Generalaudienzen 2005-2013 28091

Mittwoch, 28. September 2011: Apostolische Reise nach Deutschland

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Liebe Brüder und Schwestern!

Wie ihr wißt, habe ich vom vergangenen Donnerstag bis Sonntag einen Pastoralbesuch in Deutschland durchgeführt. Ich freue mich daher, wie gewohnt die Gelegenheit der heutigen Audienz zu ergreifen, um gemeinsam mit euch Rückschau zu halten auf die intensiven und wunderschönen Tage, die ich in meinem Heimatland verbracht habe. Ich habe Deutschland von Nord nach Süd, von Ost nach West durchquert: von der Hauptstadt Berlin nach Erfurt und zum Eichsfeld und schließlich nach Freiburg, einer Stadt nahe der Grenze zu Frankreich und zur Schweiz. Vor allem danke ich dem Herrn für die Möglichkeit, die er mir geschenkt hat, den Menschen zu begegnen und über Gott zu sprechen, gemeinsam zu beten und die Brüder und Schwestern im Glauben zu stärken, dem besonderen Auftrag gemäß, den der Herr dem Petrus und seinen Nachfolgern anvertraut hat. Der Besuch stand unter dem Motto »Wo Gott ist, da ist Zukunft!« Er war wirklich ein großes Fest des Glaubens: in den verschiedenen Begegnungen und Gesprächen, in den Gottesdiensten, besonders in den feierlichen Messen mit dem Gottesvolk. Diese Augenblicke waren ein kostbares Geschenk, das uns erneut spüren ließ, daß Gott unserem Leben den tiefsten Sinn, die wahre Fülle verleiht, ja daß nur er uns und allen Menschen eine Zukunft schenkt.

In tiefer Dankbarkeit erinnere ich mich an den herzlichen und begeisterten Empfang sowie an die Aufmerksamkeit und die Zuneigung, die mir an den verschiedenen Orten, die ich besucht habe, entgegengebracht wurden. Ich danke von Herzen den deutschen Bischöfen, besonders denen der Diözesen, die mir Gastfreundschaft erwiesen haben, für die Einladung und für das, was sie zusammen mit vielen Mitarbeitern zur Vorbereitung dieser Reise getan haben. Ein aufrichtiger Dank ergeht auch an den Bundespräsidenten sowie an alle politischen und zivilen Autoritäten auf Bundesebene und auf regionaler Ebene. Ich bin allen, die auf unterschiedliche Weise zum guten Gelingen des Besuchs beigetragen haben, vor allem den zahlreichen freiwilligen Helfern, zutiefst dankbar. So war er ein großes Geschenk für mich und für uns alle und hat Freude, Hoffnung und neue Impulse des Glaubens und des Einsatzes für die Zukunft erweckt. In der Bundeshauptstadt Berlin hat mich der Bundespräsident in seiner Residenz empfangen. Er hat mich in seinem Namen und im Namen meiner Landsleute willkommen geheißen und hat die Hochachtung und die Liebe gegenüber einem aus Deutschland stammenden Papst zum Ausdruck gebracht. Meinerseits konnte ich kurz einige Gedanken über die gegenseitige Beziehung zwischen Religion und Freiheit darlegen, wobei ich ein Wort des großen Bischofs und Sozialreformers Wilhelm von Ketteler in Erinnerung gerufen habe: »Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion«.

Sehr gerne habe ich die Einladung in den Bundestag angenommen. Dies war gewiß ein Augenblick von großer Tragweite auf meiner Reise. Zum ersten Mal hat ein Papst vor den Mitgliedern des deutschen Bundestags eine Ansprache gehalten. Bei dieser Gelegenheit habe ich die Grundlage des Rechts und des freien Rechtsstaats erläutert, also den Maßstab jeden Rechts, der vom Schöpfer in das Wesen seiner Schöpfung hineingelegt wurde. Daher ist es notwendig, unseren Begriff von Natur zu erweitern und sie nicht nur als ein funktionales Ganzes zu verstehen, sondern darüber hinaus als Sprache des Schöpfers, die uns helfen soll, Gut und Böse zu unterscheiden. Anschließend fand auch eine Begegnung mit Vertretern der jüdischen Gemeinde in Deutschland statt. Eingedenk unserer gemeinsamen Wurzeln im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs haben wir die Früchte hervorgehoben, die aus dem Dialog zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum in Deutschland bisher hervorgegangen sind. Ebenso konnte ich einigen Mitgliedern der muslimischen Gemeinde begegnen und habe mit ihnen über die Bedeutung der Religionsfreiheit für eine friedliche Entwicklung der Menschheit gesprochen.

Die heilige Messe im Olympiastadion in Berlin zum Abschluß des ersten Besuchstages war eine der großen liturgischen Feiern, die mir die Möglichkeit gaben, gemeinsam mit den Gläubigen zu beten und sie im Glauben zu ermutigen. Ich habe mich sehr gefreut, daß so viele Menschen daran teilgenommen haben! In jenem feierlichen und eindrucksvollen Augenblick haben wir über das Bild vom Weinstock und den Reben aus dem Evangelium nachgedacht, also darüber, wie wichtig es ist, mit Christus vereint zu sein, für unser persönliches Glaubensleben und für unser Kirche-Sein, die sein mystischer Leib ist.

Die zweite Station meines Besuchs war Thüringen. Deutschland, und insbesondere Thüringen, ist das Land der protestantischen Reformation. Es war mir daher von Anfang an ein großes Anliegen, im Rahmen dieser Reise besonderes Gewicht auf die Ökumene zu legen, und es war mein tiefer Wunsch, in Erfurt einen Augenblick der Ökumene zu erleben, weil in eben dieser Stadt Martin Luther in die Gemeinschaft der Augustiner eingetreten ist und dort zum Priester geweiht wurde. Ich habe mich daher sehr gefreut über die Begegnung mit den Mitgliedern des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und über den ökumenischen Gottesdienst im ehemaligen Augustinerkloster: eine herzliche Begegnung, die uns im Dialog und im Gebet in tieferer Weise zu Christus geführt hat. Wir haben erneut gesehen, wie wichtig unser gemeinsames Zeugnis des Glaubens an Jesus Christus in der heutigen Welt ist, die Gott oft nicht kennt oder sich nicht um ihn kümmert. Auf dem Weg zur vollen Einheit bedarf es unserer gemeinsamen Anstrengungen, aber wir sind uns immer sehr wohl bewußt, daß wir weder den Glauben noch die so sehr erwünschte Einheit »machen« können. Ein von uns selbst geschaffener Glaube hat keinerlei Wert, und die wahre Einheit ist vielmehr ein Geschenk des Herrn, der stets für die Einheit seiner Jünger gebetet hat und betet. Nur Christus kann uns diese Einheit schenken, und je mehr wir uns ihm zuwenden und uns von ihm verwandeln lassen, desto mehr werden wir vereint sein.

Ein besonders bewegender Augenblick war für mich die Feier der Marienvesper vor der Wallfahrtskirche Etzelsbach, wo eine große Schar von Pilgern mich empfangen hat. Bereits in meiner Jugend hatte ich vom Eichsfeld gehört – einem Landstrich, der in den verschiedenen Wechselfällen der Geschichte stets katholisch geblieben ist – und von seinen Bewohnern, die sich mutig den Diktaturen des Nationalsozialismus und des Kommunismus widersetzt haben. So habe ich mich sehr gefreut, das Eichsfeld und seine Bewohner zu besuchen, auf einer Pilgerfahrt zum Gnadenbild der Schmerzensreichen Jungfrau von Etzelsbach, wo die Gläubigen über Jahrhunderte hinweg Maria ihre Bitten, Sorgen und Leiden anvertraut und Trost, Gnade und Segen empfangen haben. Ebenso berührend war die Messe, die wir auf dem prachtvollen Erfurter Domplatz gefeiert haben. Im Gedenken an die Schutzheiligen von Thüringen – die hl. Elisabeth, den hl. Bonifatius und den hl. Kilian – und das leuchtende Vorbild der Gläubigen, die während der totalitären Systeme das Evangelium bezeugt haben, habe ich die Gläubigen eingeladen, die Heiligen von heute zu sein, mutige Zeugen Christi, und zum Aufbau unserer Gesellschaft beizutragen. Es waren nämlich immer die Heiligen und die von der Liebe Christi durchdrungenen Menschen, die wirklich die Welt verändert haben. Bewegend war auch die kurze Begegnung mit Prälat Hermann Scheipers, dem letzten noch lebenden deutschen Priester, der das Konzentrationslager Dachau überlebt hat. In Erfurt hatte ich auch Gelegenheit zur Begegnung mit Opfern sexuellen Mißbrauchs durch Priester und kirchliche Mitarbeiter und habe ihnen meine Anteilnahme und mein Mitgefühl mit ihrem Leid zugesichert.

Die letzte Station meiner Reise hat mich in den Südwesten Deutschlands geführt, in die Erzdiözese Freiburg. Die Einwohner dieser schönen Stadt, die Gläubigen der Erzdiözese sowie die zahlreichen Pilger, die aus der nahegelegenen Schweiz und dem nahen Frankreich sowie aus anderen Ländern gekommen waren, haben mir einen besonders feierlichen Empfang bereitet. Ich konnte ihn auch in der Gebetsvigil mit Tausenden von Jugendlichen erfahren. Ich war glücklich zu sehen, daß der Glaube in meiner deutschen Heimat ein junges Gesicht hat, daß er lebendig ist und eine Zukunft besitzt. Im stimmungsvollen Lichtritus habe ich die Flamme der Osterkerze an die Jugendlichen weitergegeben, Symbol des Lichts, das Christus ist, und habe sie ermahnt: »Ihr seid das Licht der Welt.« Ich habe ihnen erneut gesagt, daß der Papst auf die aktive Mitarbeit der Jugendlichen vertraut: Mit der Gnade Christi sind sie in der Lage, der Welt das Feuer der Liebe Gottes zu bringen.

Ein einzigartiger Augenblick war die Begegnung mit den Seminaristen im Freiburger Priesterseminar. Gewissermaßen als Antwort auf den berührenden Brief, den sie mir einige Wochen zuvor zukommen ließen, wollte ich diesen jungen Männern die Schönheit und Größe ihrer Berufung durch den Herrn zeigen und ihnen eine Hilfestellung geben, um den Weg der Nachfolge mit Freude und in tiefer Gemeinschaft mit Christus fortzusetzen. Im Seminar konnte ich außerdem in brüderlicher Atmosphäre auch einigen Vertretern der orthodoxen und orientalischen Kirchen begegnen, denen wir Katholiken uns sehr nahe fühlen. Eben dieser weitreichenden Gemeinsamkeit entspringt auch die gemeinsame Aufgabe, Sauerteig für die Erneuerung unserer Gesellschaft zu sein. Eine freundschaftliche Begegnung mit Vertretern der deutschen katholischen Laien hat die Reihe der Zusammenkünfte im Seminar abgeschlossen.

Die große sonntägliche Eucharistiefeier auf dem Flughafengelände von Freiburg war ein weiterer Höhepunkt des Pastoralbesuchs und bot Gelegenheit, allen zu danken, die in den verschiedenen Bereichen des kirchlichen Lebens tätig sind, vor allem den zahlreichen freiwilligen Helfern und Mitarbeitern der karitativen Initiativen. Sie machen die vielfältigen Hilfen möglich, die die Kirche in Deutschland der Universalkirche anbietet, besonders in den Missionsländern. Ich habe auch in Erinnerung gerufen, daß ihr wertvoller Dienst immer dann fruchtbar sein wird, wenn er aus einem echten und lebendigen Glauben heraus geschieht, in Einheit mit den Bischöfen und dem Papst, in Einheit mit der Kirche. Vor meiner Rückkehr habe ich schließlich zu etwa tausend engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft gesprochen und einige Überlegungen über das Wirken der Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft dargelegt, über die Aufforderung, von materiellen und politischen Lasten frei zu sein, um transparenter zu sein für Gott.

Liebe Brüder und Schwestern, diese Apostolische Reise nach Deutschland hat mir eine günstige Gelegenheit geboten, den Gläubigen meiner deutschen Heimat zu begegnen, sie im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe zu stärken und die Freude, katholisch zu sein, mit ihnen zu teilen. Meine Botschaft war jedoch an das ganze deutsche Volk gerichtet, um alle einzuladen, mit Vertrauen in die Zukunft zu blicken. Wahrlich, »wo Gott ist, da ist Zukunft«! Ich danke noch einmal allen, die diesen Besuch ermöglicht haben, sowie jenen, die mich mit dem Gebet begleitet haben. Der Herr segne das Volk Gottes in Deutschland, und er segne euch alle. Danke.


* * *


Gerne grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache, vor allem die vielen Jugendlichen. Mit zahlreichen Begegnungen und feierlichen Gottesdiensten war mein Besuch in Deutschland ein Fest des Glaubens. Wir durften erneut spüren, daß Gott uns führt, daß er wirklich Erfüllung, den tiefsten Sinn des Lebens und Zukunft schenkt. Diese Zuversicht wollen wir an unsere Mitmenschen weitergeben. Der Herr segne euch alle!





Petersplatz

Mittwoch, 5. Oktober 2011: Psalm 23

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Liebe Brüder und Schwestern!

Sich im Gebet an den Herrn zu wenden setzt einen radikalen Akt des Vertrauens voraus, im Bewußtsein, sich Gott anzuvertrauen: Er ist »ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue« (
Ex 34,6 vgl. Ps 86,15 Jl 2,13 Jon 4,2 Ps 103,8 Ps 145,8 Ne 9,17). Daher möchte ich mit euch über einen Psalm nachdenken, der ganz vom Vertrauen durchdrungen ist und in dem der Psalmist seine feste Gewißheit zum Ausdruck bringt, geleitet, geschützt und vor jeder Gefahr in Sicherheit gebracht zu sein, denn der Herr ist sein Hirte. Es handelt sich um Psalm Ps 23 – nach der griechischlateinischen Zählung 22 –, einen allen vertrauten und bei allen beliebten Text.

»Der Herr ist mein Hirte, / nichts wird mir fehlen«: So beginnt dieses schöne Gebet, das uns das nomadische Umfeld des Hirtenlebens vor Augen führt sowie die Erfahrung gegenseitiger Vertrautheit, die sich zwischen dem Hirten und den Schafen, aus denen seine kleine Herde besteht, einstellt. Das Bild ist von einer Atmosphäre des Vertrauens, der Vertrautheit, der Fürsorge geprägt: Der Hirte kennt jedes einzelne seiner Schafe, er ruft sie beim Namen, und sie folgen ihm, weil sie ihn kennen und ihm vertrauen (vgl. ). Er kümmert sich um sie, er hütet sie wie ein kostbares Gut, stets bereit, sie zu verteidigen, ihr Wohlergehen sicherzustellen, dafür zu sorgen, daß sie in Ruhe leben können. Nichts wird fehlen, wenn der Hirte bei ihnen ist. Auf diese Erfahrung nimmt der Psalmist Bezug, wenn er Gott seinen Hirten nennt und sich von ihm zu sicheren Weiden führen läßt:

»Er läßt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.
Er stillt mein Verlangen;
er leitet mich auf rechten Pfaden,
treu seinem Namen« (V. 2–3).

Vor unseren Augen tut sich ein Bild von grünen Weiden und klaren Wasserquellen auf, Oasen des Friedens, zu denen der Hirte die Herde führt, Symbole der Orte des Lebens, zu denen der Herr den Psalmisten führt: Dieser fühlt sich gleichsam wie die Schafe, die auf dem Gras an einer Quelle lagern, in Ruhe, nicht angespannt oder aufgeregt, sondern vertrauensvoll und ruhig, weil der Platz sicher ist, das Wasser frisch, und der Hirte über sie wacht. Und hier dürfen wir nicht vergessen, daß die Szene, die der Psalm uns vor Augen stellt, in einem Land angesiedelt ist, das großenteils aus sonnenversengter Wüste besteht, wo der halbnomadische Hirte des Nahen Ostens mit seiner Herde in den dürren Steppen lebt, die sich um die Dörfer herum ausbreiten. Aber der Hirte weiß, wo man Gras und frisches Wasser findet, die lebenswichtig sind. Er ist in der Lage, zur Oase zu führen, wo das Verlangen »gestillt« wird und man Kraft und neue Energie schöpft, um sich wieder auf den Weg zu machen. Wie der Psalmist sagt, führt Gott ihn zu »grünen Auen« und zum »Ruheplatz am Wasser«, wo alles in Überfülle vorhanden ist, wo alles überreich geschenkt wird. Wenn der Herr der Hirte ist, dann schwindet auch in der Wüste, einem Ort der Einsamkeit und des Todes, die Gewißheit um eine tief verwurzelte Gegenwart des Lebens nicht, und man kann sagen: »Nichts wird mir fehlen.« Denn dem Hirten liegt das Wohl seiner Herde am Herzen, er paßt seinen eigenen Rhythmus und seine eigenen Bedürfnisse denen seiner Schafe an, er wandert und lebt mit ihnen, führt sie auf »rechten«, also auf den für sie geeigneten Pfaden, er achtet auf ihre und nicht auf seine eigenen Bedürfnisse. Die Sicherheit seiner Herde steht für ihn an erster Stelle, und nach ihr richtet er sich, wenn er die Herde führt.

Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir, wie der Psalmist, hinter dem »guten Hirten« hergehen – so schwierig, unwegsam oder lang die Pfade unseres Lebens uns auch erscheinen mögen, zuweilen auch in geistlichen Wüstenregionen ohne Wasser, unter der sengenden Sonne des Rationalismus –, geführt vom guten Hirten, Christus, so sind auch wir sicher, daß wir auf den »rechten« Wegen gehen und daß der Herr uns führt und immer bei uns ist und uns nichts fehlen wird. Daher kann der Psalmist sagen, daß er ruhig und zuversichtlich lebt, ohne Ungewißheiten und Ängste:

»Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht,
ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir,
dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht« (V. 4).

Wer mit dem Herrn wandert, der fühlt sich sicher, auch in der finsteren Schlucht des Leidens, der Ungewißheit und aller menschlichen Probleme. Du bist bei mir: Das ist die Gewißheit, die uns stützt. Die nächtliche Finsternis mit ihren wechselnden Schatten, ihren schwer erkennbaren Gefahren, ihrer von unverständlichen Lauten erfüllten Stille macht Angst. Wenn die Herde nach Sonnenuntergang wandert, wenn die Sichtbarkeit nachläßt, dann ist es normal, daß die Schafe unruhig sind, dann besteht die Gefahr zu straucheln oder sich zu entfernen und zu verirren, und man hat auch Angst vor möglichen Angreifern, die in der Finsternis verborgen sind.

Wenn er von der »finsteren« Schlucht spricht, gebraucht der Psalmist einen hebräischen Begriff, der die Finsternis des Todes bezeichnet; die zu durchquerende Schlucht ist also ein furchteinflößender Ort, an dem schreckliche Bedrohungen und Todesgefahr lauern. Dennoch schreitet der Beter zuversichtlich und furchtlos voran, denn er weiß, daß der Herr bei ihm ist. »Du bist bei mir«, ist ein Ausdruck unerschütterlichen Vertrauens, der die Erfahrung tief verwurzelten Glaubens zusammenfaßt; die Nähe Gottes verändert die Wirklichkeit, die finstere Schlucht verliert all ihre Gefährlichkeit und ihre Bedrohungen. Die Herde kann jetzt ruhig wandern, begleitet vom vertrauten Klang des Stabes, der auf die Erde stößt und die beruhigende Gegenwart des Hirten anzeigt. Mit diesem tröstlichen Bild schließt der erste Teil des Psalms und macht einer anderen Szene Platz. Wir sind noch immer in der Wüste, wo der Hirte mit seiner Herde lebt, aber jetzt werden wir in sein Zelt geführt, das sich öffnet, um Gastfreundschaft zu schenken:

»Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde.
Du salbst mein Haupt mit Öl,
du füllst mir reichlich den Becher« (V. 5).

Der Herr erscheint jetzt als derjenige, der den Beter aufnimmt, mit den Zeichen einer großherzigen und fürsorglichen Gastfreundschaft. Der göttliche Gastgeber bereitet mit Speisen den »Tisch«. Das hebräische Wort bezeichnete ursprünglich die Tierhaut, die auf dem Boden ausgebreitet wurde und auf der die Speisen für das gemeinsame Mahl angerichtet wurden. Durch diese Geste wird nicht nur die Speise, sondern auch das Leben miteinander geteilt, werden Gemeinschaft und Freundschaft angeboten, was Bindungen schafft und Solidarität zum Ausdruck bringt. Und dann ist da die großherzige Gabe des duftenden Öls auf dem Haupt, das in der heißen Wüstensonne Erleichterung schenkt, der Haut Frische und Linderung verleiht und das Herz mit seinem Duft erfreut. Schließlich fügt der reichlich gefüllte Becher noch eine festliche Note hinzu durch seinen erlesenen Wein, der mit überreicher Freigebigkeit geteilt wird. Speisen, Öl, Wein: Das sind die Gaben, die Leben und Freude schenken, weil sie über das strikt Notwendige hinausgehen und die Unentgeltlichkeit und den übergroßen Reichtum der Liebe zum Ausdruck bringen. Im Psalm 104, der die Güte der Vorsehung des Herrn preist, heißt es:

»Du läßt Gras wachsen für das Vieh, /
auch Pflanzen für den Menschen,
die er anbaut, damit er Brot gewinnt von der Erde /
und Wein, der das Herz des Menschen erfreut,
damit sein Gesicht von Öl erglänzt /
und Brot das Menschenherz stärkt« (V. 14–15).

Dem Psalmisten wird viel Fürsorge zuteil, daher betrachtet er sich gleichsam als Wanderer, der in einem gastfreundlichen Zelt Unterschlupf findet, während seine Feinde das Nachsehen haben, ohne eingreifen zu können, weil jener, den sie als ihre Beute betrachteten, in Sicherheit gebracht wurde, zum heiligen, unantastbaren Gast geworden ist. Und der Psalmist sind wir, wenn wir wirklich Gläubige in Gemeinschaft mit Christus sind. Wenn Gott sein Zelt öffnet, um uns aufzunehmen, dann kann uns nichts Böses geschehen. Wenn der Wanderer später wieder aufbricht, dann bleibt der göttliche Schutz bestehen und begleitet ihn auf seiner Reise:


»Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang,
und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit« (V. 6).

Gottes Güte und Huld sind der Geleitschutz, der den Psalmisten, der aus dem Zelt heraustritt und sich wieder auf den Weg macht, begleitet. Dieser Weg erhält jedoch einen neuen Sinn und wird zur Pilgerreise zum Tempel des Herrn, dem heiligen Ort, an dem der Beter für immer »wohnen « und zu dem er auch »zurückkehren« will. Das hier verwendete hebräische Verb bedeutet »zurückkehren«, aber durch eine kleine Vokalverschiebung kann es als »wohnen« aufgefaßt werden, und so wird er von den antiken Übertragungen und von den meisten modernen Übersetzungen auch wiedergegeben. Beide Bedeutungen können erhalten bleiben. Zum Tempel zurückzukehren und dort zu wohnen ist der Wunsch eines jeden Israeliten, und bei Gott zu wohnen, in seiner Nähe und Güte, ist das Verlangen und die Sehnsucht eines jeden Gläubigen: dort wirklich wohnen zu können, wo Gott ist, nahe bei Gott. Die Nachfolge des Hirten führt zu seinem Haus. Das ist das Ziel eines jeden Weges, die ersehnte Oase in der Wüste, das Zelt, das Unterschlupf bietet auf der Flucht vor den Feinden, der Ort des Friedens, an dem man die Güte und die treue Liebe Gottes erfährt, Tag für Tag, im Frieden und in der Freude einer Zeit ohne Ende.

Die Bilder dieses Psalms mit ihrem Reichtum und ihrer Tiefe haben die ganze Geschichte und die religiöse Erfahrung des Volkes Israel begleitet und begleiten die Christen. Die Gestalt des Hirten erinnert insbesondere an die Ursprungszeit des Auszugs aus Ägypten, an den langen Weg durch die Wüste, wie eine Herde unter der Führung des göttlichen Hirten (vgl. ). Und im Gelobten Land hatte der König die Aufgabe, die Herde des Herrn zu weiden, wie David, der von Gott auserwählte Hirte und das Urbild des Messias (vgl. ). Dann, nach der Babylonischen Gefangenschaft, gleichsam in einem neuen Auszug aus Ägypten (vgl. ), wird Israel wieder in die Heimat zurückgebracht wie ein verlorenes und wiedergefundenes Schaf, das von Gott auf üppige Weiden und Ruheplätze zurückgeführt wird (vgl. ). Im Herrn Jesus kommt jedoch die ganze Sinnfälligkeit unseres Psalms zur Vollendung, findet sie ihre Bedeutungsfülle.

Jesus ist der »gute Hirt«, der auf die Suche geht nach dem verlorenen Schaf, der seine Schafe kennt und sein Leben für sie hingibt (vgl. ), er ist der Weg, der rechte Pfad, der uns zum Leben führt (vgl. Jn 14,6), das Licht, das die finstere Schlucht erleuchtet und all unsere Ängste überwindet (vgl. Jn 1,9 Jn 8,12 Jn 9,5 Jn 12,46). Er ist der großherzige Gastgeber, der uns aufnimmt, uns vor den Feinden in Sicherheit bringt und uns den Tisch seines Leibes und seines Blutes bereitet (vgl. ) sowie das endgültige messianischen Hochzeitsmahl im Himmel (vgl. Lc 14,15ff; Ap 3,20 Ap 19,9). Er ist der königliche Hirte, König in Barmherzigkeit und in Vergebung, am glorreichen Holz des Kreuzes erhöht (vgl. ). Liebe Brüder und Schwestern, der Psalm 23 lädt uns ein, unseren Glauben an Gott zu erneuern und uns völlig seinen Händen zu überlassen.

Bitten wir daher mit Glauben, daß der Herr uns gewähre, auch auf den schwierigen Wegen unserer Zeit stets als fügsame und gehorsame Herde auf seinen Pfaden zu wandern, daß er uns in sein Haus, an seinen Tisch aufnehme und uns zum »Ruheplatz am Wasser« führe, damit wir die Gabe seines Heiligen Geistes annehmen und aus seiner Quelle trinken können, der sprudelnden Quelle, »deren Wasser ewiges Leben schenkt« (Jn 4,14 vgl. ). Danke.
* * *


Ganz herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Gäste, besonders die Kirchenchöre aus dem Eichsfeld, die mich an den schönen Besuch bei der Muttergottes in Etzelsbach erinnern, sowie die jungen Freunde aus der Schweiz, die an der Informationswoche »meiner« Schweizergarde teilnehmen. Willkommen! Liebe Brüder und Schwestern, der Psalm 23 lädt uns ein, unser Vertrauen auf Gott zu erneuern und uns ganz in seine Hände zu geben. Bitten wir ihn also mit Zuversicht, daß er uns nahe sei, daß er uns an lebendige Wasser führe und daß wir aus der Quelle trinken dürfen, die ewiges Leben schenkt. Jesus Christus, der Gute Hirt, segne und behüte euch alle.




Petersplatz

Mittwoch, 12. Oktober 2011: Psalm 126

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Liebe Brüder und Schwestern!

In den vorangegangenen Katechesen haben wir einige Psalmen der Klage und des Vertrauens betrachtet. Heute möchte ich mit euch über einen Psalm nachdenken, der von Freude geprägt ist, ein Gebet, das freudig die Großtaten Gottes besingt. Es ist Psalm
Ps 126 – nach der griechisch-lateinischen Zählung 125 –, der die großen Dinge preist, die der Herr an seinem Volk vollbracht hat und die er ohne Unterlaß an jedem Gläubigen vollbringt.

Der Psalmist beginnt sein Gebet damit, daß er im Namen von ganz Israel die beglückende Erfahrung des Heils in Erinnerung ruft:

»Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete,
da waren wir alle wie Träumende.
Da war unser Mund voll Lachen
und unsere Zunge voll Jubel« (V. 1–2a).

Der Psalm spricht von einem »gewendeten Los«: Das heißt, daß der Urzustand in all seiner einstigen Positivität wiederhergestellt wurde. Der Ausgangspunkt ist also eine Situation des Leidens und der Not, auf die Gott antwortet, indem er Heil wirkt und den Beter in den vorherigen Zustand zurückversetzt, der jetzt sogar bereichert und zum Besseren gewandelt ist. Es ist das, was Ijob widerfährt, als der Herr ihm alles, was er verloren hatte, zurückerstattet, es auf das Doppelte mehrt und einen noch größeren Segen spendet (vgl. ). Dasselbe erfährt das Volk Israel, als es aus dem Babylonischen Exil heimkehrt. Dieser Psalm wird mit Bezug auf das Ende der Verbannung in ein fremdes Land ausgelegt: Der Ausdruck »das Los Zions wenden« wird in der Überlieferung als »die Gefangenen Zions heimkehren lassen« ausgelegt und verstanden. In der Tat ist die Rückkehr aus dem Exil das Muster für jedes rettende göttliche Eingreifen, denn die Eroberung Jerusalems und die Verschleppung nach Babylonien waren für das auserwählte Volk eine erschütternde Erfahrung, nicht nur auf politischer und sozialer Ebene, sondern auch und vor allem auf religiöser und geistlicher Ebene. Der Verlust des Landes, das Ende der davidischen Monarchie und die Zerstörung des Tempels erscheinen wie ein Widerruf der göttlichen Verheißungen, und das Volk des Bundes, das unter den Heiden versprengt ist, steht schmerzerfüllt vor der Frage nach einem Gott, der es verlassen zu haben scheint. Das Ende der Verbannung und die Rückkehr in die Heimat werden daher als eine wunderbare Rückkehr zum Glauben, zum Vertrauen, zur Gemeinschaft mit dem Herrn erfahren; dieses »Wenden des Loses« bringt auch die Bekehrung des Herzens mit sich, die Vergebung, die wiedergefundene Freundschaft mit Gott, das Bewußtsein um seine Barmherzigkeit und die Möglichkeit, ihn wieder zu preisen (vgl. ). Es ist eine Erfahrung grenzenloser Freude, voll Lachen und Jubelrufen. Sie ist so schön, daß alle »wie Träumende« sind. Das göttliche Eingreifen nimmt oft unerwartete Formen an, die die Vorstellungskraft des Menschen übersteigen; und dann entlädt sich das Staunen und die Freude im Lobpreis: »Der Herr hat Großes getan.« Das sagen die Völker, und das verkündet Israel:


»Da sagte man unter den andern Völkern:
Der Herr hat an ihnen Großes getan.
Ja, Großes hat der Herr an uns getan.
Da waren wir fröhlich« (V. 2b–3).

Gott tut Wunder in der Geschichte der Menschen. Indem er Heil wirkt, offenbart er sich allen als mächtiger und barmherziger Herr, als Zuflucht für den Bedrückten; er vergißt nicht den Notschrei der Armen (vgl. Ps 9,10 Ps 9,13), er liebt Gerechtigkeit und Recht, die Erde ist erfüllt von seiner Huld (vgl. Ps 33,5). So erkennen angesichts der Befreiung des Volkes Israel alle Völker das Große und Wunderbare, das Gott für sein Volk vollbringt, und feiern den Herrn in seiner Wirklichkeit als Retter. Und Israel schließt sich dem Jubelruf der Völker an, es greift ihn auf und wiederholt ihn, aber als Hauptakteur, als unmittelbarer Empfänger des göttlichen Wirkens: »Großes hat der Herr an uns getan«; »an uns«, oder noch genauer gesagt »mit uns«, in Hebräisch »‘immanû«. So bekräftigt es die besondere Beziehung, die der Herr zu seinen Auserwählten unterhält und die im Namen »Immanuel«, »Gott ist mit uns«, den Jesus erhält, ihren Höhepunkt und ihre volle Offenbarung findet (vgl. Mt 1,23).

Liebe Brüder und Schwestern, in unserem Gebet sollten wir öfter darauf blicken, wie der Herr uns in den Wechselfällen unseres Lebens geschützt, geleitet, geholfen hat, und ihn loben für das, was er für uns getan hat und tut. Wir müssen mehr auf die guten Dinge achten, die der Herr uns gibt. Wir achten immer auf die Probleme, auf die Schwierigkeiten, und fast wollen wir nicht merken, daß es schöne Dinge gibt, die vom Herrn kommen. Diese Achtsamkeit, die zur Dankbarkeit wird, ist sehr wichtig für uns und schenkt uns eine Erinnerung an das Gute, die uns auch in den dunklen Stunden hilft. Gott vollbringt große Dinge, und wer sie erfährt – achtsam gegenüber der Güte des Herrn mit der Achtsamkeit des Herzens –, ist erfüllt von Freude. Mit dieser freudigen Feststellung endet der erste Teil des Psalms. Gerettet zu sein und aus dem Exil in die Heimat zurückzukehren ist wie eine Rückkehr ins Leben: Die Befreiung öffnet sich zum Lachen, aber gleichzeitig auch zur Erwartung einer Erfüllung, die noch aussteht und noch erbeten werden muß. Das ist der zweite Teil unseres Psalms, der so lautet:

»Wende doch, Herr, unser Geschick,
wie du versiegte Bäche
wieder füllst im Südland.
Die mit Tränen säen,
werden mit Jubel ernten.
Sie gehen hin unter Tränen
und tragen den Samen zur Aussaat.
Sie kommen wieder mit Jubel
und bringen ihre Garben ein« (V. 4–6).

Wenn der Psalmist am Anfang seines Gebets die Freude über ein Los feierte, das der Herr nunmehr gewendet hat, so erbittet er es jetzt als etwas, das erst noch verwirklicht werden muß. Wenn man diesen Psalm auf die Rückkehr aus dem Exil bezieht, dann erklärt sich dieser scheinbare Gegensatz durch die geschichtliche Erfahrung, die Israel gemacht hat: die Erfahrung einer schwierigen, nur teilweise verwirklichten Rückkehr in die Heimat, die den Beter dazu bringt, ein weiteres göttliches Eingreifen zu erbitten, um die Wiederherstellung des Volkes zur Vollendung zu bringen.

Der Psalm geht jedoch über das rein Geschichtliche hinaus, um sich breiteren Dimensionen theologischer Natur zu öffnen. Die tröstliche Erfahrung der Befreiung aus Babylonien ist auf jeden Fall noch unvollständig. Sie ist »schon« geschehen, aber »noch nicht« von der endgültigen Fülle gekennzeichnet. Während das Gebet freudig das empfangene Heil feiert, öffnet es sich so auf die Erwartung der vollen Verwirklichung hin. Daher gebraucht der Psalm besondere Bilder, die in ihrer Vielschichtigkeit auf die geheimnisvolle Wirklichkeit der Erlösung verweisen, in der das empfangene und noch zu erwartende Geschenk, Leben und Tod, träumerische Freude und leidvolle Tränen miteinander verknüpft sind. Das erste Bild nimmt Bezug auf die versiegten Bäche der Wüste im Südland, die sich durch die Regenfälle mit tobendem Wasser füllen, das der ausgedörrten Erde wieder Leben schenkt und sie neu erblühen läßt. Der Psalmist bittet also, daß das Wenden des Geschicks des Volkes und die Rückkehr aus dem Exil wie dieses Wasser sein mögen: überwältigend, unaufhaltsam, und fähig, die Wüste in eine riesige Weite aus grünem Gras und Blumen zu verwandeln.

Das zweite Bild geht von den dürren und felsigen Hügeln des Südlands über zu den Feldern, die die Bauern bebauen, um Nahrung daraus zu gewinnen. Um über das Heil zu sprechen wird hier auf die Erfahrung verwiesen, die sich in der Landwirtschaft Jahr für Jahr wiederholt: die schwierige und mühselige Zeit der Aussaat und dann die Freude, die über die Ernte ausbricht. Die Aussaat ist von Tränen begleitet, weil man das aussät, was noch zu Brot werden könnte, und sich damit einer Erwartung voller Ungewißheiten aussetzt: Der Bauer arbeitet, er bereitet den Boden, streut den Samen aus, aber – wie das Gleichnis vom Sämann gut erläutert – er weiß nicht, wohin dieser Samen fallen wird, ob die Vögel ihn fressen werden, ob er aufgehen, Wurzeln treiben wird, ob er zur Ähre werden wird (vgl. ). Die Aussaat ist eine Geste des Vertrauens und der Hoffnung; der Fleiß des Menschen ist notwendig, aber dann tritt für ihn ein ohnmächtiges Warten ein, wohlwissend, daß viele Faktoren für das Gelingen der Ernte entscheidend sein werden und daß die Gefahr des Scheiterns ständig lauert. Dennoch wiederholt der Bauer Jahr für Jahr sein Handeln und streut seinen Samen aus. Und wenn dieser zur Ähre wird und die Felder sich mit Getreide füllen, dann herrscht Freude angesichts dieses wunderbaren Ereignisses. Jesus kannte diese Erfahrung gut und sprach zu seinen Jüngern darüber. »Er sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht, wie« (). Es ist das verborgene Geheimnis des Lebens, es sind die wunderbaren »großen Dinge« des Heils, das Gott in der Geschichte der Menschen wirkt und dessen Geheimnis die Menschen nicht kennen. Wenn das göttliche Eingreifen in ganzer Fülle offenbar wird, dann nimmt es gewaltige Dimensionen an, wie die Bäche im Südland und wie das Getreide auf den Feldern, wobei Letzteres auch ein Mißverhältnis deutlich macht, das für die Dinge Gottes bezeichnend ist: das Mißverhältnis zwischen der Mühe der Aussaat und der grenzenlosen Freude über die Ernte, zwischen dem ängstlichen Warten und dem beruhigenden Anblick der vollen Speicher, zwischen den kleinen Samen, die auf die Erde gestreut werden, und den großen sonnenvergoldeten Garbenhaufen. Zur Zeit der Ernte hat sich alles gewandelt, das Weinen hat ein Ende, es hat freudigem Jubel Platz gemacht. Auf all das nimmt der Psalmist Bezug, um über das Heil zu sprechen, über die Befreiung, das gewendete Los, die Rückkehr aus dem Exil. Die Verschleppung nach Babylonien – ebenso wie jede andere Situation des Leidens und der Krise mit ihrer schmerzlichen Dunkelheit aus Zweifeln und der scheinbaren Abwesenheit Gottes – ist in Wirklichkeit, so sagt unser Psalm, wie eine Aussaat. Im Geheimnis Christi, im Licht des Neuen Testaments wird die Botschaft noch deutlicher und klarer: Der Gläubige, der durch diese Finsternis hindurchgeht, ist wie das Weizenkorn, das in die Erde gefallen ist und stirbt, um jedoch reiche Frucht zu bringen (vgl. Jn 12,24). Oder er ist, wenn man ein weiteres Bild aufgreift, das Jesus sehr am Herzen lag, wie die Frau, die Geburtswehen erleidet, um zur Freude darüber zu gelangen, neues Leben zur Welt gebracht zu haben (vgl. Jn 16,21).

Liebe Brüder und Schwestern, dieser Psalm lehrt uns, daß wir in unserem Gebet stets offen für die Hoffnung und fest im Glauben an Gott bleiben müssen. Wenn unsere Geschichte auch oft die Spuren von Schmerz, von Unsicherheit, von Augenblicken der Krise trägt, so ist sie doch Heilsgeschichte, in der »das Los gewendet« wird. In Jesus endet unser Exil, und jede Träne wird getrocknet, im Geheimnis seines Kreuzes, des in Leben verwandelten Todes, wie das Weizenkorn, das in der Erde aufbricht und zur Ähre wird. Auch für uns ist die Entdeckung Jesu Christi die große Freude über das »Ja« Gottes, der unser Los gewendet hat. Aber wie jene, die voll Freude aus Babylonien zurückgekehrt sind und ein verarmtes, verwüstetes Land vorgefunden haben, und jene, die vor der schwierigen Aussaat standen und unter Tränen gelitten haben, ohne zu wissen, ob es am Ende wirklich eine Ernte geben würde, so finden auch wir nach der großen Entdeckung Jesu Christi – unser Leben, die Wahrheit, der Weg –, wenn wir den Boden des Glaubens, das »Land des Glaubens« betreten, oft ein dunkles, hartes, schwieriges Leben vor, eine Aussaat unter Tränen, aber in der Gewißheit, daß Christus uns am Ende wirklich die große Ernte schenkt. Und das müssen wir auch in den dunklen Nächten lernen; wir dürfen nicht vergessen, daß das Licht da ist, daß Gott schon mitten in unserem Leben ist und daß wir die Aussaat vornehmen können im großen Vertrauen, daß das »Ja« Gottes stärker ist als wir alle. Es ist wichtig, die Erinnerung an die Gegenwart Gottes in unserem Leben nicht zu verlieren, die tiefe Freude, daß Gott in unser Leben eingetreten ist und uns befreit hat: die Dankbarkeit für die Entdeckung Jesu Christi, der zu uns gekommen ist. Und diese Dankbarkeit verwandelt sich in Hoffnung, sie ist der Stern der Hoffnung, der uns Vertrauen schenkt, sie ist das Licht, denn gerade die Schmerzen der Aussaat sind der Beginn des neuen Lebens, der großen und endgültigen Freude Gottes.


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Ganz herzlich grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher, besonders die Neupriester und Gäste des Collegium Germanicum et Hungaricum. Der Rosenkranzmonat Oktober lädt uns ein, an der Hand der seligen Jungfrau Maria Christus entgegenzugehen, der uns Erlösung und Heil schenkt. Zusammen mit Maria dürfen auch wir Gott voll Freude preisen: »Der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig« (Lc 1,49). Gott begleite Euch alle!



Petersplatz

Mittwoch, 19. Oktober 2011: Das „große Hallel“ Psalm 136 (135)


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