Generalaudienzen 2005-2013 15061

Mittwoch, 15. Juni 2011: Der betende Mensch (6) Propheten und Gebete in der Gegenüberstellung

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1R 18,20-40)

Liebe Brüder und Schwestern!

In der religiösen Geschichte des alten Israel hatten die Propheten mit ihrer Lehre und ihrer Verkündigung große Bedeutung. Unter ihnen hebt sich die Gestalt des Elija heraus, der von Gott erweckt wurde, um das Volk zur Umkehr zu führen. Sein Name bedeutet »der Herr ist mein Gott«, und diesem Namen entsprechend verläuft sein Leben, das ganz darauf ausgerichtet ist, beim Volk die Anerkennung des Herrn als einzigen Gott hervorzurufen. Das Buch Jesus Sirach sagt über Elija: »Da stand ein Prophet auf wie Feuer, / seine Worte waren wie ein brennender Ofen« (Si 48,1). Durch diese Flamme findet Israel wieder seinen Weg zu Gott. In seinem Dienst betet Elija: Er bittet den Herrn, den Sohn einer Witwe, die ihn beherbergt hatte, wieder zum Leben zu erwecken (vgl. ), er schreit zu Gott vor Müdigkeit und Angst auf der Flucht in die Wüste, als die Königin Isebel ihn töten will (vgl. ). Vor allem aber auf dem Berg Karmel zeigt er sich in all seiner Kraft als Fürsprecher, als er vor ganz Israel den Herrn bittet, sich zu offenbaren und das Herz des Volkes zu bekehren. Bei dieser Episode aus dem 18. Kapitel des Ersten Buches der Könige wollen wir heute verweilen.

Wir befinden uns im Nordreich, im 9. Jahrhundert vor Christus, zur Zeit des Königs Ahab, als in Israel eine Situation des offenen Synkretismus entstanden war. Neben dem Herrn betete das Volk den Baal an, den vertrauenerweckenden Götzen, von dem man glaubte, daß er die Gabe des Regens hervorbrachte. Daher wurde ihm die Macht zugesprochen, den Feldern Fruchtbarkeit und Menschen und Vieh Leben zu schenken. Obgleich das Volk angeblich dem Herrn folgte, dem unsichtbaren und geheimnisvollen Gott, suchte es auch nach Sicherheit in einem verständlichen und vorhersehbaren Gott, von dem es meinte, Fruchtbarkeit und Wohlstand erlangen zu können, wenn man entsprechend dafür opferte. Israel gab der Verführung des Götzendienstes nach, der ständigen Versuchung des Gläubigen: Es erlag der Täuschung, »zwei Herren dienen« zu können (vgl. Mt 6,24 Lc 16,13), und den unwegsamen Glauben an den Allmächtigen zu erleichtern, indem es sein Vertrauen auch in einen ohnmächtigen, von Menschenhand geschaffenen Gott setzte.

Um die trügerische Torheit dieser Einstellung zu entlarven, läßt Elija das Volk Israel sich auf dem Berg Karmel versammeln und stellt es vor die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen: »Wenn Jahwe der wahre Gott ist, dann folgt ihm! Wenn aber Baal es ist, dann folgt diesem!« (1R 18,21). Und der Prophet, Übermittler der Liebe Gottes, läßt sein Volk angesichts dieser Entscheidung nicht allein, sondern hilft ihm, indem er auf das Zeichen hinweist, das die Wahrheit ans Licht bringen wird: Sowohl er als auch die Baalspropheten werden ein Opfer vorbereiten und beten, und der wahre Gott wird sich offenbaren, indem er durch das Feuer antwortet, das das Opfer verzehren wird. So beginnt die Gegenüberstellung zwischen dem Propheten Elija und den Anhängern des Baal – in Wirklichkeit eine Gegenüberstellung zwischen dem Herrn Israels, dem Gott des Heils und des Lebens, und dem stummen Götzen ohne Bestand, der weder Schaden zufügen noch Gutes bewirken kann (vgl. Jr 10,5). Und es beginnt auch die Gegenüberstellung zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Weisen, sich an Gott zu wenden und zu beten.

Die Baalspropheten nämlich schreien, schütteln sich, tanzen ekstatisch, verfallen in Raserei und ritzen sich sogar »mit Schwertern und Lanzen wund, bis das Blut an ihnen herabfloß« (1R 18,28). Sie nehmen Bezug auf sich selbst, um ihren Gott anzurufen, und vertrauen auf ihre eigenen Fähigkeiten, um seine Antwort hervorzulocken. So zeigt sich die trügerische Wirklichkeit des Götzen: Er wurde vom Menschen erdacht, als etwas, über das man verfügen kann, das man aus eigener Kraft lenken kann, zu dem man aus sich selbst und aus der eigenen Lebenskraft heraus Zugang hat. Der Götzendienst öffnet das menschliche Herz nicht gegenüber dem Anderen, gegenüber einer befreienden Beziehung, durch die man aus dem engen Raum des eigenen Egoismus herauskommt, um zu Dimensionen der Liebe und der gegenseitigen Hingabe zu gelangen, sondern er verschließt die Person im Kreislauf der Suche nach sich selbst, die den anderen ausschließt und in der Verzweiflung endet. Und die Täuschung ist so groß, daß der Mensch sich bei der Anbetung des Götzen zu extremen Taten gezwungen sieht, im trügerischen Versuch, ihn dem eigenen Willen zu unterwerfen. Daher tun sich die Baalspropheten sogar weh, verwunden ihren Leib, durch eine auf dramatische Weise ironische Geste: Um eine Antwort, ein Lebenszeichen von ihrem Gott zu erhalten, bedecken sie sich mit Blut, bedecken sie sich symbolisch mit dem Tod.

Elija dagegen nimmt eine ganz andere Gebetshaltung ein. Er lädt das Volk ein, sich zu nähern, und schließt es so in sein Handeln und in sein Gebet ein. Der Zweck der Herausforderung, die er an die Baalspropheten richtete, bestand darin, das Volk, das vom Weg abgekommen war, indem es den Götzen folgte, wieder zu Gott zurückzubringen; darum will er, daß Israel sich mit ihm vereint, indem es an seinem Gebet und am Geschehen als Hauptakteur teilhat. Dann errichtet der Prophet einen Altar und nimmt dazu, wie es im Text heißt, »zwölf Steine, nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs, zu dem der Herr gesagt hatte: Israel soll dein Name sein« (V. 31). Diese Steine stehen für ganz Israel; sie sind die greifbare Erinnerung an die Geschichte der Erwählung, der besonderen Liebe und des Heils, deren Gegenstand das Volk war. Die liturgische Geste des Elija hat eine entscheidende Bedeutung; der Altar ist ein heiliger Ort, der die Gegenwart des Herrn anzeigt, aber die Steine, aus denen er sich zusammensetzt, stehen für das Volk, das jetzt durch die Mittlerschaft des Propheten symbolisch vor Gott steht und zum »Altar« wird, zum Ort der Hingabe und des Opfers.

Das Symbol muß jedoch zur Wirklichkeit werden. Israel muß den wahren Gott erkennen und seine eigene Identität als Volk des Herrn wiederfinden. Daher bittet Elija Gott, sich zu offenbaren, und jene zwölf Steine, die Israel an seine Wahrheit erinnern sollten, dienen auch dazu, den Herrn an seine Treue zu erinnern, an die der Prophet im Gebet appelliert. Die Worte seines Gebets sind voll von Bedeutung und Glauben: »Herr, Gott Abrahams, Isaaks und Israels, heute soll man erkennen, daß du Gott bist in Israel, daß ich dein Knecht bin und all das in deinem Auftrag tue. Erhöre mich, Herr, erhöre mich! Dieses Volk soll erkennen, daß du, Herr, der wahre Gott bist und daß du sein Herz zur Umkehr wendest« (V. 36–37; vgl. ). Indem Elija sich an den Herrn wendet und ihn den Gott der Väter nennt, ruft er unausgesprochen die göttlichen Verheißungen und die Geschichte der Erwählung und des Bundes in Erinnerung, die den Herrn untrennbar mit seinem Volk verbunden hat. Gott ist so sehr in die Geschichte der Menschheit eingebunden, daß sein Name nunmehr untrennbar mit dem der Erzväter verbunden ist, und der Prophet spricht diesen heiligen Namen aus, damit Gott sich erinnert und sich als treu erweist, aber auch damit Israel sich beim Namen gerufen fühlt und seine Treue wiederfindet.

Der göttliche Titel, den Elija ausspricht, erscheint in der Tat etwas überraschend. Anstelle der gewöhnlichen Formel »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« verwendet er einen weniger gebräuchlichen Namen: »Gott Abrahams, Isaaks und Israels«. Der Austausch des Namens »Jakob« durch »Israel« ruft Jakobs Kampf an der Furt des Jabbok ins Gedächtnis, mit dem vom Erzähler ausdrücklich erwähnten Namenswechsel (vgl. Gen Gn 32,31), über den ich in einer der letzen Katechesen gesprochen habe. Dieser Austausch erhält im Gebet des Elija eine prägnante Bedeutung. Der Prophet betet für das Volk des Nordreichs, das »Israel« hieß und sich von Juda, dem Südreich, absetzte. Und dieses Volk, das seinen Ursprung und seine besondere Beziehung zum Herrn vergessen zu haben scheint, fühlt sich jetzt beim Namen gerufen, als der Name Gottes – Gott des Erzvaters und Gott des Volkes – ausgesprochen wird: »Herr, Gott […] Israels, heute soll man erkennen, daß du Gott bist in Israel.«

Das Volk, für das Elija betet, wird seiner eigenen Wahrheit gegenübergestellt, und der Prophet bittet, daß auch die Wahrheit des Herrn offenbar werden und er eingreifen möge, um Israel zu bekehren, es von der Täuschung des Götzendienstes abzubringen und es so zum Heil zu führen. Seine Bitte geht dahin, daß das Volk endlich wissen, vollkommen erkennen möge, wer wirklich sein Gott ist, und sich endgültig entscheiden möge, ihm allein, dem wahren Gott, zu folgen. Denn nur so wird Gott als das erkannt, was er ist – absolut und transzendent –, ohne die Möglichkeit, ihm andere Götter zur Seite zu stellen, die seine Absolutheit verleugnen würden, indem sie ihn relativieren. Das ist der Glaube, der Israel zum Volk Gottes macht; es ist der Glaube, der im wohlbekannten Text des Shema Israel verkündet wird: »Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (Dtn 6,4–5).

Auf Gottes Absolutheit muß der Gläubige mit einer absoluten, allumfassenden Liebe antworten, die sein ganzes Leben, seine Kraft, sein Herz einbezieht. Und für das Herz seines Volkes erbittet der Prophet mit seinem Gebet die Umkehr: »Dieses Volk soll erkennen, daß du, Herr, der wahre Gott bist und daß du sein Herz zur Umkehr wendest« (1R 18,37). Elija bittet durch seine Fürsprache Gott um das, was Gott selbst zu tun wünscht: sich zu offenbaren in seiner ganzen Barmherzigkeit, getreu seiner eigenen Wirklichkeit als Herr des Lebens, der vergibt, zur Umkehr führt, verwandelt.

Und das geschieht: »Da kam das Feuer des Herrn herab und verzehrte das Brandopfer, das Holz, die Steine und die Erde. Auch das Wasser im Garten leckte es auf. Das ganze Volk sah es, warf sich auf das Angesicht nieder und rief: Jahwe ist Gott, Jahwe ist Gott« (V. 38–39). Das Feuer, dieses notwendige und zugleich schreckliche Element, das mit den göttlichen Offenbarungen des brennenden Dornbuschs und des Sinai verbunden ist, dient jetzt dazu, die Liebe Gottes aufzuzeigen, der auf das Gebet antwortet und sich seinem Volk offenbart. Baal, der stumme und ohnmächtige Gott, hatte auf die Gebete seiner Propheten nicht geantwortet; der Herr dagegen antwortet und zwar in unmißverständlicher Weise, indem er nicht nur das Brandopfer verzehrt, sondern auch noch das ganze Wasser auftrocknet, das um den Altar herum ausgegossen war. Israel kann keine Zweifel mehr haben; die göttliche Barmherzigkeit ist seiner Schwachheit, seinen Zweifeln, seinem Mangel an Glauben entgegengekommen. Jetzt ist Baal, der leere Götze, besiegt, und das Volk, das verloren zu sein schien, hat den Weg der Wahrheit wiedergefunden und hat sich selbst wiedergefunden.

Liebe Brüder und Schwestern, was sagt uns diese Geschichte aus der Vergangenheit? Welches ist die Gegenwart dieser Geschichte? Vor allem geht es um die Frage der Priorität des ersten Gebots: Gott allein zu verehren. Wo Gott verschwindet, da gerät der Mensch in die Knechtschaft von Götzendiensten. Das haben in unserer Zeit die totalitären Regime gezeigt, und auch verschiedene Formen des Nihilismus zeigen es: Sie machen den Menschen von Götzen, vom Götzendienst abhängig; sie versklaven ihn. Zweitens ist das vorrangige Ziel des Gebets die Umkehr: das Feuer Gottes, das unser Herz verwandelt und uns fähig macht, Gott zu sehen und so gottgefällig zu leben und für den anderen zu leben. Und der dritte Punkt: Die Kirchenväter sagen uns, daß auch diese Geschichte eines Propheten prophetisch ist, wenn sie – wie sie sagen – den Schatten der Zukunft vorauswirft, der Zukunft, die Christus ist; sie ist ein Schritt auf dem Weg zu Christus hin. Und sie sagen uns, daß wir hier das wahre Feuer Gottes erblicken: die Liebe, die den Herrn bis zum Kreuz, bis zur völligen Selbsthingabe führt. Die wahre Anbetung Gottes bedeutet also, sich selbst Gott und den Menschen hinzugeben, die wahre Anbetung ist die Liebe. Und die wahre Anbetung Gottes zerstört nicht, sondern sie erneuert, verwandelt. Gewiß, das Feuer Gottes, das Feuer der Liebe brennt, verwandelt, läutert, aber gerade so zerstört es nicht, sondern es schafft vielmehr die Wahrheit unseres Daseins, es schafft unser Herz neu. Und so, als wirklich Lebende durch die Gnade des Feuers des Heiligen Geistes, der Liebe Gottes, sind wir Anbeter im Geist und in der Wahrheit. Danke.

* * *

Mit Freude grüße ich alle Gäste deutscher Sprache und heute besonders die vielen Jugendlichen, Ministranten und Schüler, die an dieser Audienz teilnehmen. Nehmen wir uns den großen Beter Elija zum Vorbild, damit auch wir für die Menschen beten und dabei, auch wenn wir nicht unmittelbar für unsere eigenen Interessen erhört werden, um so mehr auf Gottes Liebe und auf die wirkliche Antwort Gottes an die Menschheit vertrauen lernen. Die Friede des Herrn geleite euch auf allen euren Wegen!



Petersplatz

Mittwoch, 22. Juni 2011: Der betende Mensch (7) Das betende Gottesvolk: die Psalmen

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Liebe Brüder und Schwestern!

In den vorangegangenen Katechesen haben wir einige Gestalten des Alten Testaments betrachtet, die für unsere Reflexion über das Gebet besonders bedeutsam sind. Ich habe über Abraham gesprochen, der für die fremden Städte Fürsprache hält, über Jakob, der im nächtlichen Kampf den Segen empfängt, über Mose, der um Vergebung für sein Volk bittet, und über Elija, der für die Bekehrung Israels betet. Mit der heutigen Katechese möchte ich einen neuen Wegabschnitt beginnen: Anstatt bestimmte Abschnitte über betende Persönlichkeiten zu kommentieren, treten wir nun in das »Gebetbuch« schlechthin ein, das Buch der Psalmen. In den nächsten Katechesen werden wir einige der schönsten Psalmen lesen und betrachten, die der Gebetstradition der Kirche besonders am Herzen liegen. Heute möchte ich sie einleiten, indem ich über das Buch der Psalmen als Ganzes spreche.

Der Psalter stellt sich uns als ein »Gebetsformular« dar, eine Sammlung von 150 Psalmen, die die biblische Überlieferung dem Volk der Gläubigen schenkt, damit sie sein eigen wird – unser Gebet, unsere Weise, uns an Gott zu wenden und mit ihm in Beziehung zu treten. In diesem Buch kommt die ganze menschliche Erfahrung in ihren zahlreichen Schattierungen zum Ausdruck und die ganze Bandbreite der Empfindungen, die das menschliche Dasein begleiten. In den Psalmen werden Freude und Leid, Sehnsucht nach Gott und Wahrnehmung der eigenen Unwürdigkeit, Glück und Verlassenheit, Vertrauen auf Gott und schmerzhafte Einsamkeit, Fülle des Lebens und Angst vor dem Tod miteinander verknüpft und zum Ausdruck gebracht. Die ganze Wirklichkeit des Gläubigen fließt in jene Gebete ein, die zunächst das Volk Israel und dann die Kirche als besondere Form der Vermittlung der Beziehung zu dem einen Gott und als angemessene Antwort auf seine Offenbarung in der Geschichte angenommen haben. Als Gebete sind die Psalmen Ausdrucksformen des Herzens und des Glaubens, in denen jeder sich wiedererkennen kann und in denen die Erfahrung der besonderen Nähe zu Gott vermittelt wird, zu der jeder Mensch berufen ist. Und die ganze Komplexität des menschlichen Daseins ist in der Komplexität der unterschiedlichen literarischen Formen der einzelnen Psalmen zusammengefaßt: Lobgesänge, Klagelieder, individuelle und kollektive Bitten, Danklieder, Bußpsalmen, weisheitliche Psalmen und andere Gattungen lassen sich in diesen poetischen Texten wiederfinden.

Trotz dieser vielfältigen Ausdrucksformen können zwei große Bereiche ausgemacht werden, in denen sich das Gebet des Psalters zusammenfassen läßt: die Bitte, die mit der Klage verbunden ist, und das Lob, zwei miteinander verbundene und gleichsam untrennbare Dimensionen. Denn die Bitte ist von der Gewißheit beseelt, daß Gott antworten wird, und das öffnet zum Lob und zur Danksagung; und Lob und Dank entspringen der Erfahrung des empfangenen Heils, das eine Hilfsbedürftigkeit voraussetzt, die die Bitte zum Ausdruck bringt. In der Bitte klagt der Beter und beschreibt seine Situation der Angst, der Gefahr, der Betrübnis, oder er bekennt wie in den Bußpsalmen die Schuld, die Sünde und bittet um Vergebung. Er legt dem Herrn seine Not dar im Vertrauen, erhört zu werden, und das setzt voraus, daß Gott als ein guter Gott erkannt wird, der das Wohl des Menschen will und »Freund des Lebens« ist (vgl. Weish
Sg 11,26), der bereit ist zu helfen, zu retten, zu vergeben. So betet der Psalmist zum Beispiel im Psalm 31: »Herr, ich suche Zuflucht bei dir. / Laß mich doch niemals scheitern […] Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten; / denn du bist meine Zuflucht« (V. 2.5).

Bereits in der Klage kann also etwas Lob hervorkommen, das sich in der Hoffnung auf das göttliche Eingreifen ankündigt und das dann ganz deutlich wird, wenn das göttliche Heil Wirklichkeit wird. Entsprechend erkennt man in den Dank- und Lobpsalmen, in denen man der empfangenen Gabe gedenkt oder die große Barmherzigkeit Gottes betrachtet, auch die eigene Kleinheit und Heilsbedürftigkeit an, die die Grundlage des Gebets ist. So bekennt man vor Gott die eigene Geschöpflichkeit, die unwiderruflich vom Tod geprägt ist und dennoch einen tief verwurzelten Wunsch nach Leben in sich trägt. Daher ruft der Psalmist im Psalm 86 aus: »Ich will dir danken, Herr, mein Gott, / aus ganzem Herzen, / will deinen Namen ehren immer und ewig. Du hast mich den Tiefen des Totenreichs entrissen. / Denn groß ist über mir deine Huld« (V. 12–13). So werden im Psalmgebet Bitte und Lob miteinander verknüpft und verschmelzen zu einem einzigen Gesang, der die ewige Gnade des Herrn feiert, der sich unserer Schwachheit annimmt.

Um das Volk der Gläubigen in diesen Gesang einstimmen zu lassen, wurde Israel und der Kirche der Psalter geschenkt. Die Psalmen lehren nämlich zu beten. In ihnen wird das Wort Gottes zum Wort des Gebets – und es sind die Worte des inspirierten Psalmisten –, das auch zum Wort des Beters wird, der die Psalmen betet. Das ist die Schönheit und die Besonderheit dieses biblischen Buches: Im Gegensatz zu anderen Gebeten, die wir in der Heiligen Schrift finden, sind die darin enthaltenen Gebete nicht in einen Erzählablauf eingefügt, der ihre Bedeutung und ihre Funktion erläutert. Die Psalmen wurden dem Gläubigen als Gebetstext geschenkt, dessen einziger Zweck darin besteht, zum Gebet dessen zu werden, der sie annimmt und sich mit ihnen an Gott wendet. Da sie Gottes Wort sind, spricht der Beter der Psalmen zu Gott mit eben den Worten, die Gott uns geschenkt hat. Er wendet sich an ihn mit den Worten, die Gott selbst uns schenkt. So lernt man beten, indem man die Psalmen betet. Sie sind eine Schule des Gebets.

Etwas Vergleichbares geschieht, wenn das Kind anfängt zu sprechen, wenn es also lernt, die eigenen Empfindungen, Gefühle, Bedürfnisse in Worte zu fassen, die ihm nicht von Geburt an zu eigen sind, sondern die es von seinen Eltern und von seinem Umfeld lernt. Das Kind will sein eigenes Erleben zum Ausdruck bringen, aber das Ausdrucksmittel haben andere. Das Kind eignet es sich nach und nach an, die von den Eltern empfangenen Worte werden zu seinen Worten, und durch diese Worte erlernt es auch eine Art des Denkens und Empfindens, findet es Zugang zu einer ganzen Begriffswelt, in der es heranwächst und in Beziehung zur Wirklichkeit, zu den Menschen und zu Gott tritt. Am Ende wird die Sprache seiner Eltern zu seiner Sprache, es spricht mit Worten, die es von anderen empfangen hat und die nunmehr seine Worte geworden sind. So ist es auch mit dem Gebet der Psalmen. Diese sind uns geschenkt worden, damit wir lernen, uns an Gott zu wenden, mit ihm zu kommunizieren, ihm mit seinen Worten von uns zu erzählen, eine Sprache für die Begegnung mit Gott zu finden. Und durch diese Worte wird es auch möglich, die Maßstäbe seines Handelns kennenzulernen und anzunehmen, sich dem Geheimnis seiner Gedanken und seiner Wege zu nähern (vgl. Jes 55,8–9), um so immer mehr im Glauben und in der Liebe zu wachsen. Ebenso wie unsere Worte nicht nur Worte sind, sondern uns eine reale und begriffliche Welt nahebringen, so bringen auch diese Gebete uns das Herz Gottes nahe. Daher können wir nicht nur mit Gott sprechen, sondern wir können lernen, wer Gott ist. Und indem wir lernen, mit ihm zu sprechen, erlernen wir das Menschsein, lernen wir, wir selbst zu sein.

In diesem Zusammenhang ist der Titel, den die jüdische Überlieferung dem Psalter gegeben hat, von Bedeutung. Er lautet tehillîm.Dieser jüdische Begriff bedeutet »Lob«, von jenem Verbstamm her, den wir im Ausdruck »Halleluja« wiederfinden, also wörtlich »lobt den Herrn«. Dieses Gebetbuch ist also, obgleich es mit seinen verschiedenen literarischen Gattungen und mit seiner Unterscheidung zwischen Lob und Bitte so vielgestaltig und komplex ist, letztlich ein Buch des Lobes, das lehrt, Dank zu sagen, die Größe der Gabe Gottes zu feiern, die Schönheit seiner Werke zu erkennen und seinen heiligen Namen zu rühmen. Das ist die beste Antwort auf die Offenbarung des Herrn und die Erfahrung seiner Güte. Indem sie uns beten lehren, lehren die Psalmen uns, daß auch in der Betrübnis, im Schmerz die Gegenwart Gottes erhalten bleibt, daß wunderbare Dinge und Trost aus ihr hervorgehen. Man darf weinen, bitten, Fürsprache halten, klagen, aber im Bewußtsein, daß wir auf das Licht zugehen, wo das Lob endgültig ist. Der Psalm 36 lehrt uns: »Bei dir ist die Quelle des Lebens, / in deinem Licht schauen wir das Licht« (Ps 36,10).

Aber über diesen allgemeinen Titel des Buches hinaus hat die jüdische Überlieferung viele Psalmen unter besondere Titel gestellt und hat sie zum größten Teil König David zugeschrieben. David ist eine Gestalt von beachtlichem menschlichem und theologischem Format und eine komplexe Persönlichkeit. Er hat die verschiedensten Grunderfahrungen des Lebens durchgemacht. Der junge Hirt der väterlichen Herde wird nach einigen zuweilen dramatischen Wechselfällen zum König von Israel, zum Hirten des Volkes Gottes. Als Mann des Friedens hat er viele Kriege geführt; als unermüdlicher und hartnäckiger Gottsucher hat er Gottes Liebe verraten, und das zeichnet ihn aus: Er ist stets ein Gottsucher geblieben, auch wenn er oftmals schwer gesündigt hat; als demütiger Büßer hat er die göttliche Vergebung und auch die göttliche Strafe empfangen und hat ein Schicksal angenommen, das vom Schmerz geprägt war. So war David mit all seinen Schwächen ein König »nach Gottes Herzen« (vgl. 1S 13,14), also ein leidenschaftlicher Beter, ein Mann, der wußte, was bitten und loben bedeutet.

Die Verbindung der Psalmen mit diesem berühmten König von Israel ist also wichtig, denn er ist eine messianische Gestalt, vom Herrn gesalbt, in der das Geheimnis Christi gewissermaßen seinen Schatten vorauswirft. Ebenso wichtig und bedeutsam ist es, auf welche Weise und wie häufig die Worte der Psalmen vom Neuen Testament aufgegriffen werden. Hier nehmen sie jenen prophetischen Wert an, der aus der Verbindung des Psalters mit der messianischen Gestalt Davids hervorgeht, und heben ihn hervor. Im Herrn Jesus, der in seinem irdischen Leben die Psalmen gebetet hat, finden diese ihre endgültige Erfüllung und offenbaren ihren vollen und tiefsten Sinn. Die Gebete des Psalters, durch die wir zu Gott sprechen, berichten uns von ihm, berichten uns vom Sohn, dem Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Col 1,15), der uns das Antlitz des Vaters in ganzer Fülle offenbart. Wenn der Christ also die Psalmen betet, dann betet er zum Vater in Christus und mit Christus, indem er jene Gesänge in einer neuen Perspektive annimmt, deren endgültiger Interpretationsschlüssel das Ostergeheimnis ist. Der Horizont des Beters öffnet sich so zu unerwarteten Wirklichkeiten, jeder Psalm bekommt ein neues Licht in Christus, und der Psalter kann in seinem ganzen unendlichen Reichtum erstrahlen.

Liebe Brüder und Schwestern, nehmen wir also dieses heilige Buch zur Hand, lassen wir uns von Gott unterweisen, wie wir uns an ihn wenden sollen, machen wir den Psalter zu einem Leitfaden, der uns auf dem täglichen Weg des Gebets hilft und begleitet. Und bitten auch wir, wie die Jünger Jesu: »Herr, lehre uns beten« (Lc 11,1), indem wir das Herz öffnen, um das Gebet des Meisters aufzunehmen, in dem alle Gebete zur Erfüllung kommen. Zu Söhnen im Sohn geworden, können wir mit Gott sprechen und ihn »Unser Vater« nennen. Danke.



* * *

Von Herzen grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache. Möge das Buch der Psalmen uns helfen, Gott in allen unseren Lebensumständen zu loben und ihn vertrauensvoll zu bitten. Er ist unter uns mit seinem Wort und besonders durch die Gegenwart des Sohnes im Sakrament des Altares. Danken wir ihm dafür und begehen wir das morgige Fronleichnamsfest als einen Tag des freudigen Lobpreises Gottes und der Bitte um seinen Segen. Der Herr geleite euch auf allen euren Wegen.
August 2011




Castel Gandolfo

Mittwoch, 3. August 2011: Der betende Mensch (8) Die Schriftlesung, Nahrung für den Geist

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Liebe Brüder und Schwestern!

Ich freue mich sehr, euch hier auf der Piazza in Castel Gandolfo zu sehen und die im Juli unterbrochenen Audienzen wieder aufzunehmen. Ich möchte das Thema fortsetzen, das wir begonnen haben: eine »Schule des Gebets«. Auch heute möchte ich, auf etwas andere Weise, ohne mich vom Thema zu entfernen, einige geistliche und konkrete Aspekte ansprechen, die mir nützlich zu sein scheinen, nicht nur für jene, die sich – in einem Teil der Welt – in den Sommerferien befinden, wie wir, sondern auch für all jene, die der täglichen Arbeit nachgehen.

Wenn wir bei unseren Tätigkeiten eine Ruhepause einlegen können, besonders im Urlaub, nehmen wir oft ein Buch zur Hand, das wir lesen möchten. Genau das ist der erste Aspekt, bei dem ich heute verweilen möchte. Jeder von uns braucht Zeiten und Orte der Sammlung, der Betrachtung, der Ruhe… Gott sei gedankt, daß es so ist! Denn dieses Bedürfnis sagt uns, daß wir nicht nur zum Arbeiten gemacht sind, sondern auch zum Denken, zum Überlegen oder einfach dazu, mit dem Verstand und mit dem Herzen einer Erzählung zu folgen, einer Geschichte, in die wir uns hineindenken, in der wir uns gewissermaßen »verlieren«, um dann bereichert daraus hervorzugehen.

Viele der Bücher, die wir im Urlaub als Lektüre zur Hand nehmen, dienen zumeist der Ablenkung, und das ist normal. Dennoch widmen sich viele Menschen, besonders dann, wenn sie längere Ruhepausen einlegen können, einer anspruchsvolleren Lektüre. Ich möchte daher einen Vorschlag machen: Warum machen wir uns nicht daran, einige Bücher der Bibel zu entdecken, die gewöhnlich nicht bekannt sind – oder aus denen wir vielleicht einen Abschnitt in der Liturgie gehört haben, die wir jedoch nie in ganzer Länge gelesen haben? Tatsächlich lesen viele Christen nie die Bibel und haben eine sehr beschränkte und oberflächliche Kenntnis von ihr. Die Bibel ist – wie der Name sagt – eine Sammlung von Büchern, eine kleine »Bibliothek«, die im Laufe eines Jahrtausends entstanden ist. Manche dieser »Büchlein«, aus denen sie besteht, bleiben den meisten Menschen, auch guten Christen, beinahe unbekannt. Einige sind sehr kurz, wie das Buch Tobit, eine Erzählung, die eine sehr hohe Auffassung von Familie und Ehe enthält; oder das Buch Ester, in dem die jüdische Königin durch den Glauben und das Gebet ihr Volk vor der Vernichtung rettet. Oder noch kürzer ist das Buch Rut: Sie ist eine Fremde, die Gott kennt und seine Vorsehung erfährt. Diese kleinen Bücher kann man in einer Stunde ganz lesen. Aufwendiger und wahre Meisterwerke sind das Buch Ijob, das das große Problem des unschuldigen Leidens aufgreift; das Buch Kohelet, das beeindruckend ist aufgrund der verblüffenden Modernität, mit der es den Sinn des Lebens und der Welt hinterfragt; das Hohelied, ein wunderbares symbolisches Gedicht auf die menschliche Liebe. Wie ihr seht, sind all dies Bücher aus dem Alten Testament. Und das Neue? Gewiß, das Neue Testament ist bekannter, und die literarischen Gattungen sind nicht so vielfältig. Dennoch ist die Schönheit, ein ganzes Evangelium fortlaufend zu lesen, entdeckenswert. Ebenso empfehle ich die Apostelgeschichte oder einen der Briefe.

Abschließend, liebe Freunde, möchte ich heute vorschlagen, während des Sommers oder in den Ruhepausen die heilige Bibel zur Hand zu haben, um sie neu zu genießen und einige ihrer Bücher durchgehend zu lesen, die weniger bekannten und auch die bekannteren, wie die Evangelien, aber in fortlaufender Lektüre. So können die Augenblicke der Entspannung nicht nur zur kulturellen Bereicherung, sondern auch zur geistlichen Nahrung werden und die Kenntnis Gottes und das Gespräch mit ihm, das Gebet, nähren. Das ist sicher eine schöne Beschäftigung für die Ferien: ein Buch der Bibel zur Hand zu nehmen, auf diese Weise etwas Entspannung zu finden und gleichzeitig in den großen Raum des Wortes Gottes einzutreten und unseren Kontakt mit dem Ewigen zu vertiefen, als Sinn und Zweck der Freizeit, die der Herr uns schenkt.

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Ganz herzlich heiße ich alle deutschsprachigen Gäste hier in Castel Gandolfo willkommen, besonders die große Zahl der Jugendlichen, die uns an ihrer Freude und Begeisterung teilhaben lassen. Die Urlaubszeit, die viele von uns jetzt genießen, ist wichtig, um neue Kraft zu schöpfen.

Damit wir uns umfassend erholen, brauchen wir auch tiefere Kraftquellen, die wir im Gebet, beim Besuch einer Kirche, beim Lesen der Bibel oder eines religiösen Buches finden. So denke ich, daß vielleicht gerade die Ferien ein Anlaß sein könnten, einmal ein Buch der Bibel zu lesen und so dem Wort Gottes näherzukommen. Solche geistlichen Akzente bereichern den Urlaub und schaffen tiefe Erholung. Der Herr schenke euch allen das Licht seiner Gnade!



Castel Gandolfo

Mittwoch, 10. August 2011: Der betende Mensch (9) “Oasen” des Geistes

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Liebe Brüder und Schwestern!

Zu allen Zeiten haben Männer und Frauen, die ihr Leben Gott im Gebet geweiht haben – wie die Mönche und Nonnen – ihre Gemeinschaften an besonders schönen Orten angesiedelt: auf dem Land, auf Hügeln, in Bergtälern, an Seeufern oder am Meer oder sogar auf kleinen Inseln. Diese Orte vereinen zwei für das kontemplative Leben sehr wichtige Elemente: die Schönheit der Schöpfung, die auf jene des Schöpfers verweist, und die Stille, die fernab der Städte und der großen Verkehrsadern gewährleistet ist. Ein von der Stille geprägtes Umfeld fördert die Sammlung, das Hören auf Gott und die Betrachtung am besten. Allein schon die Tatsache, die Stille zu genießen, sich von der Stille sozusagen »erfüllen« zu lassen, schenkt uns innere Bereitschaft zum Gebet. Der große Prophet Elija wohnte auf dem Berg Horeb – also dem Sinai – einem starken, heftigen Sturm bei, dann einem Erdbeben und schließlich einem Feuer, erkannte aber in ihnen nicht die Stimme Gottes. Er erkannte sie jedoch in einem sanften, leisen Säuseln (vgl. ). Gott spricht in der Stille, aber man muß ihn hören können. Darum sind die Klöster Oasen, in denen Gott zur Menschheit spricht. Und in ihnen befindet sich der Kreuzgang. Er ist ein symbolischer Ort: ein geschlossener Raum, der sich jedoch zum Himmel hin öffnet.

Morgen, liebe Freunde, gedenken wir der hl. Klara von Assisi. Ich möchte daher an eine dieser »Oasen« des Geistes erinnern, die der Franziskanischen Familie und allen Christen besonders lieb und teuer sind: das kleine Kloster »San Damiano«, etwas unterhalb der Stadt Assisi gelegen, inmitten der Olivenhaine, die nach »Santa Maria degli Angeli« hin abfallen. Bei dieser kleinen Kirche, die Franziskus nach seiner Bekehrung wiederherstellte, siedelten Klara und ihre ersten Gefährtinnen ihre Gemeinschaft an. Sie lebten vom Gebet und von kleinen Arbeiten. Sie hießen »Arme Schwestern« und ihre »Lebensform« war dieselbe wie die der Minderbrüder: »Unseres Herrn Jesu Christi heiliges Evangelium zu beobachten « (Regel der hl. Klara, I,2), die Einigkeit der gegenseitigen Liebe zu bewahren (vgl. ebd., X,5) und insbesondere die Armut und Demut unseres Herrn Jesus Christus und seiner heiligsten Mutter zu beobachten (vgl. ebd., XII,11).

Die Stille und die Schönheit des Ortes, an dem die klösterliche Gemeinschaft lebt – eine einfache und strenge Schönheit – sind gleichsam ein Widerschein der geistlichen Harmonie, die die Gemeinschaft umzusetzen bestrebt ist. Die Welt ist mit diesen Oasen des Geistes übersät. Einige, besonders in Europa, sind sehr alt, andere jüngeren Datums, wieder andere wurden von neuen Gemeinschaften wiederhergestellt. Aus geistlicher Sicht betrachtet sind diese Orte des Geistes ein tragendes Fundament der Welt! Es ist kein Zufall, daß viele Menschen, besonders in Zeiten der Erholung, diese Orte aufsuchen und einige Tage dort verweilen: Gottlob hat auch die Seele ihre Bedürfnisse! Wir gedenken also der hl. Klara. Wir gedenken jedoch auch noch weiterer Heiliger, die uns daran erinnern, wie wichtig es ist, den Blick auf die »himmlischen Dinge« zu richten, wie die heilige Karmelitin Edith Stein, Teresia Benedicta vom Kreuz, Mitpatronin Europas, die wir gestern gefeiert haben. Und heute, am 10. August, dürfen wir nicht den heiligen Diakon und Märtyrer Laurentius vergessen, mit besonderen guten Wünschen für die Römer, die ihn seit jeher als einen ihrer Schutzpatrone verehren. Und am Schluß wollen wir unseren Blick der Jungfrau Maria zuwenden, auf daß sie uns lehre, die Stille und das Gebet zu lieben.

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Mit Freude grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache, die zu dieser Audienz nach Castel Gandolfo gekommen sind. Seit jeher üben Klöster ihre eigene Faszination aus – als geistliche Oasen, als Orte, an denen Gott in besonderer Weise zu den Menschen spricht. Ihre Mitte ist der Kreuzgang, der Ordnung und Harmonie widerspiegelt, einerseits geschlossen ist und sammelt und zugleich offen ist zum Himmel hin. Hier weisen die Schönheit der Schöpfung, die im Garten durchscheint, und die Stille auf das Wesen des monastischen Lebens hin, das ganz auf das Hören und auf das Betrachten Gottes ausgerichtet ist. Die Stille hilft auch uns, aufnahmebereit zu werden für Gottes Wort und unsere Beziehung zu ihm zu vertiefen. Ich denke, dies ist auch eine schöne Aufgabe für die Urlaubszeit, und dabei können wir von Maria und den Heiligen lernen, die Stille und das Gebet zu lieben und so dem Schöpfer und Erlöser zu begegnen. Der Herr segne euch alle!



Castel Gandolfo

Mittwoch, 17. August 2011: Der betende Mensch (10) Meditation


Generalaudienzen 2005-2013 15061