Generalaudienzen 2005-2013 27059

Mittwoch, 27. Mai 2009: Der hl. Theodoros Studites

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Liebe Brüder und Schwestern!

Der Heilige, dem wir heute begegnen, Theodoros Studites, führt uns mitten in das byzantinische Mittelalter, eine in religiöser und politischer Hinsicht ziemlich turbulente Zeit. Der hl. Theodoros wurde 759 in einer vornehmen und frommen Familie geboren: Seine Mutter, Theoktiste, und ein Onkel, Platon, Abt des Sakkudionklosters in Bithynien, werden als Heilige verehrt. Dieser Onkel war es denn auch, der ihn zum monastischen Leben hinführte, dem er sich im Alter von 22 Jahren anschloß. Er wurde von Patriarch Tarasios zum Priester geweiht, brach aber dann die Verbindung zu ihm ab, weil sich der Patriarch im Fall der ehebrecherischen zweiten Vermählung von Kaiser Konstantin VI. als schwach erwiesen hatte. Die Folge war die Verbannung des Theodoros nach Thessalonike im Jahr 796. Die Aussöhnung mit der kaiserlichen Obrigkeit erfolgte ein Jahr später unter Kaiserin Irene, deren Wohlwollen Theodoros und Platon dazu veranlaßte, zusammen mit dem Großteil der Mönchskommunität des Sakkudionklosters in das städtische Studioskloster zu übersiedeln, um den Sarazeneneinfällen zu entgehen. Damit begann die bedeutsame »Studitenreform«.

Die persönliche Geschichte des Theodoros war jedoch weiterhin sehr bewegt. Durch seine gewohnte Tatkraft wurde er zum Anführer des Widerstands gegen den Ikonoklasmus Leos V. des Armeniers, der sich von neuem dem Gebrauch von Bildern und Ikonen in der Kirche widersetzte. Die von den Mönchen des Studiosklosters durchgeführte Ikonenprozession entfesselte die Reaktion der Polizei. In den Jahren zwischen 815 und 821 wurde Theodoros gegeißelt, eingekerkert und an verschiedene Orte Kleinasiens verbannt. Schließlich konnte er zwar nach Konstantinopel, aber nicht in sein Kloster zurückkehren. Er ließ sich nun mit seinen Mönchen auf der anderen Seite des Bosporus nieder. Allem Anschein nach ist er am 11. November 826 auf den Prinzeninseln gestorben; das ist auch im byzantinischen Kalender sein Gedenktag. Theodoros hat sich in der Kirchengeschichte als einer der großen Erneuerer des monastischen Lebens und während der zweiten Phase des Bilderstreits an der Seite des hl. Nikephoros, Patriarch von Konstantinopel, auch als Verfechter der Verehrung der heiligen Bilder erwiesen. Theodoros hatte verstanden, daß es bei der Frage der Bilderverehrung um die Wahrheit der Menschwerdung selbst ging. In seinen drei Büchern AntirrhetikoiWiderlegungen«) zieht Theodoros einen Vergleich zwischen den ewigen innertrinitarischen Beziehungen, wo die Existenz jeder göttlichen Person die Einheit nicht zerstört, und den Beziehungen zwischen den zwei Naturen in Christus, die in ihm die einzige Person des »Logos« nicht beeinträchtigen. Und er argumentiert: Die Verehrung der Ikone Christi abzuschaffen, würde bedeuten, sein Erlösungswerk auszulöschen, da das unsichtbare ewige »Wort« dadurch daß es die menschliche Natur angenommen hat, im sichtbaren menschlichen Fleisch erschienen ist und auf diese Weise den ganzen sichtbaren Kosmos geheiligt hat. Die durch den liturgischen Segen und die Gebete der Gläubigen geheiligten Ikonen vereinen uns mit der Person Christi, mit seinen Heiligen und durch sie mit dem himmlischen Vater und bezeugen das Eintreten der göttlichen Wirklichkeit in unseren sichtbaren und materiellen Kosmos.

Theodoros und seine Mönche, mutige Zeugen in der Zeit der Verfolgungen während des Bilderstreits, sind untrennbar an die Reform des zönobitischen Lebens in der byzantinischen Welt gebunden. Ihre Bedeutung drängt sich uns schon durch einen äußeren Umstand auf: die Anzahl. Während die Klöster der Zeit nicht mehr als 30 oder 40 Mönche hatten, wissen wir aus der »Lebensbeschreibung des Theodoros« von der Existenz von insgesamt mehr als tausend Studiten- Mönchen. Theodoros selbst informiert uns über die Anwesenheit von ungefähr dreihundert Mönchen in seinem Kloster; wir sehen also die Glaubensbegeisterung, die im Umfeld dieses wirklich vom Glauben unterrichteten und geformten Mannes entstanden ist. Mehr als die Anzahl erwies sich dennoch der neue Geist als einflußreich, der dem zönobitischen Leben vom Gründer eingeprägt wurde. In seinen Schriften beharrt er auf der Dringlichkeit einer bewußten Rückkehr zur Lehre der Väter, vor allem des hl. Basilius, des ersten Gesetzgebers des Mönchslebens, und des hl. Dorotheos von Gaza, eines berühmten geistlichen Vaters in der palästinensischen Wüste. Der charakteristische Beitrag des Theodoros besteht in dem beharrlichen Dringen auf die Notwendigkeit der Ordnung und der Unterwerfung seitens der Mönche. Diese hatten sich während der Verfolgungen zerstreut und sich daran gewöhnt, daß jeder nach seinem eigenen Gutdünken lebte. Nun, da es möglich geworden war, das Gemeinschaftsleben wiederherzustellen, mußte man sich intensiv darum bemühen, das Kloster wieder zu einer wahren organischen Gemeinschaft, zu einer wahren Familie oder, wie er sagt, zu einem wahren »Leib Christi« zu machen. In einer solchen Gemeinschaft erfüllt sich konkret die Wirklichkeit der Kirche als ganzer.

Eine weitere Grundüberzeugung des Theodoros ist folgende: Im Vergleich zu den in der Welt lebenden Menschen übernehmen die Mönche die Verpflichtung, die christlichen Pflichten mit größerer Strenge und Intensität zu beachten. Dafür legen sie ein besonderes Gelübde ab, das zu den »hagiasmata« (Weihen) gehört und einer »neuen Taufe« gleichkommt, deren Symbol die Einkleidung ist. Im Vergleich zu den weltlichen Menschen ist für die Mönche hingegen die Verpflichtung zur Armut, zur Keuschheit und zum Gehorsam charakteristisch. Wenn sich Theodoros an die Mönche wendet, spricht er in konkreter, manchmal gleichsam pittoresker Weise von der Armut; sie ist aber in der Nachfolge Christi von Anfang an ein wesentliches Element des Mönchtums und weist auch uns allen einen Weg. Der Verzicht auf den Privatbesitz, dieses Freisein von den materiellen Dingen sowie die Nüchternheit und Einfachheit gelten in der radikalen Form nur für die Mönche, aber der Geist eines solchen Verzichts ist für alle derselbe. Wir dürfen nämlich nicht von den materiellen Besitztümern abhängig sein, müssen hingegen den Verzicht, die Einfachheit, die Strenge und die Nüchternheit lernen. Nur so kann eine solidarische Gesellschaft wachsen und das große Problem der Armut in dieser Welt überwunden werden. In diesem Sinne weist also das radikale Zeichen der armen Mönche im wesentlichen auch einen Weg für uns alle. Wenn Theodoros dann die Versuchungen gegen die Keuschheit darlegt, verbirgt er seine eigenen Erfahrungen nicht und zeigt den Weg eines inneren Kampfes, um die Herrschaft über sich selbst und so die Achtung vor dem eigenen Leib und dem des anderen als Tempel Gottes zu finden.

Aber die hauptsächlichen Verzichtleistungen sind für ihn jene, die vom Gehorsam eingefordert werden, weil jeder der Mönche seine eigene Lebensart besitzt und die Eingliederung von dreihundert Mönchen in die große Gemeinschaft wirklich eine neue Lebensform beinhaltet, die er als das »Martyrium der Unterwerfung« bezeichnet. Auch hier geben die Mönche nur ein Beispiel dessen, was für uns selbst notwendig ist, da nach der Ursünde der Mensch dazu neigt, seinen eigenen Willen zu tun, das erste Prinzip ist das Leben der Welt, alles andere wird dem eigenen Willen untergeordnet. Aber auf diese Weise, wenn jeder nur sich selbst folgt, kann das soziale Gefüge nicht funktionieren. Nur wenn man lernt, sich in die gemeinsame Freiheit einzufügen, sie zu teilen und sich ihr zu unterwerfen, kann das Erlernen der Gesetzlichkeit, das heißt die Unterwerfung und der Gehorsam gegenüber den Regeln des Gemeinwohls und des gemeinsamen Lebens, eine Gesellschaft sowie auch das Ich selbst von dem Hochmut heilen, der Mittelpunkt der Welt zu sein. So hilft der hl. Theodoros seinen Mönchen und schließlich auch uns durch eine feine Selbstbesinnung das wahre Leben zu begreifen, der Versuchung zu widerstehen, den eigenen Willen als höchste Lebensregel aufzustellen, und die wahre persönliche Identität - die immer eine Identität zusammen mit den anderen ist - und den Frieden des Herzens zu bewahren.

Eine ebenso wichtige Tugend wie der Gehorsam und die Demut ist für Theodoros Studites die »philergia«, das heißt die Liebe zur Arbeit, in der er ein Kriterium sieht, um die Qualität der persönlichen Frömmigkeit zu prüfen: Wer eifrig ist in der Erfüllung der materiellen Verpflichtungen, wer beharrlich arbeitet - so argumentiert er - , tut dies auch in den geistlichen Dingen. Daher gestattet er es nicht, daß sich der Mönch unter dem Vorwand des Gebets und der Betrachtung von der Arbeit, auch von der Handarbeit dispensiert, die ihm und der ganzen monastischen Tradition gemäß das Mittel ist, um zu Gott zu finden. Theodoros scheut sich nicht, von der Arbeit als dem »Opfer des Mönchs«, als seiner »Liturgie«, ja geradezu als einer Art Messe zu sprechen, durch die das Mönchsleben ein engelhaftes Leben werde. Und gerade so wird die Arbeitswelt humanisiert, und der Mensch wird durch die Arbeit mehr er selbst, er kommt näher zu Gott. Eine Folge dieser einzigartigen Sichtweise verdient es in Erinnerung gerufen zu werden: Gerade weil sie Frucht einer Art von »Liturgie« sind, dürfen die aus der gemeinsamen Arbeit erwirtschafteten Reichtümer nicht der Bequemlichkeit der Mönche dienen, sondern müssen zur Hilfe für die Armen bestimmt sein. Hier können wir alle die Notwendigkeit erfassen, daß die Frucht der Arbeit ein Gut für alle ist. Natürlich war die Arbeit der »Studiten« nicht nur manuelle Arbeit: Sie hatten - als Kalligraphen, Maler, Dichter, Erzieher der Jugendlichen, Schullehrer, Bibliothekare - eine große Bedeutung in der religiösen und kulturellen Entwicklung der byzantinischen Zivilisation.

Obwohl er eine sehr umfassende äußere Aktivität ausführte, ließ sich Theodoros nicht von dem abbringen, was er für seine Funktion als Oberer als streng angebracht ansah, nämlich ein geistlicher Vater seiner Mönche zu sein. Er wußte, welchen entscheidenden Einfluß in seinem Leben sowohl die gute Mutter als auch der heilige Onkel Platon gehabt hatten, der von ihm bezeichnenderweise »Vater« genannt wurde. Er übte daher gegenüber den Mönchen die geistliche Leitung aus. Jeden Tag, so berichtet der Biograph, saß er nach dem Abendgebet vor der Ikonostase, um die vertraulichen Mitteilungen aller zu hören. Er erteilte auch vielen Menschen außerhalb des Klosters geistliche Beratung. Das »Geistliche Tagebuch« und die »Briefe« heben diesen seinen offenen und liebevollen Charakter hervor und zeigen, wie aus seiner Vaterschaft wahre geistliche Freundschaften im klösterlichen Bereich und auch außerhalb entstanden sind.

Die »Regel«, bekannt unter dem Namen Hypotyposis, die bald nach dem Tod des Theodoros kodifiziert wurde, wurde mit einigen Änderungen auf dem Berg Athos angenommen, als im Jahr 961 der hl. Athanasios Athonites dort die »Große Laura« gründete, und in der Kiewer Rus, als sie zu Beginn des zweiten Jahrtausends der hl. Theodosios in der »Höhlen-Laura« einführte. Verstanden in ihrer ursprünglichen Bedeutung, erweist sich die »Regel« als einzigartig aktuell. Heute gibt es zahlreiche Strömungen, die die Einheit des gemeinsamen Glaubens bedrohen und zu einer Art gefährlichem geistlichem Individualismus und geistlicher Überheblichkeit treiben. Es ist notwendig, sich für die Verteidigung und das Wachstum der vollkommenen Einheit des Leibes Christi zu engagieren, in der der Friede der Ordnung und die aufrichtigen persönlichen Beziehungen im Geist in Harmonie zusammen bestehen können.

Es ist vielleicht nützlich, zum Abschluß einige der Hauptelemente der geistlichen Lehre des Theodoros noch einmal aufzugreifen: Liebe zum fleischgewordenen Herrn und zu seiner Sichtbarkeit in der Liturgie und in den Ikonen. Treue zur Taufe und Einsatz für ein Leben in der Gemeinschaft des Leibes Christi, verstanden auch als Gemeinschaft der Christen untereinander. Geist der Armut, der Nüchternheit, des Verzichts; Keuschheit, Selbstbeherrschung, Demut und Gehorsam gegen die Vorherrschaft des eigenen Willens, die das soziale Gefüge und den Seelenfrieden zerstört. Liebe zur materiellen und geistigen Arbeit. Geistliche Freundschaft, die aus der Läuterung des eigenen Gewissens, der eigenen Seele, des eigenen Lebens hervorgeht. Versuchen wir, diesen Lehren zu folgen, die uns wirklich den Weg des wahren Lebens zeigen.

Heute setzen wir mit dem heiligen Theodoros Studites die Reihe der Katechesen über große Gestalten der mittelalterlichen Kirche fort. Theodoros war wie sein Onkel, der heilige Abt Platon, ein byzantinischer Mönch. Energisch und ohne Scheu vor Verfolgung, Bestrafung und Exil verteidigte er die Verehrung der heiligen Ikonen, denn dabei stand für ihn nicht nur eine Frömmigkeitsform, sondern das gläubige Festhalten an der Menschwerdung Christi und an seinem Erlösungswerk auf dem Spiel. Mit ebensolchem Tatendrang setzte er sich für eine Erneuerung des monastischen Lebens ein und war selbst viele Jahre hindurch Abt und Vorsteher von großen Klöstern mit bis zu 300 Mönchen. Die nach ihm benannte „studitische Reform“ betonte das disziplinierte, geordnete und arbeitsame Gemeinschaftsleben nach den evangelischen Räten. Theodoros unterrichtete seine Mönche konkret und praktisch in dieser Form des gottgeweihten Lebens und forderte von ihnen einen wahren Gehorsam ein, der bis zum „Martyrium der Unterwerfung“ unter den Willen Gottes und den rechtmäßigen Oberen gehen kann. Zugleich sahen seine Untergebenen in ihm einen geistlichen Vater, dem sie im vertraulichen Gespräch ihr Herz ausschütten konnten, um Orientierung und Ermutigung für ihr Streben nach Vollkommenheit zu erhalten. Die von Theodoros verfaßten Ordensregeln haben bis heute große Bedeutung auf dem berühmten Berg Athos und in vielen anderen Klostergemeinschaften des Ostens.
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Von Herzen grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Das Beispiel des heiligen Theodoros und seiner Mönchsgemeinschaft zeigen uns, wie wir gemeinsam als Glieder des einen Leibes Christi unsere Berufung zur Heiligkeit leben können. Das ist gerade in unserer vom Individualismus geprägten Zeit ein Ansporn, auf eigene Ansprüche, auf die Zentralität des Ich zu verzichten, uns als ein Teil im großen Organismus Christi und der Weltgeschichte zu verstehen und dem Ganzen zu dienen. Dazu erbitten wir den Beistand des Heiligen Geistes, den Christus seiner Kirche verheißen hat, indem wir gerade am Vorabend des Pfingstfestes erneut darum bitten, daß der Herr seinen Geist über die Kirche und über die ganze Welt ausgießen möge. Gesegnete Pfingsten!



Mittwoch, 3. Juni 2009: Der Hl. Rabanus Maurus

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über ein wirklich außergewöhnliche Persönlichkeit des lateinischen Abendlandes sprechen: den Mönch Rabanus Maurus. Zusammen mit Männern wie Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis, Ambrosius Autpertus, von denen ich bereits in früheren Katechesen gesprochen habe, verstand er es, während der Jahrhunderte des sogenannten frühen Mittelalters den Kontakt mit der großen Kultur der antiken Weisen und der christlichen Väter aufrechtzuerhalten. Rabanus Maurus, an den man sich oft als »praeceptor Germaniae« (Lehrer Germaniens) erinnert, war ein Mann von außerordentlicher geistiger Fruchtbarkeit. Mit seiner absolut außergewöhnlichen Arbeitsfähigkeit trug er vielleicht mehr als alle anderen dazu bei, jene theologische, exegetische und geistliche Kultur lebendig zu erhalten, aus der die folgenden Jahrhunderte schöpfen sollten. Auf ihn beziehen sich große Persönlichkeiten, die der Welt des Mönchtums angehören, wie Petrus Damiani, Petrus Venerabilis und Bernhard von Clairvaux, sowie auch eine immer größere Zahl von »clerici« des Weltklerus, die im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts eine der schönsten und fruchtbarsten Blüten des menschlichen Denkens hervorgebracht haben.

Geboren in Mainz um das Jahr 780, war Rabanus noch im frühesten Jugendalter ins Kloster eingetreten: Er erhielt den Beinamen Maurus, gerade mit Bezug auf den jungen Maurus, der nach dem »II. Buch der Dialoge« des hl. Gregor des Großen noch als Kind von seinen Eltern, römischen Adeligen, dem Abt Benedikt von Nursia anvertraut worden war. Diese frühzeitige Eingliederung des Rabanus als »puer oblatus« in die benediktinische Klosterwelt und die Früchte, die er daraus für sein menschliches, kulturelles und geistliches Wachstum gewann, würden alleine schon einen sehr interessanten erhellenden Blick auf das Leben der Mönche und der Kirche, aber auch auf die Gesellschaft seiner Zeit eröffnen, die üblicherweise als das »karolingische Zeitalter« bezeichnet wird. Über sie oder vielleicht über sich selbst schreibt Rabanus Maurus: »Es gibt einige, die das Glück hatten, von frühester Kindheit an (›a cunabulis suis‹) in die Kenntnis der Heiligen Schrift eingeführt zu werden, und sie sind so gut mit der ihnen von der Heiligen Kirche gebotenen Speise genährt worden, daß sie nach der angemessenen Erziehung zu den höchsten heiligen Weihen befördert werden können« (PL 107,
Col 419 BC).

Die außerordentliche kulturelle Bildung, durch die sich Rabanus Maurus auszeichnete, machte sehr bald die Großen seiner Zeit auf ihn aufmerksam. Er wurde Berater von Fürsten. Er setzte sich dafür ein, die Einheit des Reiches zu gewährleisten, und lehnte es auf einer breiteren kulturellen Ebene niemals ab, jemandem, der sich mit einer Frage an ihn wandte, eine wohlüberlegte Antwort zu geben, die er vorzugsweise der Bibel und den Texten der Kirchenväter entnahm. Auch nachdem er zunächst zum Abt des berühmten Klosters von Fulda und dann zum Erzbischof seiner Heimatstadt Mainz gewählt worden war, unterließ er es nicht, seine Studien fortzusetzen, und bewies durch das Beispiel seines Lebens, daß man gleichzeitig den anderen zur Verfügung stehen kann, ohne sich deshalb einer angemessenen Zeit für die Reflexion, das Studium und die Betrachtung zu berauben. So war Rabanus Maurus Exeget, Philosoph, Dichter, Hirt und ein Mann Gottes. Die Diözesen Fulda, Mainz, Limburg und Breslau (heute Wroclaw) verehren ihn als Heiligen und Seligen. Seine Werke füllen gut sechs Bände der »Patrologia Latina« von Migne. Ihm verdankt man wahrscheinlich einen der schönsten und bekanntesten Hymnen der lateinischen Kirche, (den Pfingsthymnus) Veni Creator Spiritus, eine außerordentliche Synthese der christlichen Pneumatologie. Der erste theologische Versuch des Rabanus kam in der Tat in poetischer Form zum Ausdruck und hatte als Thema das Geheimnis des Heiligen Kreuzes, und zwar in einem Werk mit dem Titel De laudibus Sanctae Crucis, das so konzipiert wurde, daß es nicht nur begriffliche Inhalte, sondern auch vornehmlich künstlerische Anregungen bietet, indem es sowohl die dichterische als auch die malerische Form innerhalb desselben handgeschriebenen Kodex benützt. Während er ikonographisch zwischen den Zeilen seiner Schrift das Bild des gekreuzigten Christus vorlegt, schreibt er zum Beispiel: »Siehe, das Bild des Heilands, der mit der Haltung seiner Glieder für uns die so sehr heilbringende, süße und geliebte Gestalt des Kreuzes heiligt, damit wir im Glauben an seinen Namen und im Gehorsam gegenüber seinen Geboten dank seines Leidens das ewige Leben erlangen können. Jedes Mal, wenn wir den Blick zum Kreuz erheben, erinnern wir uns daher an den, der für uns gelitten hat, um uns der Macht der Finsternis zu entreißen, indem er den Tod auf sich nahm, um uns zu Erbe des ewigen Lebens zu machen« (Lib. 1, Fig. 1, PL 107, Col 151 C).

Diese aus dem Osten stammende Methode, alle Arten von Kunst, den Verstand, das Herz und die Sinne zu vereinen, sollte im Abendland eine enorme Entwicklung erfahren und unvergleichliche Höhepunkte in den mit Miniaturen ausgestatteten Bibelcodices und in anderen Werken des Glaubens und der Kunst erreichen, die in Europa bis zur Erfindung des Buchdrucks und darüber hinaus erblühten. Es zeigt sich auf jeden Fall in Rabanus Maurus ein außerordentliches Bewußtsein für die Notwendigkeit, in die Erfahrung des Glaubens nicht nur den Geist und das Herz, sondern auch die Sinne durch jene anderen Aspekte des ästhetischen Geschmacks und der menschlichen Sensibilität einzubeziehen, die den Menschen dazu führen, mit seinem ganzen Selbst - »Geist, Seele und Leib« - in den Genuß der Wahrheit zu gelangen. Das ist wichtig: Der Glaube ist nicht nur Denken, sondern berührt unser ganzes Sein. Da Gott leibhaftig Mensch geworden ist, in die sichtbare Welt eingetreten ist, müssen wir in allen Dimensionen unseres Seins Gott suchen und ihm begegnen. So dringt die Wirklichkeit Gottes durch den Glauben in unser Sein ein und verwandelt es. Darum hat Rabanus Maurus seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Liturgie als Synthese aller Dimensionen unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit konzentriert. Diese Eingebung des Rabanus Maurus macht ihn so außerordentlich aktuell. Berühmt geblieben sind von ihm auch die Carmina, die vor allem bei den liturgischen Feiern verwendet werden sollten. Denn da Rabanus vor allem ein Mönch war, war sein Interesse für die liturgische Feier ganz selbstverständlich. Er widmete sich allerdings der Dichtkunst nicht als Selbstzweck, sondern unterwarf die Kunst und jede andere Art der Erkenntnis der Vertiefung des Wortes Gottes. Er versuchte daher mit äußerstem Einsatz und Strenge, seine Zeitgenossen, vor allem aber die Amtsträger (Bischöfe, Priester und Diakone), in das Verständnis der zutiefst theologischen und geistlichen Bedeutung aller Elemente der liturgischen Feier einzuführen.

So versuchte er, die in den Riten verborgenen theologischen Bedeutungen zu verstehen und den anderen vorzulegen, wobei er aus der Bibel und aus der Überlieferung der Kirchenväter schöpfte. Er zögerte nicht, aus Aufrichtigkeit und auch, um seinen Erklärungen größeres Gewicht zu verleihen, die patristischen Quellen, denen er sein Wissen verdankte, anzugeben. Er bediente sich ihrer dennoch mit Freiheit und aufmerksamer Unterscheidung, während er die Entfaltung des patristischen Denkens weiterführte. Am Schluß der Epistula prima, die an einen »corepiscopus« der Diözese Mainz gerichtet war, fährt er zum Beispiel - nachdem er auf die Anfragen wegen Klärung bezüglich des Verhaltens bei der Ausübung der pastoralen Verantwortung geantwortet hatte - fort: »Wir haben dir das alles so geschrieben, wie wir es aus der Heiligen Schrift und aus den Canones der Väter abgeleitet haben. Du aber, heiliger Mann, triff deine Entscheidungen, wie es dir am besten scheint, Fall für Fall, indem du versuchst, deine Einschätzung so zu mäßigen, daß in allem die Mäßigung gewährleistet ist, denn sie ist die Mutter aller Tugenden« (Epistulae, I, PL 112, Col 1510 C). So erkennt man die Kontinuität des christlichen Glaubens, dessen Anfänge im Wort Gottes liegen; er ist jedoch immer lebendig, entwickelt sich und bringt sich auf neue Weise zum Ausdruck, immer in Übereinstimmung mit dem ganzen Bau, mit dem ganzen Gebäude des Glaubens.

Da das Wort Gottes integraler Bestandteil der liturgischen Feier ist, widmete sich Rabanus Maurus ihm während seines ganzen Lebens mit höchstem Einsatz. Er verfaßte wertvolle exegetische Erklärungen für fast alle biblischen Bücher des Alten und des Neuen Testaments, mit einer klaren pastoralen Absicht, die er mit Worten wie diesen rechtfertigte: »Ich habe diese Dinge geschrieben…, indem ich Erklärungen und Vorschläge vieler anderer zusammenfaßte, um dem armen Leser, dem nicht viele Bücher zur Verfügung stehen können, einen Dienst zu erweisen, aber auch, um es denen leichter zu machen, denen es in vielen Dingen nicht gelingt, tief in das Verständnis der von den Vätern entdeckten Bedeutungen vorzudringen« (Commentarium in Matthaeum praefatio, PL 107, Col 727 D). Tatsächlich schöpfte er beim Kommentieren der biblischen Texte mit vollen Händen aus den antiken Kirchenvätern, mit besonderer Vorliebe für Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Gregor den Großen.

Seine ausgeprägte pastorale Sensibilität führte ihn dann dazu, sich vor allem um eines der von den Gläubigen und den Klerikern am meisten verspürten Probleme seiner Zeit zu kümmern: das Problem der Buße. Er war nämlich Verfasser von »Pönitentiarien« - so nannte man sie -, in denen dem Empfinden der Epoche entsprechend Sünden und entsprechende Bußen verzeichnet wurden, wobei er so weit als möglich Motivationen benützte, die er aus der Bibel, aus den Beschlüssen der Konzilien und aus den Dekretalen der Päpste schöpfte. Dieser Texte bedienten sich auch die »Karolinger« bei ihrem Versuch einer Reform der Kirche und der Gesellschaft. Derselben pastoralen Absicht entsprachen Werke wie De disciplina ecclesiastica und De institutione clericorum, in denen Rabanus vor allem unter Bezugnahme auf Augustinus den einfachen Gläubigen und dem Klerus seiner Diözese die Grundelemente des christlichen Glaubens erklärte: Sie waren eine Art kleiner Katechismus.

Ich möchte die Vorstellung dieses großen »Kirchenmannes« damit abschließen, daß ich einige seiner Worte zitiere, in denen sich seine Grundüberzeugung gut widerspiegelt: »Wer in der Betrachtung nachlässig ist (›qui vacare Deo negligit‹), beraubt sich selbst der Schau des Lichtes Gottes; wer sich dann in indiskreter Weise von den Sorgen ergreifen läßt und es seinen Gedanken erlaubt, vom Lärm der Dinge der Welt überwältigt zu werden, verurteilt sich zur absoluten Unmöglichkeit, in die Geheimnisse des unsichtbaren Gottes einzudringen« (Lib. I, PL 112, Col 1263 A). Ich denke, daß Rabanus Maurus diese Worte auch an uns heute richtet: In den Zeiten der Arbeit mit ihren frenetischen Rhythmen und in den Ferienzeiten müssen wir bestimmte Zeiten Gott vorbehalten. Wir sollen ihm unser Leben öffnen, indem wir einen Gedanken, eine Reflexion, ein kurzes Gebet an ihn richten, und vor allem dürfen wir den Sonntag als den Tag des Herrn, den Tag der Liturgie nicht vergessen, um in der Schönheit unserer Kirchen, der geistlichen Musik und des Wortes Gottes die Schönheit Gottes selbst wahrzunehmen und ihn in unser Sein eintreten zu lassen. Nur so wird unser Leben groß, nur so wird es wahres Leben.

Heute habe ich für meine Katechese eine geistliche Persönlichkeit aus der Karolingerzeit ausgewählt, den Mönch Rabanus Maurus. Rabanus wird im deutschen Sprachraum als Heiliger verehrt, sein Gedenktag ist der 4. Februar. Er wurde 780 in Mainz geboren, im Kindesalter kam er ins Kloster Fulda, wurde dort 822 Abt und dann 847 Bischof in seiner Vaterstadt. In Mainz ist er auch im Jahr 856 gestorben. Wegen seiner umfassenden Gelehrsamkeit hat man ihm den Beinamen „Lehrer Germaniens“ gegeben. Dies spiegelt sich in seinem reichhaltigen Schrifttum wieder, das exegetische wie pädagogische Arbeiten umfaßt, Verzeichnisse von Bußen für bestimmte Sünden, die sogenannten Penitentiarien, Stellungnahmen zu kirchlichen Streitfragen, Predigten und Hymnen - wahrscheinlich ist der bekannte Hymnus zum Heiligen Geist Veni Creator Spiritus aus seiner Feder. Schließlich seien die Carmina erwähnt, das sind poetische Werke, die wohl auch im Gottesdienst zum Einsatz kamen. Sowohl in der Verkündigung wie auch mit seiner Lyrik wollte Rabanus das Verständnis der Menschen für das Wort Gottes öffnen und vertiefen. Nach seiner Überzeugung ist beim Glaubensakt nicht nur der Verstand am Werk, sondern der ganze Mensch mit seinen Sinnen und Empfindungen. In seinen Schriften geht es Rabanus also darum, nicht nur rationale Begriffe zu vermitteln, sondern auf künstlerische Weise Anstöße zu geben, daß der Mensch seinen Blick zum Wahren und Schönen erhebt und sich mit dem Geist, der Seele und den Sinnen dem Geheimnis unserer Erlösung zuwendet.
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Einen herzlichen Gruß richte ich an alle Pilger und Besucher deutscher Sprache. Der heilige Rabanus ermutigt uns, für das Wissen der Zeit aufgeschlossen zu sein, aber dabei Gott nicht zu vergessen, sondern alles im Licht seiner Schöpferkraft und seiner erlösenden Güte zu sehen. "Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir", sagt der heilige Paulus mit Recht (Ac 17,28). Für eure Zeit hier in Rom wünsche ich euch allen Gottes reichsten Segen.



Mittwoch, 10. Juni 2009: Johannes Scotus Eriugena

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über einen bemerkenswerten Denker des christlichen Abendlandes sprechen: Johannes Scotus Eriugena, dessen Herkunft allerdings im Dunkeln liegt. Er stammte mit Sicherheit aus Irland, wo er am Anfang des 9. Jahrhunderts geboren wurde; wir wissen aber nicht, wann er seine Insel verlassen hat, um den Ärmelkanal zu überqueren und auf diese Weise schon bald ganz zu jener kulturellen Welt zu gehören, die rund um die Karolinger und besonders um Karl den Kahlen im Frankenreich des 9. Jahrhunderts zu entstehen begann. So wie man sein genaues Geburtsdatum nicht kennt, so kennen wir auch das Jahr seines Todes nicht, das den Gelehrten zufolge in die Zeit um das Jahr 870 gefallen sein dürfte.

Johannes Scotus Eriugena verfügte über eine sowohl griechische wie lateinische patristische Bildung aus erster Hand: Er kannte nämlich aus persönlicher Lektüre die Schriften der lateinischen und griechischen Kirchenväter. Unter anderem kannte er gut die Werke von Augustinus, Ambrosius, Gregor dem Großen, also den großen Vätern des christlichen Abendlandes; aber er kannte ebenso gut das Denken des Origines, des Gregor von Nyssa, des Johannes Chrysostomus und anderer nicht weniger großer christlicher Väter des Ostens. Er war ein außergewöhnlicher Mann, der in jener Zeit auch die griechische Sprache beherrschte. Eine ganz besondere Aufmerksamkeit zeigte er für den hl. Maximus Confessor und vor allem für Dionysius Areopagita. Unter diesem Pseudonym verbirgt sich ein kirchlicher Schriftsteller des 5. Jahrhunderts aus Syrien. Aber die mittelalterlichen Gelehrten und auch Johannes Scotus Eriugena waren überzeugt, daß dieser Autor mit einem direkten Schüler des hl. Paulus identisch sei, von dem in der Apostelgeschichte (17,34) die Rede ist. Scotus Eriugena, der von dieser Apostolizität der Schriften des Dionysius überzeugt war, bezeichnete ihn als »göttlichen Schriftsteller« schlechthin; dessen Schriften waren daher eine herausragende Quelle seines Denkens. Johannes Scotus übersetzte seine Werke ins Lateinische. Die großen mittelalterlichen Theologen, wie der hl. Bonaventura, haben die Werke des Dionysius durch diese Übersetzung kennengelernt. Johannes Scotus widmete sein ganzes Leben der Vertiefung und Entwicklung des Denkens des Dionysius, wobei er so sehr aus diesen Schriften schöpfte, daß es noch heute manchmal schwierig sein kann zu unterscheiden, wo man es mit dem Denken des Scotus Eriugena zu tun hat und wo er hingegen nichts anderes tut, als das Denken des Pseudo-Dionysius wiederzugeben.

Tatsächlich hatte Johannes Scotus mit seiner theologischen Arbeit nicht viel Glück. Nicht nur das Ende des karolingischen Zeitalters ließ seine Werke in Vergessenheit geraten; auch eine Zensur von seiten der kirchlichen Autorität warf einen Schatten auf seine Gestalt. In Wirklichkeit vertritt Johannes Scotus einen radikalen Platonismus, der sich manchmal einer pantheistischen Sicht anzunähern scheint, auch wenn seine persönlichen subjektiven Absichten immer rechtgläubig waren. Von Johannes Scotus Eriugena sind einige Werke auf uns gekommen, unter denen die Abhandlung De divisione naturae und »Darlegungen über die himmlische Hierarchie des heiligen Dionysius« erwähnt zu werden verdienen. Er entfaltet dort anregende theologische und geistliche Reflexionen, die auch heutigen Theologen interessante Vertiefungen nahelegen könnten. Ich beziehe mich zum Beispiel auf das, was er über die Pflicht schreibt, eine angemessene Unterscheidung bezüglich dessen zu üben, was als »auctoritas vera« vorgestellt wird, oder über das Bemühen, solange nach der Wahrheit zu suchen, bis man in der stillen Anbetung Gottes zu einer Erfahrung von ihr gelangt.

Unser Autor sagt: »Salus nostra ex fide inchoat: Unser Heil beginnt mit dem Glauben.« Das heißt, wir können nicht von Gott sprechen, indem wir von unseren Erfindungen ausgehen, sondern von dem, was Gott von sich selbst in der Heiligen Schrift sagt. Da jedoch Gott nichts als die Wahrheit sagt, ist Scotus Eriugena überzeugt, daß die Autorität und die Vernunft niemals zueinander in Widerspruch stehen können; er ist überzeugt, daß die wahre Religion und die wahre Philosophie zusammengehören. Aus dieser Sicht schreibt er: »Jede Art von Autorität, die nicht von einer wahren Vernunft bestätigt wird, müßte als schwach angesehen werden… Wahre Autorität ist nämlich nur jene, die mit der kraft der Vernunft entdeckten Wahrheit zusammentrifft, auch wenn es sich um eine Autorität handeln sollte, die von den heiligen Vätern zum Nutzen der Nachkommen empfohlen und weitergegeben worden ist« (I, PL 122,
Col 513 BC). Dementsprechend mahnt er: »Keine Autorität soll dich einschüchtern oder von dem ablenken, was dich die dank einer rechten vernünftigen Betrachtung erlangte Überzeugung verstehen läßt. Die echte Autorität widerspricht nämlich nie der rechten Vernunft, noch kann letztere jemals einer wahren Autorität widersprechen. Die eine und die andere stammen zweifellos aus derselben Quelle, die die göttliche Weisheit ist« (I, PL 122, Col 511 B). Wir sehen hier eine mutige Anerkennung des Wertes der Vernunft, die auf die Gewißheit gegründet ist, daß die wahre Autorität vernünftig ist, weil Gott die schöpferische Vernunft ist.

Nach den Worten Eriugenas muß man sich der Schrift unter Nutzung desselben Unterscheidungskriteriums nähern. Denn obwohl die Schrift - so betont der irische Theologe, indem er eine bereits bei Johannes Chrysostomus vorhandene Überlegung aufgreift - von Gott stammt, wäre sie nicht notwendig gewesen, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte. Man muß also den Schluß ziehen, daß uns die Schrift von Gott mit einer pädagogischen Absicht und aus Nachsicht geschenkt worden ist, damit sich der Mensch all dessen erinnern könne, was ihm seit seiner Erschaffung »nach dem Abbild und Gleichnis Gottes« (vgl. Gn 1,26) ins Herz geprägt worden war und was ihn der Sündenfall hatte vergessen lassen. Eriugena schreibt in den Expositiones: »Nicht der Mensch ist für die Schrift geschaffen, deren er nicht bedurft hätte, wenn er nicht gesündigt hätte, sondern es ist vielmehr die Schrift - durchdrungen von Lehre und Symbolen -, die für den Menschen gegeben worden ist. Dank ihr kann nämlich unsere vernünftige Natur in die Geheimnisse der echten reinen Betrachtung Gottes eingeführt werden« (II, PL 122, Col 146 C). Das Wort der Heiligen Schrift läutert unsere Vernunft, die ein wenig blind ist, und hilft uns, uns wieder dessen zu erinnern, was wir als Ebenbild Gottes in unserem Herzen tragen, das leider von der Sünde verletzt ist.

Daraus ergeben sich einige hermeneutische Konsequenzen im Hinblick auf die Art, die Schrift auszulegen, die noch heute den rechten Weg für eine korrekte Lesart der Heiligen Schrift weisen können. Es geht nämlich darum, den im heiligen Text verborgenen Sinn zu entdecken, und das setzt eine besondere innere Übung voraus, dank welcher sich die Vernunft dem sicheren Weg zur Wahrheit öffnet. Diese Übung darin, daß man eine ständige Bereitschaft zur Umkehr pflegt. Denn um zu einer tiefen Einsicht in den Text zu gelangen, ist es notwendig, gleichzeitig in der Umkehr des Herzens und in der begrifflichen Analyse des biblischen Textes voranzuschreiten, sei dieser kosmischen, geschichtlichen oder lehrmäßigen Charakters. Denn nur dank einer ständigen Reinigung sowohl der Augen des Herzens als auch des Geistes läßt sich das genaue Verständnis erwerben.

Dieser schwer begehbare, anspruchsvolle und begeisternde Weg, der aus ständigen Errungenschaften und Relativierungen des menschlichen Wissens besteht, führt das vernunftbegabte Geschöpf bis an die Schwelle des göttlichen Geheimnisses, wo alle Begriffe ihre Schwäche und Unfähigkeit erkennen lassen und daher mit der einfachen freien und sanften Kraft der Wahrheit dazu zwingen, immer über all das hinauszugehen, was beständig erworben wird. Dieses anbetende und stille Erkennen des Geheimnisses, das in die einigende Gemeinschaft mündet, erweist sich daher als der einzige Weg einer Beziehung zur Wahrheit, die so verinnerlicht wie möglich ist und zugleich gewissenhaft die Andersheit respektiert. Johannes Scotus, der auch hier ein Wort gebraucht, das der christlichen Überlieferung griechischer Sprache teuer ist, hat diese Erfahrung, nach der wir streben, »theosis« oder Vergöttlichung genannt, mit so gewagten Aussagen, daß es möglich war, ihn des heterodoxen Pantheismus zu verdächtigen. Dennoch bleibt ein starker Eindruck angesichts von Texten wie dem folgenden, wo er auf die antike Metapher des Schmelzens von Eisen zurückgreift und schreibt: »Wie also jedes Eisen, das zum Glühen gebracht wurde, bis zu dem Punkt flüssig geworden ist, der pures Feuer zu sein scheint und dennoch die Substanzen voneinander unterschieden bleiben, so muß man akzeptieren, daß nach dem Ende dieser Welt die ganze Natur, sowohl die körperliche wie die nichtkörperliche, nur Gott offenbart und dennoch unversehrt bleibt, so daß Gott in gewisser Weise ›be-griffen‹ werden kann, auch wenn er ›un-begreiflich‹ bleibt, und das Geschöpf selbst mit unaussprechlichem Staunen in Gott verwandelt wird« (V, PL 122, Col 451 B).

Tatsächlich ist das gesamte theologische Denken des Johannes Scotus der offensichtlichste Beweis für den Versuch, das Sagbare des unsagbaren Gottes zum Ausdruck zu bringen, indem er sich einzig und allein auf das Geheimnis des in Jesus von Nazaret Fleisch gewordenen Wortes stützt. Die vielen von ihm verwendeten Metaphern, um diese unaussprechliche Wirklichkeit anzudeuten, beweisen, wie sehr er sich der absoluten Unangemessenheit der Begriffe bewußt ist, mit denen wir über diese Dinge sprechen. Und dennoch bleibt die Faszination und jene Atmosphäre einer echten mystischen Erfahrung, die man in seinen Texten bisweilen mit der Hand berühren kann. Als Beweis dafür soll es genügen, einen Abschnitt aus De divisione naturae zu zitieren, der auch das Gemüt von uns Gläubigen des 21. Jahrhunderts tief berührt: »Man darf nichts anderes ersehnen«, schreibt er, »als die Freude der Wahrheit, die Christus ist, noch muß man etwas anderes vermeiden als dessen Fehlen. Dieses sollte man in der Tat für die einzige Ursache völliger und ewiger Traurigkeit halten. Nimm mir Christus, und es wird mir kein Gut mehr bleiben, und nichts anderes wird mich erschrecken als sein Fehlen. Die größte Qual eines vernünftigen Geschöpfes sind sein Verlust und sein Fehlen« (V, Pl 122, Col 989). Das sind Worte, die wir uns zu eigen machen können, indem wir sie zum Gebet an jenen werden lassen, nach dem sich auch unser Herz sehnt.

Zu den wichtigen Denkern der karolingischen Zeit zählte Johannes Scotus Eriugena. Die genauen Lebensdaten dieses irischen Gelehrten, der vor allem unter Karl dem Kahlen am Hofe des westfränkischen Reiches wirkte, sind nicht bekannt. Vermutlich ist er um das Jahr 870 gestorben. Johannes Scotus Eriugena besaß eine patristische Bildung aus erster Hand. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem heiligen Maximus Confessor und Dionysius Areopagita, deren Schriften er auch ins Lateinische übertrug. In seinem Hauptwerk „De divisione naturae“ zeigte Johannes die Widerspruchslosigkeit von wahrer Autorität und Vernunft auf, die ja beide aus derselben Quelle hervorgehen, nämlich der göttlichen Weisheit. Dabei hat die logische Stringenz als Kriterium der Wahrheit Vorrang vor der Autorität. Für die rechte Auslegung der Heiligen Schrift braucht es eine ständige Bereitschaft zur Umkehr. Um zum tieferen Verständnis des Textes zu gelangen, sind gleichzeitig Fortschritte in der persönlichen Bekehrung und in der begrifflichen Analyse vonnöten, die fortwährende Reinigung des Auges des Herzens und des Geistes. In seinem Denken vertrat Eriugena eine apophatische Theologie. Die Suche nach der Wahrheit führt zu einem betenden und schweigenden Erkennen des Geheimnisses Gottes. Diese unsagbare Erfahrung mystischer Gemeinschaft und Vereinigung mit Gott bezeichnete er mit dem griechischen Ausdruck „theosis“ - Vergöttlichung. So sind manche seiner Intuitionen, die den Ideen griechischer Autoren nahestehen, später von den großen Mystikern weiterentwickelt worden.
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Gerne heiße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache und aus den Niederlanden willkommen. Ein Wort des Johannes Scotus Eriugena mag uns gleichsam als Gebet begleiten, wenn er schreibt: "Nichts anderes wünsche ich als die Freude der Wahrheit, die Christus ist. Wenn du mir Christus nimmst, bleibt mir nichts Gutes mehr, und nichts anderes fürchte ich als sein Fehlen" (vgl. De div. nat., v). Der Herr schenke uns allen seine Gnade!




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