ANSPRACHE 2007 Januar 2007 196

196 Aber bedeutet dieser Wille zu Dialog und Zusammenarbeit zugleich, daß wir die Botschaft von Jesus Christus nicht mehr weitergeben, nicht mehr den Menschen und der Welt diesen Anruf und seine Hoffnung vorlegen dürfen? Wer eine große Erkenntnis, wer große Freude gefunden hat, muß sie weitergeben, kann dies gar nicht für sich selbst behalten. Solche großen Gaben sind niemals für einen allein bestimmt. Uns ist in Jesus Christus ein großes Licht, das große Licht aufgegangen: Wir dürfen es nicht unter den Scheffel stellen, sondern müssen es auf den Leuchter heben, damit es allen im Haus leuchtet (Mt 5,15). Der heilige Paulus ist rastlos mit dem Evangelium unterwegs gewesen. Er wußte sich förmlich unter einem »Zwang«, das Evangelium zu verkünden (1Co 9,16) - nicht so sehr aus Heilsangst für die einzelnen Ungetauften, vom Evangelium noch nicht Erreichten, sondern weil er wußte, daß die Geschichte als ganze nicht zur Vollendung kommen konnte, solange nicht die Fülle (pléroma) der Völker eingetreten sein würde in das Evangelium (Rm 11,25). Die Geschichte braucht zu ihrer Vollendung die Verkündigung der Botschaft an alle Völker, an alle Menschen (vgl. Mc 13,10). Und in der Tat: Wie wichtig ist es, daß in die Menschheit Kräfte der Versöhnung, Kräfte des Friedens, Kräfte der Liebe und Gerechtigkeit einströmen - daß im Haushalt der Menschheit gegenüber all den Gesinnungen und Wirklichkeiten der Gewalt und des Unrechts, von denen sie bedroht wird, die Gegenkräfte geweckt und gestärkt werden! Genau dies geschieht in der christlichen Mission: Dem Haushalt der Menschheit werden durch die Begegnung mit Jesus Christus und seinen Heiligen, durch die Begegnung mit Gott jene Kräfte des Guten zugeführt, ohne die all unsere Sozialordnungen nicht Wirklichkeit werden, sondern bloß abstrakte Theorie bleiben, angesichts des übermächtigen Drucks anderer Interessen, die dem Frieden und der Gerechtigkeit entgegenstehen.

So sind wir zu den zuerst gestellten Fragen zurückgekehrt: Hat Aparecida gut daran getan, der Jüngerschaft Jesu Christi und der Evangelisierung die Priorität zu geben auf der Suche nach Leben für die Welt? War es eine falsche Wendung nach innen? Nein! Aparecida hat richtig entschieden, weil gerade durch die neue Begegnung mit Jesus Christus und seinem Evangelium, nur so, die Kräfte geweckt werden, die uns instand setzen, auf die Herausforderungen der Zeit die rechte Antwort zu geben.

Ende Juni habe ich einen Brief an die Bischöfe, die Priester, die Personen gottgeweihten Lebens und an die gläubigen Laien der katholischen Kirche in der Volksrepublik China gesandt. Mit diesem Brief wollte ich sowohl meine tiefe geistliche Zuneigung zu allen Katholiken in China als auch herzliche Wertschätzung für das chinesische Volk zum Ausdruck bringen. Ich habe darin die bleibenden Grundsätze der katholischen Tradition und des Zweiten Vatikanischen Konzils auf dem Feld der Ekklesiologie in Erinnerung gerufen. Im Licht des »ursprünglichen Planes«, den Christus von seiner Kirche hatte, habe ich einige Orientierungen gegeben, um die heiklen und komplexen Problemkreise des Lebens der Kirche in China im Geist der Gemeinschaft und der Wahrheit anzugehen und zu lösen. Ich habe auch auf die Bereitschaft des Heiligen Stuhls zu einem sachlichen und konstruktiven Dialog mit den zivilen Autoritäten hingewiesen, damit eine Lösung für die verschiedenen Probleme gefunden werden kann, die die katholische Gemeinschaft betreffen. Der Brief wurde von den Katholiken in China mit Freude und Dankbarkeit aufgenommen. So wünsche ich mir, daß er mit Gottes Hilfe die erhofften Früchte bringen möge.

Auf die anderen Höhepunkte des Jahres kann ich leider nur noch kurz zu sprechen kommen. Tatsächlich waren es Ereignisse, die in dieselbe Richtung zielten, die gleiche Orientierung deutlich machen wollten. So der wundervolle Besuch in Österreich. Der Osservatore Romano hat mit einem schönen Wort den Regen, der uns begleitete, als »pioggia della fede« - Glaubensregen bezeichnet: Der Regen hat uns die Freude des Glaubens an Christus durch das Hinschauen auf seine Mutter nicht nur nicht gemindert, sondern sogar gestärkt. Diese Freude durchbrach den Schleier der Wolken, die uns umgaben. Mit Maria blickend auf Christus haben wir das Licht gefunden, das uns in allen Finsternissen der Welt den Weg weist. Den österreichischen Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und all den vielen Gläubigen, die in diesen Tagen mit mir auf dem Weg zu Christus waren, möchte ich herzlich danken für dieses ermutigende Zeichen des Glaubens, das sie uns geschenkt haben.

Auch die Begegnung mit der Jugend in der Agora von Loreto war ein großes Zeichen der Freude und der Hoffnung: Wenn so viele junge Menschen Maria und mit Maria Christus begegnen wollen und sich von der Freude des Glaubens anstecken lassen, dann können wir getrost der Zukunft entgegengehen. In diesem Sinn habe ich mich bei verschiedenen Gelegenheiten an die Jugendlichen gewandt: bei meinem Besuch im Institut für Minderjährige, Casal del Marmo, in den Ansprachen bei Audienzen und beim sonntäglichen Angelus-Gebet. Ich habe ihre Erwartungen und ihre großherzigen Vorsätze zur Kenntnis genommen, die Erziehungsfrage erneut aufgeworfen und die Ortskirchen zu einem verstärkten Engagement in der Berufungspastoral aufgefordert. Natürlich habe ich nicht versäumt, die Manipulationen anzuprangern, denen die jungen Menschen heute ausgesetzt sind, und die Gefahren aufzuzeigen, die sich daraus für die Gesellschaft der Zukunft ergeben.

Ganz kurz habe ich schon von dem Treffen in Neapel gesprochen. Auch da waren wir - ganz ungewohnt für die Stadt der Sonne und des Lichts - vom Regen umgeben, aber auch da hat die warme Menschlichkeit, der lebendige Glaube die Wolken durchbrochen und uns die Freude erleben lassen, die aus dem Evangelium kommt.

Natürlich dürfen wir uns keine Illusionen machen: Die Probleme, die der Säkularismus unserer Zeit stellt, und der Druck der ideologischen Anmaßungen, zu denen das säkularistische Bewußtsein mit seinem Alleinanspruch auf die endgültige Rationalität neigt, sind nicht gering. Wir wissen es und wissen um die Mühsale des Ringens, das uns in dieser Zeit auferlegt ist. Aber wir wissen auch, daß der Herr seine Verheißung einhält: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt (Mt 28,20). In dieser frohen Gewißheit nehmen wir den Gedankenanstoß von Aparecida auf, unser Mitsein mit Christus auch unsererseits zu erneuern, und gehen so zuversichtlich auf das neue Jahr zu. Gehen wir unter dem mütterlichen Blick der Aparecida, unter den Augen derer, die sich selbst als »die Magd des Herrn« bezeichnet hat. Ihr Schutz schenkt uns Sicherheit und erfüllt uns mit Hoffnung. In diesem Sinne erteile ich Ihnen allen, die Sie hier zugegen sind, sowie allen, die zur großen Familie der Römischen Kurie gehören, von Herzen den Apostolischen Segen.








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