zeuge dafür - habe ich gespürt, daß sich mir der Bräutigam im höchsten Grade annäherte; danach ging er plötzlich weg, und ich konnte das, was ich suchte, nicht finden. Neuerlich erfaßt mich die Sehnsucht nach seinem Kommen, und manchmal kehrt er zurück, und wenn er mir erschienen ist, wenn ich ihn in Händen halte, da entflieht er mir wieder, und sobald er verschwunden ist, mache ich mich von neuem auf die Suche nach ihm…« (Hom. Cant. 1,7).

Da kommt mir in den Sinn, was mein verehrter Vorgänger als ein echter Zeuge im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte geschrieben hat, wo er den Gläubigen zeigte, »wie das Gebet Fortschritte machen kann. Als wahrer und eigentlicher Dialog der Liebe kann er die menschliche Person ganz zum Besitz des göttlichen Geliebten machen, auf den Anstoß des Heiligen Geistes hin bewegt und als Kind Gottes dem Herzen des Vaters überlassen… Es handelt sich - so Johannes Paul II. weiter - um einen Weg, der ganz von der Gnade gehalten ist und dennoch einen starken geistlichen Einsatz verlangt. Er kennt auch schmerzvolle Reinigungen, führt aber in verschiedenen möglichen Weisen zur unsagbaren Freude, die von den Mystikern als ›bräutliche Vereinigung‹ erlebt wurde« (NM 33).

Schließlich kommen wir zu einer Lehre des Origenes über die Kirche, genauer - innerhalb dieser Lehre - über das allgemeine Priestertum der Gläubigen. Denn, wie der Alexandriner in seiner neunten Homilie über das Buch Leviticus sagt, »diese Sache betrifft uns alle« (Hom. Lev 9,1). In derselben Homilie nimmt Origenes auf das an Aaron nach dem Tod seiner beiden Söhne ergangene Verbot Bezug, »Sancta sanctorum« »zu jeder beliebigen Zeit« zu betreten (Lv 16,2), und ermahnt so die Gläubigen: »Daraus ergibt sich: Wenn einer zu jeder beliebigen Zeit das Heiligtum ohne die gebotene Vorbereitung betritt, ohne die priesterlichen Gewänder zu tragen, ohne die vorgeschriebenen Opfergaben vorbereitet und sich Gott gewogen gemacht zu haben, wird er sterben… Diese Sache betrifft uns alle. Es wird nämlich angeordnet, daß wir wissen, wie wir zum Altare Gottes treten sollen. Oder weißt du nicht, daß auch dir, das heißt der ganzen Kirche Gottes und dem Volk der Gläubigen, das Priestertum übertragen worden ist? Höre, wie Petrus von den Gläubigen spricht: ›Erwähltes Geschlecht - sagt er -, königliches, priesterliches Geschlecht, heiliger Stamm, Volk, das Gottes besonderes Eigentum wurde‹. Du hast also das Priestertum, weil du ›priesterliches Geschlecht‹ bist, und deshalb mußt du Gott das Opfer darbringen… Damit du es aber würdig darbringen kannst, brauchst du ein reines Gewand, das sich von den gewöhnlichen Gewändern der anderen Menschen unterscheidet, und du brauchst das göttliche Feuer« (ebd.).

So nehmen einerseits »die geschürzten Flanken« und die »priesterlichen Gewänder«, das heißt die Reinheit und Rechtschaffenheit des Lebens, und andererseits die »stets brennende Lampe«, das heißt der Glaube und das Wissen um die Schriften, Gestalt an als die unverzichtbaren Bedingungen für die Ausübung des universalen Priestertums, das Reinheit und Rechtschaffenheit des Lebens, Glaube und Wissen um die Schriften verlangt. Um so unerläßlicher sind diese Bedingungen natürlich für die Ausübung des Amtspriestertums. Diese Bedingungen - makelloser Lebenswandel, vor allem aber die Annahme und das Studium des Wortes - legen eine regelrechte »Hierarchie der Heiligkeit« im allgemeinen Priestertum der Christen fest. An die Spitze dieses Weges der Vollkommenheit stellt Origenes das Martyrium. In derselben neunten Homilie über das Buch Levitikus spielt er auf das »Feuer für das Brandopfer« an, das heißt auf den Glauben und das Wissen um die Schriften, ein Feuer, das auf dem Altar dessen, der das Priestertum ausübt, niemals erlöschen darf. Dann fügt er hinzu: »Aber jeder von uns hat in sich« nicht nur das Feuer; er hat »auch das Brandopfer, und von seinem Brandopfer her entzündet er den Altar, damit er immer brenne. Wenn ich auf all meinen Besitz verzichte und mein Kreuz nehme und Christus folge, bringe ich mein Brandopfer auf dem Altar Gottes dar; und wenn ich meinen Leib in Liebe hingebe, damit er brenne, und zur Herrlichkeit des Martyriums gelangen werde, bringe ich mein Brandopfer auf dem Altar Gottes dar« (Hom. Lev Lv 9,9).

Dieser unerschöpfliche Weg der Vollkommenheit »betrifft uns alle«, vorausgesetzt, daß »der Blick unseres Herzens« auf die Betrachtung der Weisheit und der Wahrheit gerichtet ist, die Jesus Christus ist. In seiner Predigt über die Rede Jesu in Nazaret - als »die Augen aller in der Synagoge auf ihn gerichtet waren« (Lc 4,16-30) - scheint sich Origenes an uns zu wenden: »Auch heute, wenn ihr es wollt, in dieser Versammlung, können sich eure Augen fest auf den Heiland richten. Wenn du nämlich den tiefsten Blick des Herzens auf die Betrachtung der Weisheit, der Wahrheit und des eingeborenen Sohnes Gottes richtest, dann werden deine Augen Gott schauen. Glücklich ist die Versammlung, von der die Schrift bezeugt, daß die Augen aller fest auf ihn gerichtet waren! Wie sehr würde ich wünschen, daß diese Versammlung ein ähnliches Zeugnis erhielte, daß die Augen aller, der Ungetauften und der Gläubigen, der Frauen, der Männer und der Kinder, nicht die Augen des Leibes, sondern die der Seele, auf Jesus schauten! … Eingeprägt ist uns das Licht deines Antlitzes, o Herr, dem die Herrlichkeit und die Macht gehören von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!« (Hom. Lc Lc 32,6).

In der Katechese der vergangenen Woche haben wir über den großen Kirchenschriftsteller Origenes und sein Werk nachgedacht. Heute möchte ich zwei wichtige Themen seiner Schriften weiter vertiefen: Seine Lehre über das Gebet und seine Darstellung des allgemeinen Priestertums. Origenes kommt in seinen Predigten, aber auch in seinen exegetischen und theologischen Werken immer wieder auf das Gebet zu sprechen, denn er ist überzeugt, daß der Mensch durch die Gnade Gottes und das beständige betende Betrachten der Person Christi und der Heiligen Schrift in eine fruchtbare geistliche Liebesgemeinschaft mit seinem Schöpfer und Erlöser eintritt. Dieser Liebe, die wir immer neu erbitten und entfachen müssen, entspringt die höchste Erkenntnis Gottes und das beste Verständnis seiner Offenbarung. „Das betrifft uns alle!“, betont Origenes; denn alle Getauften sind berufen, durch ein reines Leben und durch entschiedenes Festhalten an seinem Wort am Priestertum Christi Anteil zu haben.
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Ohne die anderen hier anwesenden Pilger portugiesischer Sprache zu vergessen, richte ich einen besonderen Gruß an die Mitglieder der Pfarrgemeinde von »São José de Cerquilho«, im Bundesstaat São Paulo, und der Franziskanischen Familie Brasiliens, gleichsam am Vorabend meiner so sehr erwarteten Pastoralreise zu dieser großen Nation, die ich, so Gott will, am kommenden Mittwoch antreten werde. Außer den Begegnungen mit der lateinamerikanischen Jugend und mit den Bischöfen jenes Kontinents hoffe ich, der Heiligsprechung von Bruder Antônio de Sant’Anna Galvão vorstehen zu können und in Aparecida die V. Generalversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik zu eröffnen. Für ein gutes Gelingen dieses Ereignisses, das von großer Bedeutung für ganz Lateinamerika ist, vertrauen wir uns dem Schutz Unserer Lieben Frau an. Möge dieses bedeutsame kirchliche Treffen den Jüngern Christi als Ansporn dienen, damit sie die Ergebnisse dieser bedeutenden Versammlung mit mutigem Glauben und erneuerter Hoffnung aufnehmen. Auf alle komme mein Segen herab!
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Mit diesen Gedanken begrüße ich die Pilger und Besucher aus dem deutschen Sprachraum. Ganz besonders willkommen heiße ich heute die Arbeitsgemeinschaft Katholischer Soldaten in Österreich, die uns schon ein Halleluja gesungen haben - danke! - und die begleitet sind von Militärbischof Christian Werner. Und nicht weniger herzlich begrüße ich eine Delegation der königlichen Militärakademie der Niederlande; ferner grüße ich die Teilnehmer der Behindertenwallfahrt der Erzdiözese München und Freising - herzlich willkommen die Pilger vom Bund Katholischer Unternehmer und eine Gruppe von Abgeordneten aus dem Bereich des Erzbistums Hamburg. Folgen wir der Einladung des Origenes und bitten wir um die Gnade, Jesus Christus immer tiefer erkennen und immer mehr lieben zu können, damit unser Leben immer wahrer, gerechter, reiner und so Gott wohlgefälliger wird und zugleich immer mehr ein Dienst an den Mitmenschen, an der Gerechtigkeit und an der Wahrheit in der Gesellschaft. Der Herr segne und behüte euch alle und eure Familien!




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