Generalaudienzen 2005-2013 9115

Mittwoch, 9. November 2005: Lesung: Psalm 136,1-9

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Ps 136,1-9

1 Danklitanei für Gottes ewige Huld
Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig!
2 Danket dem Gott aller Götter, denn seine Huld währt ewig!
3 Danket dem Herrn aller Herren, denn seine Huld währt ewig!
4 Der allein große Wunder tut, denn seine Huld währt ewig,
5 der den Himmel geschaffen hat in Weisheit, denn seine Huld w ährt ewig,
6 der die Erde über den Wassern gegründet hat, denn seine Huld währt ewig,
7 der die großen Leuchten gemacht hat, denn seine Huld währt ewig,
8 die Sonne zur Herrschaft über den Tag, denn seine Huld währt ewig,
9 Mond und Sterne zur Herrschaft über die Nacht, denn seine Huld währt ewig.



Liebe Brüder und Schwestern!

1. »Das große Hallel« hieß der feierliche und festliche Lobgesang, den das Judentum in der Paschaliturgie anstimmte. Wir sprechen von Psalm 136, dessen ersten Teil wir soeben gehört haben (vgl. V. 1-9), denn für die Liturgie der Vesper wurde er geteilt.

Wir betrachten zunächst den Kehrvers: »… denn seine Huld währt ewig«. Die Betonung in diesem Satz liegt auf dem Substantiv »Huld«, das die richtige, aber unvollständige Übersetzung des ursprünglichen hebräischen Wortes »hesed« ist. Dieses Wort gehört zum besonderen Sprachgebrauch der Bibel und drückt den Bund zwischen dem Herrn und seinem Volk aus. Der Terminus soll die Verhaltensweisen zeigen, die für diese Verbindung bezeichnend sind: die Treue Gottes, seine Aufrichtigkeit, seine Liebe und natürlich seine Huld.

Wir haben hier eine synthetische Darstellung des tiefen und interpersonalen Bandes vor uns, das der Schöpfer mit seinem Geschöpf geknüpft hat. In dieser Verbindung erscheint Gott in der Bibel nicht als ein gleichgültiger und unnachsichtiger Herr, ebensowenig als ein dunkles, unerforschliches Wesen, ähnlich dem Schicksal, gegen dessen geheimnisvolle Kraft nicht anzukämpfen ist. Gott erweist sich vielmehr als eine Person, die ihre Geschöpfe liebt, über sie wacht, sie auf dem Weg durch die Geschichte begleitet und unter der Untreue leidet, die das Volk seinem »hesed«, seiner barmherzigen und väterlichen Liebe, oft entgegensetzt.

2. Das erste sichtbare Zeichen dieser göttlichen Liebe - sagt der Psalmist - ist in der Schöpfung zu suchen. Danach ist die Geschichte an der Reihe. Der Blick richtet sich zunächst bewundernd und staunend auf die Schöpfung: Himmel, Erde, Wasser, Sonne, Mond und Sterne.

Noch vor der Erkenntnis, daß Gott sich in der Geschichte eines Volkes offenbart, gibt es eine für alle zugängliche kosmische Offenbarung, die der ganzen Menschheit von dem einen Schöpfer, dem »Gott der Götter« und dem »Herrn aller Herren«, angeboten wird (vgl. V. 2-3).

Deshalb heißt es in Psalm 19: »Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament. Ein Tag sagt es dem andern, eine Nacht tut es der andern kund« (V. 2-3). Es gibt also eine göttliche Botschaft, die der Schöpfung auf verborgene Weise eingeprägt ist als Zeichen des »hesed«, der liebevollen Treue Gottes, der seinen Geschöpfen Sein und Leben, Wasser und Nahrung, Licht und Zeit schenkt.

Man muß offene Augen haben, um diese göttliche Offenbarung zu sehen, während man sich die Mahnung des Buches der Weisheit in Erinnerung ruft, das uns einlädt, »von der Größe und Schönheit der Geschöpfe auf ihren Schöpfer zu schließen« (vgl. Weish Sg 13,5 Rm 1,20). Der Lobpreis geht dann von der Betrachtung der »großen Wunder« Gottes aus (vgl. Ps 136,4), die sich in der Schöpfung entfalten, und verwandelt sich in ein frohes Lob- und Danklied an den Herrn.

3. Von den geschaffenen Werken steigt man also auf zur Erhabenheit Gottes, zu seiner liebevollen Barmherzigkeit. Das lehren uns die Kirchenväter, in deren Stimme die beständige christliche Tradition erklingt.

Der hl. Basilius der Große verweilt auf einer der ersten Seiten seiner ersten Homilie über das Hexameron, wo er die Schöpfungsgeschichte nach dem ersten Kapitel der Genesis kommentiert, bei dem weisen Handeln Gottes und erkennt in der göttlichen Güte das Antriebszentrum der Schöpfung. Hier einige Sätze aus der langen Reflexion des heiligen Bischofs von Cäsarea in Kappadozien:

»›Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.‹ Mir fehlen die Worte, denn ich bin überwältigt von diesem erstaunlichen Gedanken« (1,2,1: Sulla Genesi [Omelie sull’Esamerone], Mailand 1990, S. 9.11). Denn obwohl einige, die »von der Gottlosigkeit im Innersten getäuscht worden waren, sich das Universum ohne Führung und ohne Ordnung wie dem Zufall überlassen vorstellten«, hat der heilige Schriftsteller »uns mit dem Namen Gottes am Anfang der Erzählung sofort den Sinn erhellt, indem er sagte: ›Im Anfang schuf Gott…‹ Wie schön ist doch diese Ordnung!« (1,2,4: ebd., S. 11). »Wenn also die Welt einen Anfang hat und erschaffen wurde, dann suche nach dem, der den Anfang gemacht hat und wer ihr Schöpfer ist … Mose ist dir durch seine Lehre vorausgegangen, indem er in unsere Herzen den heiligsten Namen Gottes als Siegel und Gebetsriemen eindrückte, als er sagte: ›Im Anfang schuf Gott….‹ Die selige Natur, die neidlose Güte, Er, der von allen vernunftbegabten Lebewesen geliebt wird, Er, der die höchste ersehnenswerte Schönheit ist, der Ursprung der Lebewesen, die Quelle des Lebens, das Licht der Vernunft, die unerreichbare Weisheit, Er ist es, der »im Anfang Himmel und Erde schuf« (1,2,6-7: ebd., S. 13).

Ich finde, daß die Worte dieses Vaters aus dem 4. Jahrhundert von überraschender Aktualität sind, wenn er sagt: »Einige, von der Gottlosigkeit im Innersten getäuscht, stellten sich das Universum ohne Führung und ohne Ordnung vor, wie dem Zufall überlassen.« Wie zahlreich sind heute diese »einigen« geworden. Vom Atheismus getäuscht, meinen sie und suchen sie zu beweisen, daß es weise ist, zu denken, daß alles ohne Führung und ohne Ordnung ist, gleichsam dem Zufall überlassen. Der Herr weckt durch die Heilige Schrift die schlafende Vernunft, die uns sagt: Am Anfang ist das schöpferische Wort. Und das schöpferische Wort am Anfang - dieses Wort, das alles geschaffen hat, das diesen intelligenten Plan, den Kosmos geschaffen hat - ist auch Liebe.

Lassen wir uns also von diesem Wort Gottes wecken. Bitten wir, daß es unseren Geist erhellt, damit wir diese Botschaft, die auch in unsere Herzen eingeschrieben ist, erfassen, das heißt, daß der Anfang von allem die schöpferische Weisheit ist und daß diese Weisheit Liebe und Güte ist: Denn »seine Huld währt ewig«.

„Gottes Huld währt ewig!“ Dieser Kehrvers prägt den Psalm 136, der der heutigen Katechese zugrunde liegt. Der Kernbegriff „Huld“ (hebräisch: „hesed“) drückt die Haltung des allmächtigen Gottes aus, der dem Menschen seinen Bund anbietet und ihn durchs Leben führt.

Gottes Huld erkennt der Psalmist bereits in der Schöpfung. Aus Liebe hat Gott in seiner Weisheit den Himmel und die Erde geschaffen. Darum lehren die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche, daß „sich von der Schönheit der Geschöpfe auf ihren Schöpfer schließen läßt“ (Sg 13,5).
***


Die Huld Gottes begleitet auch euch, liebe Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, die ich herzlich willkommen heiße. Öffnet die Augen für die Wunder der Schöpfung, in denen wir Gottes große Güte erkennen können! Mit besonderer Freude begrüße ich heute die Österreichische Bischofskonferenz, die zu ihrem Ad-limina-Besuch nach Rom gekommen ist und jetzt ihre Herbstvollversammlung im Vatikan abhält. Liebe Brüder im bischöflichen Dienst, übermittelt den Katholiken und allen Menschen in Eurer Heimat meine herzlichsten Segenswünsche. Ich weiß, wie sehr Bischöfe, Priester und Laien in Österreich bemüht sind, das Evangelium Christi in den konkreten Alltag zu übersetzen. Ich bin dankbar für so viele sichtbare Zeichen lebendigen Glaubens und die missionarischen Aufbrüche in der Kirche, für die Allianz zum Schutz des Sonntags und die große Bereitschaft, Menschen in Krankheit, Sterben und Not beizustehen. Euch allen, liebe Brüder und Schwestern, wünsche ich einen gesegneten Aufenthalt in der Ewigen Stadt und eine gute Heimreise. Der Herr segne euch alle!



Mittwoch, 16. November 2005 Lesung: Psalm 136,10-26

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Ps 136,10-26
10 Der die Erstgeburt der Ägypter schlug, denn seine Huld währt ewig,
11 und Israel herausführte aus ihrer Mitte, denn seine Huld währt ewig,
12 mit starker Hand und erhobenem Arm, denn seine Huld währt ewig,
13 der das Schilfmeer zerschnitt in zwei Teile, denn seine Huld währt ewig,
14 und Israel hindurchführte zwischen den Wassern, denn seine Huld währt ewig,
15 und den Pharao ins Meer stürzte samt seinem Heer, denn seine Huld währt ewig.
16 Der sein Volk durch die Wüste führte, denn seine Huld währt ewig,
17 der große Könige schlug, denn seine Huld währt ewig,
18 und mächtige Könige tötete, denn seine Huld währt ewig,
19 Sihon, den König der Amoriter, denn seine Huld währt ewig,
20 und Og, den König von Baschan, denn seine Huld währt ewig,
21 und der ihr Land zum Erbe gab, denn seine Huld währt ewig,
22 der es Israel gab, seinem Knecht, denn seine Huld währt ewig.
23 Der an uns dachte in unsrer Erniedrigung, denn seine Huld währt ewig,
24 und uns den Feinden entriß, denn seine Huld währt ewig,
25 der allen Geschöpfen Nahrung gibt, denn seine Huld währt ewig.
26 Danket dem Gott des Himmels, denn seine Huld währt ewig

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Unsere Betrachtung kehrt zum Lobgesang des Psalms 136 zurück, den die Liturgie der Vesper in zwei aufeinanderfolgenden Abschnitten vorstellt. Sie folgt einer genauen Unterscheidung, die in dem Text auf thematischer Ebene gemacht wird. Denn der Lobpreis der Werke des Herrn entfaltet sich in zwei Bereichen, dem des Raumes und dem der Zeit.

Im ersten Teil (vgl. V. 1-9), der Gegenstand unserer vorhergehenden Meditation war, wurden die in der Schöpfung zum Ausdruck kommenden göttlichen Taten beleuchtet: Sie haben die Wunder des Universums bewirkt. In diesem Teil des Psalms wird der Glaube an Gott, den Schöpfer, verkündet, der sich durch seine kosmischen Geschöpfe offenbart. Jetzt führt uns hingegen der freudige Lobgesang des Psalmisten - von der jüdischen Tradition »das große Hallel« genannt, das heißt das höchste Lob an den Herrn - vor einen anderen Horizont, nämlich den der Geschichte. Der erste Teil behandelt also die Schöpfung als Widerschein der Schönheit Gottes; im zweiten Teil ist die Rede von der Geschichte und dem Guten, das Gott für uns im Lauf der Zeit gewirkt hat. Wie wir wissen, verkündet die biblische Offenbarung wiederholt, daß sich die Gegenwart des göttlichen Erlösers in besonderer Weise in der Heilsgeschichte kundtut (vgl. Dt 26,5-9 Jos 24,1-13).

2. So ziehen vor dem Beter die Heilstaten des Herrn vorüber, in deren Mittelpunkt das entscheidende Ereignis des Auszugs aus Ägypten steht. Mit ihm eng verbunden ist die mühselige Wanderung durch die Wüste Sinai, deren letztes Ziel das verheißene Land ist, das göttliche Geschenk, das Israel auf allen Seiten der Bibel erfährt.

Der bekannte Durchzug durch das Rote Meer, das »in zwei Teile geteilt war«, gleichsam zerschnitten und gezähmt wie ein besiegtes Ungeheuer (vgl. Ps 136,13), läßt ein freies Volk entstehen, das eine Sendung und eine glorreiche Bestimmung hat (vgl. Ps 136,14-15 Ex 15,1-21), die nach christlicher Lesart als Bild der vollkommenen Befreiung vom Bösen durch die Taufgnade gesehen wird (vgl. 1Co 10,1-4). Dann beginnt der Weg durch die Wüste: Dort wird der Herr als Krieger dargestellt, der das beim Durchzug durch das Schilfmeer begonnene Werk fortsetzt und sich auf die Seite seines Volkes stellt, indem er dessen Feinde vernichtet. Wüste und Meer sind also ein Bild für den Durchzug durch das Böse und die Unterdrückung, um am Ende das Geschenk der Freiheit und des verheißenen Landes zu erhalten (vgl. Ps 136,16-20).

3. Zum Schluß blickt der Psalm auf dieses Land, das die Bibel enthusiastisch als »prächtiges Land« beschreibt, als »ein Land mit Bächen, Quellen und Grundwasser … ein Land mit Weizen und Gerste, mit Weinstock, Feigenbaum und Granatbaum, ein Land mit Ölbaum und Honig, ein Land, in dem du nicht armselig dein Brot essen mußt, in dem dir nichts fehlt, ein Land, dessen Steine aus Eisen sind, aus dessen Bergen du Erz gewinnst« (Dt 8,7-9).

Dieses emphatische Lob, das die Wirklichkeit dieses Landes weit übersteigt, will das göttliche Geschenk lobpreisen, indem es unsere Sehnsucht auf das höchste Geschenk, nämlich das ewige Leben mit Gott lenkt. Ein Geschenk, das es dem Volk erlaubt, frei zu sein, ein Geschenk, das - wie in der Antiphon ständig wiederholt wird - aus dem »hesed« des Herrn erwächst, das heißt aus seiner »Huld«, aus seiner Treue zu der Verpflichtung, die er durch seinen Bund mit Israel übernommen hat, aus seiner Liebe, die sich ständig durch das »Gedächtnis« enthüllt (vgl. Ps 136,23). In der Zeit der »Erniedrigung«, das heißt der nachfolgenden Prüfungen und Unterdrückungen, entdeckt Israel immer die rettende Hand des Gottes der Freiheit und der Liebe. Auch in Zeiten des Hungers und Elends erscheint der Herr, um der ganzen Menschheit Nahrung zu geben und seine Identität als Schöpfer zu bekräftigen (vgl. V. 25).

4. In Psalm 136 treffen also zwei Ebenen der einen göttlichen Offenbarung zusammen, die kosmische (vgl. V. 4-9) und die geschichtliche (vgl. V. 10-25). Ja, Gott ist als Schöpfer und Herr des Seins transzendent, aber er ist auch seinen Geschöpfen nahe, indem er in Raum und Zeit eintritt. Er bleibt nicht außerhalb, im fernen Himmel. Seine Gegenwart unter uns erreicht ihren Höhepunkt in der Menschwerdung Christi.

Das verkündet ganz klar die christliche Neuauslegung des Psalms, und es wird von den Kirchenvätern bezeugt, die in der Hingabe des Sohnes als Erlöser und Retter der Menschheit (vgl. Jn 3,16) den Gipfel der Heilsgeschichte und das höchste Zeichen der barmherzigen Liebe des Vaters erkennen.

Der hl. Cyprian, ein Märtyrer des 3. Jahrhunderts, beginnt deshalb seinen Traktat über gute Werke und Almosen indem er staunend die Werke betrachtet, die Gott in Christus, seinem Sohn, für sein Volk getan hat, und er bricht am Ende in ein leidenschaftliches Bekenntnis seiner Barmherzigkeit aus. »Zahlreich und groß, liebste Brüder, sind die göttlichen Wohltaten, in denen die reiche und überschwengliche Güte Gottes des Vaters und Christi sich zu unserem Heil wirksam erwiesen hat und sich noch stets erweist, indem zu unserer Erhaltung und Wiederbelebung der Vater seinen Sohn sandte, um uns erlösen zu können, und indem der Sohn gesandt sein und des Menschen Sohn heißen wollte, um uns zu Gottes Kindern zu machen. Er hat sich erniedrigt, um das Volk, das zuvor darniederlag, emporzurichten, und ließ sich verwunden, um unsere Wunden zu heilen; er ließ sich knechten, um die Geknechteten zur Freiheit zu führen. Er erlitt den Tod, um den Sterblichen die Unsterblichkeit zu verleihen. Zahlreich und groß sind diese Güter der göttlichen Barmherzigkeit« (Traktat über gute Werke und Almosen; in Bibliothek der Kirchenväter, Kempten/München 1918, Band 34, S. 260).

Mit diesen Worten kommentiert der heilige Kirchenlehrer den Psalm in einer Litanei der Wohltaten, die Gott uns gewährt hat, und fügt das hinzu, was der Psalmist noch nicht wußte, aber schon erwartete, das wahre Geschenk, das Gott uns gemacht hat: das Geschenk des Sohnes, das Geschenk der Menschwerdung, in der Gott sich uns geschenkt hat und bei uns bleibt, in der Eucharistie und in seinem Wort, alle Tage bis an das Ende der Geschichte. Unsere Schwierigkeit besteht darin, daß das Gedächtnis des Bösen, der erlittenen Bosheiten, oft stärker ist als das Gedächtnis des Guten. Der Psalm dient dazu, in uns auch das Gedächtnis des Guten zu wecken, des vielen Guten, das der Herr an uns getan hat und an uns tut, damit wir sehen können, wenn unser Herz wach wird: Ja, Gottes Huld währt ewig, sie ist Tag für Tag gegenwärtig.

Psalm 136, das große Hallel des Paschafestes, besingt mit immer neuen Worten Gottes Huld, die Israels Geschichte durchwaltet. Der Beter geht im Geiste den Heilstaten des Herrn nach. Dabei steht das fundamentale Geschichtserlebnis Israels, der Auszug aus Ägypten, im Zentrum: Der beschwerliche Weg durch die Wüste findet sein Ziel im verheißenen Land, dem Gottesgeschenk, das im Volk eine heilige Verpflichtung zum immerwährenden Lob Gottes in Gebet und Tat begründet.

Im Durchzug durch das Schilfmeer erblickt die christliche Tradition ein Bild für das Sakrament der Taufe. Gott erweist sich als der Erlöser, „der an uns dachte in unserer Erniedrigung" (V. 23). Der erhabene Schöpfer und Richter sandte seinen Sohn, der sich der bedrängten Menschheit zur Speise gibt (vgl. V. 25). Der heilige Cyprian schreibt über Christus: „Er erniedrigte sich, um das Volk aufzurichten. Er nahm den Tod auf sich, um den Sterblichen die Unsterblichkeit zu gewähren".
* * * *


Liebe Brüder und Schwestern!
Mit diesen Gedanken grüße ich gerne alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Neben vielen anderen heiße ich heute besonders die Leser der Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln sowie eine Pilgergruppe aus Bad Hofgastein willkommen. - Liebe Freunde, in jedem Moment unseres Lebens sind wir von Gott Beschenkte. Dankt daher dem Herrn für seine Güte und Treue! Dient so dem Frieden und der Gemeinschaft unter den Menschen! Der Herr stärke eure Hoffnung und segne euer Tun. - Gesegnete Tage hier in Rom.



Mittwoch, 23. November 2005: Lesung: Brief an die Epheser 1,3-10

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Ep 1,3-10

3 Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel.
4 Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott;
5 er hat uns aus Liebe im voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen,
6 zum Lob seiner herrlichen Gnade. Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn;
7 durch sein Blut haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade.
8 Durch sie hat er uns mit aller Weisheit und Einsicht reich beschenkt
9 und hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan, wie er es gnädig im voraus bestimmt hat:
10 Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden



Liebe Brüder und Schwestern!

1. In der Liturgie der Vesper wird der betenden Kirche jede Woche der feierliche Eröffnungshymnus des Briefes an die Epheser angeboten, der Text, der soeben vorgetragen wurde. Er gehört zur Gattung der »berakot«, das heißt der »Loblieder«, die schon im Alten Testament vorkommen und in der jüdischen Tradition weitere Verbreitung gefunden haben. Es handelt sich um einen beständigen Lobpreis, der zu Gott aufsteigt, der im christlichen Glauben als »Vater unseres Herrn Jesus Christus« gepriesen wird.

Aus diesem Grund steht in unserem Hymnus Christus im Mittelpunkt, in dem sich das Werk Gottes, des Vaters, enthüllt und vollendet. Die drei am häufigsten verwendeten Verben dieses langen und bedeutungsreichen Canticum führen uns in der Tat immer zum Sohn.

2. »Denn in ihm hat er [Gott] uns erwählt« (Ep 1,4): Dies ist unsere Berufung zur Heiligkeit und Gotteskindschaft und zur brüderlichen Verbindung mit Christus. Dieses Geschenk, das unseren Status als Geschöpfe völlig verändert, wird uns »durch Jesus Christus« gegeben, ein Werk, das zum großen göttlichen Heilsplan gehört, zu diesem liebevollen »gnädigen Willen« (V. 5) des Vaters, den der Apostel tief bewegt betrachtet.

Das zweite Verb nach dem der Erwählung (»er hat uns erwählt«) bezeichnet das Geschenk der Gnade: »Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn« (V. 6). Im Griechischen haben wir zweimal dieselbe Wurzel: »charis« und »echaritosen«, um das Ungeschuldetsein der göttlichen Initiative zu unterstreichen, die jeder menschlichen Antwort vorausgeht. Die Gnade, die uns der Vater in seinem eingeborenen Sohn schenkt, ist also die Offenbarung seiner Liebe, die uns umhüllt und verwandelt.

3. Jetzt kommt das dritte wichtige Verb des paulinischen Canticum: Es betrifft immer noch die göttliche Gnade, mit der Gott uns »reich beschenkt« hat (V. 8). Wir haben also ein Verb der Fülle vor uns, seinem ursprünglichen Gehalt nach sozusagen ein Verb des Übermaßes, des grenzenlosen und vorbehaltlosen Schenkens.

So dringen wir in die unergründliche und wunderbare Tiefe des Geheimnisses Gottes ein, das demjenigen aus Gnade eröffnet und enthüllt wird, der aus Gnade und Liebe dazu berufen ist, denn diese Offenbarung kann mit dem Verstand und den menschlichen Fähigkeiten allein nicht erfaßt werden. »…was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben. Denn uns hat es Gott enthüllt durch den Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes« (1Co 2,9-10).

4. Das »Geheimnis des Willens« Gottes hat eine Mitte, die dazu bestimmt ist, alles Sein und die ganze Geschichte zusammenzufassen und zu der von Gott gewollten Vollendung zu führen: Es ist der Plan, »in Christus alles zu vereinen« (Ep 1,10). In diesem »Plan«, auf griechisch »oikonomia«, diesem harmonischen Bauplan des Seins und des Daseins also wird Christus zum Haupt des Leibes der Kirche erhoben, aber auch zur Achse, die in sich »alles vereint, alles, was im Himmel und auf Erden ist«. Die Zerrissenheit und Begrenzung wird überwunden, und es zeigt sich die »Fülle«, die das wahre Ziel des Plans ist, den der Wille Gottes von Anfang an beschlossen hatte.

Wir stehen also vor einem großartigen Bild der Schöpfungs- und Heilsgeschichte, das wir jetzt anhand der Worte des hl. Irenäus, eines großen Kirchenvaters der Kirche des 2. Jahrhunderts, betrachten und vertiefen möchten. Er hat in den meisterhaften Seiten seines Traktats Gegen die Häresien eine wohldurchdachte Reflexion über die von Christus vollbrachte Vereinigung entfaltet.

5. Der christliche Glaube, so schreibt er, bekennt: »Es ist also ein Gott Vater … und ein Christus Jesus, unser Herr, der durch die ganze Heilsordnung hindurch ging und alles in sich selbst zusammenfaßte. Zu diesem allem gehört auch der Mensch, das Geschöpf Gottes; also faßte er auch den Menschen in sich zusammen, indem er, der Unsichtbare, sichtbar wurde, der Unbegreifbare begreifbar, der Leidensunfähige leidensfähig, das Wort Mensch« (III,16,6: Bibliothek der Kirchenväter, Kempten/München 1912, I. Band, S. 279).

Deshalb »wurde also das Wort Gottes Mensch«, nicht zum Schein, denn dann »wäre sein Werk nicht wahr gewesen. Was er schien, das war er also auch: Gott faßte in sich das alte Menschengebilde zusammen, um die Sünde zu vernichten, den Tod niederzuwerfen und den Menschen lebendig zu machen. Deswegen sind auch ›seine Werke wahrhaft‹« (III,18,7, ebd., S. 292 f.). Er ist als Haupt der Kirche eingesetzt, um alle im rechten Augenblick zu sich zu ziehen. Im Geist der Worte des hl. Irenäus bitten wir: Ja, Herr, ziehe uns zu dir, ziehe die Welt zu dir, und gib uns den Frieden, deinen Frieden.

Mit den Worten des Hymnus aus dem Epheserbrief preist die Kirche immerfort den allmächtigen Schöpfergott für das Heilswerk, das sich in Christus enthüllt und vollendet. Der Herr hat „uns mit allem Segen des Geistes gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel“ (V. 3). Durch das Erlösungsopfer des Sohnes sind wir als Getaufte erwählt, Gottes Kinder zu sein und teilzuhaben an Christi Heiligkeit. Dieses Gnadengeschenk geht jeder menschlichen Leistung voraus.

In Christus offenbart uns Gott das „Geheimnis seines Willens“ (vgl. V. 9): Als Haupt der Kirche ist der Sohn Gottes für uns alle der Weg zum himmlischen Vater. Denn Gott selbst hat beschlossen, „in Christus alles zu vereinen, alles was im Himmel und auf Erden ist“ (V. 10).
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Ganz herzlich heiße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Mein besonderer Gruß gilt den verschiedenen Gruppen aus Bayern. - Liebe Freunde, der Glaube der Kirche schenkt uns eine tiefere Kenntnis Christi. Aus ihm schöpfen wir auch die Kraft zu einem Leben in der Nachfolge des Herrn. Geben wir als einzelne und gemeinsam Zeugnis von der Liebe des Erlösers! - Euch allen einen gesegneten und frohen Tag hier in Rom!



Mittwoch, 30. November 2005: Lesung: Psalm 137,1-6

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Ps 137,1-6

1 Heimweh nach dem Zion in der Verbannung
An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
2 Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.
3 Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder, unsere Peiniger forderten Jubel:
»Singt uns Lieder vom Zion!«
4 Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?
5 Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren.
6 Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke,
wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. An diesem ersten Mittwoch im Advent, der liturgischen Zeit der Stille, des Wachens und Betens in Vorbereitung auf Weihnachten, betrachten wir Psalm 137, der in der lateinischen Fassung seiner Anfangsworte berühmt geworden ist: »Super flumina Babylonis - An den Strömen von Babel«. Der Text erinnert an die Tragödie, die das jüdische Volk während der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. und der anschließenden Babylonischen Gefangenschaft erlebte. Wir haben das Klagelied eines Volkes vor uns, das von einer herben Sehnsucht nach dem Verlorenen gezeichnet ist.

Dieser gramerfüllte Bittruf an den Herrn, seine Gläubigen aus der babylonischen Sklaverei zu befreien, drückt auch die Gefühle der Hoffnung und Heilserwartung aus, mit denen wir unseren adventlichen Weg begonnen haben.

Der erste Teil des Psalms (vgl. V. 1-4) hat als Hintergrund das Land des Exils mit seinen Flüssen und Kanälen, die die babylonische Ebene bewässerten, den Ort der verschleppten Juden. Es ist wie die symbolische Vorwegnahme der Vernichtungslager, in denen das jüdische Volk - in dem gerade erst hinter uns gelassenen Jahrhundert - einer abscheulichen Vernichtungsaktion ausgesetzt war, die als eine unauslöschliche Schande in der Geschichte der Menschheit geblieben ist.

Der zweite Teil des Psalms (vgl. V. 5-6) hingegen ist von der liebevollen Erinnerung an Zion erfüllt, die verlorene Stadt, die aber im Herzen der Verbannten weiterlebt.

2. Nach den Worten des Psalmisten sind dabei die Hand, die Zunge, der Gaumen, die Stimme, die Tränen in Mitleidenschaft gezogen. Die Hand ist für den Harfenspieler unentbehrlich: Aber nun ist sie vom Schmerz gelähmt (vgl. V. 5), auch weil die Harfen an die Weiden gehängt wurden.

Die Zunge ist für den Sänger notwendig, aber nun klebt sie am Gaumen (vgl. V. 6). Vergeblich verlangen die babylonischen Zwingherren von ihnen »Lieder…, Lieder vom Zion« (V. 3). Die »Lieder vom Zion« sind »Lieder des Herrn« (vgl. V. 3-4), keine volkstümlichen, zur Unterhaltung bestimmten Lieder. Sie können nur im Gottesdienst und in der Freiheit eines Volkes zum Himmel aufsteigen.

3. Gott, der höchste Herr über die Geschichte, wird nach dem Maße seiner Gerechtigkeit auch den Schrei der Opfer - trotz der bitteren Akzente, die er bisweilen annimmt - verstehen und erhören können.

Wir wollen uns für eine weitere Betrachtung über unseren Psalm dem hl. Augustinus anvertrauen. In sie führt der große Kirchenvater eine überraschende und hochaktuelle Bemerkung ein: Er weiß, daß es auch unter den Bewohnern von Babylon Menschen gibt, die sich für den Frieden und das Gemeinwohl einsetzen, obwohl sie den biblischen Glauben nicht teilen, also die Hoffnung auf die ewige Stadt, nach der wir streben, nicht kennen. Sie tragen in sich einen Funken von Sehnsucht nach dem Unbekannten, dem Größten, dem Transzendenten, nach einer wahren Erlösung. Und Augustinus sagt, daß es sogar unter den Verfolgern, unter den Nichtgläubigen Menschen mit diesem Funken, mit einer Art von Glauben und Hoffnung gebe, soweit es ihnen unter ihren Lebensumständen möglich sei. Mit diesem Glauben an eine, wenngleich unbekannte Wirklichkeit sind sie tatsächlich auf dem Weg zum wahren Jerusalem, zu Christus. Und mit dieser hoffnungsvollen Offenheit auch gegenüber den Babyloniern - wie Augustinus sie nennt -, gegenüber jenen, die Christus und auch Gott nicht kennen und sich trotzdem nach dem Unbekannten, nach dem Ewigen sehnen, richtet er auch an uns die Mahnung, nicht nur auf die materiellen Dinge des gegenwärtigen Augenblicks zu starren, sondern auf dem Weg zu Gott auszuharren. Nur mit dieser größten Hoffnung können wir auch diese Welt in der richtigen Weise verändern. Der hl. Augustinus sagt das mit folgenden Worten: »Wenn wir Bürger Jerusalems sind… und auf dieser Erde, in den Wirren der heutigen Welt, im gegenwärtigen Babylon leben müssen, wo wir nicht als Bürger weilen, sondern gefangen gehalten werden, dann müssen wir alles, was der Psalm sagt, nicht nur singen, sondern es leben: Das geschieht mit einer tiefen Bestrebung des Herzens, das erfüllt ist von frommer Sehnsucht nach der ewigen Stadt.«

Und mit Blick auf die »irdische Stadt, die da heißt Babylon« fügt er hinzu: sie »hat Menschen, die sich, von Liebe zu ihr bewegt, bemühen, ihren Frieden - den zeitlichen Frieden - dadurch zu gewährleisten, daß sie im Herzen keine andere Hoffnung hegen, ja ihre ganze Freude da hineinlegen, ohne sich etwas anderes vorzunehmen. Und wir sehen, wie sie sich alle Mühe geben, um sich für die irdische Gesellschaft nützlich zu machen. Wenn sie sich mit reinem Gewissen für diese Aufgaben verwenden, wird Gott nicht zulassen, daß sie mit Babylon zugrunde gehen, nachdem er sie vorher dazu bestimmt hat, Bürger Jerusalems zu sein: allerdings unter der Voraussetzung, daß sie, während sie in Babylon leben, nicht dessen Stolz, vergänglichen Prunk und ärgerliche Überheblichkeit anstreben… Er sieht ihre Knechtschaft und wird ihnen jene andere Stadt zeigen, nach der sie sich wirklich sehnen und auf die sie alle Mühe richten müssen« (Esposizioni sui Salmi, 136 [137], 1-2: Nuova Biblioteca Agostiniana, XXVIII, Roma 1977, S. 397. 399).

Bitten wir den Herrn, daß in uns allen diese Sehnsucht, diese Offenheit gegenüber Gott erwache und daß auch jene, die Christus nicht kennen, von seiner Liebe berührt werden können, so daß wir alle gemeinsam zur endgültigen Stadt pilgern und das Licht dieser Stadt auch in unserer Zeit und in unserer Welt sichtbar werden kann.

Unsere erste Katechese im Advent - der Zeit der Stille, des Wachens und des Betens in der Vorbereitung auf Weihnachten - gilt dem Psalm 137. Dieses Lied handelt vom leidvollen Weg des Volkes Israel in der babylonischen Gefangenschaft und von seiner Sehnsucht nach der Heimat.

Angesichts der Verbannung versagen dem Psalmisten Stimme, Mund und Hand: „Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?“ (V. 4). Israels Lieder vom Zion sind kein Spektakel zur Unterhaltung der Peiniger; sie können nur in der Freiheit und zum Lob Gottes erklingen. Der Herr zeigt denen, die sich mit reinem Gewissen um das irdische Wohl der Menschen mühen, den Ort, den sie ersehnen und auf den sie ihr ganzes Streben ausrichten müssen.
* * * * *


Einen frohen Gruß richte ich an alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Durch die Taufe sind wir Glieder des mystischen Leibes Christi, der Kirche, und werden zu Bürgern des himmlischen Jerusalems. Tragt die Gewißheit dieser hohen Berufung in eurem Herzen. So könnt ihr mit Gottes Hilfe die Herausforderungen des irdischen Lebens meistern. - In dieser adventlichen Zeit begleite euch der Herr mit seinem Segen!




Mittwoch, 7. Dezember 2005: Lesung: Psalm 138,1-4.8

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Ps 138,1-4 Ps 138 Ps 8
1 Dank für Gottes Hilfe [Von David.] Ich will dir danken aus ganzem Herzen, dir vor den Engeln singen und spielen;
2 ich will mich niederwerfen zu deinem heiligen Tempel hin und deinem Namen danken für deine Huld und Treue. Denn du hast die Worte meines Mundes gehört, deinen Namen und dein Wort über alles verherrlicht.
3 Du hast mich erhört an dem Tag, als ich rief; du gabst meiner Seele große Kraft.
4 Dich sollen preisen, Herr, alle Könige der Welt, wenn sie die Worte deines Mundes vernehmen.
5 Sie sollen singen von den Wegen des Herrn; denn groß ist die Herrlichkeit des Herrn.
6 Ja, der Herr ist erhaben; doch er schaut auf die Niedrigen, und die Stolzen erkennt er von fern.
7 Gehe ich auch mitten durch große Not: du erhältst mich am Leben. Du streckst die Hand aus gegen meine wütenden Feinde, und deine Rechte hilft mir.
8 Der Herr nimmt sich meiner an. Herr, deine Huld währt ewig. Laß nicht ab vom Werk deiner Hände!



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Der Dankhymnus, den wir soeben gehört haben - Psalm 138 -, wird von der jüdischen Überlieferung David zugeschrieben, auch wenn er wahrscheinlich erst in der Zeit nach David entstanden ist. Eröffnet wird der Psalm mit einem persönlichen Lied des Beters. Dieser erhebt seine Stimme im Rahmen der Tempelversammlung oder bezieht sich zumindest auf das Heiligtum von Zion, den Ort der Gegenwart des Herrn und seiner Begegnung mit dem Volk der Gläubigen.

In der Tat bekennt der Psalmist, »daß er sich in Richtung des heiligen Tempels von Jerusalem niederwirft « (vgl. V. 2): Dort singt er vor Gott, der mit seiner Engelschar im Himmel ist, aber auch im irdischen Raum des Tempels zuhört (vgl. V. 1). Der Beter ist sich gewiß, daß der »Name« des Herrn, das heißt seine lebendige, tätige personale Wirklichkeit sowie seine Tugenden der Treue und Barmherzigkeit, Zeichen des Bundes mit seinem Volk, die Stütze jedes Vertrauens und jeder Hoffnung sind (vgl. V. 2).

2. Der Blick richtet sich dann für einen Augenblick auf die Vergangenheit, auf den Tag des Leidens: Damals hatte die göttliche Stimme auf den Ruf des angsterfüllten Gläubigen geantwortet. Sie hatte der verstörten Seele Mut eingeflößt (vgl. V. 3). Der hebräische Urtext spricht wörtlich vom Herrn, der »in der Seele« des unterdrückten Gerechten »die Kraft entfacht«: so als würde ein heftiger Wind hereinbrechen, der Zaudern und Angst vertreibt, eine neue Lebenskraft überträgt und Stärke und Vertrauen erblühen läßt.

Nach dieser anscheinend persönlichen Einleitung erweitert der Psalmist den Blick hin auf die Welt und stellt sich vor, daß sein Zeugnis den ganzen Horizont miteinbeziehe: »alle Könige der Welt« schließen sich, in einer Art universalistischer Zustimmung, in einem gemeinsamen Lobpreis zu Ehren der Größe und souveränen Macht des Herrn dem jüdischen Beter an (vgl. V. 4-6).

3. Der Inhalt dieses vielstimmigen Lobes, das von allen Völkern aufsteigt, zeigt bereits die künftige Kirche der Heiden, die künftige Universalkirche. Dieser Inhalt hat als erstes die »Herrlichkeit« und die »Wege des Herrn« zum Thema (vgl. V. 5), das heißt seine Heilspläne und seine Offenbarung. Man entdeckt auf diese Weise, daß Gott sicher »erhaben« und transzendent ist, aber mit Liebe »auf die Niedrigen schaut«, während er den Stolzen, als Zeichen der Zurückweisung und des Gerichts, von seinem Blick fernhält (vgl. V. 6).

Wie Jesaja verkündete: »Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig Thronende, dessen Name ›der Heilige‹ ist: Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten, um den Geist der Bedrückten wiederaufleben zu lassen und das Herz der Zerschlagenen neu zu beleben« (Is 57,15). Gott trifft also die Wahl, sich auf die Seite der Schwachen, der Opfer, der Geringsten zu stellen und sie zu verteidigen: Das wird übrigens allen Königen bekannt gemacht, damit sie wissen, wie ihre Option bei der Regierung der Völker aussehen soll. Natürlich wird das nicht nur zu den Königen und zu allen Regierungen gesagt, sondern zu uns allen, weil auch wir wissen sollen, welche Entscheidung zu treffen ist, was unsere Option ist: nämlich das Eintreten für die Unterdrückten, Ausgegrenzten, Armen und Schwachen.

4. Nach dieser Einbeziehung der Verantwortlichen der Nationen weltweit, nicht nur der damaligen Zeit, sondern aller Zeiten, kehrt der Beter zum persönlichen Lob zurück (vgl. Ps 138,7-8). Mit einem Blick, der sich nach vorn, in die Zukunft seines Lebens richtet, erfleht er von Gott Hilfe für die Prüfungen, die das Dasein noch für ihn bereithalten wird. Und so beten wir alle mit diesem Beter jener Zeit.

Es wird zusammenfassend von den »wütenden Feinden« gesprochen (V. 7), gleichsam ein Symbol für alle Feindseligkeiten, die sich dem Gerechten auf seinem Gang durch die Geschichte in den Weg stellen können. Doch er weiß, und mit ihm wissen auch wir, daß ihn der Herr niemals verlassen wird, daß er seine Hand ausstrecken wird, um ihm zu helfen und ihn zu führen. So ist das Ende des Psalms ein letztes leidenschaftliches Vertrauensbekenntnis zu Gott, dessen Huld ewig währt: »Er läßt nicht ab vom Werk seiner Hände«, das heißt von seinem Geschöpf (V. 8). Und in diesem Vertrauen, in dieser Gewißheit der Güte Gottes dürfen wir leben.

Wir dürfen sicher sein, daß wir, so schwer und stürmisch die uns erwartenden Prüfungen auch sein mögen, niemals uns selbst überlassen bleiben, niemals aus den Händen des Herrn fallen werden, jenen Händen, die uns geschaffen haben und sich nun auf unserem Lebensweg um uns kümmern. Wie der hl. Paulus bekennen wird: »Er, der bei euch das gute Werk begonnen hat, wird es auch vollenden« (Ph 1,6).

5. So haben auch wir mit einem Psalm des Lobes, Dankes und Vertrauens gebetet. Wir wollen diese Reihe des hymnischen Lobes fortsetzen mit dem Zeugnis eines christlichen Sängers, des großen Ephraim des Syrers (4. Jahrhundert), Verfasser vieler Texte von einem außerordentlichen poetischen und spirituellen Gehalt.

»Wie groß unsere Bewunderung für dich, o Herr, auch sein mag, deine Herrlichkeit übertrifft alles, was unsere Zungen auszudrücken vermögen«, singt Ephraim in einem Hymnus (Hymnen über die Jungfräulichkeit, 7: Die Harfe des Heiligen Geistes)und in einem anderen: »Lob sei dir, für den alle Dinge leicht sind, weil du allmächtig bist« (Hymnen über die Geburt, 11). Ein letzter Grund unseres Vertrauens ist, daß Gott die Macht der Barmherzigkeit besitzt und von seiner Macht für die Barmherzigkeit Gebrauch macht. Und schließlich noch ein letztes Zitat: »Lob sei dir von allen, die deine Wahrheit begreifen« (Hymnen über den Glauben, 14).

Ein Danklied von besonderer Schönheit erklingt im Psalm 138, den wir heute zum Gegenstand unserer Katechese machen. Er beginnt mit einem Hinweis auf die Gebetsrichtung: Zum Tempel hin, zum Ort der Gegenwart des Herrn, an dem Gott seinem Volk begegnet, wendet sich der Beter des Alten Bundes. Sein ganzer Dank gilt dem „Namen“ des Herrn. Dieser steht für die lebendige Wirklichkeit des personalen Gottes, dessen Treue und Barmherzigkeit der Grund des Vertrauens und der Hoffnung seines Volkes sind. Der ganz persönliche Dank für die erfahrene Güte Gottes, für die Erhörung in Stunden der Not, weitet sich schließlich zum universalen Lob: Dich sollen preisen, Herr, alle Könige der Welt! (V. 4).
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Der Gott, der uns Menschen - das Werk seiner Hände - niemals aufgibt, begleite euch alle, liebe Freunde deutscher Sprache, die ich hier ganz herzlich willkommen heiße. Meinen besonderen Gruß richte ich heute an die Pilger der Internationalen Schönstattbewegung sowie an die Notare aus Österreich. Macht euch in diesen Tagen des Advents zu Trägern und Boten des Lichts, das unserer Welt in Jesus Christus aufstrahlt. Euch allen eine gute Zeit in Rom!




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