Generalaudienzen 2005-2013 23086

Mittwoch, 23. August 2006: Johannes, der "Seher von Patmos"

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Liebe Brüder und Schwestern!

In der letzen Katechese waren wir zur Betrachtung der Gestalt des Apostels Johannes gelangt. Zuerst hatten wir versucht zu sehen, was man über sein Leben weiß. Anschließend, in einer zweiten Katechese, haben wir den Hauptinhalt seines Evangeliums und seiner Briefe betrachtet: die »Caritas«, die Liebe. Und heute wird uns ebenfalls die Gestalt des Johannes beschäftigen, diesmal, um über den Seher der Offenbarung nachzudenken. Und uns fällt sofort etwas auf: Während weder das Vierte Evangelium noch die Briefe, die dem Apostel zugeschrieben werden, seinen Namen enthalten, erwähnt die Offenbarung sogar vier Mal den Namen Johannes (vgl. 1,1.4.9; 22,8). Offensichtlich hatte der Autor einerseits keinen Grund, seinen Namen zu verschweigen, und wußte andererseits, daß seine ersten Leser ihn genau identifizieren konnten. Wir wissen aber, daß die Gelehrten bereits im 3. Jahrhundert über die Identität des in der Offenbarung erwähnten Johannes diskutierten. Zu guter Letzt könnten wir ihn auch den »Seher von Patmos« nennen, weil seine Gestalt mit dem Namen dieser Insel im Ägäischen Meer verbunden ist, wo er sich nach seinem autobiographischen Zeugnis »um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses für Jesus« (
Ap 1,9) in der Verbannung lebte. Eben auf der Insel Patmos hatte Johannes, »am Tag des Herrn … vom Geist ergriffen« (Ap 1,10), großartige Visionen und hörte außerordentliche Botschaften, die die Geschichte der Kirche und die ganze christliche Kultur nicht wenig beeinflußt haben. Zum Beispiel ging der Titel seines Buches - Apokalypse, Offenbarung - in unseren Sprachgebrauch über in den Worten »Apokalypse, apokalyptisch«, die, wenn auch zu unrecht, die Idee einer drohenden Katastrophe einschließen.

Das Buch muß vor dem Hintergrund der dramatischen Erfahrungen der sieben Gemeinden der Provinz Asien (Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodizea) verstanden werden, die gegen Ende des ersten Jahrhunderts große Schwierigkeiten in ihrem Zeugnis für Christus zu bewältigen hatten: Verfolgungen und auch innere Spannungen. An sie wendet sich Johannes mit lebendigem pastoralem Einfühlungsvermögen gegenüber den verfolgten Christen, die er ermahnt, im Glauben standhaft zu bleiben und sich nicht der so starken heidnischen Umwelt anzugleichen. Sein Thema ist im letzten die Enthüllung des Sinns der Menschheitsgeschichte, ausgehend vom Tod und der Auferstehung Christi. Die erste und grundlegende Vision des Johannes betrifft die Gestalt des Lammes, das geschlachtet wurde und dennoch aufrecht steht (vgl. Ap 5,6), es steht in der Mitte vor dem Thron, auf dem Gott selbst bereits sitzt. Damit will uns Johannes vor allem zwei Dinge sagen: Erstens, daß Jesus, obwohl er einen gewaltsamen Tod erlitten hat, nicht auf die Erde niedergestreckt ist, sondern paradoxerweise fest auf seinen Füßen steht, weil er mit der Auferstehung den Tod endgültig besiegt hat. Zweitens, daß Jesus gerade aufgrund seines Todes und seiner Auferstehung bereits vollkommen an der königlichen und rettenden Macht des Vaters Anteil hat. Dies ist die grundlegende Vision. Jesus, der Sohn Gottes, ist auf dieser Erde ein schutzloses, verletztes, getötetes Lamm. Und dennoch steht er aufrecht, auf seinen Füßen, er steht vor dem Thron Gottes und hat Anteil an der göttlichen Macht. Er hält die Geschichte der Welt in seinen Händen. Und so möchte uns der Seher sagen: Habt Vertrauen in Jesus, habt keine Angst vor den feindlichen Mächten, vor der Verfolgung! Das verletzte und getötete Lamm siegt! Folgt dem Lamm Jesus, vertraut euch Jesus an, folgt seinem Weg! Auch wenn er in dieser Welt nur ein Lamm ist, das schwach zu sein scheint, so ist er doch der Sieger!

Eine der Hauptvisionen der Offenbarung hat dieses Lamm zum Gegenstand: Es ist im Begriff ein Buch zu öffnen, das zuvor mit sieben Siegeln verschlossen war, die niemand öffnen konnte. Es wird sogar gesagt, daß Johannes weint, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen und es zu lesen (vgl. Ap 5,4). Die Geschichte kann nicht entschlüsselt werden, sie bleibt unverständlich. Niemand kann sie lesen. Vielleicht ist dieses Weinen des Johannes vor dem dunklen Geheimnis der Geschichte Ausdruck der Erschütterung der Gemeinden Asiens aufgrund des Schweigens Gottes angesichts der Verfolgungen, denen sie in jener Zeit ausgesetzt waren. Es ist eine Erschütterung, in der sich auch unsere Bestürzung widerspiegelt angesichts der großen Schwierigkeiten, dem Unverständnis und der Feindseligkeit, die die Kirche auch heute in verschiedenen Teilen der Welt erleidet. Es sind Leiden, die die Kirche sicher nicht verdient hat, so wie Jesus selbst seine Hinrichtung nicht verdient hat. Sie enthüllen jedoch sowohl die Bosheit des Menschen, wenn er den Versuchungen des Bösen erliegt, als auch die höhere Führung der Ereignisse durch Gott. Nur das geopferte Lamm ist in der Lage, das versiegelte Buch zu öffnen, seinen Inhalt zu offenbaren und dieser scheinbar oft so absurden Geschichte Sinn zu verleihen. Nur das Lamm kann aus ihr Weisungen und Lehren für das Leben der Christen ableiten, denen sein Sieg über den Tod die Verkündigung und die Zusicherung des Sieges überbringt, den auch sie zweifellos erringen werden. Die gesamte, sehr bildreiche Sprache, derer sich Johannes bedient, zielt darauf ab, diesen Trost zu vermitteln.

Im Mittelpunkt der Visionen, von denen die Offenbarung berichtet, stehen auch die sehr bedeutungsvollen Visionen von der Frau, die einen Sohn gebiert, sowie die ergänzende Vision vom Drachen, der bereits vom Himmel herabgestürzt, aber noch sehr machtvoll ist. Die Frau steht für Maria, die Mutter des Erlösers, aber zugleich steht sie für die ganze Kirche, das Gottesvolk aller Zeiten, die Kirche, die zu jeder Zeit unter großen Schmerzen Christus immer von neuem gebiert. Und sie wird immer von der Macht des Drachens bedroht. Sie scheint schutzlos, schwach zu sein. Aber während sie bedroht und vom Drachen verfolgt wird, wird sie auch vom Trost Gottes beschützt. Und am Ende siegt diese Frau und nicht der Drache. Das ist die große Prophezeiung dieses Buches, die uns Vertrauen schenkt! Die Frau, die in der Geschichte leidet, die Kirche, die verfolgt wird, erscheint am Ende als prächtige Braut, Vorausbild des neuen Jerusalem, wo es keine Tränen und kein Weinen mehr geben wird, Bild der verwandelten Welt, der neuen Welt, deren Licht Gott selbst ist und dessen Leuchte das Lamm ist.

Aus diesem Grund ist die Offenbarung des Johannes, obwohl sie beständige Hinweise auf Leiden, Qualen und Tränen - die dunkle Seite der Geschichte - enthält, gleichermaßen von häufigen Lobgesängen durchzogen, die gleichsam die leuchtende Seite der Geschichte darstellen. So ist zum Beispiel von einer großen Schar zu lesen, die mit lautem Ruf singt: »Halleluja! Denn König geworden ist der Herr, unser Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung. Wir wollen uns freuen und jubeln und ihm die Ehre erweisen. Denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes, und seine Frau hat sich bereit gemacht« (Ap 19,6-7). Wir stehen vor dem typischen christlichen Paradoxon, nach dem das Leiden nie als das letzte Wort wahrgenommen wird, sondern als Durchgangsstadium zur Glückseligkeit verstanden wird und sogar selbst schon auf geheimnisvolle Weise von der Freude durchdrungen ist, die aus der Hoffnung entspringt. Gerade deswegen kann Johannes, der »Seher von Patmos«, sein Buch mit einem letzten Wunsch sehnsuchtsvoller Erwartung schließen. Er erfleht das endgültige Kommen des Herrn: »Komm, Herr Jesus!« (Offb 22,20). Es ist eines der wichtigsten Gebete der frühen Christenheit, das vom hl. Paulus auch in seiner aramäischen Form überliefert wurde: »Marána tha«. Und dieses Gebet - »Unser Herr, komm!« (1Co 16,22) - hat verschiedene Dimensionen. Natürlich ist es vor allem die Erwartung des endgültigen Sieges des Herrn, des neuen Jerusalem, des Herrn, der kommt und die Welt verwandelt. Aber zugleich ist es auch ein eucharistisches Gebet: »Komm Jesus, komm jetzt!« Und Jesus kommt, nimmt sein endgültiges Kommen vorweg. So sagen wir voll Freude zugleich: »Komm jetzt und komm in endgültiger Weise!« Dieses Gebet hat noch eine dritte Bedeutung: »Du bist schon gekommen, Herr! Wir sind uns deiner Gegenwart unter uns sicher. Sie ist unsere freudige Erfahrung. Aber komme endgültig! « Und so beten wir mit dem hl. Paulus, mit dem »Seher von Patmos« und mit der frühen Christenheit: »Komm, Herr Jesus! Komm und verwandle die Welt! Komm schon heute, und es siege der Frieden!« Amen!

Die Reihe der Mittwochskatechesen über die Apostel führt uns heute noch einmal zu Johannes, dem „Seher von Patmos". Die letzte Schrift des Neuen Testaments, die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes, trägt seinen Namen. Das griechische Wort „apokalypsis" bedeutet „Enthüllung". Und darum geht es dem Verfasser: Er möchte den sieben von Verfolgung bedrohten und hart geprüften christlichen Gemeinden der römischen Provinz Asien (Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea) den trostreichen Heilsplan Gottes offenbar machen. Seine bildreiche Botschaft bezieht Johannes aus Visionen. Den bedrängten Christen erwächst Hoffnung aus dem Blick auf das Gotteslamm, das geschlachtet wurde, den gekreuzigten Christus, der aber den Tod besiegt hat (Ap 5,6-14) und nun aufrecht als Auferstandener vor dem Thron Gottes steht und seine Macht über die Geschichte in die Hand genommen hat. Die Offenbarung des Johannes macht uns das christliche Paradox deutlich, demzufolge das Leiden in dieser Welt Teil unseres Weges, aber niemals das letzte Wort ist, sondern ein Durchgangsstadium zu dem unvergänglichen Glück, das uns Jesus Christus in seinem Erlösungsopfer erworben hat.
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Mit herzlicher Freude heiße ich alle deutschsprachigen Teilnehmer an dieser Audienz willkommen. Besonders grüße ich heute die Pilgergruppe aus Hals/Passau mit ihrer italienischen Partnergemeinde Scurcola Marsicana. Der Ausblick auf das himmlische Jerusalem, den uns die Offenbarung des Johannes gewährt, gibt uns Trost, Hoffnung und Zuversicht auf dem oft schwierigen und steinigen Weg durch die Geschichte und durch unser Leben. Den Herrn erwarten wir gläubigen Herzens und wie wissen, dass er auch inmitten seiner Verborgenheit heute schon da und mit uns auf dem Weg ist. Deswegen bitten wir mit der alten Kirche mit einem Gebet, das wir bei Paulus aramäisch, in der Offenbarung griechisch finden: „Komm, Herr Jesus!" (Ap 22,20). Wir bitten ihn darum, dass er einmal endgültig kommt und die Welt verwandelt. Wir bitten ihn aber darum, dass er auch heute kommt und die Welt erneuert und dem Frieden zum Sieg verhilft. Ihnen allen mein apostolischer Segen!



Mittwoch, 30. August 2006: Matthäus

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Liebe Brüder und Schwestern!

Die Reihe der Porträts der zwölf Apostel fortsetzend, die wir vor einigen Wochen begonnen haben, verweilen wir heute bei Matthäus. In Wirklichkeit ist es fast unmöglich, seine Gestalt ganz zu umreißen, da es über ihn nur wenige und bruchstückhafte Nachrichten gibt. Was wir jedoch tun können, ist nicht so sehr seine Biographie als vielmehr sein Bild, wie es im Evangelium überliefert ist, nachzuzeichnen.

Zunächst einmal ist er stets in den Listen der Zwölf, die von Jesus auserwählt wurden, anwesend (vgl.
Mt 10,3 Mc 3,18 Lc 6,15 Ac 1,13). Sein hebräischer Name bedeutet »Geschenk Gottes«. Das erste Evangelium im Schriftkanon, das unter seinem Namen läuft, stellt ihn uns unter einer sehr genauen Bezeichnung vor: »der Zöllner« (Mt 10,3). Auf diese Weise wird er mit dem Mann identifiziert, der am Zoll sitzt und den Jesus in seine Nachfolge beruft: »Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Matthäus auf und folgte ihm« (Mt 9,9). Auch Markus (vgl. 2,13-17) und Lukas (vgl. 5,27-30) berichten von der Berufung des Mannes, der am Zoll sitzt, aber sie nennen ihn »Levi«. Um sich die Szene vorzustellen, die in Mt 9,9 beschrieben wird, genügt es, sich an das wunderbare Gemälde Caravaggios zu erinnern, das sich hier in Rom in der Kirche »San Luigi dei Francesi« befindet. Aus den Evangelien geht ein weiteres biographisches Detail hervor: In dem Abschnitt, der dem Berufungsbericht unmittelbar vorausgeht, wird ein Wunder beschrieben, das Jesus in Kafarnaum vollbracht hat (vgl. Mt 9,1-8 Mc 2,1-12), und es wird die Nähe des Sees von Galiläa, des Sees von Tiberias, erwähnt (vgl. Mc 2,13-14). Das läßt darauf schließen, daß Matthäus seine Funktion als Steuereintreiber in Kafarnaum ausübte, »das am See liegt« (Mt 4,13), wo Jesus ständiger Gast im Haus des Petrus war.

Auf der Grundlage dieser einfachen Feststellungen, die sich aus dem Evangelium ergeben, können wir einige Überlegungen machen. Die erste Überlegung ist die, daß Jesus in den Kreis seiner engsten Vertrauten einen Mann aufnimmt, der nach der gängigen Auffassung im zeitgenössischen Israel als öffentlicher Sünder betrachtet wurde. Matthäus hatte nämlich nicht nur mit Geld zu tun, das aufgrund seiner Herkunft von Leuten, die nicht zum Volk Gottes gehörten, als unrein galt, sondern er kollaborierte außerdem mit einer verhaßten, habgierigen Fremdherrschaft, die Abgaben auch willkürlich festlegen konnte. Aus diesen Gründen erwähnen die Evangelien mehr als einmal »Zöllner und Sünder« (Mt 9,10 Lc 15,1) sowie »Zöllner und Dirnen« (Mt 21,31) in einem Atemzug. Darüber hinaus sehen sie in den Zöllnern ein Beispiel der Engherzigkeit (vgl. Mt 5,46, Sie lieben nur diejenigen, die auch sie lieben) und sagen, daß einer von ihnen, Zachäus, »der oberste Zollpächter und … sehr reich« war (Lc 19,2), während die Volksmeinung sie »Räubern, Betrügern, Ehebrechern« (vgl. Lc 18,11) zugesellte. Vor diesem Hintergrund fällt eine erste Tatsache ins Auge: Jesus schließt keinen von seiner Freundschaft aus. Im Gegenteil, gerade als er im Haus des Matthäus-Levi zu Tisch saß, gab er denjenigen, die sich daran stießen, daß er mit wenig vertrauenerweckenden Leuten Umgang hatte, diese wichtige Erklärung zur Antwort: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten« (Mc 2,17).

Die gute Botschaft des Evangeliums besteht eben darin: im Angebot der Gnade Gottes an den Sünder! An einer anderen Stelle verweist Jesus mit dem berühmten Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner, die zum Tempel hinaufgingen, um zu beten, sogar auf einen namenlosen Zöllner als lobenswertes Vorbild demütigen Vertrauens auf das göttliche Erbarmen: Der Pharisäer rühmt sich seiner eigenen sittlichen Vollkommenheit, der Zöllner dagegen »wagte nicht einmal, seine Augen zum Himmel zu erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!« Und Jesus erläutert: »Ich sage euch: Dieser kehrte als Gerechter nach Hause zurück, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden« (Lc 18,13-14). In der Gestalt des Matthäus stellen uns die Evangelien ein wirkliches Paradox vor Augen: Wer dem Anschein nach weit von der Heiligkeit entfernt ist, kann sogar zu einem Vorbild werden für einen Menschen, der bereit ist, die Barmherzigkeit Gottes zu empfangen, und kann ihre wunderbaren Auswirkungen im eigenen Leben erkennbar werden lassen. Zu diesem Thema macht der hl. Johannes Chrysostomus eine bedeutsame Anmerkung: Er weist darauf hin, daß nur in einigen Berufungsberichten die Arbeit erwähnt wird, der die Berufenen nachgingen. Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes werden berufen, während sie fischen, Matthäus, während er die Steuern eintreibt. Es handelt sich um niedrige Arbeiten - erläutert Chrysostomus - »es gibt ja nichts Gemeineres als das Zöllneramt, nichts Armseligeres als das Fischerhandwerk« (Matthäus-Kommentar, Homilie 30,1). Der Ruf Jesu ergeht also auch an Menschen von niederem sozialen Rang, während sie ihrer gewöhnlichen Arbeit nachgehen.

Eine weitere Überlegung, die dem biblischen Bericht entspringt, ist, daß Matthäus sofort auf den Ruf Jesu antwortet: »Da stand Matthäus auf und folgte ihm.« Die Kürze dieses Satzes hebt die Bereitschaft des Matthäus, auf den Ruf zu antworten, deutlich hervor. Das bedeutet für ihn, alles zu verlassen, vor allem das, was ihm eine sichere Einnahmequelle gewährleistete, auch wenn diese Einnahmen oft unrechtmäßig und unehrenhaft waren. Offensichtlich verstand Matthäus, daß die Vertrautheit mit Jesus es ihm nicht erlaubte, mit Aktivitäten fortzufahren, die Gott nicht guthieß. Die Anwendung auf die Gegenwart ist einfach: Auch heute ist es nicht zulässig, an Dingen festzuhalten, die mit der Nachfolge Jesu nicht vereinbar sind, wie es bei unehrlich erworbenem Reichtum der Fall ist. Er hat einmal sehr deutlich gesagt: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach« (Mt 19,21). Genau das tat Matthäus: Er stand auf und folgte ihm! Man kann mit gutem Grund in diesem »Aufstehen« das Loslassen von einer Situation der Sünde und gleichzeitig die bewußte Zuwendung zu einem neuen Leben sehen, einem aufrichtigen Leben in der Gemeinschaft mit Jesus.

Abschließend soll daran erinnert werden, daß die Tradition der Alten Kirche Matthäus einmütig die Urheberschaft des ersten Evangeliums zuschreibt. Das geschieht bereits von Papias an, der um das Jahr 130 Bischof von Hierapolis in Phrygien war. Er schreibt: »Matthäus hat in hebräischer Sprache die Reden zusammengestellt; ein jeder aber übersetzte dieselben so gut er konnte« (in: Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, III,39). Der Historiker Eusebius fügt hinzu: »Matthäus, der zunächst unter den Hebräern gepredigt hatte, schrieb, als er auch noch zu anderen Völkern gehen wollte, das von ihm verkündete Evangelium in seiner Muttersprache; denn er suchte denen, von welchen er schied, durch die Schrift das zu ersetzen, was sie durch sein Fortgehen verloren« (ebd., III,24). Wir besitzen das von Matthäus in Hebräisch oder Aramäisch geschriebene Evangelium nicht mehr, aber im griechischen Evangelium, das wir haben, hören wir gewissermaßen auch weiterhin die überzeugende Stimme des Zöllners Matthäus, der, zum Apostel geworden, damit fortfährt, uns das rettende Erbarmen Gottes zu verkünden. Hören wir auf diese Botschaft des hl. Matthäus, denken wir immer wieder darüber nach, damit auch wir lernen, aufzustehen und Jesus entschlossen nachzufolgen.

In der heutigen Katechese wollen wir unser Augenmerk auf den Apostel Matthäus richten. Das Neue Testament gibt nur spärlich Auskunft über diesen Jünger. Matthäus - sein Name bedeutet „Geschenk Gottes“ - scheint in den Apostellisten auf. Das erste Evangelium, das bekanntlich seinen Namen trägt, stellt ihn als Zöllner (Mt 9,9 Mt 10,3), d.h. als Steuereintreiber, vor und setzt ihn mit dem Levi des Markus- und des Lukasevangeliums gleich. Der Herr scheut sich nicht, in den Kreis seiner engsten Jünger einen Menschen aufzunehmen, den die Leute als Sünder und Kollaborateur der verhaßten Fremdherrschaft ablehnen und meiden. Christus schließt keinen von seiner Freundschaft aus. Gerade den Sündern will er die Gnade Gottes anbieten. Die Begegnung mit dem Herrn ändert das Leben des Zöllners Matthäus: Er steht auf und folgt Jesus nach. Prompt löst er sich von seinen sündigen Gewohnheiten und beginnt ein neues Leben mit dem Herrn. Mit Blick auf Matthäus können wir daher sagen: Wer zunächst dem Anschein nach weit von der Heiligkeit entfernt ist, kann zum Vorbild eines Jüngers Christi werden, der bereit ist, die göttliche Barmherzigkeit zu empfangen.
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Von Herzen grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache; unter den vielen besonders die Gruppe aus Höchstadt. Der Zöllner Matthäus, der zum Apostel auserwählt wurde, verkündet uns mit seinem Wort und seinem Leben die Barmherzigkeit Gottes. Vertrauten wir uns also der Liebe des Herrn an. Christus ruft uns zum wirklichen Leben. Euch allen wünsche ich einen segensreichen Aufenthalt in Rom.



Mittwoch, 6. September 2006: Der Apostel Philippus

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Liebe Brüder und Schwestern!

Wir wollen fortfahren, die Persönlichkeiten der verschiedenen Apostel nachzuzeichnen, wie wir es seit einigen Wochen tun, und begegnen heute Philippus. In den Zwölferlisten steht er immer an fünfter Stelle (so in
Mt 10,3 Mc 3,18 Lc 6,14 Ac 1,13), also im Grunde unter den ersten. Obwohl Philippus jüdischer Herkunft war, ist sein Name wie der des Andreas griechisch, und das ist ein kleines Zeichen kultureller Offenheit, das man nicht unterschätzen sollte. Die Nachrichten, die wir über ihn besitzen, liefert uns das Johannesevangelium. Er stammte aus demselben Heimatort wie Petrus und Andreas, nämlich aus Betsaida (vgl. Jn 1,44), einer kleinen Stadt, die zur Tetrarchie eines der Söhne Herodes des Großen gehörte, der ebenfalls Philippus hieß (vgl. Lc 3,1).

Das vierte Evangelium berichtet, daß Philippus nach seiner Berufung durch Jesus Natanaël trifft und zu ihm sagt: »Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs« (Jn 1,45). Auf die eher skeptische Antwort Natanaëls hin (»Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen?«) gibt Philippus nicht auf und entgegnet entschieden: »Komm und sieh!« (Jn 1,46). In dieser trockenen, aber klaren Antwort zeigt Philippus die Eigenschaften des wahren Zeugen: Er begnügt sich nicht damit, die Botschaft wie eine Theorie zu verkünden, sondern wendet sich direkt an seinen Gesprächspartner und schlägt ihm vor, das, was ihm verkündet wurde, persönlich zu erfahren. Dieselben Verben verwendet auch Jesus selbst, als zwei Jünger Johannes des Täufers sich ihm nähern, um ihn zu fragen, wo er wohne: »Kommt und seht« (vgl. Jn 1,38-39).

Wir dürfen annehmen, daß Philippus mit jenen beiden Verben, die auf ein persönliches Einbezogensein hindeuten, sich auch an uns wendet. Auch zu uns sagt er, was er zu Natanaël gesagt hat: »Komm und sieh«. Der Apostel verpflichtet uns, Jesus aus der Nähe kennenzulernen. In der Tat braucht die Freundschaft, das wahre Kennenlernen des anderen, die Nähe, ja teilweise lebt sie sogar von ihr. Im übrigen darf man nicht vergessen, daß - nach den Worten des Markus - Jesus die Zwölf hauptsächlich mit der Absicht auswählte, sie »bei sich haben« zu wollen (Mc 3,14), daß sie also sein Leben mit ihm teilen und direkt von ihm nicht nur seine Verhaltensweise lernen sollten, sondern vor allem, wer er wirklich ist. Denn nur so, durch die Teilnahme an seinem Leben, konnten sie ihn kennenlernen und dann verkünden. Später wird man im Brief des Paulus an die Epheser lesen, daß es darauf ankommt, »Christus zu lernen« (vgl. Ep 4,20), also nicht nur und nicht in erster Linie seine Lehre, seine Worte zu hören, sondern vielmehr ihn persönlich, also sein Menschsein und seine Göttlichkeit, sein Geheimnis und seine Schönheit kennenzulernen. Denn er ist nicht nur ein Lehrmeister, sondern ein Freund, ja ein Bruder. Wie könnten wir ihn wirklich kennenlernen, wenn wir fern von ihm blieben? Die enge Beziehung, die Verbundenheit, die Vertrautheit lassen uns die wahre Identität Jesu Christi entdecken. Und eben daran erinnert uns der Apostel Philippus. So lädt er uns ein, zu »kommen« und zu »sehen«, das heißt, Tag für Tag mit Jesus in eine Verbindung des Zuhörens, des Antwortgebens und der Lebensgemeinschaft einzutreten.

Vor dem Ereignis der Brotvermehrung richtete Jesus dann eine bestimmte und ziemlich überraschende Frage an ihn: Wo es möglich wäre, Brot zu kaufen, um all die Menschen, die ihm folgten, zu sättigen (vgl. Jn 6,5). Da antwortete Philippus mit großem Realismus: »Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll« (Jn 6,7). Hier sieht man die Konkretheit und den Realismus des Apostels, der zu beurteilen vermag, was eine Situation wirklich mit sich bringt. Wie es dann weitergegangen ist, wissen wir. Wir wissen, daß Jesus die Brote nahm, das Dankgebet sprach und sie austeilte. So geschah die Brotvermehrung. Interessant ist aber, daß Jesus sich gerade an Philippus wandte, um einen ersten Hinweis darauf zu erhalten, wie man das Problem lösen sollte: ein offenkundiges Zeichen dafür, daß Philippus zum engeren Kreis gehörte, der Jesus umgab. Zu einem anderen, für die spätere Geschichte sehr wichtigen Zeitpunkt, kurz vor dem Leiden Jesu, traten einige Griechen, die sich zum Paschafest im Jerusalem aufhielten, »an Philippus heran … und sagten zu ihm: Herr, wir möchten Jesus sehen. Philippus ging und sagte es Andreas; Andreas und Philippus gingen und sagten es Jesus« (Jn 12,20-22). Wieder haben wir einen Hinweis auf sein besonderes Ansehen innerhalb des Apostelkollegiums. Vor allem tritt er in diesem Fall als Vermittler zwischen der Anfrage einiger Griechen - wahrscheinlich sprach er Griechisch und konnte als Übersetzer fungieren - und Jesus auf; auch wenn er sich mit Andreas, dem anderen Apostel mit einem griechischen Namen, zusammenschließt, ist dennoch er es, an den jene Fremden sich wenden. Das lehrt uns, daß auch wir immer bereit sein müssen, einerseits Fragen und Bitten, von welcher Seite sie auch kommen mögen, anzunehmen und sie andererseits an den Herrn zu richten, den einzigen, der sie ganz erfüllen kann. Es ist nämlich wichtig zu wissen, daß nicht wir die eigentlichen Adressaten der Bitten derer sind, die an uns herantreten, sondern der Herr: Zu ihm müssen wir jeden hinführen, der sich in Not befindet; jeder von uns muß ein Weg sein, der zu ihm führt!

Dann gibt es noch eine andere ganz besondere Gelegenheit, bei der Philippus in den Vordergrund tritt. Während des Letzten Abendmahls, nachdem Jesus gesagt hatte, daß ihn zu erkennen bedeutet, auch den Vater zu erkennen (vgl. Jn 14,7), fragte ihn Philippus beinahe naiv: »Herr, zeig uns den Vater; das genügt uns« (Jn 14,8). Jesus antwortete ihm mit liebevoll tadelndem Tonfall: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen! Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater? Glaubst du nicht, daß ich im Vater bin und daß der Vater in mir ist? … Glaubt mir doch, daß ich im Vater bin und daß der Vater in mir ist« (Jn 14,9-11). Diese Worte gehören zu den erhabensten Worten des Johannesevangeliums. Sie enthalten eine wirkliche Offenbarung. Am Ende des Prologs seines Evangeliums sagt Johannes: »Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht« (Jn 1,18). Jene Erklärung, die vom Evangelisten stammt, wird von Jesus selbst aufgenommen und bestätigt, jedoch mit einer neuen Nuance. Während nämlich der Johannesprolog von einem erklärenden Eingreifen Jesu durch die Worte seiner Lehre spricht, bezieht sich Jesus in seiner Antwort an Philippus auf seine eigene Person als solche und macht damit deutlich, daß es möglich ist, ihn nicht nur durch das zu verstehen, was er sagt, sondern mehr noch durch das, was er ganz einfach ist. Um es gemäß dem Paradox der Menschwerdung auszudrücken, können wir wohl sagen, daß Gott ein menschliches Antlitz angenommen hat, das Antlitz Jesu, und infolgedessen brauchen wir von nun an, wenn wir das Antlitz Gottes wirklich erkennen wollen, nichts anderes tun, als das Antlitz Jesu zu betrachten! In seinem Antlitz sehen wir wirklich, wer Gott ist und wie Gott ist!

Der Evangelist sagt uns nicht, ob Philippus die Worte Jesu vollkommen verstanden hat. Sicher ist, daß er sein ganzes Leben ihm hingegeben hat. Nach einigen späteren Berichten (den Philippus- Akten und anderen) soll unser Apostel zuerst Griechenland und dann Phrygien evangelisiert und dort, in Hierapolis, den Tod durch Hinrichtung erlitten haben, wobei die Hinrichtung auf unterschiedliche Weise entweder als Kreuzigung oder als Steinigung beschrieben wird. Wir wollen unsere Betrachtung schließen, indem wir das Ziel, auf das unser Leben ausgerichtet sein soll, in Erinnerung rufen: Jesus so zu begegnen, wie ihm Philippus begegnet ist, indem wir versuchen, in ihm Gott selbst, den himmlischen Vater, zu sehen. Wäre dieses Bemühen nicht vorhanden, so würden wir wie in einem Spiegel immer nur auf uns selbst zurückgeworfen und wären immer einsamer! Philippus hingegen lehrt uns, uns von Jesus ergreifen zu lassen, bei ihm zu sein und auch andere zur Teilhabe an dieser unverzichtbaren Gemeinschaft einzuladen - und im Sehen, im Finden Gottes das wahre Leben zu finden.

In der heutigen Katechese gilt unsere Betrachtung dem Apostel Philippus, der wie Petrus und Andreas aus Betsaida in Galiläa stammte und wie sie zu den ersten Jüngern Jesu gehörte. Im Johannesevangelium hören wir, wie er der Einladung Jesu entschlossen Folge leistet und wenig später selbst zum Apostel wird. Offen und frei erzählt er Natanaël von seiner Begegnung mit Jesus, daß er den gefunden hat, auf den Israel wartet. Aber er sieht zugleich, daß nur die persönliche Erfahrung Natanaël überzeugen kann, daß dies der Erwartete ist und darum fordert er Natanaël, den Zweifelnden, Skeptischen einfach auf: »Komm und sieh!« (Jn 1,46). In Jesus Christus hat Gott ein menschliches Antlitz angenommen und ist unser Freund und Bruder geworden. Jesus selbst sagt beim Letzten Abendmahl zu Philippus: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen« (Jn 14,9). Und so hinterläßt uns Philippus diese Botschaft, andere in die persönliche Begegnung mit Jesus hineinzuführen, ihnen zu sagen: »Komm doch und sieh!«, den Auftrag, selber immer neu zu kommen, um sehen zu lernen und so im Gesicht Jesu, Gott, den scheinbar fernen Gott, nah zu erkennen und von ihm her zu lernen, wie man lebt.
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Einen ganz herzlichen und frohen Gruß richte ich heute an die zahlreichen Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders begrüße ich - das Vorherige aufnehmend - die große Schar der Goldhaubenfrauen aus Bayern und Oberösterreich, die gemeinsam mit ihren Hirten Bischof Wilhelm Schraml von Passau und Bischof Ludwig Schwarz von Linz, nach Rom gepilgert sind. Liebe Goldhaubenfrauen, ihr wißt, wie sehr ich diese Tracht liebe, tragt diese schöne Tracht zur Ehre Gottes und wißt zugleich, wie das Neue Testament uns sagt, daß der innerste Schmuck der Frau natürlich von ihrem Herzen kommt. Ebenso herzlich begrüße ich die Bürgerschützen aus Paderborn mit Erzbischof Hans-Josef Becker, sowie die Fußwallfahrer: 400 Fußwallfahrer aus dem Bistum Regensburg. Wir sehen uns ja, so Gott will, gleich wieder in Regensburg, aber ich komme nicht zu Fuß. Der Herr schenke euch allen, die ihr hier seid, die Gnade, Jesus zu begegnen und andere zu ihm zu führen, damit sie durch ihn den Vater finden. - In der Vorfreude auf meinen schon sehr nahen Pastoralbesuch in Bayern erbitte ich für euch alle Gottes reichsten Segen.



Mittwoch, 20. September 2006: Die Apostolische Reise nach München, Altötting und Regensburg

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich in Gedanken Rückschau halten auf die verschiedenen Momente der Pastoralreise nach Bayern in der vergangenen Woche, die zu unternehmen der Herr mir gewährt hat. Während ich mit euch meine Empfindungen teile und das, was mich berührt hat, als ich die mir so teuren Orte wiedersah, verspüre ich vor allem das Bedürfnis, Gott dafür zu danken, daß er diesen zweiten Besuch in Deutschland - und zum ersten Mal in Bayern, meiner Heimat - möglich gemacht hat. Aufrichtig dankbar bin ich auch all jenen, die mit Hingabe und Geduld daran gearbeitet haben, daß jeder Programmpunkt auf bestmögliche Weise ablief: den Bischöfen, Priestern, pastoralen Mitarbeitern, Autoritäten des öffentlichen Lebens, Organisatoren, Ordnungskräften und freiwilligen Helfern. Wie ich bei der Ankunft am Münchener Flughafen am Samstag, dem 9. September, sagte, war es das Ziel meiner Reise, in Erinnerung an all diejenigen, die zur Formung meiner Persönlichkeit beigetragen haben, die tiefen Bindungen zwischen dem Römischen Bischofssitz und der Kirche in Deutschland als Nachfolger des Apostels Petrus erneut zu bekräftigen und zu bestätigen. Die Reise war also nicht nur einfach eine »Rückkehr« in die Vergangenheit, sondern auch eine gute Gelegenheit, um hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. »Wer glaubt, ist nie allein«: Das Motto des Besuches sollte eine Einladung sein, über die Zugehörigkeit jedes Getauften zur einen Kirche Christi nachzudenken, innerhalb der man nie allein ist, sondern in ständiger Gemeinschaft mit Gott und mit allen Brüdern.

Die erste Station war die Stadt München, die »Weltstadt mit Herz«, wie sie genannt wird. In ihrer Altstadt liegt der Marienplatz, wo die »Mariensäule« steht, mit einer Statue der Jungfrau Maria aus vergoldeter Bronze auf der Spitze. Ich wollte meinen Aufenthalt in Bayern mit einer Huldigung an die Patronin Bayerns beginnen, die für mich einen höchst bedeutsamen Wert besitzt: Dort, auf jenem Platz und vor jener Marienfigur, wurde ich vor ungefähr 30 Jahren als Erzbischof empfangen und begann meine bischöfliche Sendung mit einem Gebet an Maria; dorthin kehrte ich am Ende meiner Amtszeit vor meiner Abreise nach Rom zurück. Diesmal wollte ich wieder zu Füßen der Mariensäule stehen, um die Fürsprache und den Segen der Gottesmutter nicht nur für die Stadt München und für Bayern zu erbitten, sondern für die gesamte Kirche und für die ganze Welt. Am nächsten Tag, dem Sonntag, habe ich mit zahlreichen Gläubigen, die aus verschiedenen Gegenden gekommen waren, auf dem Gelände »Neue Messe« in München die Eucharistie gefeiert: Anhand des Evangeliums jenes Sonntags habe ich alle daran erinnert, daß es eine »Schwerhörigkeit « Gott gegenüber gibt, an der wir gerade heutzutage leiden. Es ist die Aufgabe von uns Christen, in einer säkularisierten Welt allen Menschen die Botschaft der Hoffnung, die uns der Glaube schenkt, zu verkünden und zu bezeugen: Im gekreuzigten Christus ruft uns Gott, der barmherzige Vater, dazu auf, seine Kinder zu sein und jede Form von Haß und Gewalt zu überwinden, um zum endgültigen Triumph der Liebe beizutragen.

»Stärke unseren Glauben«: Das war das Thema der Begegnung am Sonntagnachmittag mit den Kommunionkindern und ihren jungen Familien, mit den Katecheten, den anderen pastoralen Mitarbeitern und allen, die an der Evangelisierung in der Diözese München mitarbeiten. Wir haben miteinander die Vesper in der historischen Kathedrale gefeiert, die als »Liebfrauendom « bekannt ist. Hier werden die Reliquien des hl. Benno, des Patrons der Stadt, aufbewahrt, und hier wurde ich im Jahr 1977 zum Bischof geweiht. Die Kinder und die Erwachsenen habe ich daran erinnert, daß Gott nicht weit weg von uns ist, an irgendeinem unerreichbaren Ort im Weltraum. Im Gegenteil, in Jesus hat er sich uns genähert, um mit jedem Freundschaft zu schließen. Jede christliche Gemeinschaft und ganz besonders die Pfarrei ist berufen, durch den ständigen Einsatz jedes ihrer Mitglieder eine große Familie zu werden, die in der Lage ist, vereint auf dem Weg des wahren Lebens voranzuschreiten.

Ein großer Teil des Montags, des 11. September, war dem Aufenthalt in Altötting in der Diözese Passau gewidmet. Dieses Städtchen ist als »Herz Bayerns« bekannt, und dort wird die in der Gnadenkapelle verehrte »Schwarze Madonna« aufbewahrt, die Ziel zahlreicher Pilger aus Deutschland und aus den Ländern Mitteleuropas ist. In der Nähe liegt der Kapuzinerkonvent »St. Anna«, wo der hl. Konrad Birndorfer lebte, der von meinem verehrten Vorgänger Papst Pius XI. im Jahre 1934 heiliggesprochen wurde. Mit den zahlreichen Gläubigen, die zur Feier der heiligen Messe auf dem Platz vor dem Heiligtum versammelt waren, haben wir über die Rolle Mariens im Heilswerk nachgedacht, um von ihr die zuvorkommende Güte, die Demut und die hochherzige Annahme des göttlichen Willens zu lernen. Maria führt uns zu Jesus: Diese Wahrheit wurde am Ende des göttlichen Opfers noch sichtbarer gemacht durch die andachtsvolle Prozession, in der wir, die Statue der Muttergottes mit uns tragend, in die neue Anbetungskapelle eingezogen sind, die bei dieser festlichen Gelegenheit ihrer Bestimmung übergeben wurde. Der Tag wurde abgeschlossen durch die feierliche Marienvesper in der Basilika St. Anna in Altötting, bei der Ordensleute und Seminaristen aus Bayern zusammen mit den Mitgliedern des Werkes für geistliche Berufe anwesend waren.

Am nächsten Tag, dem Dienstag, gab es in Regensburg - einer Diözese, die 739 vom hl. Bonifatius errichtet wurde und deren Patron der heilige Bischof Wolfgang ist - drei wichtige Ereignisse. Am Vormittag fand die heilige Messe auf dem »Islinger Feld« statt, bei der wir das Thema des Pastoralbesuches: »Wer glaubt, ist nie allein« aufgegriffen und so über den Inhalt des Glaubensbekenntnisses nachgedacht haben. Gott, der Vater ist, will die ganze Menschheit durch Jesus Christus in einer einzigen Familie, der Kirche, zusammenführen. Daher ist, wer glaubt, nie allein; wer glaubt, braucht keine Angst zu haben, in einer Sackgasse zu enden. Am Nachmittag war ich dann im Regensburger Dom, der auch für seinen Knabenchor, die »Domspatzen«, bekannt ist. Dieser Chor kann sich einer tausendjährigen Tätigkeit rühmen und wurde drei Jahrzehnte lang von meinem Bruder Georg geleitet. Dort haben wir die ökumenische Vesper gefeiert, an der zahlreiche Vertreter verschiedener Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften in Bayern sowie die Mitglieder der Ökumenekommission der Deutschen Bischofskonferenz teilnahmen. Es war eine willkommene Gelegenheit, um gemeinsam dafür zu beten, daß die volle Einheit unter allen Jüngern Christi schnell vorankommen möge, und um noch einmal die Pflicht hervorzuheben, unseren Glauben an Jesus Christus ohne Abstriche zu verkünden, unverkürzt und deutlich, vor allem aber durch die aufrichtige Liebe in unserem Verhalten.

Eine besonders schöne Erfahrung war es an jenem Tag für mich, eine Vorlesung vor einer großen Zuhörerschaft von Professoren und Studenten in der Universität von Regensburg zu halten, wo ich viele Jahre lang als Professor gelehrt habe. Voll Freude konnte ich noch einmal der universitären Welt begegnen, die während eines langen Abschnitts meines Lebens meine geistliche Heimat gewesen ist. Als Thema hatte ich die Frage des Verhältnisses von Glaube und Vernunft gewählt. Um die Zuhörerschaft in die Dramatik und die Aktualität des Themas einzuführen, habe ich einige Worte aus einem christlich-islamischen Dialog des 14. Jahrhunderts zitiert, mit denen der christliche Gesprächspartner - der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos - auf für uns unverständlich schroffe Art dem islamischen Gesprächspartner das Problem des Verhältnisses von Religion und Gewalt vorlegte. Dieses Zitat konnte leider Anlaß geben zu Mißverständnissen. Für den aufmerksamen Leser meines Textes ist es jedoch deutlich, daß ich mir die von dem mittelalterlichen Kaiser in diesem Dialog ausgesprochenen negativen Worte in keiner Weise zu eigen machen wollte und daß ihr polemischer Inhalt nicht meine persönliche Überzeugung zum Ausdruck bringt. Meine Absicht war eine ganz andere: Ausgehend davon, was Manuel II. im folgenden positiv und mit sehr schönen Worten sagt über die Vernünftigkeit, die uns in der Weitergabe des Glaubens leiten muß, wollte ich erklären, daß nicht Religion und Gewalt, sondern Religion und Vernunft zusammengehören. Thema meines Vortrags war also - dem Auftrag der Universität entsprechend - das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft: Ich wollte zum Dialog des christlichen Glaubens mit der modernen Welt und zum Dialog aller Kulturen und Religionen einladen. Ich hoffe, daß in verschiedenen Augenblicken meines Besuchs - zum Beispiel, als ich in München unterstrichen habe, wie wichtig es ist, Ehrfurcht zu haben vor dem, was den anderen heilig ist - mein tiefer Respekt gegenüber den Weltreligionen deutlich geworden ist, besonders gegenüber den Muslimen, die »den alleinigen Gott anbeten« und mit denen wir gemeinsam eintreten »für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen« (Nostra Aetate
NAE 3). Ich vertraue also darauf, daß nach den Reaktionen des ersten Augenblicks meine Worte in der Universität von Regensburg Antrieb und Ermutigung zu einem positiven und auch selbstkritischen Dialog sowohl zwischen den Religionen als auch zwischen der modernen Vernunft und dem Glauben der Christen sein können.

Am folgenden Vormittag, am Mittwoch, dem 13. September, hatte ich in der »Alten Kapelle« von Regensburg, in der ein Gnadenbild Mariens aufbewahrt wird, das der lokalen Überlieferung zufolge vom Evangelisten Lukas gemalt wurde, den Vorsitz in einer kurzen liturgischen Feier zur Einweihung der neuen Orgel. Ausgehend vom Aufbau dieses Musikinstruments, das aus vielen Pfeifen unterschiedlicher Größe zusammengesetzt ist, die jedoch alle harmonisch aufeinander abgestimmt sind, habe ich die Anwesenden an die Notwendigkeit erinnert, daß die verschiedenen Dienste, Gaben und Charismen in der kirchlichen Gemeinschaft unter der Leitung des Heiligen Geistes in Einklang sind, um eine einzige Harmonie des Lobes Gottes und der brüderlichen Liebe zu bilden.

Die letzte Etappe war am Donnerstag, dem 14. September, die Stadt Freising. Mit ihr fühle ich mich besonders verbunden, weil ich die Priesterweihe in ihrem Dom empfangen habe, der der allerseligsten Jungfrau Maria geweiht ist und dem hl. Korbinian - dem Verkünder des Evangeliums in Bayern. Und im Dom fand die letzte Begegnung statt, die auf dem Programm stand, die Begegnung mit den Priestern und den Ständigen Diakonen. Während die Emotionen meiner Priesterweihe wieder auflebten, habe ich die Anwesenden an ihre Pflicht erinnert, bei der Erweckung neuer Berufungen für den Dienst der »Ernte«, die auch heute »groß« ist, mit dem Herrn zusammenzuarbeiten, und ich habe sie dazu aufgefordert, das innere Leben als pastorale Priorität zu pflegen, um den Kontakt mit Christus, der Quelle der Freude in der alltäglichen Mühe des Dienstes, nicht zu verlieren.

Bei der Abschiedszeremonie habe ich noch einmal all denen gedankt, die an der Verwirklichung des Besuches mitgearbeitet haben, und habe den Hauptzweck der Reise erneut hervorgehoben: meinen Landsleuten die ewigen Wahrheiten des Evangeliums wieder aufzuzeigen und die Gläubigen in der Treue zu Christus zu festigen, dem Sohn Gottes, der für uns Mensch geworden, gestorben und auferstanden ist. Maria, Mutter der Kirche, helfe uns, Herz und Geist demjenigen zu öffnen, der »der Weg und die Wahrheit und das Leben« ist (Jn 14,6). Dafür habe ich gebetet, und ich lade euch alle, liebe Brüder und Schwestern, ein, auch weiterhin dafür zu beten und danke euch herzlich für die Zuneigung, mit der ihr mich in meinem täglichen Hirtendienst begleitet. Ich danke euch allen.

Die heutige Audienz gibt mir Gelegenheit, mit euch Rückschau auf meinen Pastoralbesuch in Bayern zu halten. Ich danke dem Herrn, daß er mir diese unvergeßliche Reise in meine bayerische Heimat geschenkt hat, die ich erstmals als Nachfolger Petri besuchen konnte. Mein inniger Dank gilt meinen Landsleuten für die herzliche Aufnahme und vor allem den vielen, die mit Hingabe zum Gelingen dieser Reise beigetragen haben.

Mit meinem Besuch wollte ich die Bande zwischen der Kirche in Deutschland und dem Stuhl Petri festigen; ich wollte die Menschen im Glauben an Jesus Christus stärken, den wir in der Gemeinschaft der Kirche bekennen. Ein besonderes Anliegen war es mir, das Verhältnis von Glaube und Vernunft und die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs sowie des Dialogs zwischen Wissenschaft und Religion aufzuzeigen. Hier bedarf es der Selbstkritik und, wie ich in München hervorgehoben habe, der Toleranz, die „die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist“, einschließt. Mit diesen Worten möchte ich nochmals klar meinen tiefen Respekt vor den Weltreligionen und vor den Muslimen bekunden, mit denen wir gemeinsam eintreten „für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen“ (Nostra AEtate NAE 3).

Die Stationen meiner Reise waren Orte, die meinen Lebensweg geprägt haben und mit denen ich verbunden bleibe: München, Altötting, Regensburg und Freising. Die bewegenden Gottesdienste, die frohen Begegnungen mit unzähligen Landsleuten und Pilgern haben mich und viele Menschen zutiefst berührt. Ich habe meine Reise, so wie einst meinen Hirtendienst im Erzbistum München und Freising, unter den Schutz der Patrona Bavariae gestellt. Der Fürsprache Mariens, der Mutter der Kirche, vertraue ich auch meinen Petrusdienst an. Maria führt uns hin zu ihrem Sohn; sie lehre uns, dem Herrn Ohr und Herz zu öffnen, stets neu auf sein Wort zu hören und seine Botschaft der Liebe in unserer Welt zu verkünden.
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Mit diesen Gedanken und Erinnerungen heiße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache willkommen. Besonders grüße ich die Teilnehmer an der Diözesanwallfahrt des Erzbistums Salzburg mit Erzbischof Alois Kothgasser. Liebe Freunde, wer glaubt, ist nie allein. Geben wir unseren Mitmenschen die Hoffnung weiter, die von Jesus Christus kommt, dem Erlöser der Welt. Der Herr segne euch alle!




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