Generalaudienzen 2005-2013




Mittwoch, 27. April 2005

27045
Liebe Brüder und Schwestern!


Mit Freude empfange ich euch, und ich richte meinen herzlichen Gruß an euch, die ihr hier anwesend seid, aber auch an all jene, die mit uns über Rundfunk und Fernsehen verbunden sind. Wie ich schon bei der ersten Begegnung mit den Herren Kardinälen am Mittwoch vor genau einer Woche in der Sixtinischen Kapelle sagte, empfinde ich in diesen Tagen des Antritts meines Petrusamtes unterschiedliche Gefühle in meinem Herzen: Staunen und Dankbarkeit Gott gegenüber, der vor allem mich selbst überrascht hat, als er mich zum Nachfolger des Apostels Petrus berief; und auch ein inneres Bangen angesichts der hohen Aufgabe und der schweren Verantwortung, die mir anvertraut worden sind. Aber die Gewißheit des Beistands Gottes und seiner allerseligsten Mutter, der Jungfrau Maria, sowie der heiligen Schutzpatrone erfüllt mich mit Gelassenheit und Freude. Eine Stütze ist mir auch die geistliche Nähe des ganzen Volkes Gottes, das ich weiterhin bitte - wie ich schon am vergangenen Sonntag wiederholt habe -, mich unermüdlich im Gebet zu begleiten.

Nach dem friedlichen Heimgang meines verehrten Vorgängers Johannes Paul II. werden heute die traditionellen Generalaudienzen am Mittwoch wieder aufgenommen. Bei dieser ersten Begegnung möchte ich zunächst über den Namen sprechen, den ich gewählt habe, als ich Bischof von Rom und universaler Hirt der Kirche wurde. Ich wollte mich Benedikt XVI. nennen, weil ich geistig an den ehrwürdigen Papst Benedikt XV. anknüpfen wollte, der die Kirche in der stürmischen Zeit des Ersten Weltkriegs geleitet hat. Er war ein mutiger und wahrer Prophet des Friedens und bemühte sich mit großer Tapferkeit zuerst darum, das Drama des Krieges zu vermeiden, und später dessen unheilvolle Auswirkungen einzudämmen. Ich möchte mein Amt auf seinen Spuren im Dienst der Versöhnung und Harmonie unter den Menschen und Völkern fortführen in der Überzeugung, daß das große Gut des Friedens vor allem ein Geschenk Gottes, ein zerbrechliches und wertvolles Geschenk ist, das Tag für Tag durch den Beitrag aller zu erbitten, zu schützen und aufzubauen ist.

Der Name Benedikt erinnert auch an die herausragende Gestalt des großen »Patriarchen des abendländischen Mönchtums«, an den hl. Benedikt von Nursia, der zusammen mit den hll. Cyrill und Methodius Patron von Europa ist. Die zunehmende Ausbreitung des von ihm gegründeten Benediktinerordens hatte großen Einfluß auf die Verbreitung des Christentums in ganz Europa. Deshalb wird der hl. Benedikt in Deutschland und besonders in Bayern, meinem Geburtsland, sehr verehrt; er ist ein grundlegender Bezugspunkt für die Einheit Europas und ein nachdrücklicher Hinweis auf die unverzichtbaren christlichen Wurzeln der europäischen Kultur und Zivilisation.

Von diesem Vater des abendländischen Mönchstums kennen wir die Empfehlung, die er den Mönchen in seiner Regel hinterlassen hat: »Der Liebe zu Christus nichts vorziehen« (Regel
RB 72,11; vgl. RB 4,21). Zu Beginn meines Dienstes als Nachfolger Petri bitte ich den hl. Benedikt, uns zu helfen, an der zentralen Stellung Christi in unserem Dasein festzuhalten. Er soll in unserem Denken und Handeln immer an erster Stelle stehen!

Ich denke voll Zuneigung an meinen verehrungswürdigen Vorgänger Johannes Paul II., dem wir ein großartiges geistliches Erbe verdanken. »Unsere christlichen Gemeinden« - so betonte er in dem Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte - »müssen echte Schulen des Gebets werden, wo die Begegnung mit Christus nicht nur im Flehen um Hilfe Ausdruck findet, sondern auch in Danksagung, Lob, Anbetung, Betrachtung, Zuhören, Leidenschaft der Gefühle bis hin zu einer richtigen Verliebtheit des Herzens« (NM 33). Diese Weisungen hat er selbst in die Tat umsetzen wollen, indem er in letzter Zeit in den Mittwochskatechesen die Psalmen der Laudes und der Vesper kommentiert hat. So wie er am Anfang seines Pontifikats die von seinem Vorgänger begonnenen Betrachtungen über die christlichen Tugenden fortsetzen wollte (vgl. Insegnamenti di Giovanni Paolo II, I, 1978, Ss. 60-63), so möchte auch ich bei den kommenden wöchentlichen Begegnungen den von ihm vorbereiteten Kommentar über den zweiten Teil der Psalmen und Lieder der Vesper fortführen. Am kommenden Mittwoch werde ich dort weiterfahren, wo seine Katechesen mit der Generalaudienz vom 26. Januar des Jahres unterbrochen wurden.

Liebe Freunde, ich danke nochmals für euren Besuch, ich danke für die Zuneigung, mit der ihr mich umgebt. Ich erwidere diese Gefühle herzlich mit einem besonderen Segen, den ich euch hier Anwesenden, euren Angehörigen und allen, die euch nahestehen, erteile.

Mit einem ganz herzlichen „Grüß Gott!" heiße ich euch zu meiner ersten Generalaudienz willkommen! Staunen und Dankbarkeit gegenüber Gott, aber auch ein inneres Zittern vor der Größe der mir übertragenen Verantwortung empfinde ich in diesen Tagen. Die Gewißheit der Hilfe Gottes erfüllt mich mit gläubiger Gelassenheit und Freude. Nach dem Beispiel meines Vorgängers Johannes Pauls II. will ich in den Mittwochs-Audienzen den Kommentar der Psalmen des Alten Testamentes fortsetzen. Heute jedoch möchte ich euch ein Wort zu dem von mir gewählten Namen sagen: Ich habe mich Benedikt XVI. genannt, um mich an das Pontifikat des mutigen Friedens-Papstes Benedikt XV. anzulehnen, der den Ersten Weltkrieg zu verhindern suchte. Ich stelle mein Petrusamt in den Dienst der Versöhnung und des guten Einvernehmens unter den Menschen und Völkern. Die Wahl meines Namens knüpft aber auch an den heiligen Benedikt von Nursia an, den „Vater des abendländischen Mönchtums" und Mitpatron Europas.
***


Einen frohen Gruß richte ich an die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Danke, liebe Freunde, für euer Gebet und für eure Zuneigung, mit denen ihr mich und meinen Dienst begleitet! Von Herzen erteile ich euch allen sowie euren Familien und Freunden meinen Segen.



Mittwoch, 4. Mai 2005: Psalm 121,1-4.7-8

40505

Ps 121,1-4 Ps 121,7-8
1 Der Wächter Israels [Ein Wallfahrtslied.] Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?
2 Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
3 Er läßt deinen Fuß nicht wanken; er, der dich behütet, schläft nicht.
4 Nein, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.
7 Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben.
8 Der Herr behüte dich, wenn du fortgehst und wiederkommst, von nun an bis in Ewigkeit.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Wie ich am vergangenen Mittwoch schon angekündigt habe, will ich in den Katechesen den Kommentar über die in der Vesper zusammengestellten Psalmen und Cantica fortsetzen, wobei ich die Texte verwende, die von meinem lieben Vorgänger Papst Johannes Paul II. vorgesehen waren.

Wir beginnen heute mit Psalm 121. Dieser Psalm gehört zur Sammlung der »Wallfahrtslieder«, das heißt der Lieder auf der Pilgerfahrt zur Begegnung mit dem Herrn im Tempel von Zion. Es ist ein Psalm des Vertrauens, denn in ihm erklingt sechsmal das hebräische Verb »shamar«, »behüten, beschützen«. Gott, dessen Name wiederholt angerufen wird, erweist sich als der immer wache, aufmerksame und fürsorgliche »Hüter«, als der »Wächter«, der über sein Volk wacht, um es vor jedem Unheil und jeder Gefahr zu bewahren.

Das Lied beginnt damit, daß der Beter den Blick nach oben, »zu den Bergen« richtet, das heißt auf die Hügel, auf denen sich Jerusalem erhebt: Von dort oben kommt Hilfe, denn dort oben wohnt der Herr in seinem Tempel (vgl. V. 1-2). Aber die »Berge« können auch an die Orte erinnern, an denen die götzendienerischen Heiligtümer stehen, die sogenannten »Höhen«, die im Alten Testament oft verurteilt werden (vgl. 1R 3,2 2R 18,4). In diesem Fall bestünde ein Gegensatz: Während der Pilger nach Zion geht, fällt sein Blick auf die heidnischen Tempel, die eine große Versuchung für ihn darstellen. Aber sein Glaube wankt nicht, und seine Sicherheit ist nur eine: »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2). Solche Dinge gibt es auch in unserem Leben. Wir sehen Höhen, die sich öffnen und als vielversprechend im Leben erscheinen: Reichtum, Macht, Ansehen, Bequemlichkeit. Aber in unserem Glauben erkennen wir, daß das nicht stimmt und daß diese Höhen nicht das Leben sind. Das wahre Leben, die echte Hilfe kommen vom Herrn. Und deshalb lenken wir unseren Blick zur wahren Höhe, zu dem wahren Berg: Christus.

2. Dieses Vertrauen wird im Psalm durch die Bilder des Hüters und des Wächters beschrieben, die wachen und beschützen. Es wird auch der Fuß, der nicht wankt auf dem Lebensweg (vgl. V. 3), und vielleicht der Hirte angedeutet, der auf dem nächtlichen Weideplatz über seine Herde wacht und nicht schläft und nicht schlummert (vgl. V. 4). Der göttliche Hirt gönnt sich keine Ruhe im Werk zum Schutz seines Volkes, also von uns allen.

Dann taucht im Psalm ein anderes Symbol auf, das des »Schattens«, der vermuten läßt, daß der Weg während des heißen Tages fortgesetzt wird (vgl. V. 5). Man denkt dabei an die historische Wanderung durch die Wüste des Sinai, wo der Herr vor Israel herzog, bei »Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen« (Ex 13,21). Im Psalter bittet man nicht selten: »… birg mich im Schatten deiner Flügel« (Ps 17,8, vgl. Ps 91,1). Auch hier tritt ein realistischer Aspekt unseres Lebens zutage. Oft bewegt sich unser Leben unter einer unerbittlichen Sonne. Der Herr ist der Schatten, der uns schützt, der uns hilft.

3. Nach dem Hüter und dem Schatten nun das dritte Symbol: der Herr, der dem Glaubenden »zur Seite steht« (vgl. Ps 121,5). Das ist die Stellung des Verteidigers beim Militär und bei Gericht. Es ist die Gewißheit, nicht verlassen zu sein in Zeiten der Prüfung, des Angriffs des Bösen und der Verfolgung. An dieser Stelle denkt der Psalmist wieder an die Wanderung während eines heißen Tages, an dem Gott uns vor der brennenden Sonne schützt.

Aber auf den Tag folgt die Nacht. In der Antike herrschte die Meinung, daß auch die Mondstrahlen schädlich seien und daß sie Fieber, Blindheit oder sogar Wahnsinn hervorrufen könnten; deshalb behütet der Herr uns auch während der Nacht (vgl. V. 6), in den Nächten unseres Lebens.

Der Psalm endet nun mit einer kurzen Vertrauenserklärung: Gott wird uns in jedem Augenblick mit Liebe behüten und unser Leben vor allem Bösen schützen (vgl. V. 7). All unser Tun, in den letzten beiden Verben »fortgehen« und »wiederkommen« knapp zusammengefaßt, geschieht immer unter dem wachsamen Auge des Herrn. Dies gilt für unser ganzes Handeln und unsere ganze Zeit, »von nun an bis in Ewigkeit« (V. 8).

4. Wir wollen jetzt zum Schluß diese letzte Vertrauenserklärung mit einem spirituellen Zeugnis der frühchristlichen Tradition kommentieren. Im Epistolarium des Barsanuphios von Gaza (gestorben um die Mitte des 6. Jahrhunderts), ein berühmter Asket, der wegen der Weisheit seines Urteils von Mönchen, Priestern und Laien zu Rate gezogen wurde, finden wir wiederholt den Psalmvers: »Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben.« Mit diesem Psalm, mit diesem Vers wollte Barsanuphios diejenigen ermutigen, die ihm von ihrer Mühe, den Prüfungen des Lebens, den Gefahren und Heimsuchungen berichteten.

Als Barsanuphios einmal von einem Mönch um sein Fürbittgebet für ihn und seine Gefährten gebeten wurde, antwortete er, indem er in seine guten Wünsche das Zitat dieses Verses aufnahm: »Meine geliebten Söhne, ich umarme euch im Herrn und bitte ihn, euch ›vor allem Bösen zu behüten‹ und euch Geduld zu geben wie dem Hiob, Gnade wie dem Josef, Milde wie dem Mose und Tapferkeit im Kampf wie dem Josue, Sohn des Nun, Beherrschung der Gedanken wie den Richtern, Unterwerfung der Feinde wie den Königen David und Salomon und Fruchtbarkeit der Erde wie den Israeliten … Er schenke euch die Vergebung eurer Sünden und die Heilung des Leibes wie dem Gelähmten. Er rette euch vor der Flut wie Petrus, und er entreiße euch der Bedrängnis wie Paulus und die anderen Apostel. Er ›behüte‹ euch als seine wahren Söhne ›vor allem Bösen‹, und er gewähre euch das, um was euer Herz bittet in seinem Namen, zum Heil der Seele und des Leibes. Amen« (Barsanuphios und Johannes von Gaza, Epistolario, 194: Collana di Testi Patristici, XCIII, Roma 1991, S. 235-236).

Gott ist der Hüter seines Volkes. Diese Gewißheit bestimmt den Beter von Psalm 121: „Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht; er steht seinen Getreuen zur Seite“ (vgl. V. 4 f). Ob bei Tag oder in der Nacht: Der Herr ist immer zugegen und verabschiedet sich niemals aus dem Leben seines Volkes. Festes Vertrauen in Gottes Gegenwart und Hilfe gibt unserem Tun zu jeder Zeit Richtung und Sicherheit. Daher beten wir Christen gerne mit den Worten des Psalmisten: „Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat“ (Ps 121,2).
***


Sehr herzlich heiße ich die Pilger aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Besonders grüße ich die Eltern, Freunde und Verwandten meiner Schweizergardisten, die zur der Vereidigung der Rekruten nach Rom gekommen sind, sowie eine Delegation des Bayerischen Landtags. Unsere Hilfe kommt vom Herrn. Der gütigen Führung Gottes dürfen wir uns in jeder Lebenslage anvertrauen. Sein Segen begleite euch! Euch allen eine frohe Zeit in der „Ewigen Stadt“!


Mittwoch, 11. Mai 2005: Lesung: Offb 15,3-4.

11055

Ap 15,3-4
3 Sie sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied zu Ehren des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Taten, Herr, Gott und Herrscher über die ganze Schöpfung. Gerecht und zuverlässig sind deine Wege, du König der Völker.
4 Wer wird dich nicht fürchten, Herr, wer wird deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig: Alle Völker kommen und beten dich an; denn deine gerechten Taten sind offenbar geworden.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Kurz und feierlich, eindringlich und großartig ist die Tonart des Liedes, das wir soeben gehört haben. Wir haben es als Lobpreis zum »Herrn, Gott und Herrscher« (Ap 15,3) erhoben und es uns dadurch zu eigen gemacht. Es ist einer der vielen Gebetstexte, die in die Geheime Offenbarung, das letzte Buch der Heiligen Schrift, das Buch des Gerichts, der Erlösung und insbesondere der Hoffnung, aufgenommen sind.

In der Tat liegt die Geschichte nicht in den Händen dunkler Gewalten, des Zufalls oder rein menschlicher Entscheidungen. Über den sich entfesselnden bösen Mächten, über dem mit Gewalt eindringenden Satan, über den vielen Plagen und Übeln, mit denen wir konfrontiert sind, steht der Herr, der höchste Richter der Geschichte. Er führt sie weise zum Aufgang des neuen Himmels und der neuen Erde, die im letzten Teil des Buches unter dem Bild des neuen Jerusalem besungen werden (vgl. Ap 21-22).

Das Lied, das wir nun betrachten wollen, wird von den Gerechten der Geschichte, den Besiegern des Tieres, des Satans, angestimmt, von denen also, die durch die scheinbare Niederlage des Martyriums in Wirklichkeit die Baumeister der neuen Welt sind, mit Gott als höchstem Schöpfer.

2. Zu Beginn rühmen sie die »großen und wunderbaren Taten« und die »gerechten und zuverlässigen Wege« des Herrn (vgl. V. 3). Die in diesem Lied verwendete Sprache ist typisch für den Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Das erste Lied des Mose - das nach dem Durchzug durch das Rote Meer gesungen wurde - preist den Herrn »als furchtbar, Wunder vollbringend« (Ex 15,11). Das zweite Lied, das am Lebensende des großen Gesetzgebers im Deuteronium wiedergegeben wird, betont: »Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind gerecht« (Dt 32,4).

Es soll also bekräftigt werden, daß Gott dem menschlichen Schicksal nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern er durchdringt es und verwirklicht seine »Wege«, das heißt seine Pläne und seine wunderbaren »Werke«.

3. Unserem Lied gemäß hat dieses göttliche Handeln ein ganz bestimmtes Ziel: Es soll ein Zeichen sein, daß alle Völker der Erde zur Umkehr einlädt. Das Lied lädt also uns alle immer von neuem zur Umkehr ein. Die Nationen müssen lernen, aus der Geschichte die Botschaft Gottes »herauszulesen«. Die abenteuerliche Existenz der Menschheit ist nicht wirr und sinnlos; ebensowenig wird sie unwiderruflich der Überheblichkeit der Stärkeren und der niederträchtigen Menschen preisgegeben.

Es ist möglich, das in der Geschichte verborgene göttliche Handeln zu erkennen. Auch das II. Vatikanische Ökumenische Konzil lädt in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes den Gläubigen ein, im Licht des Evangeliums die Zeichen der Zeit zu erforschen, um in ihnen das Offenbarwerden des Handelns Gottes zu finden (vgl. GS 4 und GS 11). Diese Glaubenshaltung führt den Menschen dazu, die in der Geschichte wirkende Macht Gottes zu erkennen und sich so der Furcht vor dem Namen des Herrn zu öffnen. Denn im Sprachgebrauch der Bibel ist diese »Furcht« keine Angst und hat nichts mit Angst zu tun; die Furcht Gottes ist etwas ganz anderes; sie ist die Erkenntnis und Anerkennung des Geheimnisses der göttlichen Transzendenz. Die Gottesfurcht ist deshalb die Grundlage des Glaubens und ist mit der Liebe verbunden. In der Heiligen Schrift, im Deuteronomium, heißt es: »Der Herr, dein Gott, fordert von dir, daß du ihn achtest, und daß du ihn mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebst« (vgl. Dt 10,12). Und der hl. Hilarius, Bischof im 4. Jahrhundert, sagte: »All unsere Furcht besteht in der Liebe.«

Auf dieser Ebene vereinigen sich in diesem der Geheimen Offenbarung entnommenen kurzen Lied die Furcht und die Verherrlichung Gottes. In dem Lied heißt es: »Wer wird dich nicht fürchten, Herr, wer wird deinen Namen nicht preisen?« (Ap 15,4). Dank der Furcht vor dem Herrn fürchtet man das Böse nicht, das in der Geschichte um sich greift und man setzt kraftvoll den Lebensweg fort. Dank der Furcht vor Gott haben wir keine Angst vor der Welt und all diesen Problemen, wir haben keine Angst vor den Menschen, denn Gott ist stärker. Papst Johannes XXIII. hat einmal gesagt: »Wer glaubt, zittert nicht, denn aufgrund seiner Furcht vor Gott, der gut ist, hat er keine Angst vor der Welt und der Zukunft«. Der Prophet Jesaja merkt dazu an: »Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest! Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht!« (Is 35,3-4).

4. Das Lied endet mit der Vision einer universalen Prozession von Völkern, die vor den Herrn der Geschichte treten werden, dessen »gerechte Taten offenbar geworden sind« (vgl. Ap 15,4). Sie werden kommen und ihn anbeten. Und der eine Herr und Erlöser scheint ihnen gegenüber die Worte zu wiederholen, die er am letzten Abend seines Erdenlebens zu seinen Aposteln gesprochen hat: »Habt Mut: Ich habe die Welt besiegt« (Jn 16,33).

Und wir wollen unsere kurze Betrachtung des von den Gerechten in der Geheimen Offenbarung angestimmten Liedes »zu Ehren des Lammes« (vgl. Ap 15,3) mit einem alten Hymnus des »Lucernar«, das heißt des »Abendgebets«, beenden, das schon dem hl. Basilius von Cäsarea bekannt war. In diesem Hymnus heißt es: »Bei Sonnenuntergang, im Abendlicht, preisen wir den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist Gottes. Du bist es würdig, zu jeder Stunde von den Stimmen der Heiligen besungen zu werden, Sohn Gottes, der du das Leben gibst. Darum verherrlicht die Erde dich« (S. Pricoco-M. Simonetti, La preghiera dei cristiani, Mailand 2000, S. 97). Danke!

Das Lied aus der Geheimen Offenbarung, das uns soeben zu Gehör gebracht wurde (vgl. Ap 15,3-4), preist Gottes Wirken in der Geschichte. Die Ereignisse sind kein Spiel des Zufalls. Dem Zwang irdischer Mächte zum Trotz bleibt der Allmächtige Gott der Herr der Geschichte. Seine auserwählten Werkzeuge sind die Gerechten, die oft genug im Leiden geprüft und geläutert werden.

Alle Menschen sind eingeladen, die Handschrift des Schöpfers auf ihrem Lebensweg zu erkennen. Im göttlichen Walten offenbart sich das Geheimnis seiner Weisheit und Güte. Menschliches Treiben verstummt davor in staunender Ehrfurcht: „Alle Völker kommen und beten dich an; denn deine gerechten Taten sind offenbar geworden“ (V. 4).
***


Einen herzlichen Gruß richte ich an alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, besonders an die vielen Jugendlichen! In einigen Tagen feiern wir Pfingsten, die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die betende Gemeinschaft der Kirche. Der Schöpfer Geist erfülle auch eure Herzen mit dem Licht seiner Liebe. Der Friede Christi begleite euch allezeit! Euch allen eine gute Zeit in Rom!


Mittwoch, 18. Mai 2005: Lesung: Psalm 113,1-9

18055

Ps 113,1-9
1 Ein Loblied auf Gottes Hoheit und Huld Halleluja! Lobet, ihr Knechte des Herrn, lobt den Namen des Herrn!
2 Der Name des Herrn sei gepriesen von nun an bis in Ewigkeit.
3 Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang sei der Name des Herrn gelobt.
4 Der Herr ist erhaben über alle Völker, seine Herrlichkeit überragt die Himmel.
5 Wer gleicht dem Herrn, unserem Gott, im Himmel und auf Erden,
6 ihm, der in der Höhe thront, der hinabschaut in die Tiefe,
7 der den Schwachen aus dem Staub emporhebt und den Armen erhöht, der im Schmutz liegt?
8 Er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen, bei den Edlen seines Volkes.
9 Die Frau, die kinderlos war, läßt er im Hause wohnen; sie wird Mutter und freut sich an ihren Kindern. Halleluja!



Liebe Brüder und Schwestern!

Bevor wir nun eine kurze Auslegung des eben gesungenen Psalms vornehmen, möchte ich daran erinnern, daß heute der Geburtstag unseres geliebten Papstes Johannes Pauls II. ist. Er wäre heute 85 Jahre alt geworden, und wir sind sicher, daß er uns vom Himmel aus sieht und bei uns ist. Wir wollen bei dieser Gelegenheit dem Herrn für das Geschenk dieses Papstes danken und wir wollen dem Papst selbst für alles danken, was er getan und gelitten hat.

1. Soeben erklang in seiner Schlichtheit und Schönheit der Psalm 113, der gleichsam das Eingangstor zu einer kleinen Reihe von Psalmen ist, die vom 113. bis zum 118. reicht und herkömmlich als »das ägyptische Hallel« bezeichnet wird. Es ist das Halleluja, das heißt der Lobgesang, der die Befreiung aus der Knechtschaft des Pharaos und Israels Freude darüber preist, dem Herrn in Freiheit im verheißenen Land zu dienen (vgl. Ps 114).

Nicht ohne Grund hatte die jüdische Überlieferung diese Folge von Psalmen mit der Pascha- Liturgie in Zusammenhang gebracht. Die entsprechend seinen historisch-sozialen und vor allem spirituellen Dimensionen begangene Feier jenes Ereignisses wurde als Zeichen der Befreiung vom Bösen in seinen vielfältigen Erscheinungsformen empfunden.

Der 113. Psalm ist ein kurzer Hymnus, der im hebräischen Original aus nur 60 Worten besteht, die alle von Gefühlen des Vertrauens, der Lobpreisung und der Freude erfüllt sind.

2. Die erste Strophe (vgl. Ps 113,1-3) preist »den Namen des Herrn«, der im Sprachgebrauch der Bibel bekanntlich auf die Person Gottes selbst, auf seine lebendige und tätige Gegenwart in der menschlichen Geschichte hinweist.

Dreimal und mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit erklingt im Mittelpunkt der Anbetung »der Name des Herrn«. Alles Sein und alle Zeit - »vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang«, sagt der Psalmist (V. 3) - sind hineingenommen in ein einziges Dankgebet. Es ist, als stiege unaufhörlich ein Chor von der Erde zum Himmel empor, um den Herrn, Schöpfer des Alls und König der Geschichte, zu preisen.

3. Durch diese Bewegung nach oben führt uns der Psalm zum göttlichen Geheimnis. Denn der zweite Teil (vgl. V. 4-6) verherrlicht die Transzendenz des Herrn, beschrieben mit vertikalen Bildern, die den rein menschlichen Horizont übersteigen. Es wird verkündet: Der Herr ist »erhaben«, »er thront in der Höhe«, und keiner vermag ihm gleich zu sein; auch um die Himmel zu schauen, muß er »hinabschauen in die Tiefe«, denn »seine Herrlichkeit überragt die Himmel« (V. 4).

Der göttliche Blick richtet sich auf die gesamte Wirklichkeit, auf die irdischen und auf die himmlischen Wesen. Doch seine Blicke sind nicht hochmütig und unbeteiligt wie die eines kaltblütigen Herrschers. Der Herr - sagt der Psalmist - beugt sich hinab, er »schaut hinab in die Tiefe« (V. 6).

4. So kommt man zur letzten Bewegung des Psalms (vgl. V. 7-9), die die Aufmerksamkeit von den himmlischen Höhen auf unseren irdischen Horizont verlagert. Der Herr beugt sich mit zuvorkommender Sorge herab zu unserer Geringheit und unserem Elend, das uns dazu verleiten könnte, uns ängstlich zurückzuziehen. Er richtet seinen liebevollen Blick und sein eifriges Wirken direkt auf die Geringsten und Ärmsten dieser Welt: »Er hebt den Schwachen aus dem Staub empor und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt« (V. 7).

Gott beugt sich also hinab zu den Bedürftigen und Leidenden, um sie zu trösten. Und dieses Wort findet seine letzte Verdichtung, seinen letzten Realismus in dem Augenblick, in dem sich Gott hinabbeugt, um Mensch zu werden, um einer von uns, ja einer der Armen der Welt zu werden. Dem Armen verleiht er die größte Ehre, nämlich »einen Sitz bei den Edlen« zu haben; ja »bei den Edlen seines Volkes« (V. 8). Der alleinstehenden und kinderlosen Frau, die von der antiken Gesellschaft geächtet wurde, als wäre sie ein dürrer, nutzloser Zweig, schenkt Gott die Ehre und große Freude, mehrere Kinder zu haben (vgl. V. 9). Der Psalmist lobt also einen Gott, der in seiner Größe ganz anders ist als wir, aber zugleich seinen leidenden Geschöpfen sehr nahe.

Es liegt nahe, in diesen Schlußversen des 113. Psalms intuitiv eine Vorwegnahme der Worte Marias im Magnifikat zu erkennen, dem Gesang von der Erwählung durch Gott, der »auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut hat«. Radikaler als unser Psalm verkündet Maria, daß Gott die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht (vgl. Lc 1,48 Lc 1,52 vgl. Ps 113,6-8).

5. Ein sehr alter »Vesperhymnus«, der in den sogenannten Constitutiones Apostolorum (VII, 48) erhalten ist, greift die freudige Einleitung unseres Psalms auf und entwickelt sie weiter. Wir führen ihn zum Abschluß unserer Betrachtung hier an, um die »christliche« Lesart der Psalmen durch die Urgemeinde zu veranschaulichen: »Lobt, Kinder, den Herrn, / lobt den Namen des Herrn. / Wir loben dich, wir besingen dich, wir preisen dich / für deine unermeßliche Herrlichkeit. / Königlicher Herr, Vater Christi, des unbefleckten Lammes, / das hinwegnimmt die Sünde der Welt. / Dir gebührt das Lob, dir der Lobgesang, dir Lobpreis und Ehre, / Gottvater durch den Sohn im Heiligen Geist / von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen« (S. Priocco - M. Simonetti, La preghiera dei cristiani, Mailand 2000, S. 97).

Ein Hymnus des Vertrauens, der Lobpreisung und der Freude ist Psalm 113, der die Reihe der „Hallelpsalmen“ eröffnet, die an die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens erinnern. Der Name des Herrn, Gott selbst, steht darin im Mittelpunkt. Alles Sein und alle Zeit sind hineingenommen in ein einziges Dankgebet: „Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang sei der Name des Herrn gelobt!“ (Ps 113,3). Unaufhörlich steigt der Lobgesang des Gottesvolkes zum Schöpfer und Herrn der Geschichte auf. Seine Herrlichkeit überragt Himmel und Erde. Doch dies bedeutet keineswegs, daß Gott dem Menschen fernbliebe. In unerschöpflicher Liebe blickt er auf die Bedürftigen und Leidenden, die er tröstet und denen er zu Hilfe eilt. Der Lobpreis der Größe Gottes ist deshalb zugleich Ausdruck des Vertrauens auf seine rettende Nähe.
***


Mit Freude heiße ich die Pilger und Besucher aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, aus Luxemburg und aus den Niederlanden willkommen. Besonders grüße ich den Domchor Klagenfurt und das Philharmonische Orchester Augsburg. Euer ganzes Leben sei ein Lobpreis Gottes! Der Herr ist uns immer und überall nahe. Sein Geist führe und leite euch. Allen Schülerinnen und Schülern, die heute hier sind, wünsche ich erholsame Pfingstferien!




Mittwoch, 25. Mai 2005: Lesung: Psalm 116,10-13.18-19

25055

Ps 116,10-13 Ps 116,18-19
10 Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt.
11 In meiner Bestürzung sagte ich: Die Menschen lügen alle.
12 Wie kann ich dem Herrn all das vergelten, was er mir Gutes getan hat?
13 Ich will den Kelch des Heils erheben und anrufen den Namen des Herrn.
18 Ich will dem Herrn meine Gelübde erfüllen offen vor seinem ganzen Volk,
19 in den Vorhöfen am Hause des Herrn, in deiner Mitte, Jerusalem. Halleluja!



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Der Psalm 116, den wir soeben gebetet haben, war in der christlichen Tradition immer gebräuchlich, beginnend mit dem hl. Paulus, der den Anfang des Psalms in der griechischen Übersetzung der Septuaginta zitiert hat, als er an die Christen in Korinth schrieb: »Doch haben wir den gleichen Geist des Glaubens, von dem es in der Schrift heißt: Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet. Auch wir glauben, und darum reden wir« (2Co 4,13).

Der Apostel fühlt sich mit dem Psalmisten geistlich verbunden im gelassenen Vertrauen und im aufrichtigen Zeugnis, trotz der Leiden und der menschlichen Schwächen. Als er an die Römer schreibt, greift er den 2. Vers dieses Psalms auf und schildert den Gegensatz zwischen Gott, der treu ist, und dem Menschen, der inkohärent ist: »Gott soll sich als der Wahrhaftige erweisen, jeder Mensch aber als Lügner« (Rm 3,4).

Die christliche Tradition hat den Text in unterschiedlichem Kontext gelesen, meditiert und ausgelegt, und so ist der ganze Reichtum und die ganze Tiefe des Wortes Gottes zutage getreten, das neue Dimensionen und neue Situationen eröffnet. Anfangs wurde er zunächst als ein Text des Martyriums gelesen, aber später, als die Kirche im Frieden lebte, wurde er immer mehr zu einem eucharistischen Text aufgrund des Wortes vom »Kelch des Heiles«. In Wirklichkeit ist Christus der erste Märtyrer. Er hat sein Leben in einem Kontext von Haß und Lüge hingegeben, hat aber dieses Leiden und damit auch diesen Kontext in Eucharistie verwandelt, in ein Fest des Dankes. Denn Eucharistie ist Danksagung: »Ich will den Kelch des Heils erheben.«

2. Der Psalm 116 bildet im hebräischen Original mit dem vorhergehenden Psalm 115 eine Einheit. Beide sind ein einziger Dank an den Herrn, der vom Alptraum des Todes, von den Verstrickungen des Hasses und der Lüge befreit.

In unserem Text taucht die Erinnerung an eine bedrückende Vergangenheit auf: Der Beter hat die Fackel des Glaubens hochgehalten, auch als bittere Worte der Verzweiflung und Erniedrigung über seine Lippen kamen (vgl. Ps 116,10). Denn um ihn erhob sich gleichsam eine eisige Mauer des Hasses und der Lüge, da sich der Nächste als falsch und untreu erwiesen hatte (vgl. V. 11). Aber das Gebet verwandelt sich jetzt in Dankbarkeit, weil der Herr in diesem Kontext der Untreue treu geblieben ist und den Gläubigen aus der dunklen Spirale der Lüge befreit hat (vgl. V. 12).

Der Beter schickt sich deshalb an, ein Dankopfer darzubringen, bei dem er den rituellen Kelch, den Kelch des heiligen Trankopfers, trinkt, der Zeichen der Dankbarkeit für die Befreiung ist (vgl. V. 13) und der seine letzte Vollendung im Kelch des Herrn findet. Die Liturgie ist deshalb der bevorzugte Ort, an dem wir Gott, den Retter, dankbar lobpreisen.

3. In der Tat wird nicht nur auf den Opferritus, sondern ausdrücklich auf die Versammlung des »ganzen Volkes« hingewiesen, vor dem der Beter das Gelübde erfüllt und seinen Glauben bezeugt (vgl. V. 14). Bei dieser Gelegenheit zeigt er öffentlich seine Dankbarkeit, weil er weiß, daß der Herr sich liebevoll zu ihm herabneigt, wenn der Tod bevorsteht. Gott bleibt angesichts des Schicksals seines Geschöpfes nicht gleichgültig, sondern löst seine Fesseln (vgl. V. 16).

Der vom Tod errettete Beter fühlt sich als »Knecht« seines Herrn, »als Sohn seiner Magd« (ebd.), wie es in einer schönen orientalischen Redewendung heißt, mit der diejenigen bezeichnet werden, die im selben Haus wie ihr Herr geboren wurden. Der Psalmist bekennt demütig und voll Freude seine Zugehörigkeit zum Haus Gottes, zur Familie der Geschöpfe, die mit ihm in Liebe und Treue verbunden sind.

4. Der Psalm endet wieder mit den Worten des Betenden, wobei er noch einmal an das Dankopfer erinnert, das im Rahmen des Tempels gefeiert werden soll (vgl. V. 17-19). Sein Gebet wird so in den Rahmen der Gemeinschaft gestellt. Sein persönliches Schicksal wird erzählt, damit es alle anregt, an den Herrn zu glauben und ihn zu lieben. Im Hintergrund können wir deshalb das ganze Volk Gottes erblicken, das dem Herrn des Lebens dankt, der den Gerechten nicht der Dunkelheit des Leidens und des Todes überläßt, sondern ihn zur Hoffnung und zum Leben führt.

5. Wir beenden unsere Reflexion, indem wir uns den Worten des hl. Basilius des Großen anvertrauen, der in der Homilie über Psalm 116 die in ihm enthaltene Frage und Antwort so kommentiert: »›Wie kann ich dem Herrn all das vergelten, was er mir Gutes getan hat? Ich will den Kelch des Heils erheben…‹ Der Psalmist hat die vielen von Gott empfangenen Gaben erkannt: Er ist vom Nichtsein ins Sein gerufen worden; er ist aus der Erde geformt und mit Vernunft begabt; … er hat dann den Heilsplan für das Menschengeschlecht erfaßt, als er erkannte, daß der Herr sich selbst zur Sühne an unser aller Statt geopfert hat; er ist unsicher und sucht in allem, was ihm gehört, etwas zu finden, das des Herrn würdig sein kann. ›Was kann ich also dem Herrn geben?‹ Weder Speise- noch Brandopfer, sondern mein ganzes Leben. Deshalb sagt er: ›Ich will den Kelch des Heils erheben‹, wobei er das Leiden im geistlichen Kampf und den Widerstand gegen die Sünde bis zum Tod als den Kelch bezeichnet. Was übrigens auch unser Erlöser im Evangelium gelehrt hat: ›Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir‹; und an seine Jünger gewandt: ›Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?‹, womit er eindeutig auf den Tod hinwies, den er für das Heil der Welt auf sich genommen hat« (PG XXX, 109), so daß er die Welt der Sünde in eine erlöste Welt verwandelte, in eine Welt des Dankes für das Leben, das der Herr uns geschenkt hat.

Die Inkohärenz des Menschen steht in eklatantem Kontrast zur Treue und Wahrhaftigkeit Gottes. Vor dem Hintergrund dieser elementaren Erfahrung erklingt das Danklied in Psalm 116: „Die Menschen lügen alle. - Wie kann ich dem Herr all das vergelten, was er mir Gutes getan hat?“ (V. 11f). Die Antwort des Beters ist umfassend: Er will den „Kelch des Heils erheben“, den „Namen des Herrn anrufen“ und Ihm seine „Gelübde erfüllen“. Solcher Vorsatz verbindet Liturgie und Leben. Nach einem Wort des heiligen Basilius des Großen steht der „Kelch des Heils“, der uns Christen auf den eucharistischen Segenskelch des Neuen Bundes verweist, für die Hingabe des Lebens an Gott. Was wir im großen Lob- und Dankopfer rituell feiern, verlangt danach, im Leben vollzogen zu werden. Dann redet der Glaube, den wir empfangen haben (vgl. 2Co 4,13).
* * *


Ein herzliches Willkommen sage ich den Pilgern und Besuchern aus den Ländern deutscher Sprache! Besonders grüße ich die Schwestern vom Göttlichen Erlöser, die ihr Silbernes Profeßjubiläum feiern, sowie die Rom-Wallfahrer der Vereinigung ehemaliger Schweizergardisten. Gott ist treu. Tragt darum seinen Namen auf euren Lippen und in euren Herzen! Euch allen wünsche ich jetzt gesegnete, frohe Urlaubstage und allezeit die Erfahrung der Güte Gottes.

Morgen, am Hochfest Fronleichnam, werde ich um 19 Uhr auf dem Platz vor der Lateran-Basilika die heilige Messe feiern. Im Anschluß daran findet die übliche Prozession nach Santa Maria Maggiore statt. Sie alle sind eingeladen, an dieser Feier teilzunehmen, um gemeinsam unseren Glauben an den in der heiligsten Eucharistie gegenwärtigen Christus öffentlich zu bekennen.





Generalaudienzen 2005-2013