Generalaudienzen 2005-2013 12118

Mittwoch, 12. November 2008: Der Hl. Paulus (12): Die Eschatologie - Die Erwartung der Parusie

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Liebe Brüder und Schwestern!

Das Thema der Auferstehung, bei dem wir vergangene Woche verweilten, eröffnet eine neue Perspektive, nämlich die der Erwartung der Wiederkehr des Herrn, und führt uns deshalb dazu, über die Beziehung zwischen der gegenwärtigen Zeit, Zeit der Kirche und des Reiches Christi, und der Zukunft (»éschaton«), die uns erwartet, wenn Christus die Herrschaft dem Vater übergibt (vgl.
1Co 15,24), nachzudenken. Jede christliche Rede über die Letzten Dinge, »Eschatologie« genannt, geht immer vom Ereignis der Auferstehung aus: In diesem Geschehen haben die Letzten Dinge schon begonnen und sind in einem gewissen Sinn bereits gegenwärtig.

Paulus hat wahrscheinlich im Jahr 52 den ersten seiner Briefe geschrieben, den Ersten Brief an die Thessalonicher, wo er von dieser Wiederkehr Jesu, der »parusia«, Ankunft, der neuen, endgültigen und offenbaren Gegenwart spricht (vgl. 4,13-18). An die Thessalonicher, die ihre Zweifel und Probleme haben, schreibt der Apostel: »Wenn Jesus - und das ist unser Glaube - gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen« (4,14). Und er fährt fort: »Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt. Zuerst werden die in Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein« (4,16-17). Paulus beschreibt die Parusie Christi mit äußerst lebendigen Akzenten und symbolischen Bildern, die jedoch eine einfache und tiefe Botschaft vermitteln: Am Ende werden wir für immer beim Herrn sein. Das ist jenseits aller Bilder die wesentliche Botschaft: Unsere Zukunft ist das Beim-Herrn-Sein. Als Gläubige sind wir bereits in unserem Leben beim Herrn; unsere Zukunft, das ewige Leben, hat schon begonnen.

Im Zweiten Brief an die Thessalonicher ändert Paulus die Perspektive: Er spricht von negativen Ereignissen, die jenem abschließenden, letzten Ereignis werden vorausgehen müssen. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen, sagt er, als stünde der Tag der Wiederkehr des Herrn nach einer zeitlichen Berechnung unmittelbar bevor: »Brüder, wir schreiben euch über die Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, und unsere Vereinigung mit ihm und bitten euch: Laßt euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen, wenn in einem prophetischen Wort oder einer Rede oder in einem Brief, der angeblich von uns stammt, behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da. Laßt euch durch niemand und auf keine Weise täuschen! Denn zuerst muß der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzwidrigkeit erscheinen, der Sohn des Verderbens« (2,1-3). In dem Text wird an späterer Stelle angekündigt, daß es vor der Wiederkehr des Herrn den Abfall von Gott geben wird und daß ein nicht näher identifizierter »Mensch der Gesetzwidrigkeit«, der »Sohn des Verderbens« (2,3) erscheinen müssen wird, den die Tradition später den Antichristen nennen wird. Aber die Absicht dieses Briefes des hl. Paulus ist vor allem praktischer Natur. Er schreibt: »Denn als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir hören aber, daß einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Wir ermahnen sie und gebieten ihnen im Namen Jesu Christi, des Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr selbstverdientes Brot zu essen« (3,10-12). Mit anderen Worten: die Erwartung der Parusie Jesu entbindet nicht vom Einsatz in dieser Welt, sondern erzeugt im Gegenteil Verantwortung vor dem göttlichen Richter bezüglich unseres Handelns in dieser Welt. Gerade dadurch wächst unsere Verantwortung, in der Welt und für diese Welt zu arbeiten. Wir werden dasselbe am nächsten Sonntag im Evangelium von den Talenten sehen, wo uns der Herr sagt, daß er allen Talente anvertraut hat und daß der Richter von ihnen Rechenschaft verlangen wird, indem er sie fragt: Habt ihr Früchte gebracht? Die Erwartung der Wiederkehr des Herrn schließt also Verantwortung für diese Welt ein.

Derselbe Sachverhalt und dieselbe Verbindung zwischen Parusie - Wiederkehr des Richters/ Heilands - und unserem Einsatz in unserem Leben taucht noch in einem anderen Kontext und unter neuen Aspekten im Brief an die Philipper auf. Paulus befindet sich im Gefängnis und wartet auf das Urteil, das ein Todesurteil sein könnte. In dieser Situation denkt er an sein zukünftiges Beim-Herrn-Sein, aber er denkt auch an die Gemeinde von Philippi, die ihren Vater - also Paulus - braucht, und schreibt: »Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll, bedeutet das für mich fruchtbare Arbeit. Was soll ich wählen? Ich weiß es nicht. Es zieht mich nach beiden Seiten: Ich sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein - um wie viel besser wäre das! Aber euretwegen ist es notwendiger, daß ich am Leben bleibe. Im Vertrauen darauf weiß ich, daß ich bleiben und bei euch allen ausharren werde, um euch im Glauben zu fördern und zu erfreuen, damit ihr euch in Christus Jesus um so mehr meiner rühmen könnt, wenn ich wieder zu euch komme« (1,21-26). Paulus hat keine Angst vor dem Tod, im Gegenteil: Er bedeutet nämlich das vollkommene Bei-Christus-Sein. Aber Paulus hat auch Anteil an der Gesinnung Christi, der nicht für sich, sondern für uns gelebt hat. Für die anderen zu leben, ist sein Lebensprogramm, und deshalb zeigt er seine vollkommene Bereitschaft gegenüber dem Willen Gottes, gegenüber dem, was Gott entscheiden wird. Er ist auch in Zukunft vor allem bereit, auf dieser Erde für die anderen zu leben, für Christus zu leben, für dessen lebendige Gegenwart und somit für die Erneuerung der Welt zu leben. Wir sehen also: Dieses Bei-Christus- Sein erzeugt eine große innere Freiheit: Freiheit angesichts des drohenden Todes, aber auch Freiheit angesichts aller Mühen und Leiden des Lebens. Er ist einfach verfügbar gegenüber Gott und wirklich frei.

Nachdem wir die verschiedenen Aspekte der Erwartung der Parusie Christi untersucht haben, gehen wir jetzt zu der Frage über: Welches sind die Grundhaltungen des Christen hinsichtlich der Letzten Dinge: des Todes, des Endes der Welt? Die erste Haltung ist die Gewißheit, daß Jesus auferstanden ist, daß er für immer beim Vater und eben damit für immer bei uns ist. Keiner ist stärker als Christus, da er beim Vater ist, da er bei uns ist. Wir sind daher sicher, befreit von der Angst. Das war eine wesentliche Wirkung der christlichen Verkündigung. Die Angst vor den Geistern, vor den Gottheiten war in der ganzen antiken Welt verbreitet. Und auch heute noch treffen die Missionare, neben den vielen positiven Elementen der Naturreligionen, die Angst vor Geistern, vor unheilvollen Mächten an, die uns bedrohen. Christus lebt, er hat den Tod und damit alle diese Mächte besiegt. In dieser Gewißheit, in dieser Freiheit, in dieser Freude leben wir. Das ist der erste Aspekt unseres Lebens im Hinblick auf die Zukunft.

An zweiter Stelle steht die Gewißheit, daß Christus bei mir ist. Und so wie in Christus die künftige Welt schon begonnen hat, erfüllt uns dies auch mit sicherer Hoffnung. Die Zukunft ist keine Finsternis, in der sich keiner zu orientieren vermag. So ist es nicht. Ohne Christus ist für die Welt auch heute die Zukunft finster, es herrscht große Angst vor der Zukunft. Der Christ weiß, daß das Licht Christi stärker ist, und lebt daher in keiner vagen Hoffnung, sondern in einer Hoffnung, die Sicherheit gibt, und Mut macht, sich der Zukunft zu stellen.

Schließlich die dritte Haltung: Der Richter, der wiederkommt - er ist zugleich Richter und Heiland -, hat uns die Aufgabe hinterlassen, in dieser Welt auf seine Art zu leben. Er hat uns seine Talente übergeben. Deshalb ist unsere dritte Haltung: Verantwortung für die Welt, für die Brüder vor Christus und zugleich auch die Gewißheit seiner Barmherzigkeit. Beides ist wichtig. Wir leben nicht so, als seien Gut und Böse dasselbe, weil Gott ja nur barmherzig sein kann. Das wäre eine Täuschung. In Wirklichkeit leben wir in einer großen Verantwortung. Wir haben Talente erhalten, und wir sind beauftragt, dafür zu arbeiten, daß sich diese Welt Christus öffnet und erneuert wird. Aber obwohl wir in diesem Sinne arbeiten und in unserer Verantwortung wissen, daß Gott der wahre Richter ist, sind wir auch sicher, daß dieser Richter gütig ist. Wir kennen sein Angesicht, das Angesicht des auferstandenen Christus, des für uns gekreuzigten Christus. Daher können wir seiner Güte sicher sein und mit großem Mut vorangehen.

Eine weitere Gegebenheit der paulinischen Lehre zur Eschatologie ist die der Universalität der Berufung zum Glauben, die Juden und Heiden vereint, als Zeichen und Vorwegnahme der künftigen Wirklichkeit, weshalb wir sagen können, daß wir schon mit Jesus Christus im Himmel sind, um aber den kommenden Zeiten die Fülle seiner Gnade zu zeigen (vgl. Ep 2,6f.): Das Nachher wird zu einem Vorher, um den Zustand der beginnenden Verwirklichung, in dem wir leben, deutlich zu machen. Das macht die Leiden des gegenwärtigen Augenblicks erträglich, die aber jedenfalls nicht mit der künftigen Herrlichkeit vergleichbar sind, (vgl. Rm 8,18). Wir gehen im Glauben voran und nicht als Schauende, und auch wenn wir lieber aus dem Leib auswandern und beim Herrn wohnen würden, ist das, was letztlich zählt - ob wir im Leib bleiben oder aus ihm auswandern -, daß wir ihm gefallen (vgl. 2Co 5,7-9).

Zum Schluß noch ein letzter Punkt, der uns vielleicht etwas schwierig erscheint. Am Schluß seines Ersten Briefes an die Korinther wiederholt der hl. Paulus ein Gebet, das in den ersten christlichen Gemeinden in Palästina entstanden ist: »Marána, tha!« - bedeutet wörtlich übersetzt: »Unser Herr, komm!« -, und das er auch den Korinthern in den Mund legt (16,22). Es war das Gebet der ersten Christen, und auch das letzte Buch des Neuen Testaments, die Geheime Offenbarung, schließt mit diesem Gebet: »Komm, Herr Jesus!« Können auch wir so beten? Mir scheint, daß es uns heute, in unserem Leben, in unserer Welt, schwer fällt, aufrichtig darum zu beten, daß diese Welt vergehen, daß das neue Jerusalem kommen, daß das Jüngste Gericht und der Richter, Christus, kommen möge. Ich meine: Auch wenn wir aufrichtiger Weise aus vielen Gründen nicht so zu beten wagen, können auch wir dennoch in richtiger und korrekter Weise mit der ganzen Christenheit sagen: »Komm, Herr Jesus!« Sicher wollen wir nicht, daß jetzt das Ende der Welt kommt. Aber andererseits wollen wir auch, daß diese ungerechte Welt zu Ende geht. Auch wir wollen, daß die Welt grundlegend geändert wird, daß die Zivilisation der Liebe anbricht, daß eine Welt der Gerechtigkeit, des Friedens kommt, ohne Gewalt, ohne Hunger. Das alles wollen wir: Und wie könnte das ohne die Gegenwart Christi geschehen? Ohne die Gegenwart Christi wird es nie eine wirklich gerechte und erneuerte Welt geben. Und wenn auch auf andere Weise können und müssen auch wir ganz und tief mit großer Dringlichkeit und in den Umständen unserer Zeit sagen: Komm, Herr! Komm auf deine Weise, auf die Weise, die du kennst. Komm dorthin, wo es Ungerechtigkeit und Gewalt gibt. Komm in die Flüchtlingslager in Darfur, in Nord-Kivu, in vielen Teilen der Welt. Komm dorthin, wo Menschen von Drogen beherrscht werden. Komm auch zu jenen Reichen, die dich vergessen haben, die nur für sich selbst leben. Komm dorthin, wo du unbekannt bist. Komm auf deine Weise und erneuere die Welt von heute. Komm auch in unsere Herzen, komm und erneuere unser Leben; komm in unser Herz, damit wir selbst Licht Gottes werden können, deine Gegenwart. In diesem Sinne beten wir mit dem hl. Paulus: »Maranà, thà! - Unser Herr, komm!«, und wir beten darum, daß Christus heute in unserer Welt wirklich gegenwärtig sei und sie erneuere.

In der Katechesenreihe über die Lehre des Apostels Paulus haben wir in den vergangenen Wochen die Themen der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung Christi behandelt. Heute folgt ein weiterer Schritt, denn mit Paulus erwarten wir die Wiederkunft des Herrn und das ewige Leben. Die Paulusbriefe spiegeln diesbezüglich die verschiedenen Haltungen unter den ersten Christen wieder: Für manche stand die Parusie, das Kommen Christi in Herrlichkeit, unmittelbar bevor, andere waren überzeugt, daß dazu zunächst eine Reihe von tragischen Ereignissen auftreten mußte. Durch diese unterschiedlichen Interpretationen wollen wir uns aber nicht zu kalendarischen Voraussagen verleiten lassen, die am Wesentlichen, das heißt, an Christus und seinem Heilswerk in uns, vorbeigehen. Vielmehr sollen wir erkennen, daß wir in einer „Zwischenzeit“ leben, in der die durch das Kreuz und die Auferstehung Christi bewirkte Erlösung bereits erfolgt ist, aber unser neues Leben in Christus erst zur Vollkommenheit gelangen muß. Das verleiht der Existenz der Christen eine Spannung auf die Zukunft, auf die Ewigkeit hin. Unser Leben geht nicht ins Leere. Das Ziel vor Augen, strecken wir uns vielmehr voll Hoffnung nach dem Siegespreis aus, den Gott uns in Jesus Christus schenkt (vgl. Ph 3,14).
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Liebe Brüder und Schwestern!

Einen frohen Gruß richte ich an die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Besonders begrüße ich das Domkapitel und die Dechantenkonferenz der Diözese Augsburg in Begleitung von Bischof Dr. Walter Mixa und Weihbischof Grünwald sowie die Mädchenrealschule St. Ursula aus Donauwörth. Christus, dessen Kommen wir erwarten, stärke in uns die Hoffnung auf das ewige Leben, die all unserem irdischen Tun und Streben eine neue, entscheidende Perspektive verleiht. Der Herr behüte und segne euch und eure Lieben!



Mittwoch, 19. November 2008: Der Hl. Paulus (13): Die Rechtfertigungslehre - Von den Werken zum Glauben

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Liebe Brüder und Schwestern!

Auf dem Weg, den wir unter der Führung des hl. Paulus zurücklegen, wollen wir jetzt bei einem Thema innehalten, das im Zentrum der Auseinandersetzungen des Reformationszeitalters stand: die Frage der Rechtfertigung. Wie wird der Mensch in den Augen Gottes gerecht? Als Paulus auf der Straße nach Damaskus dem Auferstandenen begegnete, war er ein selbstverwirklichter Mann: Untadelig in der Gerechtigkeit, wie es das Gesetz vorschrieb (vgl.
Ph 3,6), übertraf er viele seiner Altersgenossen in der Einhaltung der mosaischen Vorschriften und setzte sich voll Eifer für die Überlieferungen der Väter ein (vgl. Ga 1,14). Die Erleuchtung von Damaskus veränderte sein Leben radikal: Angesichts der Erhabenheit der Erkenntnis Jesu Christi begann er, sämtliche Verdienste, die er in einer einwandfreien religiösen Karriere erworben hatte, als »Unrat« zu betrachten (vgl. Ph 3,8). Der Brief an die Philipper bietet uns ein ergreifendes Zeugnis vom Übergang des Paulus von einer auf das Gesetz gegründeten und durch Erfüllung der vorgeschriebenen Werke erworbenen Gerechtigkeit zu einer Gerechtigkeit, die auf den Glauben an Christus gegründet ist: Er hatte erkannt, daß alles, was ihm bis dahin als ein Gewinn erschienen war, in Wirklichkeit Gott gegenüber ein Verlust war, und hatte daher beschlossen, seine ganze Existenz auf Jesus Christus zu setzen (vgl. Ph 3,7). Der im Acker verborgene Schatz und die kostbare Perle, in deren Erwerb man alles andere investiert, waren nicht mehr die Werke des Gesetzes, sondern Jesus Christus, sein Herr.

Die Beziehung zwischen Paulus und dem Auferstandenen wurde so tief, daß sie ihn zu der Aussage veranlaßte, daß Christus nicht mehr nur sein Leben, sondern so sehr sein Lebensziel schlechthin war, daß um bei ihm sein zu können, sogar das Sterben zu einem Gewinn wurde (vgl. Ph 1,21). Nicht daß er das Leben geringgeschätzt hätte, aber er hatte verstanden, daß für ihn das Leben nunmehr keinen anderen Zweck hatte, und daher hegte er keinen anderen Wunsch, als Christus zu erreichen wie in einem Wettlauf, um für immer bei ihm zu bleiben: Der Auferstandene war zum Anfang und Endziel seines Lebens, zum Grund und Ziel seines Laufens geworden. Nur die Sorge um das Reifen im Glauben derer, denen er das Evangelium verkündet hatte, und die Sorge für alle von ihm gegründeten Gemeinden (vgl. 2Co 11,28) veranlaßten ihn, den Lauf zu seinem einzigen Herrn zu verlangsamen, um auf die Jünger zu warten, damit sie zusammen mit ihm auf das Ziel hineilen könnten. Auch wenn er sich bei der vorangegangenen Einhaltung des Gesetzes unter dem Gesichtspunkt der moralischen Integrität nichts vorzuwerfen hatte, zog er es vor, nachdem er von Christus erreicht worden war, kein Urteil über sich selbst zu fällen (vgl. 1Co 4,3-4), sondern beschränkte sich auf den Vorsatz, zu laufen, um Christus zu ergreifen, von dem er ergriffen worden war (vgl. Ph 3,12).

Aufgrund dieser persönlichen Erfahrung der Beziehung zu Jesus Christus stellt Paulus nun den tiefen Gegensatz zwischen zwei alternativen Wegen zur Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seines Evangeliums: Der eine baut auf die Werke des Gesetzes, der andere ist auf die Gnade des Glaubens an Christus gegründet. Die Alternative zwischen der Gerechtigkeit durch die Werke des Gesetzes und der Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus wird somit zu einem der vorherrschenden Leitmotive, die seine Briefe durchziehen: »Wir sind zwar von Geburt Juden und nicht Sünder wie die Heiden. Weil wir aber erkannt haben, daß der Mensch nicht durch Werke des Gesetzes gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir dazu gekommen, an Christus Jesus zu glauben, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird niemand gerecht« (Ga 2,15-16). Und an die Adresse der Christen von Rom betont er: »Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus« (Rm 3,23-24). Und er fügt hinzu: »Denn wir sind der Überzeugung, daß der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes« (ebd., 28). Luther übersetzte diese Stelle: »gerechtfertigt allein durch den Glauben«. Auf diesen Punkt werde ich am Ende der Katechese zurückkommen. Vorher müssen wir klären, was dieses »Gesetz«, von dem wir befreit wurden, eigentlich ist, und was jene »Werke des Gesetzes« sind, die nicht gerecht machen. Bereits in der Gemeinde von Korinth gab es diese Ansicht, die dann systematisch in der Geschichte wiederkehren sollte. Die Ansicht bestand in der Annahme, daß es sich dabei um das Moralgesetz handle und daß die christliche Freiheit daher in der Befreiung von der Ethik bestünde. So war in Korinth das Wort im Umlauf »pa´?ta µ?? e´?est??« (alles ist mir erlaubt). Diese Interpretation ist eindeutig falsch: Die christliche Freiheit ist kein Libertinismus; die Befreiung, von der der hl. Paulus spricht, ist keine Befreiung von der Pflicht, das Gute zu tun.

Aber was bedeutet also das Gesetz, von dem wir befreit sind und das nicht rettet? Für den hl. Paulus wie für alle seine Zeitgenossen bedeutete das Wort Gesetz die Torah in ihrer Gesamtheit, das heißt die fünf Bücher Mose. Die Torah beinhaltete in der Auslegung der Pharisäer, wie sie Paulus studiert und sich zu eigen gemacht hatte, einen Komplex von Verhaltensweisen, der vom ethischen Kern bis zur Befolgung der Ritenund Kultregeln reichte und im wesentlichen die Identität des gerechten Menschen bestimmte. Das galt insbesondere für die Beschneidung, die Einhaltung der Speisevorschriften und die rituelle Reinheit im allgemeinen, sowie die Vorschriften zur Einhaltung des Sabbatgebots usw. Es sind Verhaltensweisen, die oft auch in den Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Zeitgenossen auftauchen. Die Beachtung aller dieser Gesetzesregeln, die Ausdruck einer sozialen, kulturellen und religiösen Identität sind, war zur Zeit der hellenistischen Kultur ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. ganz besonders wichtig geworden. Diese Kultur, die zur universalen Kultur der damaligen Zeit geworden war und eine dem Anschein nach rationale Kultur war, eine dem Anschein nach tolerante polytheistische Kultur, stellte einen starken Druck in Richtung der kulturellen Gleichförmigkeit dar und bedrohte somit die Identität Israels, das aus politischen Gründen dazu gezwungen war, in diese allgemeine Identität der hellenistischen Kultur einzutreten; das hatte den Verlust seiner eigenen Identität zur Folge und damit auch den Verlust des kostbaren Glaubenserbes der Väter, des Glaubens an den einen Gott und an die Verheißungen Gottes.

Gegen diesen kulturellen Druck, der nicht nur die israelitische Identität, sondern auch den Glauben an den einen Gott und an seine Verheißungen bedrohte, war es notwendig, eine Wand der Unterscheidung zu schaffen, einen Verteidigungsschild zum Schutz für das kostbare Erbe des Glaubens; diese Wand bestand in der Beachtung der jüdischen Regeln und Vorschriften. Paulus, der diese Beachtung der Vorschriften in ihrer Funktion zur Verteidigung des Geschenkes Gottes, des Glaubenserbes an einen einzigen Gott erlernt hatte, hatte diese Identität durch die Freiheit der Christen bedroht gesehen: Deshalb verfolgte er sie. Im Augenblick seiner Begegnung mit dem Auferstandenen verstand er, daß sich mit der Auferstehung Christi die Situation radikal geändert hatte. Mit Christus wurde der Gott Israels, der einzige wahre Gott, der Gott aller Völker. Die Wand zwischen Israel und den Heiden - so sagt er im Brief an die Epheser - war nicht mehr notwendig: Christus schützt uns vor dem Polytheismus und all seinen Verirrungen; Christus eint uns mit und in dem einen Gott; Christus gewährleistet unsere wahre Identität in der Verschiedenheit der Kulturen, und er ist es, der uns gerecht macht. Gerecht sein will einfach heißen, mit Christus und in Christus sein. Und das genügt. Die Befolgung anderer Regeln ist nicht mehr notwendig. Darum ist der Ausdruck Luthers »sola fide« wahr, wenn man nicht den Glauben der Nächstenliebe, der Liebe entgegenstellt. Glaube heißt auf Christus schauen, sich Christus anvertrauen, sich an Christus festhalten, sich Christus und seinem Leben angleichen. Und die Form, das Leben Christi ist die Liebe; glauben heißt also, sich Christus anzugleichen und in seine Liebe einzutreten. Deshalb spricht der hl. Paulus im Brief an die Galater, in dem er vor allem seine Lehre über die Rechtfertigung entfaltet hat, vom Glauben, der durch die Liebe wirkt (vgl. Ga 5,14).

Paulus weiß, daß in der zweifachen Liebe zu Gott und zum Nächsten das ganze Gesetz enthalten und erfüllt ist. So ist in der Gemeinschaft mit Christus, im Glauben, der die Liebe hervorbringt, das ganze Gesetz verwirklicht. Wir werden dadurch gerecht, daß wir in die Gemeinschaft mit Christus eintreten, der die Liebe ist. Dasselbe werden wir im Evangelium des kommenden Sonntags, dem Christkönigsfest, sehen. Es ist das Evangelium von dem Richter, dessen einziges Kriterium die Liebe ist. Was er fragt, ist nur dies: Hast du mich besucht, als ich krank war? Als ich im Gefängnis war? Hast du mir zu essen gegeben, als ich hungrig war? Hast du mir Kleider gegeben, als ich nackt war? Und so entscheidet sich die Gerechtigkeit in der Liebe. So können wir am Schluß dieses Evangeliums gleichsam sagen: nur Liebe, nur Nächstenliebe. Aber zwischen diesem Evangelium und dem hl. Paulus besteht kein Widerspruch. Es ist dieselbe Sicht, nach der die Gemeinschaft mit Christus, der Glaube an Christus die Liebe hervorbringt. Und die Liebe ist Verwirklichung der Gemeinschaft mit Christus. So sind wir gerecht, wenn wir mit ihm vereint sind, und auf keine andere Weise.

Abschließend können wir nur den Herrn bitten, daß er uns helfen möge zu glauben. Wirklich zu glauben; so wird das Glauben zum Leben, zur Einheit mit Christus, zur Verwandlung unseres Lebens. Und wenn wir so von seiner Liebe verwandelt sind, von der Liebe zu Gott und zum Nächsten, können wir in den Augen Gottes wirklich gerecht sein.

In den Briefen des heiligen Paulus nimmt die Lehre von der Rechtfertigung eine zentrale Stellung ein. Rechtfertigung heißt für den Apostel die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Gott macht diejenigen gerecht, die an Jesus Christus glauben. Paulus hat beim Damaskusereignis begriffen, daß gegenüber der Erkenntnis Christi alles, was ihm vorher als gesetzestreuem Juden wichtig war, ein Verlust, ja „Unrat“ ist. Christus wurde für ihn zum Leben schlechthin. Diese persönliche Bindung an den auferstandenen Herrn bringt Paulus in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu jeder Form einer selbstgeschaffenen Gerechtigkeit. „Der Mensch wird nicht durch Werke des Gesetzes gerecht, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (Ga 2,16), der vom Kreuz das neue Leben durch den Geist schenkt. Das Kreuz Christi ist und bleibt die unerschöpfliche Quelle der Rechtfertigung. Diese ist ein ungeschuldeter Akt Gottes und findet im Geschenk der Versöhnung des Menschen mit Gott ihren höchsten Ausdruck. Die Werke des Gesetzes und alles menschliche Tun können der Rechtfertigung durch den Glauben nichts hinzufügen; andernfalls „wäre Christus vergeblich gestorben“ (Ga 2,21). Das Gesetz ist nicht aufgehoben; es hat in Christus sein Ziel erreicht und im Liebesgebot seine Erfüllung gefunden. In der Mitte der Verkündigung des Paulus steht allein Christus, auf Ihm baut unser ganzer Glaube auf und nur durch seine Gnade werden wir Glieder seines Leibes, der Kirche.
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Mit Freude grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache bei dieser Generalaudienz. Unter ihnen heiße ich heute besonders die Schönstätter Marienschwestern willkommen sowie die Landfrauen aus Bayern und die Gruppe der Marien-Realschule Kaufbeuren. Jesus Christus allein ist der einzige Retter. Er schenkt uns Menschen das Heil. Wie Paulus wollen wir danach streben, Christus inwendig immer näher zu werden, nicht nur irgendwie eine Art von theoretischem Glauben zu haben, sondern Glaube als Gemeinschaft mit Christus, die unser Leben formt. Der Herr sei mit euch auf allen euren Wegen!



Mittwoch, 26. November 2008: Der Hl. Paulus (14): Die Rechtfertigungslehre: vom Glauben zu Werken.

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Heute Vormittag begrüße ich mit großer Freude Seine Heiligkeit Aram I., Katholikos von Kilikien der Armenier, zusammen mit der hochrangigen Delegation, die ihn begleitet, und den armenischen Pilgern aus verschiedenen Ländern. Dieser brüderliche Besuch ist eine bedeutsame Gelegenheit, um die zwischen uns schon bestehenden Bande der Einheit zu stärken auf unserem Weg zu jener vollen Gemeinschaft, die das Ziel ist, das alle Jünger Christi vor Augen haben sollen, und ein Geschenk, das täglich vom Herrn erfleht werden muß.

Aus diesem Grund, Heiligkeit, rufe ich auf Ihre Pilgerfahrt zu den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus die Gnade des Heiligen Geistes herab und lade alle Anwesenden ein, zum Herrn inständig dafür zu beten, daß Ihr Besuch und unsere Begegnungen einen weiteren Schritt auf dem Weg zur vollen Einheit markieren.

Heiligkeit, ich möchte Ihnen meinen besonderen Dank für Ihr ständiges persönliches Engagement im Bereich der Ökumene aussprechen, sowohl in der Internationalen Gemeinsamen Kommission für den Theologischen Dialog zwischen der katholischen Kirche und den orientalisch-orthodoxen Kirchen als auch im Weltkirchenrat.

An der Außenfassade der vatikanischen Basilika befindet sich eine Statue des hl. Gregors des Erleuchters, des Gründers der armenischen Kirche, den einer Ihrer Historiker »unseren Ahnherrn und Vater im Evangelium« genannt hat. Die Anwesenheit dieser Statue ruft die Erinnerung an die Leiden wach, die er erduldet hat, als er das armenische Volk zum Christentum führte, aber sie erinnert auch an die vielen Märtyrer und Bekenner des Glaubens, deren Zeugnis in der Geschichte eures Volkes reiche Früchte getragen hat. Die armenische Kultur und Spiritualität sind vom Stolz auf dieses Zeugnis ihrer Vorfahren durchdrungen, die voll Treue und Mut in Gemeinschaft mit dem Lamm gelitten haben, das für die Rettung der Welt getötet wurde.

Seien Sie willkommen, Heiligkeit, liebe Bischöfe und liebe Freunde! Laßt uns gemeinsam um die Fürsprache des hl. Gregor des Erleuchters und vor allem der Jungfrau und Gottesmutter bitten, auf daß sie unseren Weg erleuchten und ihn zur Fülle jener Einheit führen mögen, die wir alle ersehnen.


Der Hl. Paulus (14): Die Rechtfertigungslehre: vom Glauben zu Werken.

Liebe Brüder und Schwestern!

In der Katechese vom vergangenen Mittwoch habe ich über die Frage gesprochen, wie der Mensch vor Gott gerecht wird. Dem hl. Paulus folgend haben wir gesehen, daß der Mensch nicht imstande ist, durch seine eigenen Taten »gerecht« zu werden, sondern nur deshalb vor Gott wirklich »gerecht« werden kann, weil Gott ihm seine »Gerechtigkeit« verleiht, indem er ihn mit Christus, seinem Sohn, vereint. Und diese Vereinigung mit Christus erreicht der Mensch durch den Glauben. In diesem Sinne sagt uns der hl. Paulus: Nicht unsere Werke, sondern der Glaube macht uns »gerecht«. Dieser Glaube ist jedoch nicht ein Gedanke, eine Meinung, eine Idee. Dieser Glaube ist Gemeinschaft mit Christus, die uns der Herr schenkt und die deshalb Leben, Gleichförmigkeit mit ihm wird. Oder, mit anderen Worten gesagt: Der Glaube wird, wenn er wahrhaftig und wirklich ist, zur Liebe, er wird zur Nächstenliebe, er findet in der Nächstenliebe seinen Ausdruck. Ein Glaube ohne Liebe, ohne diese Frucht, wäre kein wahrer Glaube. Es wäre ein toter Glaube.

Wir haben also in der letzten Katechese zwei Ebenen vorgefunden: die Ebene, der zufolge unsere Taten, unsere Werke nicht relevant sind, um das Heil zu erreichen, und die Ebene der »Rechtfertigung« durch den Glauben, der die Frucht des Geistes hervorbringt. Die Vermengung zwischen diesen beiden Ebenen hat im Laufe der Jahrhunderte nicht wenige Mißverständnisse in der Christenheit hervorgerufen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß der hl. Paulus im Brief an die Galater einerseits den Akzent in radikaler Weise auf die Unentgeltlichkeit der Rechtfertigung nicht durch unsere Werke legt, aber gleichzeitig auch die Beziehung zwischen Glaube und Liebe, zwischen Glaube und Werken hervorhebt: »Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist« (
Ga 5,6). Folglich gibt es einerseits die »Werke des Fleisches«, nämlich »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst…« (Ga 5,19-21): alles Werke, die im Gegensatz zum Glauben stehen; andererseits gibt es das Wirken des Heiligen Geistes, der das christliche Leben dadurch nährt, daß er »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung« weckt (Ga 5,22): Das sind die Früchte des Geistes, die aus dem Glauben hervorgehen.

Am Anfang dieser Aufzählung von Tugenden wird die Agape, die Liebe, genannt und am Schluß die Selbstbeherrschung. Tatsächlich gießt der Heilige Geist, der die Liebe des Vaters und des Sohnes ist, seine erste Gabe, die Agape, in unsere Herzen aus (vgl. Rm 5,5); und um sich in ihrer Fülle zum Ausdruck zu bringen, erfordert die Agape, die Liebe, die Selbstbeherrschung. Von der Liebe des Vaters und des Sohnes, die uns erreicht und unser Dasein zutiefst verwandelt, habe ich auch in meiner ersten Enzyklika Deus caritas est gesprochen. Die Gläubigen wissen, daß in der gegenseitigen Liebe die Liebe Gottes und Christi durch den Heiligen Geist Fleisch annimmt. Kehren wir zum Brief an die Galater zurück. Hier sagt der hl. Paulus, daß die Gläubigen, wenn einer des anderen Last trägt, das Gebot der Liebe erfüllen (vgl. Ga 6,2). Nachdem wir durch das Geschenk des Glaubens an Christus gerechtfertigt sind, sind wir dazu berufen, in der Liebe Christi zum Nächsten zu leben, denn nach diesem Maßstab werden wir am Ende unseres Daseins gerichtet werden. In Wirklichkeit wiederholt Paulus nur das, was Jesus selbst gesagt hatte und was uns im Evangelium vom vergangenen Sonntag, nämlich im Gleichnis vom Letzten Gericht wieder vor Augen geführt wurde. Im Ersten Brief an die Korinther stimmt der hl. Paulus ein berühmtes Loblied auf die Liebe an. Es ist das sogenannte Hohelied der Liebe: »Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke … Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil…« (1Co 13,1 1Co 13, . Die christliche Liebe ist äußerst anspruchsvoll, da sie aus der vollkommenen Liebe Christi zu uns hervorströmt: jener Liebe, die uns beansprucht, uns aufnimmt, umarmt und stützt, bis es uns gleichsam Schmerz bereitet, denn sie drängt jeden, nicht mehr für sich selber, verschlossen im eigenen Egoismus zu leben, sondern für den, »der für uns gestorben ist und auferweckt wurde« (vgl. 2Co 5,15). Die Liebe Christi läßt uns in ihm zu jener neuen Schöpfung werden (vgl. 2Co 5,17), die zu seinem mystischen Leib gehört, der die Kirche ist.

Aus dieser Sicht steht die zentrale Stellung der Rechtfertigung ohne die Werke - dem Hauptthema der Verkündigung des Paulus - nicht im Widerspruch zum Glauben, der in der Liebe tätig ist; ja, sie verlangt, daß dieser unser Glaube in einem Leben gemäß dem Geist seinen Ausdruck findet. Oft hat man eine unbegründete Gegenüberstellung der Theologie des hl. Paulus und jener des hl. Jakobus gesehen, der in seinem Brief schreibt: »Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne Werke« (Jc 2,26). In Wirklichkeit verhält sich die Sache so: Während Paulus sich vor allem zu zeigen bemüht, daß der Glaube an Christus notwendig und ausreichend ist, legt Jakobus den Akzent auf die daraus folgenden Beziehungen zwischen dem Glauben und den Werken (vgl. Jak 2,2-4). Somit bezeugt der Glaube, der in der Liebe tätig ist, sowohl für den hl. Paulus wie für Jakobus das unentgeltliche Geschenk der Rechtfertigung in Christus. Das in Christus empfangene Heil muß »mit Furcht und Zittern« bewahrt und bezeugt werden. »Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen nach seinem Plan der Liebe bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus… Tut alles ohne Murren und Bedenken… Haltet fest am Wort des Lebens«, wird der hl. Paulus auch den Christen von Philippi sagen (vgl. Ph 2,12-14 Ph 2,16).

Oft sind wir versucht, in dieselben Mißverständnisse zu verfallen, wie sie für die Gemeinde von Korinth charakteristisch waren: Jene Christen dachten, daß ihnen, da sie unentgeltlich in Christus durch den Glauben gerechtfertigt waren, »alles erlaubt sei«. Und sie dachten - und oft scheint es, als würden auch Christen von heute so denken -, daß es erlaubt sei, Spaltungen in der Kirche, im Leib Christi, hervorzurufen, die Eucharistie zu feiern, ohne sich um die bedürftigsten Brüder und Schwestern zu kümmern und nach den erhabensten Charismen zu streben, ohne sich im klaren zu sein, daß die einen Glieder der anderen sind und so weiter. Verheerend sind die Folgen eines Glaubens, der nicht in der Liebe Fleisch annimmt, denn er wird zur Willkür und zum Subjektivismus, der für uns und die Brüder am schädlichsten ist. Im Gegensatz dazu müssen wir uns in der Nachfolge des hl. Paulus aufs neue der Tatsache bewußt werden, daß wir, gerade weil wir in Christus gerechtfertigt sind, nicht mehr uns selbst gehören, sondern Tempel des Geistes geworden und daher berufen sind, Gott in unserem Leib mit unserer ganzen Existenz zu verherrlichen (vgl. 1Co 6,19). Es wäre ein Verschleudern des unschätzbaren Wertes der Rechtfertigung, würden wir nicht Christus, durch dessen Blut wir um einen hohen Preis losgekauft worden sind, mit unserem Leib verherrlichen. In Wirklichkeit ist gerade dies unser »vernünftiger« und zugleich »geistlicher« Gottesdienst, weshalb wir von Paulus ermahnt werden, »uns selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt« (Rm 12,1). Wozu würde eine Liturgie verkürzt werden, die nur auf den Herrn ausgerichtet ist, ohne gleichzeitig Dienst an den Brüdern und Schwestern zu sein? Was wäre ein Glaube, der nicht in der Liebe zum Ausdruck kommt? Der Apostel konfrontiert seine Gemeinden oft mit dem Weltgericht, bei dem »wir alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden [müssen], damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat« (2Co 5,10 vgl. auch Rm 2,16). Und dieser Gedanke an das Gericht muß uns in unserem Alltagsleben erleuchten.

Wenn die Ethik, die Paulus den Gläubigen vorschlägt, nicht auf eine Art Moralismus reduziert wird und sich für uns als aktuell erweist, dann deshalb, weil sie immer von der persönlichen und gemeinschaftlichen Beziehung zu Christus ausgeht, um sich im Leben nach dem Heiligen Geist zu bewahrheiten. Das ist wesentlich: Die christliche Ethik entsteht nicht aus einem System von Geboten, sondern sie ist die Folge unserer Freundschaft mit Christus. Diese Freundschaft beeinflußt das Leben: Wenn sie wahr ist, nimmt sie in der Liebe zum Nächsten Fleisch an und verwirklicht sich in ihr. Deshalb beschränkt sich jeder ethische Verfall nicht auf die individuelle Sphäre, sondern ist gleichzeitig Abwertung des persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubens: Der Verfall geht aus dieser Abwertung hervor und beeinflußt sie entscheidend. Lassen wir uns also von der Versöhnung erreichen, die Gott uns in Christus geschenkt hat, von der »verrückten« Liebe Gottes zu uns: Nichts und niemand wird uns je von seiner Liebe scheiden können (vgl. Rm 8,39). In dieser Gewißheit leben wir. Diese Gewißheit schenkt uns die Kraft, den Glauben, der in der Liebe wirkt, konkret zu leben.

In der letzten Mittwochskatechese habe ich begonnen, die Lehre des heiligen Paulus über die Rechtfertigung vorzustellen. Heute wollen wir darüber nachdenken, was das Gerechtsein durch den Glauben und das Wirken des Heiligen Geistes in unserem Leben konkret bedeuten und welche Folgen daraus erwachsen. Die theologische Diskussion hat dabei mitunter zwei Ebenen miteinander vermengt: einerseits sind die eigenen Werke nicht relevant, um das Heil zu erlangen, andererseits bringt die Rechtfertigung in uns aber Haltungen als Früchte des Heiligen Geistes hervor. Zu diesen Früchten zählen Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung (vgl. Ga 5, 22f). Den ersten Platz nimmt hier die Liebe ein, die durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen ist (vgl. Rm 5,5). Mit dem Geschenk des Glaubens an Christus sind wir auch berufen, in der Liebe Christi für den Nächsten zu leben und danach zu handeln. An diesem Maßstab wird unser Leben am Ende beurteilt werden. Es kann keinen Widerspruch zwischen Glauben und Werken geben: Der Glaube ist in der Liebe wirksam. Er bewährt sich in den Werken und bezeugt so das freie Geschenk der Rechtfertigung in Christus. Zudem gehören wir durch die Rechtfertigung in Christus nicht mehr uns selbst, sondern wir sind zum Tempel des Heiligen Geistes geworden und sollen Gott mit unserem ganzen Dasein die Ehre geben (vgl. 1Co 6,19) in einem Leben, das dem Geist entspricht. Nichts und niemand kann uns von der Liebe Christi scheiden (vgl. Rm 8,39), die uns in die Lage versetzt, wahre Früchte des Geistes hervorzubringen.
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Ganz herzlich heiße ich alle Pilger und Besucher aus allen Ländern deutscher Sprache willkommen. Heute begrüße ich besonders die Wallfahrer aus der Diözese Gurk-Klagenfurt in Begleitung von Bischof Alois Schwarz und danke herzlich für die schöne Musik, die wir hören durften. Der Heilige Geist möge uns leiten, damit unser Glaube im Dienst für den Nächsten stets Frucht bringe. Gott segne euch und eure Lieben!




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