Generalaudienzen 2005-2013 25119

Mittwoch, 25. November 2009: Hugo und Richard von St. Viktor

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Liebe Brüder und Schwestern!

In diesen Mittwochsaudienzen stelle ich einige Vorbilder im Glauben vor, die sich bemüht haben, die Übereinstimmung zwischen Vernunft und Glauben aufzuzeigen und durch ihr Leben von der Botschaft des Evangeliums Zeugnis zu geben. Heute möchte ich zu euch von Hugo und Richard von Sankt Viktor sprechen. Beide gehören zu jenen Philosophen und Theologen, die unter dem Namen Viktoriner bekannt sind, weil sie in der Abtei Saint Victor in Paris lebten und lehrten, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts von Wilhelm von Champeaux gegründet worden war. Auch Wilhelm war ein angesehener Lehrer, dem es gelang, seiner Abtei eine feste kulturelle Identität zu verleihen. So wurde in Saint Victor eine auch externen Studenten offenstehende Schule zur Ausbildung der Mönche errichtet, an der eine gelungene Synthese zwischen den beiden Möglichkeiten, Theologie zu betreiben, verwirklicht wurde, über die ich schon bei früheren Katechesen gesprochen habe: nämlich die monastische Theologie, die hauptsächlich auf die Betrachtung der Glaubensgeheimnisse in der Heiligen Schrift ausgerichtet war, und die scholastische Theologie, die sich der Vernunft bediente, um zu versuchen, diese Geheimnisse mit innovativen Methoden zu erkunden und ein theologisches System zu schaffen.

Über das Leben des Hugo von Sankt Viktor wissen wir wenig. Ungewiß sind das Datum und der Ort seiner Geburt: vielleicht in Sachsen oder in Flandern. Man weiß, daß er nach seinem Eintreffen in Paris - der europäischen Hauptstadt der Kultur der damaligen Zeit - den Rest seines Lebens in der Abtei von Saint Victor verbrachte, wo er zuerst Schüler und dann Lehrer war. Bereits vor seinem Tod im Jahr 1141 erlangte er große Bekanntheit und Hochachtung, so daß man ihn sogar einen »zweiten hl. Augustinus« nannte: Denn wie Augustinus dachte er viel über die Beziehung zwischen Glauben und Vernunft, zwischen den profanen Wissenschaften und der Theologie nach. Nach Hugo von Sankt Viktor haben alle Wissenschaften jenseits ihres Nutzens für das Verständnis der Schrift einen Wert in sich und müssen gepflegt werden, um das Wissen des Menschen zu weiten sowie auch seinem Streben nach Erkenntnis der Wahrheit zu entsprechen. Diese gesunde intellektuelle Neugier veranlaßte ihn, den Studenten nahezulegen, die Sehnsucht nach dem Lernen niemals einzuschränken, und in seiner Abhandlung über die Methodologie des Wissens und über die Pädagogik, die vielsagender Weise den Titel »Didascalion« (Über die Lehre) trägt, empfahl er: »Lerne bereitwillig von allen das, was du nicht weißt. Weiser als alle wird derjenige sein, der von allen etwas gelernt haben will. Wer etwas von allen empfängt, wird am Ende reicher als alle werden« (Eruditiones Didascalicae, 3,14: PL 176, 774).

Die Wissenschaft, mit der sich die »Viktoriner« genannten Philosophen und Theologen beschäftigen, ist in besonderer Weise die Theologie, die vor allem das liebevolle Studium der Heiligen Schrift erfordert. Um Gott kennenzulernen, kann man nämlich nur von dem ausgehen, was Gott selbst durch die Schrift von sich offenbart hat. In diesem Sinn ist Hugo von Sankt Viktor ein typischer Vertreter der monastischen Theologie, die ganz auf die Exegese der Bibel gegründet ist. Zur Auslegung der Schrift schlägt er die traditionelle patristisch-mittelalterliche Aufteilung vor, das heißt vor allem den historischen Wortsinn, dann den allegorischen und anagogischen und schließlich den moralischen Sinn. Es handelt sich um vier Dimensionen des Schriftsinns, die man auch heute wieder neu entdeckt, woraus ersichtlich ist, daß im Text und in der gebotenen Erzählung ein tieferer Hinweis verborgen liegt: das Band des Glaubens, der uns in die Höhe führt und uns auf dieser Erde leitet, indem er uns lehrt, wie wir leben sollen. Trotz der Achtung dieser vier Dimensionen des Schriftsinns betont er gleichwohl auf im Vergleich zu seinen Zeitgenossen originelle Weise - und das ist etwas Neues - die Wichtigkeit des historischen Wortsinns. Mit anderen Worten: Bevor man den symbolischen Wert, die tieferen Dimensionen des biblischen Textes entdecken kann, gilt es, die Bedeutung der in der Schrift erzählten Geschichte kennenzulernen und zu vertiefen: andernfalls - so warnt er mit einem wirkungsvollen Vergleich - läuft man Gefahr, gleichsam Grammatikgelehrte zu sein, die das Alphabet nicht kennen. Demjenigen, der die Bedeutung der in der Bibel beschriebenen Geschichte kennt, erscheinen die menschlichen Umstände von der göttlichen Vorsehung geprägt, gemäß einem von ihr wohlgeordneten Plan. So ist für Hugo von Sankt Viktor die Geschichte nicht das Ergebnis eines blinden Schicksal oder eines absurden Zufalls, wie es vielleicht den Anschein haben könnte. Im Gegenteil, in der menschlichen Geschichte wirkt der Heilige Geist, der einen wunderbaren Dialog der Menschen mit Gott, ihrem Freund, weckt. Diese theologische Sichtweise hebt das überraschende und heilbringende Eingreifen Gottes hervor, der wirklich in die Geschichte eintritt und in ihr handelt, gleichsam Teil unserer Geschichte wird, dabei aber immer die Freiheit und Verantwortung des Menschen wahrt und achtet.

Für unseren Autor ermöglicht das Studium der Heiligen Schrift und ihrer historisch-wörtlichen Bedeutung die eigentliche Theologie, das heißt die systematische Erläuterung der Wahrheiten, das Erkennen ihrer Struktur, die Erläuterung der Glaubensdogmen, die er in einer gefestigten Synthese in der Abhandlung »De Sacramentis christianae fidei« (Die Sakramente des christlichen Glaubens)darlegt, wo sich unter anderem eine Definition von »Sakrament« findet, die von anderen Theologen weiter vervollkommnet wurde und noch heute sehr interessante Anregungen enthält. »Das Sakrament«, so schreibt er, »ist ein körperliches und materielles Element, das in äußerlicher und sinnlicher Weise angeboten wird, mit seiner Ähnlichkeit eine unsichtbare und geistliche Gnade repräsentiert, ja, sie bedeutet, da es zu diesem Zweck eingesetzt worden ist, und das sie enthält, da es fähig ist, zu heiligen« (9,2: PL 176,317). Auf der einen Seite die Sichtbarkeit im Symbol, die »Leiblichkeit« des Geschenkes Gottes, in dem sich jedoch andererseits die göttliche Gnade birgt, die aus einer Geschichte hervorgeht: Jesus Christus selbst hat die grundlegenden Symbole geschaffen. Es sind also nach Hugo von Sankt Viktor drei Elemente, die zusammenwirken, um ein Sakrament zu definieren: die Einsetzung durch Christus, die Mitteilung der Gnade und die Analogie zwischen dem sichtbaren und materiellen Element und dem unsichtbaren Element, das in den göttlichen Gaben besteht. Es handelt sich um eine Sichtweise, die der heutigen Empfindsamkeit sehr nahe kommt, da die Sakramente mit einer von Symbolen und Bildern durchwobenen Sprache vorgestellt werden, die fähig sind, unmittelbar zum Herzen der Menschen zu sprechen. Es ist auch heute wichtig, daß die an der Gestaltung der Liturgie Beteiligten und insbesondere die Priester mit pastoraler Weisheit die den sakramentalen Riten eigenen Zeichen - diese Sichtbarkeit und Berührbarkeit der Gnade - zur Geltung bringen, indem sie sich sorgfältig der Katechese annehmen, damit jede Feier der Sakramente von allen Gläubigen mit Hingabe, Innigkeit und geistlicher Freude gelebt werde.

Ein des Hugo von Sankt Viktor würdiger Schüler ist der aus Schottland stammende Richard. Er war von 1162 bis zum Jahr seines Todes 1173 Prior der Abtei Saint Victor. Auch Richard weist natürlich dem Studium der Bibel eine fundamentale Rolle zu; aber im Unterschied zu seinem Lehrer bevorzugt er den allegorischen Sinn, die symbolische Bedeutung der Schrift, mit der er zum Beispiel die alttestamentliche Gestalt des Benjamin, Sohn des Jakob, als Symbol der Kontemplation und Höhepunkt des geistlichen Lebens interpretiert. Richard behandelt dieses Thema in zwei Texten, »Benjamin der Jüngere« und »Benjamin der Ältere«, in denen er den Gläubigen einen geistlichen Weg vorlegt, der vor allem dazu einlädt, die verschiedenen Tugenden zu üben, indem sie lernen, mit der Vernunft die Gefühle und die inneren affektiven und emotionalen Regungen zu disziplinieren und zu ordnen. Nur wenn der Mensch Gleichgewicht und menschliche Reife in diesem Bereich erlangt hat, ist er bereit, zur Kontemplation zu gelangen, die Richard als »einen tiefen und reinen Blick der Seele« bezeichnet, »der sich auf die Wunder der Weisheit ergießt und mit einem ekstatischen Sinn für Staunen und Bewunderung verbunden ist« (Benjamin Maior 1,4: PL 196,67).

Die Kontemplation ist also der Zielpunkt, das Ergebnis eines harten Weges, der den Dialog zwischen Glauben und Vernunft mit sich bringt, das heißt - wiederum - ein theologisches Gespräch. Die Theologie geht von den Wahrheiten aus, die Gegenstand des Glaubens sind, versucht aber, deren Kenntnis durch den Gebrauch der Vernunft zu vertiefen, indem sie sich das Geschenk des Glaubens zu eigen macht. Diese Anwendung des Denkens auf das Verständnis des Glaubens wird auf überzeugende Weise in Richards Hauptwerk vollzogen, einem der großen Bücher der Geschichte, dem Werk »De Trinitate« (Über die Dreifaltigkeit). In den sechs Büchern, aus denen es besteht, denkt er scharfsinnig über das Geheimnis des einen und dreifaltigen Gottes nach. Da Gott Liebe ist, bringt nach unserem Autor die eine göttliche Substanz Kommunikation, Hingabe und Freude zwischen den beiden Personen, dem Vater und dem Sohn, mit sich, die sich untereinander in einem ewigen Liebesaustausch befinden. Doch die Vollkommenheit des Glücks und der Güte erlaubt keine Exklusivansprüche und Abschottungen; sie verlangt vielmehr die ewige Gegenwart einer dritten Person, des Heiligen Geistes. Die dreifaltige Liebe ist teilhabend, einträchtig und führt zur Fülle von Glück, zum unaufhörlichen Genuß der Freude. Richard setzt also voraus, daß Gott Liebe ist, er analysiert das Wesen der Liebe, was die Wirklichkeit der Liebe beinhaltet, und gelangt so zur Dreifaltigkeit der Personen, die wirklich den logischen Ausdruck der Tatsache darstellt, daß Gott Liebe ist.

Richard ist sich jedoch bewußt, daß die Liebe, obwohl sie uns das Wesen Gottes offenbart, uns das Geheimnis der Dreifaltigkeit »begreifen« läßt, doch nur immer eine Analogie ist, um von einem Geheimnis zu sprechen, das den menschlichen Verstand übertrifft, und - als Dichter und Mystiker, der er ist - greift er auch auf andere Bilder zurück. Er vergleicht zum Beispiel die Gottheit mit einem Fluß, mit einer liebevollen Welle, die dem Vater entspringt, in den Sohn fließt und wieder zurückfließt, um dann glücklich im Heiligen Geist ausgegossen zu sein.

Liebe Freunde, Schriftsteller wie Hugo und Richard von Sankt Viktor erheben unsere Seele zur Kontemplation der göttlichen Wirklichkeiten. Gleichzeitig gründet und stützt die unendliche Freude, die uns das Denken, die Bewunderung und der Lobpreis der Heiligsten Dreifaltigkeit bereiten, die konkrete Anstrengung, uns an einem so vollkommenen Vorbild der Gemeinschaft in der Liebe zu inspirieren, um unsere alltäglichen menschlichen Beziehungen aufzubauen. Die Dreifaltigkeit ist wirklich vollkommene Gemeinschaft! Wie würde sich die Welt verändern, wenn in den Familien, in den Pfarreien und in jeder anderen Gemeinschaft die Beziehungen immer nach dem Vorbild der drei göttlichen Personen gelebt würden, in dem jede nicht nur mit der anderen, sondern für die andere und in der anderen lebt! Daran habe ich vor einigen Monaten vor dem Angelusgebet erinnert: »Allein die Liebe macht uns glücklich, da wir in Beziehung leben, und wir leben, um zu lieben und geliebt zu werden« (Angelus am 7 AM 2009, in: O.R. dt., Nr. 24,12 .6, S. 1). Die Liebe vollbringt dieses unaufhörliche Wunder: Wie im Leben der Heiligsten Dreifaltigkeit wird die Vielheit wieder zur Einheit, wo alles Wohlgefallen und Freude ist. Mit dem hl. Augustinus, der von den Viktorinern in großer Ehre gehalten wurde, können auch wir ausrufen: »Vides Trinitatem, si caritatem vides - Du siehst die Dreifaltigkeit, wenn du die Liebe siehst« (De Trinitate VIII, 8.12).

In der heutigen Katechese möchte ich zwei weitere große mittelalterliche Theologen vorstellen. Hugo von St. Viktor und sein Schüler Richard von St. Viktor lebten im 12. Jahrhundert in der bedeutenden Abtei gleichen Namens in Paris, wo sich Glaube und Wissenschaft, monastische und scholastische Theologie zu einer fruchtbaren Synthese verbanden. Ausgangspunkt des theologischen Studiums war hier eine sorgfältige Exegese. Hugo betonte vor allem den historisch-wörtlichen Sinn der Schrift. Die in der Bibel wiedergegebenen Ereignisse prägten auch seine theologische Sicht der Geschichte, in der Gott die Menschen wie ein Freund in weiser Vorsehung führt, ohne ihre Freiheit und ihre Verantwortung zu beeinträchtigen. Besondere Zeichen seiner heilbringenden Gegenwart sind die von Christus eingesetzten Sakramente, welche die Gnade mitteilen, die sie durch äußere Zeichen und Gesten darstellen. Die symbolisch-allegorische Sprache spielte auch in der Theologie seines Schülers Richard eine besondere Rolle, sowohl in seiner Bibelauslegung als auch in seinem theologischen Hauptwerk De Trinitate. Dort spricht er vom Geheimnis der Dreifaltigkeit vor allem mit dem Begriff der Liebe. Gott ist Liebe und daher kann es in Gott Kommunikation, Hingabe und Zuneigung zwischen dem Vater und dem Sohn geben. Diese Liebe verschließt sich nicht in sich selbst, sondern teilt sich im Heiligen Geist mit.
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Mit diesen Gedanken grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Die denkerische Bemühung der Theologie wie auch der persönliche Einsatz für ein tugendhaftes Leben helfen uns bei der Betrachtung der Geheimnisse des Glaubens. Wenn der Blick des reinen Herzens auf Gott ruht, können wir aus ihm die Freude und die Kraft schöpfen, die wir brauchen, um nach dem Vorbild der göttlichen Personen nicht mehr nur mit dem anderen, sondern für den anderen und im anderen zu leben. Der Herr segne euch und eure Familien.



Mittwoch, 2. Dezember 2009: Wilhelm von Saint-Thierry

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Liebe Brüder und Schwestern!

Liebe Brüder und Schwestern! In einer früheren Katechese habe ich Bernhard von Clairvaux vorgestellt, den »Honigfließenden Lehrer«, eine prägende Gestalt des 12. Jahrhunderts. Sein Biograph war sein Freund und Verehrer Wilhelm von Saint-Thierry, mit dem ich mich in meinen Überlegungen des heutigen Vormittags befassen möchte.

Wilhelm wurde zwischen 1075 und 1080 in Lüttich geboren. Er stammte aus einer Adelsfamilie, war mit einem lebendigen Verstand und einer angeborenen Liebe zum Studium begabt und besuchte berühmte Schulen jener Zeit wie jene seiner Heimatstadt und in Reims, Frankreich. Er trat auch in persönlichen Kontakt mit Abaelard, dem Lehrer, der die Philosophie in so origineller Weise auf die Theologie anwandte, daß er bei vielen Bedenken und Widerstand auslöste. Auch Wilhelm äußerte seine Vorbehalte und forderte seinen Freund Bernhard auf, gegen Abaelard Stellung zu nehmen. Wilhelm antwortete auf jenen geheimnisvollen und unwiderstehlichen Ruf Gottes, der die Berufung zum geweihten Leben ist, trat 1113 in das Benediktinerkloster Saint-Nicaise in Reims ein und wurde einige Jahre später Abt des Klosters Saint-Thierry in der Diözese Reims. Zu jener Zeit war das Bedürfnis nach einer Reinigung und Erneuerung des monastischen Lebens sehr verbreitet: es sollte in echter Weise dem Evangelium entsprechend gestaltet werden. Wilhelm wirkte in diesem Sinn in seinem eigenen Kloster und im Benediktinerorden allgemein. Er begegnete jedoch vielen Widerständen gegenüber seinen Reformversuchen und verließ daher trotz des gegenteiligen Rates seines Freundes Bernhard im Jahr 1135 die Benediktinerabtei, legte das schwarze Ordensgewand ab und zog das weiße an, um sich den Zisterziensern von Signy anzuschließen. Von dem Zeitpunkt an bis zu seinem Tod im Jahr 1148 widmete er sich der betenden Kontemplation der Geheimnisse Gottes, was schon immer Gegenstand seiner tiefsten Sehnsüchte gewesen war, und der Abfassung von Schriften geistlicher Literatur, die in der Geschichte der monastischen Theologie einen bedeutenden Platz einnehmen.

Eines seiner ersten Werke trägt den Titel De natura et dignitate amoris (Über das Wesen und die Würde der Liebe). Darin kommt eine von Wilhelms grundlegenden Ideen zum Ausdruck, die auch für uns Gültigkeit hat. Die Hauptkraft, die die menschliche Seele bewegt, so sagt er, ist die Liebe. Die menschliche Natur besteht in ihrem tiefsten Wesen im Lieben. Schließlich ist einem jeden Menschen nur eine einzige Aufgabe anvertraut: lernen, den anderen gern zu haben, ihn aufrichtig, echt und unentgeltlich zu lieben. Aber nur in der Schule Gottes wird diese Aufgabe erfüllt und vermag der Mensch das Ziel zu erreichen, für das er geschaffen worden ist. Wilhelm schreibt nämlich: »Die höchste Kunst ist die Kunst der Liebe… Die Liebe wird vom Schöpfer der Natur erweckt. Die Liebe ist eine Kraft der Seele, die sie wie ein natürliches Gewicht zu dem ihr eigenen Ort und Ziel führt« (De natura et dignitate amoris, 1, PL 184, 379). Lieben zu lernen erfordert einen langen und anspruchsvollen Weg, der von Wilhelm in vier Etappen gegliedert wird, die den Altersstufen des Menschen entsprechen: Kindheit, Jugend, Reife und Alter. Auf diesem Weg muß sich der Mensch einer wirksamen Askese, einer starken Selbstbeherrschung unterziehen, um jede Unordnung der Gefühle, jedes Nachgeben gegenüber dem Egoismus auszuschalten und sein Leben mit Gott, Quelle, Ziel und Kraft der Liebe, zu vereinen, um zum Höhepunkt des geistlichen Lebens zu gelangen, den Wilhelm als »Weisheit« definiert. Am Ende dieses asketischen Weges erfährt man eine große Ruhe und Süße. Alle Fähigkeiten des Menschen - Verstand, Wille, Gefühle - ruhen in Gott, der in Christus erkannt und geliebt wird.

Auch in anderen Werken spricht Wilhelm von dieser radikalen Berufung zur Gottesliebe, die das Geheimnis eines gelungenen und glücklichen Lebens bildet und die er als eine unaufhörliche und wachsende Sehnsucht beschreibt, die Gott selbst im Herzen des Menschen anregt. In einer Meditation sagt er, daß der Gegenstand dieser Liebe die Liebe an sich, das heißt Gott sei. »Er ist es, der sich in das Herz des Liebenden ergießt und es fähig macht, ihn zu empfangen. Er schenkt sich in Fülle und auf eine Weise, daß das Verlangen nach dieser Fülle niemals abnimmt. Dieser Schwung der Liebe ist die Erfüllung des Menschen« (De contemplando Deo, 6, passim, SC 61bis, S. 79-83). Beeindruckend ist die Tatsache, daß Wilhelm, wenn er über die Gottesliebe spricht, der affektiven Dimension eine beachtliche Bedeutung zuweist. Unser Herz, liebe Freunde, ist im Grunde aus Fleisch gemacht, und wenn wir Gott lieben, der die Liebe selbst ist, wie sollten wir da nicht in dieser Beziehung zum Herrn auch unsere menschlichsten Gefühle wie Zärtlichkeit, Empfindsamkeit und Feinfühligkeit zum Ausdruck bringen? Der Herr selbst ist Mensch geworden und wollte uns mit einem Herzen aus Fleisch lieben!

Nach Wilhelm hat sodann die Liebe eine weitere wichtige Eigenschaft: Sie erleuchtet die Vernunft und gestattet es, Gott und in Gott die Menschen und Ereignisse besser und tiefer zu erkennen. Die Erkenntnis, die auf die Sinne und die Vernunft zurückgeht, verringert den Abstand zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen dem Ich und dem Du, beseitigt ihn aber nicht. Die Liebe hingegen bringt Anziehung und Gemeinschaft hervor, bis zu dem Punkt, daß es zu einer Verwandlung und einer Angleichung zwischen dem liebenden Subjekt und dem geliebten Objekt kommt. Diese Gegenseitigkeit von Zuneigung und Sympathie erlaubt nun eine viel tiefere Erkenntnis als jene, die allein durch die Vernunft zustande kommt. So erklärt sich ein berühmter Ausspruch Wilhelms: »Amor ipse intellectus est - bereits an sich ist die Liebe Prinzip der Erkenntnis.« Liebe Freunde, wir fragen uns: Trifft das nicht gerade für unser Leben zu? Ist es etwa nicht wahr, daß wir nur den und das wirklich kennen, wen und was wir lieben? Ohne eine gewisse Sympathie kennt man nichts und niemanden!

Und das gilt vor allem für die Erkenntnis Gottes und seiner Geheimnisse, die das Fassungsvermögen unserer Vernunft übersteigen: Gott erkennt man, wenn man ihn liebt! Eine Synthese des Denkens Wilhelms von Saint-Thierry ist in einem langen, an die Karthäuser von Mont-Dieu gerichteten Brief enthalten, die er besucht hatte und ermutigen und trösten wollte. Der gelehrte Benediktiner Jean Mabillon gab diesem Brief bereits 1690 einen bezeichnenden Titel: »Epistula aurea« (Goldener Brief). In der Tat sind die in ihm enthaltenen Lehren über das geistliche Leben für all jene wertvoll, die in der Gemeinschaft mit Gott, in der Heiligkeit wachsen wollen. In dieser Abhandlung schlägt Wilhelm einen Weg in drei Etappen vor. Es geht darum, so sagt er, vom »tierischen« (»homo animalis«) zum »vernunftbegabten« (»homo rationalis«) und schließlich zum »geistlichen« (»homo spiritualis«) Menschen zu gelangen. Was will unser Autor mit diesen drei Formulierungen sagen? Zu Beginn nimmt ein Mensch die Sicht des vom Glauben inspirierten Lebens mit einem Akt des Gehorsams und des Vertrauens an. Durch einen Prozeß der Verinnerlichung, in dem die Vernunft und der Wille eine große Rolle spielen, wird dann der Glaube an Christus mit tiefer Überzeugung angenommen, und man erfährt eine harmonische Übereinstimmung zwischen dem, was man glaubt und hofft, und den geheimsten Sehnsüchten der Seele, unserer Vernunft, unserer Gefühle. So gelangt man zur Vollkommenheit des geistlichen Lebens, wenn die Wirklichkeiten des Glaubens Quelle inniger Freude und wirklicher und zufriedenstellender Gemeinschaft mit Gott sind. Man lebt allein in der Liebe und aus der Liebe. Wilhelm gründet diesen Weg auf eine zuverlässige Sicht vom Menschen, die von den alten griechischen Kirchenvätern, vor allem von Origenes, inspiriert wurde, die mit einer kühnen Sprache gelehrt hatten, daß es die Berufung des Menschen sei, wie Gott zu werden, der ihn nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat. Das im Menschen gegenwärtige Bild Gottes drängt ihn zur Ähnlichkeit, das heißt zu einer immer volleren Identität zwischen seinem Willen und dem Willen Gottes. Zu dieser Vollkommenheit, die Wilhelm »Einheit des Geistes« nennt, gelangt man nicht durch persönliche Anstrengung, mag sie noch so aufrichtig und hochherzig sein, da es dazu noch etwas anderen bedarf. Diese Vollkommenheit wird durch das Wirken des Heiligen Geistes erreicht, der in der Seele Wohnung nimmt und jeden im Menschen vorhandenen Schwung der Liebe und jeden Wunsch nach ihr reinigt, nimmt und sie in Nächstenliebe verwandelt. »Es gibt dann eine weitere Ähnlichkeit mit Gott«, so lesen wir im Goldenen Brief, »die nicht mehr Ähnlichkeit, sondern Einheit des Geistes genannt wird, wenn der Mensch eins wird mit Gott, ein Geist, nicht nur durch die Einheit eines identischen Wollens, sondern dadurch, daß er nicht imstande ist, etwas anderes zu wollen. Auf diese Weise verdient der Mensch, nicht Gott zu werden, sondern das, was Gott ist: der Mensch wird durch Gnade das, was Gott von Natur her ist« (Epistula aurea 262-263,
SC 223, S. 353-355).

Liebe Brüder und Schwestern, dieser Schriftsteller, den wir als den »Sänger der Liebe, der Nächstenliebe« bezeichnen könnten, lehrt uns, in unserem Leben die Grundentscheidung zu treffen, die allen anderen Entscheidungen Sinn und Wert verleiht: Gott zu lieben und aus Liebe zu ihm unseren Nächsten zu lieben; nur so werden wir der wahren Freude begegnen können, Vorwegnahme der ewigen Seligkeit. Begeben wir uns also in die Schule der Heiligen, um zu lernen, echt und ganz zu lieben, um diesen Weg unseres Seins zu betreten. Zusammen mit einer jungen Heiligen und Kirchenlehrerin, Therese vom Kinde Jesu, sagen auch wir dem Herrn, daß wir aus Liebe leben wollen. Und so schließe ich mit einem Gebet dieser Heiligen: »Ach du weißt es, göttlicher Jesus, ich liebe dich! Der Geist der Liebe entflammt mich mit seinem Feuer. Indem ich dich liebe, ziehe ich den Vater an, den mein schwaches Herz für immer bewahrt. O Dreifaltigkeit! Du bist die Gefangene meiner Liebe. Aus Liebe leben hier auf Erden ist ein Sichhingeben ohne Maß, ohne Lohn zu beanspruchen… Wenn man liebt, stellt man keine Berechnungen an. Dem göttlichen Herzen, das von Zärtlichkeit überströmt, habe ich alles gegeben! Ich eile unbeschwert. Ich habe nichts mehr, und mein einziger Reichtum ist Leben aus Liebe.«

Wilhelm von Saint-Thierry, über den ich heute kurz sprechen möchte, zählt wie sein Freund Bernhard von Clairvaux zu den bedeutenden Vertretern der Mönchstheologie und Mystik im 12. Jahrhundert. Er wurde um 1075 bei Lüttich im heutigen Belgien geboren, trat in den Benediktinerorden ein und wurde Abt des Klosters von Saint-Thierry in der Nähe von Reims in Frankreich. Aufgrund von Widerständen gegen seine Bemühungen um eine Erneuerung des monastischen Lebens wurde er schließlich Zisterzienser und verbrachte seine letzten Lebensjahre als einfacher Mönch in der Abtei Signy, wo er 1148 gestorben ist. Nach einem grundlegenden Gedanken im theologischen und geistlichen Werk Wilhelms besteht die menschliche Natur ihrem innersten Wesen nach im Lieben. Der Mensch ist dazu berufen zu lieben und sein Leben mit Gott, dem Urgrund, dem Ziel und der Kraft der Liebe, zu vereinen. Gott, der uns geschaffen und uns zuerst geliebt hat, will, daß wir ihn lieben. In dieser Berufung der Liebe zu Gott besteht das Geheimnis eines gelungenen und glücklichen Lebens. Zum anderen erleuchtet die Liebe die Erkenntnis des Menschen; sie macht es ihm möglich, Gott besser und tiefer zu erkennen. Die Liebe selbst ist Erkenntnis, so sagt er: »Amor ipse intellectus est«. Und wo gar nicht geliebt wird, wird auch nicht wirklich erkannt. Liebe überwindet die Distanz zwischen dem Liebenden und dem Geliebten, macht beide einander ähnlich und schafft Gemeinschaft. Gott wird erkannt, wenn man ihn liebt. Dieser Weg der Erfahrung Gottes im Glauben und in der Liebe führt zu einer immer engeren Gemeinschaft und Übereinstimmung unseres Willens mit dem Willen Gottes. Diese Einigung ist letztendlich Werk des Heiligen Geistes, für den wir uns öffnen und der uns sozusagen in die Höhe zieht und es möglich macht, daß wir, wie Wilhelm sagt, durch Gnade das werden, was Gott von Natur her ist.
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Einen frohen Gruß richte ich an alle Gäste deutscher Sprache, besonders an die Pilger der Schönstattbewegung. In der Schule der Heiligen lernen wir, ganz und echt zu lieben. So können wir mit Wilhelm von Saint-Thierry beten: Gott, du hast uns zuerst geliebt, damit wir dich lieben, … weil wir nicht sein können, wozu du uns geschaffen hast, ohne daß wir dich lieben (vgl. De contemplando Deo,10). Der Herr schenke euch seinen Geist und seine Liebe.



Mittwoch, 9. Dezember 2009: Rupert von Deutz

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute lernen wir einen weiteren Benediktinermönch des 12. Jahrhunderts kennen. Sein Name ist Rupert von Deutz, ein Ort am Rhein gegenüber von Köln und Sitz eines berühmten Klosters. Über sein Leben spricht Rupert selbst in einem seiner berühmtesten Werke, das den Titel Der Ruhm und die Ehre des Menschensohnes trägt und ein Teilkommentar zum Matthäusevangelium ist. Noch als Kind wurde er als »Oblat« im Benediktinerkloster Sankt Laurentius in Lüttich aufgenommen, entsprechend den Gepflogenheiten der damaligen Zeit, einen der Söhne der Erziehung der Mönche in der Absicht anzuvertrauen, ihn zu einem Geschenk an Gott zu machen. Rupert liebte immer das Klosterleben. Er erlernte sehr schnell die lateinische Sprache, um die Bibel zu studieren und sich an den liturgischen Feiern zu erfreuen. Er zeichnete sich durch seine unbestechliche moralische Geradheit und durch die feste Treue zum Stuhl des hl. Petrus aus.

Seine Zeit war von Gegensätzen zwischen dem Papsttum und dem Kaiserreich geprägt, dies aufgrund des sogenannten »Investiturstreites«, mit dem - wie ich in anderen Katechesen angedeutet habe - das Papsttum verhindern wollte, daß die Ernennung der Bischöfe und die Ausübung ihrer Jurisdiktion von den zivilen Obrigkeiten abhingen, die zumeist von politischen und wirtschaftlichen, aber gewiß nicht von pastoralen Beweggründen geleitet waren. Der Bischof von Lüttich, Otbert, widersetzte sich den Weisungen des Papstes und schickte den Abt des Klosters Sankt Laurentius, Berengar, wegen dessen Treue zum Papst in die Verbannung. In diesem Kloster lebte Rupert, der ohne zu zögern seinem Abt in die Verbannung folgte und erst, als Bischof Otbert wieder in Gemeinschaft mit dem Papst trat, nach Lüttich zurückkehrte und einwilligte, Priester zu werden. Er hatte es nämlich bis zu jenem Augenblick vermieden, die Priesterweihe von einem Bischof zu empfangen, der im Dissens mit dem Papst stand. Rupert lehrt uns, daß, wenn in der Kirche Streitigkeiten entstehen, der Bezug zum Petrusamt Treue zur gesunden Lehre gewährleistet und Ruhe und innere Freiheit schenkt. Nach der Auseinandersetzung mit Otbert mußte er noch zweimal sein Kloster verlassen. 1116 wollten seine Gegner gar gerichtlich gegen ihn vorgehen. Obwohl er von jeder Anklage freigesprochen wurde, zog es Rupert vor, sich für einige Zeit nach Siegburg zu begeben; da aber die Feindseligkeiten nach seiner Rückkehr ins Kloster von Lüttich nicht aufhörten, beschloß er, sich endgültig in Deutschland niederzulassen. Nachdem er 1120 zum Abt von Deutz ernannt worden war, blieb er dort bis 1129, seinem Todesjahr. Er verließ Deutz nur für eine Pilgerreise nach Rom im Jahr 1124.

Rupert hat als fruchtbarer Schriftsteller zahlreiche Werke hinterlassen, die noch heute von großem Interesse sind, dies auch deshalb, weil er an verschiedenen und wichtigen theologischen Diskussionen der Zeit aktiv beteiligt war. So griff er zum Beispiel entschlossen in die Auseinandersetzung über die Eucharistie ein, die 1077 zur Verurteilung von Berengar von Tours geführt hatte. Dieser hatte eine verkürzte Interpretation der Gegenwart Christi im Sakrament der Eucharistie vorgelegt und sie als nur symbolisch definiert. Der Begriff »Transsubstantiation« hatte damals noch nicht Eingang in die Sprache der Kirche gefunden, doch Rupert wurde unter Anwendung bisweilen kühner Formulierungen zu einem entschiedenen Verfechter des eucharistischen Realismus und bekräftigte, vor allem in einem Werk mit dem Titel De divinis officiis (Die Gottesdienste), mit aller Entschiedenheit die Kontinuität zwischen dem Leib Christi, des fleischgewordenen Wortes, und dem Leib, der in den eucharistischen Gestalten von Brot und Wein gegenwärtig ist. Liebe Brüder und Schwestern, mir scheint, daß wir an diesem Punkt auch an unsere Zeit denken müssen; auch heute besteht die Gefahr, den eucharistischen Realismus zu verkürzen, das heißt, die Eucharistie gleichsam nur als einen Ritus der Gemeinschaft, des gesellschaftlichen Miteinanders zu betrachten und dabei allzu leicht zu vergessen, daß in der Eucharistie wirklich der auferstandene Christus - mit seinem auferstandenen Leib - gegenwärtig ist, der sich uns in die Hände gibt, um uns von uns selbst wegzuziehen, uns in seinen unsterblichen Leib einzuverleiben und uns so zum neuen Leben zu führen. Dieses große Geheimnis, daß der Herr in seiner ganzen Wirklichkeit in den eucharistischen Gestalten gegenwärtig ist, ist ein Geheimnis, das immer neu angebetet und geliebt werden muß! Ich möchte hier die Worte aus dem Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche zitieren, die die Frucht der Betrachtung des Glaubens und der theologischen Reflexion von zweitausend Jahren in sich tragen: »Jesus Christus ist in der Eucharistie auf einzigartige und unvergleichliche Weise gegenwärtig: wirklich, tatsächlich und substantiell, mit seinem Leib und seinem Blut, mit seiner Seele und seiner Gottheit. In der Eucharistie ist also der ganze Christus, Gott und Mensch, auf sakramentale Weise gegenwärtig, das heißt unter den eucharistischen Gestalten von Brot und Wein« (Kompendium, 282). Auch Rupert hat mit seinen Überlegungen zu dieser präzisen Formulierung beigetragen.

Ein weiterer Streit, mit dem der Abt von Deutz zu tun hatte, betrifft das Problem der Vereinbarkeit der Güte und Allmacht Gottes mit der Existenz des Bösen. Wenn Gott allmächtig und gut ist - wie läßt sich dann die Wirklichkeit des Bösen erklären? Rupert reagierte nämlich auf die von den Lehrern der theologischen Schule von Laon eingenommene Position, die mit einer Reihe philosophischer Gedankengänge im Willen Gottes das »Billigen« und das »Zulassen« unterschieden und zu dem Schluß kamen, daß Gott das Böse zuläßt, ohne es zu billigen und somit ohne es zu wollen. Rupert hingegen verzichtet auf den Gebrauch der Philosophie, die er angesichts eines so großen Problems für ungeeignet hält, und bleibt einfach der biblischen Erzählung treu. Er geht von der Güte Gottes aus, von der Wahrheit, daß Gott in höchstem Maße gut ist und nur das Gute wollen kann. So siedelt er den Ursprung des Bösen im Menschen und im falschen Gebrauch der menschlichen Freiheit an. Als Rupert sich mit diesem Thema auseinandersetzt, schreibt er von tiefem Glauben inspirierte Worte zum Lob der unendlichen Barmherzigkeit des Vaters und um die Geduld und das Wohlwollen Gottes gegenüber dem sündigen Menschen zu preisen.

Wie andere Theologen des Mittelalters fragte sich auch Rupert: Warum ist das Wort Gottes, der Sohn Gottes, Mensch geworden? Einige, ja viele, antworteten darauf, indem sie die Fleischwerdung des Wortes mit der Dringlichkeit, die Sünde des Menschen zu sühnen, erklärten. Rupert hingegen erweitert die Perspektive mit einer christozentrischen Sicht der Heilsgeschichte und vertritt in einem seiner Werke mit dem Titel Die Verherrlichung der Dreifaltigkeit die Einstellung, daß die Menschwerdung als zentrales Ereignis der gesamten Geschichte von Ewigkeit her vorgesehen war, auch unabhängig von der Sünde des Menschen, damit die ganze Schöpfung Gott, den Vater, lobpreisen und lieben könne wie eine einzige, um Christus, den Sohn Gottes, gescharte Familie. Er sieht nun in der schwangeren Frau der Geheimen Offenbarung die ganze Geschichte der Menschheit, die auf Christus ausgerichtet ist, so wie die Empfängnis auf die Geburt ausgerichtet ist, eine Sichtweise, die von anderen Denkern entfaltet werden wird und auch von der zeitgenössischen Theologie zur Geltung gebracht wird, die besagt, daß die ganze Geschichte der Welt und der Menschheit eine Empfängnis ist, die auf die Geburt Christi ausgerichtet ist. Christus steht immer im Mittelpunkt der exegetischen Erklärungen, die von Rupert in seinen Kommentaren zu den Büchern der Bibel erstellt werden, denen er sich mit großer Sorgfalt und Leidenschaft widmete. So findet er in allen Ereignissen der Heilsgeschichte, von der Schöpfung bis zum Ende der Zeiten, eine wunderbare Einheit: »Die ganze Schrift« -, so sagt er -, »ist ein einziges Buch, das auf dasselbe Ziel [das göttliche Wort] zustrebt; das von dem einen Gott stammt und das von einem einzigen Geist geschrieben worden ist« (De glorificatione Trinitatis et processione Sancti Spiritus I, V, PL 169,18).

Bei der Auslegung der Bibel beschränkt sich Rupert nicht darauf, die Lehre der Väter zu wiederholen, sondern zeigt seine eigene Originalität. Er ist zum Beispiel der erste Schriftsteller, der die Braut im Hohenlied mit der allerseligsten Jungfrau Maria identifiziert hat. So enthüllt sich sein Kommentar zu diesem Buch der Schrift als eine Art mariologische »Summa«, in der die Privilegien und die herausragenden Tugenden Mariens vorgestellt werden. In einem der besonders inspirierten Abschnitte seines Kommentars schreibt Rupert: »O Geliebteste unter den Geliebten, Jungfrau der Jungfrauen, was preist in dir dein geliebter Sohn, den der ganze Chor der Engel erhöht? Gepriesen werden die Einfachheit, die Reinheit, die Unschuld, die Lehre, der Anstand, die Demut, die Unversehrtheit des Geistes und des Fleisches, das heißt die unversehrte Jungfräulichkeit« (In Canticum Canticorum 4,1-6, CCL 26, S. 69-70). Ruperts marianische Auslegung des Hohenliedes ist ein glückliches Beispiel für den Einklang zwischen Liturgie und Theologie. Tatsächlich waren verschiedene Abschnitte dieses biblischen Buches bereits in den liturgischen Feiern der Marienfeste verwendet worden.

Zudem ist Rupert auch darauf bedacht, seine mariologische Lehre in seine Lehre von der Kirche einzufügen. Mit anderen Worten, er sieht in der allerseligsten Jungfrau Maria den heiligsten Teil der ganzen Kirche. Deshalb zitierte mein verehrter Vorgänger Papst Paul VI. in seiner Ansprache zum Abschluß der dritten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils, als er Maria feierlich zur Mutter der Kirche erklärte, einen den Werken Ruperts entnommenen Satz, der Maria als »portio maxima, portio optima«, als edelsten, hervorragendsten Teil der Kirche definiert (vgl. In Apocalypsem 1.7, PL 169,1043).

Liebe Freunde, diesen kurzen Hinweisen entnehmen wir, daß Rupert ein leidenschaftlicher Theologe gewesen ist, dem große Tiefe beschieden war. Wie alle Vertreter der monastischen Theologie hat er es verstanden, das rationale Studium der Glaubensgeheimnisse mit dem Gebet und der Kontemplation zu verbinden, die als Gipfel jeder Erkenntnis Gottes angesehen wurde. Er selbst spricht manchmal von seinen mystischen Erfahrungen, so wenn er die unaussprechliche Freude darüber eingesteht, die Gegenwart des Herrn wahrgenommen zu haben: »In jenem kurzen Augenblick« -, sagt er - »habe ich erfahren, wie wahr ist, was er selbst sagt: ›Lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig‹« (De gloria et honore Filii hominis. Super Matthaeum 12, PL 168,1601). Auch wir können, jeder auf seine Weise, Jesus, dem Herrn, begegnen, der unseren Weg unaufhörlich begleitet, der im eucharistischen Brot und in seinem Wort gegenwärtig wird zu unserem Heil.

Heute wollen wir uns einem weiteren bedeutenden Vertreter der monastischen Theologie zuwenden. Sein Name ist Rupert von Deutz. Er wurde um 1075 bei Lüttich geboren und schon als Kind dem dortigen Benediktinerkloster Sankt Laurentius in Obhut gegeben. Als junger Mönch geriet er aufgrund seiner Treue zum Papst in die politischen und theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und mußte mehrmals sein Kloster verlassen. Im Jahre 1120 wurde Rupert zum Abt des Klosters in Deutz am Rhein gegenüber von Köln ernannt, und dort ist er auch 1129 gestorben. Rupert war ein ungemein produktiver Denker, der uns eine Fülle von Schriften zu verschiedenen theologischen Fragen - z.B. zur Realpräsenz in der Eucharistie und zur Prädestinationslehre - hinterlassen hat. Eine Neuheit seines theologischen Schaffens bestand darin, daß er die Schriftauslegung unter einen thematischen Schwerpunkt stellte. So entwickelte er aus seinem Mathäuskommentar eine Christologie und aus dem Kommentar zum Hohenlied eine Mariologie. Dabei verfolgte er das Ziel, einzelne Themen des Glaubens aus dem Gesamt der Offenbarung heraus, wie sie in der Heiligen Schrift aufscheint, zu betrachten. Die Menschwerdung Christi ist das grundlegende Ereignis der ganzen Geschichte. Sie ist nicht durch den Sündenfall des Menschen bedingt, so sagt Rupert, sondern von Ewigkeit vorgesehen, damit die ganze Schöpfung Gott loben und wie eine große Familie um Christus lieben könne. Christus ist die Mitte der Heilsgeschichte, und in ihm finden alle Ereignisse einen wunderbaren Zusammenhang.
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Ganz herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Wir alle dürfen Christus begegnen, der beständig auf unserem Lebensweg mit uns geht und sich in der Eucharistie wie im Wort Gottes für uns gegenwärtig macht. Diese Nähe des Herrn wollen wir gerade in der Vorbereitungszeit auf Weihnachten vermehrt suchen. Gottes Geist stärke euch allezeit.




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