Generalaudienzen 2005-2013 20512

Mittwoch, 2. Mai 2012

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Liebe Brüder und Schwestern!

In den letzten Katechesen haben wir gesehen, wie das Lesen und die Betrachtung der Heiligen Schrift im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet offen machen für das Hören auf Gott und Licht schenken, um die Gegenwart zu verstehen. Heute möchte ich über das Zeugnis und das Gebet des ersten Märtyrers der Kirche, des hl. Stephanus, sprechen – einer der sieben, die für den Liebesdienst an den Notleidenden gewählt wurden. Im Augenblick seines Martyriums, von dem die Apostelgeschichte berichtet, wird noch einmal die fruchtbare Beziehung zwischen dem Wort Gottes und dem Gebet deutlich. Stephanus wird vor das Tribunal geführt, vor den Hohen Rat, wo er beschuldigt wird, gesagt zu haben: »Jesus … wird diesen Ort [den Tempel] zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat« (
Ac 6,14). Während seines öffentlichen Lebens hatte Jesus in der Tat die Zerstörung des Tempels angekündigt: »Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten« (Jn 2,19). Er aber, wie der Evangelist Johannes anmerkt, »meinte den Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, daß er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte« ().

Die Rede des Stephanus vor dem Tribunal, die längste der Apostelgeschichte, entwickelt sich auf der Grundlage dieser Prophezeiung Jesu, der der neue Tempel ist, den neuen Gottesdienst einführt und die alten Opfer durch seine Selbsthingabe am Kreuz ersetzt. Stephanus will zeigen, daß die Anklage, die gegen ihn erhoben wird, gegen das Gesetz des Mose zu sprechen, unbegründet ist, und erläutert seine Auffassung der Heilsgeschichte, der Geschichte des Bundes zwischen Gott und dem Menschen. So deutet er den ganzen biblischen Bericht neu, den in der Heiligen Schrift enthaltenen Weg, um zu zeigen, daß er zum »Ort« der endgültigen Gegenwart Gottes führt, der Jesus Christus ist, insbesondere sein Leiden, sein Tod und seine Auferstehung. Aus dieser Perspektive heraus deutet Stephanus auch seine Jüngerschaft Jesu, indem er ihm bis zum Martyrium nachfolgt. So gestattet ihm das Nachdenken über die Heilige Schrift, seine Sendung, sein Leben und seine Gegenwart zu verstehen.

Dabei wird er vom Licht des Heiligen Geistes geleitet, von seiner innigen Beziehung zum Herrn, so daß den Mitgliedern des Hohen Rates sein Gesicht sogar »wie das Gesicht eines Engels« erschien. Dieses Zeichen des göttlichen Beistands erinnert an das strahlende Gesicht des Mose, der vom Berg Sinai herabstieg, nachdem er Gott begegnet war (vgl. ). In seiner Rede beginnt Stephanus bei der Berufung Abrahams, der in das Land zog, das Gott ihm zeigte, und das er nur auf der Ebene der Verheißung in Besitz nehmen konnte; dann geht er über zu Josef, der von seinen Brüdern verkauft wurde, dem Gott jedoch beistand und den er befreite, und gelangt zu Mose, der zum Werkzeug Gottes wird, um sein Volk zu befreien, jedoch auch mehrmals auf Ablehnung durch sein eigenes Volk stößt. In diesen Ereignissen, von denen die Heilige Schrift berichtet – Stephanus zeigt, daß er sie andächtig anhört –, tritt stets Gott hervor, der unermüdlich dem Menschen entgegengeht, obwohl er oft auf beharrlichen Widerstand trifft. Und das in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft. Im gesamten Alten Testament sieht er also die Vorwegnahme des Lebens Jesu, des menschgewordenen Sohnes Gottes, der – wie die Erzväter – Hindernissen, Ablehnung, Tod begegnet. Dann nimmt Stephanus Bezug auf Josua, auf David und auf Salomo, die mit dem Bau des Tempels in Zusammenhang gebracht werden, und schließt mit den Worten des Propheten Jesaja: »Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße. Was für ein Haus könnt ihr mir bauen?, spricht der Herr. Oder welcher Ort kann mir als Ruhestätte dienen? Hat nicht meine Hand dies alles gemacht?« (Apg 7,49–50). In seiner Betrachtung des Wirkens Gottes in der Heilsgeschichte, in der er die immerwährende Versuchung hervorhebt, Gott und sein Handeln abzulehnen, sagt er, daß Jesus der Gerechte ist, der von den Propheten verheißen wurde; in ihm ist Gott auf einzigartige und endgültige Weise gegenwärtig geworden: Jesus ist der »Ort« des wahren Gottesdienstes. Stephanus leugnet nicht die Bedeutung des Tempels für eine gewisse Zeit, aber er hebt hervor: »Der Höchste wohnt nicht in dem, was von Menschenhand gemacht ist« (Ac 7,48).

Der neue wahre Tempel, in dem Gott wohnt, ist sein Sohn, der menschliches Fleisch angenommen hat, ist die Menschennatur Christi, des Auferstandenen, der die Völker versammelt und sie im Sakrament seines Leibes und seines Blutes vereint. Das Wort vom Tempel, der nicht »von Menschenhand gemacht« ist, findet sich auch in der Theologie des hl. Paulus und des Briefes an die Hebräer: Der Leib, den Jesus angenommen hat, um sich selbst als Opfergabe darzubringen, um die Sünden zu sühnen, ist der neue Tempel Gottes, der Ort der Gegenwart des lebendigen Gottes; in ihm kommen Gott und Mensch, Gott und die Welt wirklich in Berührung: Jesus nimmt die ganze Sünde der Menschheit auf sich, um sie in die Liebe Gottes hineinzutragen und sie in dieser Liebe zu »verbrennen«. Sich dem Kreuz zu nähern, in Gemeinschaft mit Christus zu treten, bedeutet, in diese Verwandlung einzutreten. Und das heißt, in Berührung mit Gott zu treten, in seinen wahren Tempel einzutreten.

Das Leben und die Rede des Stephanus werden durch die Steinigung jäh abgebrochen, aber gerade sein Martyrium ist die Erfüllung seines Lebens und seiner Botschaft: Er wird eins mit Christus. So wird sein Nachdenken über das Wirken Gottes in der Geschichte, über das göttliche Wort, das in Jesus seine völlige Erfüllung gefunden hat, zur Teilhabe am Gebet Jesu am Kreuz. Denn bevor er stirbt, ruft Stephanus: »Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!« (Ac 7,59), indem er sich die Worte von Psalm 31 zu eigen macht (V. 6) und das letzte Wort Jesu auf dem Kalvarienberg aufgreift: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lc 23,46). Und am Ende ruft er wie Jesus laut vor jenen aus, die ihn steinigten: »Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!« (Ac 7,60). Wir merken, daß das Gebet des Stephanus einerseits das Gebet Jesu aufgreift, sein Empfänger jedoch ein anderer ist, denn das Gebet ist an den Herrn selbst gerichtet, an Jesus, den er verherrlicht zur Rechten Gottes sieht: »Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen« (V. 56).

Liebe Brüder und Schwestern, das Zeugnis des hl. Stephanus bietet uns einige Hinweise für unser Gebet und unser Leben. Wir können uns fragen: Woher nahm dieser erste christliche Märtyrer die Kraft, um seinen Verfolgern gegenüberzutreten und bis zur Selbsthingabe zu gelangen? Die Antwort ist einfach: aus seiner Beziehung zu Gott, aus seiner Gemeinschaft mit Christus, aus dem Nachdenken über die Heilsgeschichte, aus der Betrachtung des Wirkens Gottes, das in Jesus Christus zu seinem Höhepunkt gelangt ist. Auch unser Gebet muß genährt sein vom Hören auf das Wort Gottes, in Gemeinschaft mit Jesus und seiner Kirche.

Ein zweites Element: Der hl. Stephanus sieht in der Geschichte der Liebesbeziehung zwischen Gott und dem Menschen die Gestalt und die Sendung Jesu vorweggenommen. Er – der Sohn Gottes – ist der Tempel, der nicht »von Menschenhand gemacht ist«, in dem die Gegenwart Gottes, des Vaters, so nahe ist, daß sie in unser menschliches Fleisch hineingekommen ist, um uns zu Gott zu bringen, um uns die Pforten des Himmels zu öffnen. Unser Gebet muß also die Betrachtung Jesu zur Rechten Gottes sein – die Betrachtung Jesu als Herrn unseres, meines täglichen Lebens. In ihm können auch wir uns, vom Heiligen Geist geleitet, an Gott wenden, wirklich mit Gott in Berührung treten mit dem Vertrauen und der Hingabe von Kindern, die sich an einen Vater wenden, der sie unendlich liebt. Danke.

* * *

Von Herzen grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache und aus den Niederlanden. Das Beispiel des heiligen Stephanus möge uns helfen, aus der Beziehung zu Gott Kraft für unser Leben zu schöpfen und unseren Weg recht zu erkennen. Unser Beten – damit es selber richtig ist und Gott nahe kommt, ihn in uns hereinbringt, uns zu Gott bringt – muß sich aus dem Wort Gottes nähren und auf Christus hinschauen. In ihm können wir uns durch den Heiligen Geist dann in kindlichem Vertrauen an Gott wenden, weil wir wissen, er ist der Vater und er liebt uns. Von Herzen segne ich euch alle.



Petersplatz

Mittwoch, 9. Mai 2012

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich bei der letzten Episode aus dem Leben des hl. Petrus verweilen, von der in der Apostelgeschichte berichtet wird: seine Gefangennahme auf Anordnung von Herodes Agrippa und seine Befreiung durch das wunderbare Eingreifen des Engels des Herrn in der Nacht vor seinem Prozeß in Jerusalem (vgl. Apg 12,1– 17).

Wieder einmal ist der Bericht vom Gebet der Kirche geprägt. Denn der hl. Lukas schreibt: »Petrus wurde also im Gefängnis bewacht. Die Gemeinde aber betete inständig für ihn zu Gott« (
Ac 12,5). Und nachdem er das Gefängnis auf wunderbare Weise verlassen hat, heißt es anläßlich seines Besuchs im Haus der Maria, der Mutter des Johannes mit dem Beinamen Markus, daß »nicht wenige versammelt waren und beteten« (Ac 12,12). Zwischen diesen beiden wichtigen Hinweisen, die die Haltung der christlichen Gemeinde angesichts von Gefahr und Verfolgung beschreiben, wird über die Gefangennahme und Befreiung des Petrus berichtet, die die ganze Nacht umfaßt. Die Kraft des unablässigen Gebets der Kirche steigt zu Gott auf, und der Herr erhört es und vollbringt eine undenkbare und unerwartete Befreiung, indem er seinen Engel sendet. Der Bericht ruft die großen Elemente der Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens in Erinnerung, das jüdische Pascha. Wie bei jenem grundlegenden Ereignis wird auch hier die wichtigste Tat vom Engel des Herrn vollbracht, der Petrus befreit. Und das Handeln des Apostels – der aufgefordert wird, schnell aufzustehen und die Hüften zu gürten – zeichnet das des auserwählten Volkes in der Nacht der Befreiung durch das Eingreifen Gottes nach, als es aufgefordert wurde, das Lamm hastig zu essen, mit den Hüften gegürtet, Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand, bereit, das Land zu verlassen (vgl. Ex 12,11). So kann Petrus sagen: »Nun weiß ich wahrhaftig, daß der Herr seinen Engel gesandt und mich der Hand des Herodes entrissen hat« (Ac 12,11). Der Engel ruft jedoch nicht nur jenen Engel der Befreiung Israels aus Ägypten ins Gedächtnis, sondern auch den Engel der Auferstehung Christi. Denn die Apostelgeschichte berichtet: »Plötzlich trat ein Engel des Herrn ein, und ein helles Licht strahlte in den Raum. Er stieß Petrus in die Seite, weckte ihn« (Ac 12,7). Das Licht, das den Raum des Gefängnisses erfüllt, und auch das Wecken des Apostels verweisen auf das befreiende Licht des Pascha des Herrn, der die Finsternis der Nacht und des Bösen überwindet. »Wirf deinen Mantel um, und folge mir!« (Ac 12,8): Diese Aufforderung läßt schließlich die Worte Jesu bei der Berufung der ersten Jünger im Herzen wiederklingen (vgl. Mc 1,17). Er wird nach der Auferstehung am See von Tiberias wiederholt, wo der Herr gleich zweimal zu Petrus sagt: »Folge mir nach!« (Jn 21,19 Jn 21,22). Es ist ein dringender Aufruf zur Nachfolge: Nur wenn man aus sich selbst herauskommt, um sich mit dem Herrn auf den Weg zu machen und seinen Willen zu tun, lebt man die wahre Freiheit.

Ich möchte auch einen anderen Aspekt der Haltung des Petrus im Gefängnis hervorheben. Wir sehen nämlich, daß Petrus »schlief« (Ac 12,6), während die christliche Gemeinde inständig für ihn betete. In einer so kritischen Situation ernster Gefahr mag diese Haltung seltsam erscheinen. Sie deutet jedoch hin auf Ruhe und Vertrauen; er vertraut auf Gott, er weiß, daß er umgeben ist von der Solidarität und dem Gebet der Seinen und überläßt sich ganz der Hand des Herrn. So soll unser Gebet sein: inständig, solidarisch mit den anderen, vollkommen vertrauensvoll gegenüber Gott, der uns tief im Inneren kennt und für uns Sorge trägt – so sehr, daß Jesus sogar sagt: »Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht!« (). Petrus erlebt die Nacht der Gefangenschaft und der Befreiung aus dem Gefängnis als einen Augenblick seiner Nachfolge des Herrn, der die Finsternis der Nacht überwindet und aus der Knechtschaft der Ketten und der Todesgefahr befreit. Seine Befreiung ist wunderbar, gezeichnet von verschiedenen Schritten, die genaub beschrieben werden: Vom Engel geführt geht er trotz der Überwachung am ersten und zweiten Wachtposten vorbei, bis hin zum eisernen Tor, das in die Stadt führt: Und das Tor öffnet sich ihnen von selbst (vgl. Ac 12,10). Petrus und der Engel des Herrn gehen gemeinsam ein Stück des Weges, bis der Apostel, wieder zu sich gekommen, merkt, daß der Herr ihn wahrhaftig befreit hat. Und er geht, nachdem er sich darüber klar geworden ist, zum Haus der Maria, der Mutter des Markus, wo viele Jünger zum Gebet versammelt sind; wieder besteht die Antwort der Gemeinschaft auf Schwierigkeit und Gefahr darin, sich Gott anzuvertrauen, die Beziehung zu ihm zu vertiefen. An dieser Stelle scheint es mir nützlich, eine andere nicht einfache Situation in Erinnerung zu rufen, die die christliche Urgemeinde erlebt hat. Darüber berichtet uns der hl. Jakobus in seinem Brief. Es ist eine Gemeinde, die sich in einer Krise, in Schwierigkeiten befindet, nicht so sehr wegen der Verfolgungen, sondern weil es in ihrem Innern Neid und Streit gibt (vgl. ). Und der Apostel fragt sich nach dem Grund für diese Situation.

Er findet zwei Hauptursachen: Die erste ist, sich von den Leidenschaften, von der Diktatur der eigenen Gelüste, vom Egoismus beherrschen zu lassen (vgl. a); die zweite ist das fehlende Gebet – »weil ihr nicht bittet« (Jc 4,2) – oder das Vorhandensein eines Gebets, das nicht als solches bezeichnet werden kann: »Ihr bittet und empfangt doch nichts, weil ihr in böser Absicht bittet, um es in eurer Leidenschaft zu verschwenden« (Jc 4,3). Dem hl. Jakobus zufolge würde diese Situation sich ändern, wenn die ganze Gemeinschaft gemeinsam mit Gott sprechen, inständig und einmütig beten würde. Denn auch das Reden über Gott läuft Gefahr, seine innere Kraft zu verlieren, und das Zeugnis wird schal, wenn sie nicht vom Gebet, von der Kontinuität eines lebendigen Gesprächs mit dem Herrn beseelt, getragen und begleitet werden.

Das ist ein wichtiger Hinweis auch für uns und unsere Gemeinschaften, für die kleinen – wie die Familie – ebenso wie für die größeren, wie die Pfarrei, die Diözese, die ganze Kirche. Und es macht mich nachdenklich, daß in dieser Gemeinde des hl. Jakobus gebetet wurde, aber in böser Absicht gebetet wurde, nur für die eigene Leidenschaft. Wir müssen immer wieder lernen, gut zu beten, wahrhaftig zu beten, sich auf Gott und nicht auf das eigene Wohl auszurichten. Die Gemeinde dagegen, die die Gefangenschaft des Petrus begleitet, ist eine Gemeinde, die wirklich betet, die ganze Nacht, vereint. Und eine unermeßliche Freude erfüllt das Herz aller, als der Apostel unerwartet an das Tor klopft. Es ist die Freude und das Staunen über das Wirken Gottes, der sie erhört. So steigt das Gebet für Petrus von der Kirche auf, und er kehrt in die Kirche zurück, um zu berichten, »wie der Herr ihn aus dem Gefängnis herausgeführt hatte« (Ac 12,17). In jener Kirche, in der er als Fels eingesetzt ist (vgl. Mt 16,18), berichtet Petrus von seinem »Pascha« der Befreiung: Er erfährt, daß in der Nachfolge Christi die wahre Freiheit liegt, man vom strahlenden Licht der Auferstehung umgeben ist, und daher kann er bis zum Martyrium bezeugen, daß der Herr auferstanden ist und wahrhaftig »seinen Engel gesandt hat und mich der Hand des Herodes entrissen hat« (Ac 12,11). Das Martyrium, das er später in Rom erleiden wird, wird ihn endgültig mit Christus vereinen, der zu ihm gesagt hatte: Wenn du alt geworden bist, wird ein anderer dich führen, wohin du nicht willst – um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen würde (vgl. ).

Liebe Brüder und Schwestern, die Episode der Befreiung des Petrus, von der Lukas berichtet, sagt uns, daß die Kirche, ein jeder von uns, die Nacht der Prüfung durchmacht, aber daß das unablässige Wachen im Gebet uns trägt. Auch ich habe mich vom ersten Augenblick meiner Wahl zum Nachfolger des hl. Petrus an stets von eurem Gebet, vom Gebet der Kirche getragen gefühlt, vor allem in den schwierigsten Augenblicken. Dafür danke ich von Herzen. Durch das unablässige und vertrauensvolle Gebet befreit uns der Herr von den Ketten, führt er uns durch jede Nacht der Gefangenschaft hindurch, die unser Herz quälen kann, schenkt er uns die Ruhe des Herzens, damit wir den Bedrängnissen des Lebens begegnen können, auch der Ablehnung, dem Widerstand, der Verfolgung. Die Episode des Petrus zeigt diese Kraft des Gebets. Und auch wenn er in Ketten liegt, ist der Apostel innerlich ruhig, in der Gewißheit, nie allein zu sein: Die Gemeinde betet für ihn, der Herr ist ihm nahe; er weiß, daß die Gnade Christi ihre Kraft in der Schwachheit erweist (vgl. 2Co 12,9). Das unablässige und einmütige Gebet ist auch ein wertvolles Mittel, um die Prüfungen zu überwinden, die auf dem Weg des Lebens auftreten können, denn durch das tiefe Vereintsein mit Gott können wir auch zutiefst mit den anderen vereint sein. Danke.


* * *


Sehr herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Der Marienmonat Mai ist, wie wir wissen, in besonderer Weise der Verehrung der Muttergottes gewidmet. Gott hat das Ja Marias angenommen, um seinen geliebten Sohn der Welt zu schenken. So lädt uns der Maimonat ein, daß wir uns ihrer mütterlichen Fürsprache anvertrauen: »Mutter der Gnaden, reich uns die Hand, auf all unsern Wegen, durchs irdische Land.« Danke.



Petersplatz

Mittwoch, 16. Mai 2012

16052


Liebe Brüder und Schwestern!

In den letzten Katechesen haben wir über das Gebet in der Apostelgeschichte nachgedacht. Heute möchte ich beginnen, über das Gebet in den Briefen des hl. Paulus, des Völkerapostels, zu sprechen. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß es kein Zufall ist, daß seine Briefe mit Worten des Gebets beginnen und geschlossen werden: am Anfang Dank und Lob, am Ende der Wunsch, daß die Gnade Gottes den Weg der Gemeinschaft, an die das Schreiben gerichtet ist, leiten möge. Zwischen der Einstiegsformel: »Zunächst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus« (
Rm 1,8), und dem abschließenden Wunsch: »Die Gnade Jesu, des Herrn, sei mit euch!« (1Co 16,23), kommen die Inhalte der Briefe des Apostels zur Entfaltung. Das Gebet des hl. Paulus ist ein Gebet, das einen großen Formenreichtum besitzt, der vom Dank bis zum Segen reicht, vom Lob bis zur Bitte und zur Fürsprache, vom Hymnus bis zur Anrufung: eine Vielzahl von Ausdrucksformen, die zeigt, daß das Gebet alle Situationen des Lebens einbezieht und durchdringt, sowohl die persönlichen als auch die der Gemeinschaft, an die er sich wendet.

Ein erstes Element, das uns der Apostel vermitteln will, ist, daß das Gebet nicht einfach als ein frommes Werk, das wir Gott gegenüber vollbringen, als unser Handeln betrachtet werden darf. Es ist in erster Linie ein Geschenk, Frucht der lebendigen, lebenspendenden Gegenwart des Vaters und Jesu Christi in uns. Im Brief an die Römer schreibt er: »So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können« (8,26). Und wir wissen, wie wahr es ist, wenn der Apostel sagt: »Wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen.« Wir wollen beten, aber Gott ist fern, wir haben nicht die Worte, die Sprache, um mit Gott zu sprechen, nicht einmal das Denken. Wir können uns nur öffnen, unsere Zeit Gott zur Verfügung stellen, darauf warten, daß er uns helfen möge, in das wahre Gespräch einzutreten.

Der Apostel sagt: Gerade dieses Fehlen der Worte, diese Abwesenheit von Worten, und dennoch dieser Wunsch, mit Gott in Berührung zu treten, ist Gebet, das der Heilige Geist nicht nur versteht, sondern das er vor Gott bringt, auslegt. Gerade unsere Schwachheit wird durch den Heiligen Geist zum wahren Gebet, zur wahren Berührung mit Gott. Der Heilige Geist ist gleichsam der Dolmetscher, der uns selbst und Gott verstehen läßt, was wir sagen wollen. Im Gebet erfahren wir, mehr als in anderen Dimensionen des Lebens, unsere Schwachheit, unsere Armut, unsere Geschöpflichkeit, da wir der Allmacht und der Transzendenz Gottes gegenüberstehen. Und je mehr wir im Hören auf Gott und im Gespräch mit ihm fortschreiten, damit das Gebet zum täglichen Atem unserer Seele wird, desto mehr werden wir uns auch unserer Grenzen bewußt, nicht nur gegenüber den konkreten Situationen des Alltags, sondern auch in der Beziehung zum Herrn. Dann wächst in uns das Bedürfnis, auf ihn zu vertrauen, uns ihm immer mehr anzuvertrauen. Wir verstehen: »Wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen« (Rm 8,26). Und der Heilige Geist nimmt sich unserer Unfähigkeit an, erleuchtet unseren Verstand und erwärmt unser Herz, indem er unser Sprechen mit Gott leitet. Für den hl. Paulus ist das Gebet vor allem das Wirken des Heiligen Geistes in unserer Menschlichkeit, um sich unserer Schwachheit anzunehmen und uns von Menschen, die an die materielle Wirklichkeit gebunden sind, in geistliche Menschen zu verwandeln.

Im Ersten Brief an die Korinther sagt er: »Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir das erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist. Davon reden wir auch, nicht mit Worten, wie menschliche Weisheit sie lehrt, sondern wie der Geist sie lehrt, indem wir den Geisterfüllten das Wirken des Geistes deuten« (2,12–13). Indem er in unserer Schwachheit wohnt, verwandelt uns der Heilige Geist, er tritt für uns ein, er führt uns zu den Höhen Gottes (vgl. Röm Rm 8,26). Durch diese Gegenwart des Heiligen Geistes wird unsere Vereinigung mit Christus verwirklicht, denn es handelt sich um den Geist des Sohnes Gottes, der uns zu Söhnen macht. Der hl. Paulus spricht vom Geist Christi (vgl. Röm Rm 8,9), nicht nur vom Geist Gottes. Es ist ganz klar: Wenn Christus der Sohn Gottes ist, dann ist sein Geist auch der Geist Gottes, und wenn der Geist Gottes, der Geist Christi uns im Gottessohn und Menschensohn bereits sehr nahe gekommen ist, dann wird der Geist Gottes so auch zum menschlichen Geist und berührt uns; wir können in die Gemeinschaft des Geistes eintreten. Es ist, als würde er sagen, daß nicht nur Gott, der Vater, in der Menschwerdung des Sohnes sichtbar geworden ist, sondern daß auch der Geist Gottes sich im Leben und im Wirken Jesu zeigt – Jesu Christi, der gelebt hat, gekreuzigt wurde, gestorben und auferstanden ist. Der Apostel ruft in Erinnerung: »Keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet« (1Co 12,3). Der Geist richtet also unser Herz auf Jesus Christus aus, so daß nicht mehr wir leben, sondern Christus in uns lebt (vgl. Gal Ga 2,20). In seinen Katechesen über die Sakramente sagt der hl. Ambrosius in Bezug auf die Eucharistie: »Wer sich am Heiligen Geist berauscht, ist in Christus verwurzelt « (5,3,17: PL 16,450).

Und ich möchte jetzt drei Konsequenzen in unserem christlichen Leben hervorheben, die sich ergeben, wenn wir nicht den Geist der Welt in uns wirken lassen, sondern den Geist Christi als inneres Prinzip unseres Handelns. Zunächst werden wir durch das vom Geist beseelte Gebet in die Lage versetzt, jede Form der Angst oder der Knechtschaft abzuschütteln und zu überwinden und die echte Freiheit der Kinder Gottes zu leben. Ohne das Gebet, das täglich unser Dasein in Christus nährt, in einer Vertrautheit, die immer mehr zunimmt, befinden wir uns in der Situation, die der hl. Paulus im Brief an die Römer beschreibt: Wir tun nicht das Gute, das wir wollen, sondern das Böse, das wir nicht wollen (vgl. Röm Rm 7,19). Und das ist der Ausdruck der Entfremdung des Menschen, der Zerstörung unserer Freiheit durch die Umstände unseres Daseins durch die Erbsünde: Wir wollen das Gute, das wir nicht tun, und wir tun das, was wir nicht wollen, das Böse. Der Apostel will zu verstehen geben, daß uns nicht in erster Linie unser Wille und auch nicht das Gesetz aus dieser Situation befreit, sondern der Heilige Geist. Und »wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit« (2Co 3,17): Durch das Gebet erfahren wir also die vom Geist geschenkte Freiheit – eine echte Freiheit, die Freiheit vom Bösen und von der Sünde für das Gute und für das Leben, für Gott. Die Freiheit des Geistes, so der hl. Paulus weiter, ist niemals gleichzusetzen mit der Zügellosigkeit und auch nicht mit der Möglichkeit, das Böse zu wählen, sondern »die Frucht des Geistes … ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung« (Gal 5,22–23). Das ist die wahre Freiheit: wirklich dem Wunsch nach dem Guten, nach der wahren Freude, nach der Gemeinschaft mit Gott folgen zu können und nicht bedrückt zu sein von den Umständen, die andere Richtungen von uns verlangen.

Eine zweite Konsequenz, die sich in unserem Leben ergibt, wenn wir den Geist Christi in uns wirken lassen, ist, daß die Beziehung zu Gott so tief wird, daß sie nicht von irgendeiner Wirklichkeit oder Situation angegriffen werden kann. Wir verstehen also, daß wir durch das Gebet nicht von Prüfungen und Leiden befreit sind, aber sie vereint mit Christus leben können, mit seinem Leiden, in der Aussicht, auch an seiner Herrlichkeit teilzuhaben (vgl. Röm Rm 8,17). Oftmals bitten wir Gott in unserem Gebet, vom physischen und geistlichen Leiden befreit zu werden, und wir tun das mit großem Vertrauen. Dennoch haben wir oft den Eindruck, nicht erhört zu werden, und dann laufen wir Gefahr, den Mut zu verlieren und nicht beharrlich zu sein. In Wirklichkeit gibt es keinen menschlichen Schrei, den Gott nicht hört, und gerade im beständigen und treuen Beten verstehen wir wie der hl. Paulus, daß »die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll« (Rm 8,18). Das Gebet befreit uns nicht von Prüfung und Leiden – ja, der hl. Paulus sagt sogar, wir »seufzen in unserem Herzen und warten darauf, daß wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden« (Rm 8,23); er sagt, daß das Gebet uns nicht vom Leiden befreit, sondern daß wir es durch das Gebet mit neuer Kraft leben und ihm mit dem Vertrauen Jesu begegnen können. »Als er auf Erden lebte, hat er« – wie es im Hebräerbrief heißt – »mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden « (5,7). Die Antwort Gottes, des Vaters, an den Sohn, auf sein lautes Schreien und seine Tränen, war nicht die Befreiung vom Leiden, vom Kreuz, vom Tod, sondern es war eine weitaus größere Erhörung, eine viel tiefere Antwort; durch das Kreuz und den Tod hat Gott mit der Auferstehung des Sohnes geantwortet, mit dem neuen Leben. Das vom Heiligen Geist beseelte Gebet führt auch uns dahin, jeden Tag den Weg des Lebens zu gehen, mit seinen Prüfungen und Leiden, in völliger Hoffnung, im Vertrauen auf Gott, der antwortet wie er dem Sohn geantwortet hat.

Und drittens öffnet sich das Gebet des Gläubigen auch auf die Dimensionen der Menschheit und der gesamten Schöpfung hin, »denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes« (Rm 8,19), und das Gebet nimmt sich dieses Wartens an. Das bedeutet, daß das Gebet, getragen vom Geist Christi, der in unserem Innern spricht, nie in sich selbst verschlossen bleibt, daß es niemals nur Gebet für mich selbst ist, sondern sich öffnet zum Teilen der Leiden unserer Zeit, der anderen. Es wird zur Fürsprache für die anderen, und so zur Befreiung von mir selbst, zum Kanal der Hoffnung für die ganze Schöpfung, zum Ausdruck jener Liebe Gottes, die ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (vgl. Röm Rm 5,5). Und gerade das ist Zeichen eines wahren Gebets, das nicht in uns selbst endet, sondern sich zu den anderen hin öffnet und mich so befreit und so zur Erlösung der Welt beiträgt.

Liebe Brüder und Schwestern, der hl. Paulus lehrt uns, daß wir uns in unserem Beten zur Gegenwart des Heiligen Geistes hin öffnen müssen, der in uns betet mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können, um uns dahin zu führen, Gott von ganzem Herzen und mit all unserem Sein treu zu sein. Der Geist Christi wird zur Kraft unseres »schwachen« Gebets, zum Licht unseres »erloschenen« Gebets, zum Feuer unseres »trockenen« Gebets, indem er uns die wahre innere Freiheit schenkt und uns lehrt, den Prüfungen des Lebens zu begegnen, in der Gewißheit, nicht allein zu sein, und uns zu öffnen gegenüber den Horizonten der Menschheit und der Schöpfung, die »seufzt und in Geburtswehen liegt« (Rm 8,22). Danke.

* * *

Von Herzen grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache wie auch die Schüler aus den Niederlanden. Besonders danke ich auch der Blaskapelle von Dettingen für das schöne »Großer Gott«. Herzlichen Dank! Der Heilige Geist stärke und entflamme unser armseliges Gebet, er schenke uns die wahre Freiheit und das Licht, das Gute zu erkennen. Er geleite euch auf allen euren Wegen.



Petersplatz

Mittwoch, 23. Mai 2012

22052


Liebe Brüder und Schwestern!

Am vergangenen Mittwoch habe ich gezeigt, wie der hl. Paulus sagt, daß der Heilige Geist der große Lehrer des Gebets ist und uns lehrt, uns mit liebevollen Worten an Gott zu wenden und ihn »Abba, Vater« zu nennen. So hat Jesus es getan; auch im dramatischsten Augenblick seines irdischen Lebens hat er nie das Vertrauen in den Vater verloren und hat ihn immer mit der Vertrautheit des geliebten Sohnes angerufen. In Getsemani, als er die Todesangst spürt, betet er: »Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst (soll geschehen)« (
Mc 14,36).

Von den ersten Schritten ihres Weges an hat die Kirche diese Anrufung aufgegriffen und sie sich zu eigen gemacht, vor allem im Gebet des Vaterunser, in dem wir täglich sprechen: »Vater … dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde« (). In den Briefen des hl. Paulus finden wir sie zweimal wieder. Der Apostel, wir haben es gerade gehört, wendet sich an die Galater mit diesen Worten: »Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater« (Ga 4,6). Und in der Mitte jenes Lobgesangs auf den Heiligen Geist, den das achte Kapitel des Briefes an die Römer darstellt, sagt der hl. Paulus: »Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so daß ihr euch immer noch fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!« (Rm 8,15). Das Christentum ist keine Religion der Angst, sondern des Vertrauens und der Liebe zum Vater, der uns liebt. Diese beiden dichten Worte geben uns Kunde von der Sendung und der Annahme des Heiligen Geistes, der Gabe des Auferstandenen, die uns zu Söhnen in Christus, dem eingeborenen Sohn, macht und uns in die Gotteskindschaft hineinstellt, in eine Beziehung tiefen Vertrauens, wie die der Kinder – eine Gotteskindschaft, die der Jesu ähnlich ist, auch wenn der Ursprung und die Tragweite anders sind: Jesus ist der ewige Sohn Gottes, der Mensch geworden ist, wir hingegen werden Kinder in ihm, in der Zeit, durch den Glauben und die Sakramente der Taufe und der Firmung; dank dieser beiden Sakramente sind wir in das Ostermysterium Christi hineingenommen. Der Heilige Geist ist die kostbare und notwendige Gabe, die uns zu Kindern Gottes macht, die jene Annahme an Kindes Statt verwirklicht, zu der alle Menschen berufen sind, denn – wie das Loblied auf Gott im Brief an die Epheser erläutert – in Christus hat Gott »uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott; er hat uns aus Liebe im voraus dazu bestimmt, seine Söhne zu werden durch Jesus Christus« ().

Vielleicht nimmt der Mensch von heute die Schönheit, die Größe und den tiefen Trost, die in dem Wort »Vater« enthalten sind, mit dem wir uns im Gebet an Gott wenden können, nicht wahr, weil die väterliche Gestalt heute oft nicht genug anwesend ist, oft ist sie auch im täglichen Leben nicht positiv genug. Die Abwesenheit des Vaters, das Problem des Vaters, der im Leben des Kindes nicht anwesend ist, ist ein großes Problem unserer Zeit. Daher wird es schwierig, in ganzer Tiefe zu verstehen, was es heißt, daß Gott unser Vater ist. Von Jesus selbst, aus seiner Sohnesbeziehung zu Gott, können wir lernen, was »Vater« eigentlich bedeutet, was das wirkliche Wesen des Vaters im Himmel ist. Religionskritiker haben gesagt, daß die Rede vom »Vater«, von Gott, eine Projektion unserer Väter in den Himmel sei. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Im Evangelium zeigt uns Christus, wer der Vater ist und wie ein wahrer Vater ist, so daß wir die wahre Vaterschaft Gottes verstehen, die wahre Vaterschaft auch erlernen können. Denken wir an das Wort Jesu in der Bergpredigt, wo er sagt: »Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet« (). Und gerade die Liebe Jesu, des eingeborenen Sohnes – der zur Selbsthingabe am Kreuz gelangt –, offenbart uns das wahre Wesen des Vaters: Er ist die Liebe, und auch wir, in unserem Beten als Kinder, treten in diesen Kreislauf der Liebe ein, der Liebe Gottes, die unsere Wünsche und Haltungen reinigt, die von Verschlossenheit, von Selbstgenügsamkeit, von Egoismus geprägt sind, die den alten Menschen kennzeichnen.

Ich möchte einen Augenblick bei der Vaterschaft Gottes verweilen, damit wir unser Herz erwärmen lassen können von dieser tiefen Wirklichkeit, die Jesus uns in Fülle vermittelt hat, und damit unser Gebet dadurch genährt wird. Wir können also sagen, daß die Vaterschaft in Gott zwei Dimensionen besitzt. Zunächst ist Gott unser Vater, weil er unser Schöpfer ist. Jeder von uns, jeder Mann und jede Frau, ist ein Wunder Gottes, ist von ihm gewollt, und Gott kennt ihn persönlich. Wenn es im Buch Genesis heißt, daß der Mensch als Abbild Gottes erschaffen ist (vgl. 1,27), dann soll eben diese Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht werden: Gott ist unser Vater, für ihn sind wir keine anonymen, unpersönlichen Wesen, sondern wir haben einen Namen. Und ein Wort in den Psalmen berührt mich immer, wenn ich es bete: »Deine Hände haben mich gemacht und geformt«, sagt der Psalmist (Ps 119,73). In diesem schönen Bild kann jeder von uns die persönliche Beziehung zu Gott zum Ausdruck bringen: »Deine Hände haben mich gemacht und geformt. Du hast mich erdacht und erschaffen und gewollt.« Aber das genügt noch nicht. Der Geist Christi öffnet uns auf eine zweite Dimension der Vaterschaft Gottes hin, über die Schöpfung hinaus, denn Jesus ist der »Sohn« im vollen Sinne, »eines Wesens mit dem Vater«, wie wir im Glaubensbekenntnis sprechen. Indem er Mensch wird wie wir, nimmt uns Jesus durch die Menschwerdung, den Tod und die Auferstehung in seine Menschennatur und in seine eigene Sohnschaft hinein, und so können auch wir in seine besondere Zugehörigkeit zu Gott eintreten. Freilich hat unsere Gotteskindschaft nicht die Fülle Jesu: Wir müssen immer mehr dahin gelangen, auf dem Weg unseres ganzen christlichen Lebens, indem wir in der Nachfolge Christi wachsen, in der Gemeinschaft mit ihm, um immer enger einzutreten in die Liebesbeziehung zu Gott, dem Vater, die unser Leben trägt. Diese grundlegende Wirklichkeit wird uns offenbart, wenn wir auf den Heiligen Geist hin offen werden und er bewirkt, daß wir uns an Gott wenden und zu ihm sagen: »Abba, Vater!« Wir sind wirklich über die Schöpfung hinaus in die Annahme an Kindes Statt mit Jesus eingetreten; vereint sind wir wirklich in Gott und Kinder auf neue Weise, in einer neuen Dimension.

Aber ich möchte jetzt zu den beiden Abschnitten des hl. Paulus zurückkehren, die wir im Zusammenhang mit dem Wirken des Heiligen Geistes in unserem Gebet betrachten. Auch hier sind es zwei Stellen, die einander entsprechen, aber eine unterschiedliche Nuance enthalten. Im Brief an die Galater sagt der Apostel nämlich, daß der Geist in uns ruft: »Abba, Vater«; im Brief an die Römer sagt er, daß wir es sind, die rufen: »Abba, Vater!« Und der hl. Paulus will uns vermitteln, daß das christliche Gebet nie nur in einer Richtung von uns zu Gott hin geschieht. Es ist nicht nur »unser Handeln«, sondern es ist Ausdruck einer doppelseitigen Beziehung, in der Gott zuerst handelt: Es ist der Heilige Geist, der in uns ruft, und wir können rufen, weil der Impuls vom Heiligen Geist kommt. Wir könnten nicht beten, wenn das Verlangen nach Gott, die Gotteskindschaft nicht tief in unser Herz eingeschrieben wäre. Seit es ihn gibt, ist der »Homo sapiens« immer auf der Suche nach Gott, versucht er, mit Gott zu sprechen, denn Gott hat sich selbst in unser Herz eingeschrieben. Die erste Initiative kommt also von Gott, und durch die Taufe wirkt Gott erneut in uns, wirkt der Heilige Geist in uns; er ist der erste Initiator des Gebets, damit wir wirklich mit Gott sprechen und zu Gott »Abba« sagen können. Seine Gegenwart öffnet also unser Gebet und unser Leben, öffnet auf die Horizonte der Dreifaltigkeit und der Kirche hin.

Außerdem verstehen wir, das ist der zweite Punkt, daß der Geist Christi in uns und unser Geist in ihm nicht nur ein individueller Akt ist, sondern ein Akt der ganzen Kirche. Im Gebet öffnet sich unser Herz, treten wir in Gemeinschaft nicht nur mit Gott, sondern mit allen Kindern Gottes, weil wir eins sind. Wenn wir uns also in unserem inneren Kämmerlein an den Vater wenden, in der Stille und in der Sammlung, dann sind wir nie allein. Wer mit Gott spricht, ist nicht allein. Wir sind im großen Gebet der Kirche, wir sind Teil einer großen Symphonie, die die christliche Gemeinde in allen Teilen der Erde und zu jeder Zeit zu Gott erhebt. Freilich sind die Musiker und die Instrumente unterschiedlich – und das ist ein bereicherndes Element –, aber die Melodie des Lobpreises ist einheitlich und harmonisch. Jedes Mal also, wenn wir rufen und sagen: »Abba, Vater«, ist es die Kirche, die ganze Gemeinschaft der betenden Menschen, die unsere Anrufung trägt, und unsere Anrufung ist die Anrufung der Kirche. Das spiegelt sich auch im Reichtum der Gnadengaben, der Dienste, der Aufgaben wider, die wir in der Gemeinschaft erfüllen. Der hl. Paulus schreibt an die Christen in Korinth: »Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen« (1 Kor 12,4–6). Das vom Heiligen Geist geleitete Gebet, das uns mit Christus und in Christus sagen läßt: »Abba, Vater«, fügt uns ein in das eine große Mosaik der Familie Gottes, in der jeder einen Platz und eine wichtige Rolle hat, in tiefer Einheit mit dem Ganzen.

Eine letzte Bemerkung: Auch mit Maria, der Mutter des Sohnes Gottes, lernen wir zu rufen »Abba, Vater!« Die Fülle der Zeit, von der der hl. Paulus im Brief an die Galater spricht (vgl. 4,4) wird in dem Augenblick vollendet, in dem Maria durch ihr »Ja« dem Willen Gottes völlig zustimmt: »Ich bin die Magd des Herrn« (Lc 1,38). Liebe Brüder und Schwestern, wir wollen lernen, in unserem Gebet die Schönheit zu genießen, Freunde, ja sogar Kinder Gottes zu sein, ihn anrufen zu können mit der Zuversicht und dem Vertrauen, das ein Kind gegenüber seinen Eltern hat, die es lieben. Öffnen wir unser Gebet auf das Wirken des Heiligen Geistes hin, damit er in uns zu Gott ruft: »Abba, Vater«, und damit unser Gebet unser Denken, unser Handeln ständig verwandelt, umkehrt, um es dem des eingeborenen Sohnes, Jesu Christi, immer mehr gleichzugestalten. Danke.

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Mit Freude grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Öffnen wir unser Gebet dem Wirken des Heiligen Geistes, damit es uns wirklich umwandle und damit sichtbar werde, was es heißt, Christ zu sein. Der Herr segne euch alle!



Petersplatz

Mittwoch, 30. Mai 2012


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