ANSPRACHE 2010 126

126 Dessen ungeachtet könnten die derzeitigen Herausforderungen zu einer verkürzten Sicht des Missionsbegriffs führen. Mission kann sich nicht auf eine bloße Suche nach neuen Techniken und Formen beschränken, die die Kirche anziehender und fähig machen sollen, die Konkurrenz mit anderen religiösen Gruppen oder relatvistischen Ideologien zu gewinnen. Die Kirche arbeitet nicht für sich selbst: Sie steht im Dienst Jesu Christi; sie existiert, um zu erwirken, daß die Frohe Botschaft allen Menschen zugänglich ist. Die Kirche ist gerade deshalb katholisch, weil sie jeden Menschen einlädt, das neue Leben in Christus zu erfahren. Mission ist daher nichts anderes als die natürliche Folge des eigentlichen Wesens der Kirche, ein Dienst am Auftrag zur Einigkeit, den Christus in seinem gekreuzigten Leib vollzogen hat. Das soll uns darüber nachdenken lassen, daß die Schwächung des missionarischen Geistes vielleicht nicht so sehr durch Grenzen und Mängel in den äußeren Formen der herkömmlichen Missionstätigkeit verschuldet wird, sondern vielmehr dadurch, daß man vergessen hat, daß sich die Mission aus einem tiefern Kern nähren muß. Dieser Kern ist die Eucharistie. Als Gegenwart der menschlich-göttlichen Liebe Jesu Christi setzt sie fortwährend den Übergang von Jesus zu den Menschen voraus, die seine Glieder sind, die selber Eucharistie sein werden. Um tatsächlich wirksam zu sein, muß die Kontinentalmission von der Eucharistie ausgehen und zur Eucharistie hinführen.

Liebe Mitbrüder, ich bitte euch, wenn ihr in eure Diözesen und Prälaturen zurückkehrt, euren Priestern, Ordensmännern, Ordensfrauen, Seminaristen, Katecheten und Gläubigen den herzlichen Gruß des Papstes zu überbringen, der an alle denkt und für alle mit großer Liebe und fester Hoffnung betet. Der Fürsprache des sel. José de Anchieta, der in der Eucharistie das Geheimnis seiner apostolischen Wirksamkeit fand, vertraue ich euch persönlich, eure Anliegen und eure pastoralen Vorhaben an, damit der Name Christi im Herzen und auf den Lippen jedes Brasilianers immer gegenwärtig sei. Mit diesen Empfindungen begleiten euch mein Gebet und mein Apostolischer Segen.





AN DIE TEILNEHMER EINER VOM PÄPSTLICHEN RAT FÜR DIE SOZIALEN KOMMUNIKATIONSMITTEL VERANSTALTETEN TAGUNG ÜBER DIE DIE KATHOLISCHE PRESSE


Sala Clementina

Donnerstag, 7. Oktober 2010





Liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich empfange Sie mit Freude zum Abschluß der viertägigen intensiven Arbeitstagung, die vom Päpstlichen Rat für die sozialen Kommunikationsmittel veranstaltet wurde und der katholischen Presse gewidmet war, und begrüße Sie alle sehr herzlich. Sie kommen aus 85 Ländern und arbeiten für Tageszeitungen, Wochenzeitungen oder andere Zeitschriften sowie für Internetseiten. Ich begrüße den Präsidenten des Dikasteriums, Erzbischof Claudio Maria Celli, dem ich für seine Worte danke, die er im Namen aller gesprochen hat, ebenso wie die Sekretäre, den Untersekretär, alle Beamte sowie das gesamte Personal. Ich freue mich, ein Wort der Ermutigung an Sie richten zu können, Ihre wichtige und qualifizierte Arbeit mit erneuerter Motivation fortzusetzen.

Die Medienwelt ist, auch in ihrem Innern, einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Die Entwicklung neuer Technologien und insbesondere die weitverbreitete Multimedialität scheint die Rolle der traditionelleren und konsolidierten Kommunikationsmittel in Frage zu stellen. Zu Recht befaßt sich Ihre Tagung mit der besonderen Rolle der katholischen Presse. Bei einer aufmerksamen Reflexion über diesen Bereich werden zwei Aspekte besonders deutlich: einerseits die spezifischen Eigenschaften des Mittels, der Presse, also des geschriebenen Wortes und seiner Aktualität und Wirkkraft, in einer Gesellschaft, die erlebt hat, wie Antennen, Parabolschüsseln und Satelliten sich vermehrt haben und gleichsam zum Sinnbild einer neuen Art der Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung geworden sind. Der andere Aspekt ist die Bezeichnung »katholisch«, mit der daraus hervorgehenden Verantwortung, ihr ausdrücklich und von Grund auf treu zu sein durch das tägliche Bemühen, den Königsweg der Wahrheit zu beschreiten.

Die katholischen Journalisten müssen der Suche nach der Wahrheit mit leidenschaftlichem Verstand und Herz nachgehen, aber auch mit der Professionalität von Fachleuten, die mit angemessenen und wirkkräftigen Mitteln ausgestattet sind. Dies erweist sich als noch wichtiger im gegenwärtigen Augenblick der Geschichte, der vom Journalisten als Mittler des Informationsflusses verlangt, selbst einen tiefen Wandel zu vollziehen. Zum Beispiel hat heute durch die Entwicklung immer neuer Technologien die Bilderwelt in der Kommunikation immer mehr Gewicht. Einerseits bringt all dies zweifellos positive Aspekte mit sich, anderseits kann das Bild jedoch auch von der realen Welt unabhängig werden und eine virtuelle Welt hervorbringen, was verschiedene Folgen hat, an erster Stelle die Gefahr der Gleichgültigkeit gegenüber der wahren Welt. Die neuen Technologien bringen zwar Fortschritte mit sich, können aber gleichzeitig das Wahre und das Falsche austauschbar machen, können dazu verleiten, das Reale mit dem Virtuellen zu verwechseln. Außerdem wird möglicherweise die Aufnahme eines freudigen oder traurigen Ereignisses als reine Unterhaltung konsumiert und nicht als Gelegenheit zum Nachdenken betrachtet. Die Suche nach den Wegen für eine wahre Förderung des Menschen rückt dann in den Hintergrund, weil das Ereignis hauptsächlich vorgeführt wird, um Emotionen zu wecken. Diese Aspekte sind alarmierend: Sie fordern auf, über die Gefahr nachzudenken, daß das Virtuelle den Menschen von der Realität entfernt und nicht zur Suche nach dem Wahren, nach der Wahrheit anregt.

In diesem Zusammenhang ist die katholische Presse neu aufgerufen, ihre Möglichkeiten gründlich auszuschöpfen und tagtäglich Rechenschaft von ihrer unverzichtbaren Sendung abzulegen. Die Kirche verfügt über ein Element, das dies erleichtert, da der christliche Glaube mit der Kommunikation eine wesentliche Struktur gemeinsam hat: die Tatsache, daß das Mittel und die Botschaft einander entsprechen. Denn der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort, ist gleichzeitig Heilsbotschaft und Mittel, durch das das Heil verwirklicht wird. Und das ist nicht einfach nur eine Vorstellung, sondern eine Wirklichkeit, die allen zugänglich ist, auch jenen, die zwar als Protagonisten in der Komplexität der Welt leben, aber dennoch in der Lage sind, die intellektuelle Aufrichtigkeit zu bewahren, die den »Kleinen« des Evangeliums zu eigen ist. Außerdem fördert die Kirche, der mystische Leib Christi, der überall zugleich gegenwärtig ist, die Fähigkeit zu brüderlicheren und menschlicheren Beziehungen, indem sie sich als Ort der Gemeinschaft unter die Gläubigen stellt und zugleich als Zeichen und Werkzeug der Berufung aller zur Gemeinschaft. Ihre Kraft ist Christus, und in seinem Namen »folgt« sie dem Menschen auf den Straßen der Welt, um ihn vom »mysterium iniquitatis« zu erretten, das heimtückisch in ihr wirkt. Im Vergleich zu den anderen Kommunikationsmitteln führt die Presse den Wert des geschriebenen Wortes direkter vor Augen. Das Wort Gottes ist zu den Menschen gelangt und auch an uns weitergegeben worden durch ein Buch, die Bibel. Das Wort ist und bleibt das wesentliche Mittel und in gewisser Weise die Grundlage der Kommunikation: Es wird heute in unterschiedlicher Form gebraucht und bewahrt auch in der sogenannten »Zivilisation des Bildes« seinen ganzen Wert.

Von diesen kurzen Überlegungen ausgehend ist es offensichtlich, daß die Kommunikation für die Kirche und für jene, die an ihrer Sendung teilhaben, eine sehr große Herausforderung darstellt. Die Christen können nicht über die Glaubenskrise hinwegsehen, die die Gesellschaft erreicht hat, oder einfach darauf vertrauen, daß das Erbe an Werten, das über die vergangenen Jahrhunderte hinweg weitergegeben wurde, auch weiterhin die Zukunft der Menschheitsfamilie beeinflußt und prägt. Die Idee, zu leben, »als ob es Gott nicht gäbe«, hat sich als schädlich erwiesen: Vielmehr muß die Welt so leben »als ob es Gott gäbe«, auch wenn man keine Kraft hat zu glauben, denn sonst bringt sie nur einen »unmenschlichen Humanismus« hervor.

127 Liebe Brüder und Schwestern, wer im Bereich der Kommunikationsmittel tätig ist und nicht nur »ein dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke« (1Co 13,7) sein will - wie der hl. Paulus sagen würde -, muß eine starke Grundentscheidung in sich tragen, die ihn befähigt, die Dinge der Welt so zu behandeln, daß Gott immer an die Spitze der Werteskala gesetzt wird. Auch wenn die Zeiten, in denen wir leben, eine beachtliche Positivität in sich tragen, weil die Fäden der Geschichte in Gottes Hand sind und sein ewiger Plan immer mehr enthüllt wird, so sind sie dennoch auch von vielen Schatten geprägt. Ihre Aufgabe, liebe Mitarbeiter der katholischen Presse, ist es, dem Menschen der Gegenwart zu helfen, sich auf Christus, den einzigen Retter, auszurichten und in der Welt die Fackel der Hoffnung auch weiterhin leuchten zu lassen, um das Heute würdig zu leben und die Zukunft entsprechend aufzubauen. Ich fordere Sie daher auf, Ihre persönliche Entscheidung für Christus ständig zu erneuern und aus jenen geistlichen Ressourcen zu schöpfen, die von der weltlichen Mentalität unterbewertet werden, während sie jedoch kostbar, ja sogar unverzichtbar sind. Liebe Freunde, ich ermutige Sie, Ihre nicht einfache Aufgabe weiterzuführen, und begleite Sie mit dem Gebet, daß der Heilige Geist sie stets fruchtbar machen möge. Ich schließe in meinen Segen, den ich voll Zuneigung und Dankbarkeit gern erteile, alle hier Anwesenden ein sowie jene, die in der ganzen Welt in der katholischen Presse tätig sind.





AN DIE TEILNEHMER DER STUDIENTAGUNG, DIE DER PÄPSTLICHE RAT FÜR DIE INTERPRETATION VON GESETZESTEXTEN ZUM 20. JAHRESTAG DER PROMULGATION DES »CODEX CANONUM ECCLESIARUM ORIENTALIUM« VERANSTALTET HAT


Sala Clementina

Samstag, 9. Oktober 2010





Meine Herren Kardinäle,
sehr verehrte Patriarchen und Großerzbischöfe,
sehr geehrte Vertreter der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften,
verehrte Mitarbeiter im Bereich des Ostkirchenrechts!

Mit großer Freude empfange ich euch zum Abschluß der Studientagung, durch die der
20. Jahrestag der Promulgation des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium angemessen gefeiert werden sollte. Ich begrüße euch alle recht herzlich, angefangen bei Erzbischof Francesco Coccopalmerio, dem ich für die Worte danke, die er auch im Namen der Anwesenden an mich gerichtet hat. Ein dankbarer Gruß ergeht an die Kongregation für die Orientalischen Kirchen, an den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen sowie an das Päpstliche Orientalische Institut, die zusammen mit dem Päpstlichen Rat für die Interpretation von Gesetzestexten diese Tagung ausgerichtet haben. Den Referenten möchte ich herzlich danken für den fundierten wissenschaftlichen Beitrag zu dieser kirchlichen Initiative.

20 Jahre nach der Promulgation des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium wollen wir die Eingebung des Ehrwürdigen Dieners Gottes Johannes Paul II. ehren, der in seinem Bemühen darum, daß die katholischen Ostkirchen »neu erblühen und mit frischer apostolischer Kraft die ihnen anvertraute Aufgabe meistern« (Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Orientalium Ecclesiarum OE 1), diesen altehrwürdigen Kirchen einen vollständigen, gemeinsamen und zeitgemäßen Codex geben wollte. So erfüllte sich »der stets vorhanden gewesene Wille der Päpste, zwei Codices zu promulgieren, einen für die lateinische Kirche und den anderen für die katholischen Ostkirchen« (Apostolische Konstitution Sacri Canones). Gleichzeitig bestätigte sich dadurch »ganz deutlich die stete und feste Absicht des obersten Gesetzgebers in der Kirche hinsichtlich der treuen Wahrung und sorgfältigen Observanz aller Riten« (ebd.).

Auf den Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium folgten zwei weitere wichtige Dokumente des Lehramts Johannes Pauls II.: die Enzyklika Ut unum sint (1995) und das Apostolische Schreiben Orientale lumen (1995). Darüber hinaus dürfen wir nicht das Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus vergessen, das vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen veröffentlicht wurde (1993), sowie die Instruktion der Kongregation für die Orientalischen Kirchen zur Ausführung der liturgischen Vorschriften des Codex (1996). In diesen maßgeblichen Dokumenten des Lehramts werden mehrere Canones des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium sowie des Codex Iuris Canonici beinahe wörtlich zitiert, kommentiert und auf das Leben der Kirche angewandt.

128 Dieser 20. Jahrestag ist nicht nur ein feierliches Ereignis, durch das die Erinnerung gewahrt werden soll, sondern eine von der Vorsehung geschenkte Gelegenheit zur Überprüfung, zu der vor allem die eigenberechtigten katholischen Ostkirchen und ihre Einrichtungen aufgerufen sind, insbesondere die Hierarchien. Diesbezüglich waren die zu überprüfenden Bereiche in der Apostolischen Konstitution Sacri Canones bereits vorgesehen. Es gilt zu überlegen, in welchem Maße der Codex für alle eigenberechtigten katholischen Ostkirchen wirklich Gesetzeskraft besitzt und wie er im täglichen Leben der Ostkirchen umgesetzt wurde und auch, in welchem Maße die gesetzgebende Gewalt einer jeden eigenberechtigten Kirche für die Promulgation des eigenen Partikularrechts gesorgt hat, unter Berücksichtigung der Überlieferungen des eigenen Ritus und der Weisungen des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Die Themen eurer Tagung, die in drei Einheiten unterteilt sind - Geschichte, Partikulargesetzgebungen, ökumenische Perspektiven - geben einen sehr wichtigen Weg vor, auf dem diese Überprüfung vonstatten gehen muß. Sie muß von dem Bewußtsein ausgehen, daß der neue Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium für die Gläubigen der katholischen Ostkirchen teilweise eine neue disziplinäre Situation geschaffen hat und zum wertvollen Mittel geworden ist, um den eigenen Ritus, verstanden als »das liturgische, theologische, geistliche und disziplinäre Erbe, das sich durch die Kultur und durch die geschichtlichen Ereignisse der Völker unterscheidet und sich durch die eigene Art des Glaubenslebens einer jeden eigenberechtigten Kirche ausdrückt « (Can. 28, §1), zu bewahren und zu fördern.

In diesem Zusammenhang spornen die »sacri canones« der Alten Kirche, die den geltenden östlichen Codex inspirieren, alle Ostkirchen an, die eigene Identität zu wahren, die gleichzeitig östlich und katholisch ist. Durch die Aufrechterhaltung der katholischen Gemeinschaft wollten die katholischen Ostkirchen durchaus nicht die Treue zu ihrer Überlieferung verleugnen. Schon mehrmals wurde betont, daß die bereits verwirklichte volle Einheit der katholischen Ostkirchen mit der Kirche von Rom für jene keine Minderung des Bewußtseins der eigenen Authentizität und Eigenart mit sich bringen darf.

Aufgabe aller katholischen Ostkirchen ist es daher, das gemeinsame disziplinäre Erbe zu wahren und die eigenen Überlieferungen, die einen Reichtum für die ganze Kirche darstellen, am Leben zu erhalten. Die »sacri canones« der ersten Jahrhunderte der Kirche stellen weitgehend ebenso das grundlegende Erbe der kanonischen Disziplin dar, das auch die orthodoxen Kirchen regelt. Die katholischen Ostkirchen können daher einen besonderen und wichtigen Beitrag zum ökumenischen Weg anbieten. Ich freue mich, daß ihr im Verlauf eures Symposions diesen besonderen Aspekt berücksichtigt habt, und ermutige euch, ihn zum Gegenstand weiterer Untersuchungen zu machen, um teilzuhaben an der gemeinsamen Verpflichtung zur Treue gegenüber dem Gebet des Herrn: »Alle sollen eins sein… damit die Welt glaubt…« (
Jn 17,21). Liebe Freunde, bei den gegenwärtigen Bemühungen der Kirche um eine Neuevangelisierung wird das Kirchenrecht als besondere und unverzichtbare Ordnung des kirchlichen Gefüges nachhaltig zum Leben und zur Sendung der Kirche in der Welt beitragen, wenn alle Teile des Gottesvolkes es weise zu interpretieren und treu anzuwenden wissen. Ebenso wie der Ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. ermahne ich daher alle geliebten Kinder der Ostkirche, »den gegebenen Weisungen mit aufrichtigem Herzen und demütigem Willen zu folgen und nicht im geringsten daran zu zweifeln, daß die Ostkirchen mit einer erneuerten Disziplin auf bestmögliche Weise für das Wohl der Seelen der christlichen Gläubigen sorgen werden, daß sie stets gedeihen und die ihnen anvertraute Aufgabe erfüllen werden unter dem Schutz der glorreichen und gebenedeiten allzeit jungfräulichen Gottesmutter Maria, die in voller Wahrheit ›Theotókos‹ genannt wird und als erhabene Mutter der Universalkirche erstrahlt« (Apostolische Konstitution Sacri Canones).

Ich begleite diesen Wunsch mit dem Apostolischen Segen, den ich euch erteile sowie allen, die ihren Beitrag leisten in den verschiedenen Bereichen, die mit dem Ostkirchenrecht verbunden sind.





SONDERVERSAMMLUNG DER BISCHOFSSYNODE

FÜR DEN NAHEN OSTEN

MEDITATION VON PAPST BENEDIKT XVI.

ZU BEGINN DER ERSTEN GENERALKONGREGATION


Synodenhalle

Montag, 11. Oktober 2010



Liebe Brüder und Schwestern!

Am 11. Oktober 1962, vor 48 Jahren, eröffnete Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil. Damals wurde das Fest der Gottesmutter Maria am 11. Oktober gefeiert, und mit dieser Geste, durch dieses Datum, wollte Papst Johannes XXIII. das ganze Konzil den mütterlichen Händen, dem mütterlichen Herz Unserer Lieben Frau anvertrauen. Auch wir beginnen am 11. Oktober, auch wir wollen diese Synode mit allen Problemen, mit allen Herausforderungen, mit allen Hoffnungen dem mütterlichen Herzen Unserer Lieben Frau, der Gottesmutter, anvertrauen.

Pius XI. hatte 1931 dieses Fest eingeführt, 1500 Jahre nach dem Konzil von Ephesus, das Maria den Titel »Theotókos«, »Dei Genitrix« zuerkannt hatte. In diesem großen Wort »Dei Genitrix«, »Theotókos« hatte das Konzil von Ephesus die ganze Lehre von Christus, von Maria, die ganze Lehre von der Erlösung zusammengefaßt. Und so lohnt es sich, für einen Augenblick ein wenig darüber nachzudenken, wovon das Konzil von Ephesus spricht, wovon dieser Tag spricht. »Theotókos« ist in Wirklichkeit ein gewagter Titel. Eine Frau ist Mutter Gottes. Man könnte sagen: Wie ist das möglich? Gott ist ewig, er ist der Schöpfer. Wir sind Geschöpfe, wir sind in der Zeit: Wie kann eine menschliche Person Mutter Gottes, des Ewigen sein, wo wir doch alle in der Zeit sind, alle Geschöpfe sind? Verständlicherweise gab es daher teilweise einen starken Widerstand gegen dieses Wort. Die Nestorianer sagten: Man kann wohl von »Christotókos« sprechen, aber nicht von »Theotókos«. »Theós«, Gott, steht darüber, über den Ereignissen der Geschichte. Aber das Konzil hat es entschieden und hat auf diese Weise das Abenteuer Gottes hervorgehoben, die Größe dessen, was er für uns getan hat.

Gott ist nicht in sich geblieben: Er ist aus sich herausgetreten, er ist so sehr, so radikal eins geworden mit diesem Menschen, Jesus, daß dieser Mensch Jesus Gott ist, und wenn wir von ihm sprechen, können wir immer auch von Gott sprechen. Es ist nicht nur ein Mensch geboren, der mit Gott zu tun hatte, sondern in ihm ist Gott auf der Erde geboren. Gott ist aus sich herausgetreten. Aber andererseits können wir auch sagen: Gott hat uns in sich hineingezogen, so daß wir nicht mehr außerhalb von Gott, sondern tief in seinem Innersten sind.

129 Die aristotelische Philosophie sagt bekanntlich, daß zwischen Gott und dem Menschen nur eine nicht reziproke Beziehung bestehe. Der Mensch sei auf Gott bezogen, aber Gott, der Ewige, existiere in sich und ändere sich nicht: Er könne nicht heute diese und morgen eine andere Beziehung haben. Er ruhe in sich, habe keine Beziehung »ad extra«. Diese Aussage ist sehr logisch, sie läßt uns aber verzweifeln: denn dann hat Gott keine Beziehung zu mir. Durch die Menschwerdung, durch das Ereignis der »Theotókos«, hat sich dies radikal geändert, weil Gott uns in sich hineingezogen hat und Gott in sich selbst Beziehung ist und uns an seiner inneren Beziehung teilhaben läßt. So sind wir in seinem Sein als Vater, Sohn und Heiliger Geist, sind wir im Inneren seines Seins, das in Beziehung steht, stehen wir in Beziehung zu ihm, und er hat wirklich eine Beziehung zu uns geschaffen. In jenem Augenblick wollte Gott von einer Frau geboren werden und dennoch er selbst bleiben: Das ist das große Ereignis.

Und so verstehen wir, wie tief die Geste von Papst Johannes XXIII. war, der das Konzil, die Synode, dem zentralen Geheimnis anvertraute: der Gottesmutter, die der Herr in sich hineinzieht und uns alle mit ihr. Das Konzil begann mit dem Bild der »Theotókos«. Am Ende erkennt Papst Paul VI. der Gottesmutter den Titel »Mater Ecclesiae« zu. Und diese beiden Bilder, die das Konzil eröffnen und beschließen, sind eng miteinander verknüpft, sind letztlich ein einziges Bild. Denn Christus ist nicht als Mensch unter vielen geboren. Er ist geboren, um sich einen Leib zu schaffen: Er ist geboren - wie Johannes im 12. Kapitel seines Evangeliums sagt -, um alle an sich zu ziehen. Er ist geboren - wie es in den Briefen an die Kolosser und an die Epheser heißt -, um alles zu vereinen, was im Himmel und auf Erden ist, er ist der Erstgeborene von vielen Brüdern, er ist geboren, um das Universum in sich zu vereinen, so daß er das Haupt eines großen Leibes ist. Wo Christus geboren wird, beginnt die Bewegung, durch die alles vereint wird, beginnt der Augenblick der Berufung, des Aufbaus seines Leibes, der heiligen Kirche.

Die Mutter des »Theós«, die Mutter Gottes, ist Mutter der Kirche, weil sie die Mutter dessen ist, der gekommen ist, um uns alle in seinem auferstandenen Leib zu vereinen. Der hl. Lukas vermittelt uns dies im Parallelismus zwischen dem ersten Kapitel seines Evangeliums und dem ersten Kapitel der Apostelgeschichte, wo auf zwei Ebenen dasselbe Geheimnis zum Ausdruck gebracht wird. Im ersten Kapitel des Evangeliums kommt der Heilige Geist über Maria, und so gebiert sie und schenkt uns den Sohn Gottes. Im ersten Kapitel der Apostelgeschichte steht Maria im Mittelpunkt der Jünger Jesu, die einmütig beten und um die Wolke des Heiligen Geistes bitten. Und so wird aus der gläubigen Kirche, mit Maria im Mittelpunkt, die Kirche, der Leib Christi geboren. Diese zweifache Geburt ist die eine Geburt des »Christus totus«, des Christus, der die Welt und uns alle umfaßt. Geburt in Betlehem, Geburt im Abendmahlssaal. Geburt des Jesuskindes, Geburt des Leibes Christi, der Kirche. Es sind zwei Ereignisse oder ein einziges Ereignis. Aber zwischen beiden stehen in Wirklichkeit das Kreuz und die Auferstehung. Und nur durch das Kreuz führt der Weg zum ganzen Christus, zu seinem auferstandenen Leib, zur Universalisierung seines Seins in der Einheit der Kirche. Und so - wenn man sich vor Augen hält, daß nur aus dem Weizenkorn, das in die Erde fällt, später die große Ernte entsteht - kommt aus dem am Kreuz durchbohrten Herrn die Universalität seiner Jünger, die in seinem gestorbenen und auferstandenen Leib vereint sind.

Mit dieser Verknüpfung zwischen der »Theotókos « und der »Mater Ecclesiae« vor Augen wenden wir uns dem letzten Buch der Heiligen Schrift zu, der Offenbarung, wo im 12. Kapitel eben diese Synthese aufscheint. Die Frau, mit der Sonne bekleidet, mit einem Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt und dem Mond unter ihren Füßen, gebiert. Und sie gebiert mit einem Schmerzensschrei, sie gebiert unter großem Schmerz. Das marianische Geheimnis ist hier das Geheimnis von Betlehem, das zum kosmischen Geheimnis ausgeweitet ist. Christus wird stets neu geboren in allen Generationen und nimmt so die Menschheit in sich auf, sammelt sie in sich. Und diese kosmische Geburt wird im Schrei am Kreuz, im Schmerz des Leidens Christi verwirklicht. Und zu diesem Schrei am Kreuz gehört das Blut der Märtyrer.

So können wir jetzt einen Blick auf den zweiten Psalm dieser Tageshore werfen, den 82. Psalm, wo man einen Teil dieses Prozesses sieht. Gott steht in der Versammlung der Götter - noch werden sie in Israel als Götter betrachtet. In diesem Psalm sieht man sehr geballt, in einer prophetischen Vision, die Entmachtung der Götter. Die, die Götter zu sein schienen, sind keine Götter und verlieren den göttlichen Charakter, stürzen zu Boden. »Dii estis et moriemini sicut homines« (vgl.
Ps 82,6-7): die Entmachtung, der Sturz der Gottheiten. Dieser Prozeß, der sich auf dem Glaubensweg Israels vollzieht und hier in einer einzigen Vision zusammengefaßt ist, ist ein wahrer Prozeß der Religionsgeschichte: der Sturz der Götter. Und so ist die Verwandlung der Welt, die Erkenntnis des wahren Gottes, die Entmachtung der Kräfte, die die Welt beherrschen, ein schmerzhafter Prozeß.

In der Geschichte Israels sehen wir, daß diese Befreiung von der Vielgötterei, diese Erkenntnis - »nur er allein ist Gott« - unter vielen Schmerzen stattfindet, vom Weg Abrahams, dem Exil, den Makkabäern bis hin zu Christus. Und in der Geschichte geht dieser Prozeß der Entmachtung, von dem die Offenbarung im 12. Kapitel spricht, weiter; sie spricht vom Sturz der Engel, die keine Engel, keine Gottheiten auf Erden sind. Und er findet tatsächlich statt: zur Zeit der frühen Kirche, wo wir sehen, wie durch das Blut der Märtyrer die Gottheiten entmachtet werden, angefangen beim göttlichen Kaiser, bei all diesen Gottheiten. Es ist das Blut der Märtyrer, der Schmerz, der Schrei der Mutter Kirche, die sie stürzt und so die Welt verwandelt.

Dieser Sturz ist nicht nur die Erkenntnis, daß sie nicht Gott sind; es ist der Prozeß der Verwandlung der Welt, der mit Blut bezahlt werden muß, mit dem Leiden der Zeugen Christi. Und wenn wir genau hinschauen, sehen wir, daß dieser Prozeß nie zu Ende ist. Er findet in den verschiedenen Geschichtsepochen auf immer neue Weise statt; auch heute, in diesem Augenblick, in dem Christus, der eingeborene Sohn Gottes, für die Welt geboren werden muß durch den Sturz der Götter, durch den Schmerz, das Martyrium der Zeugen. Denken wir an die großen Mächte der heutigen Geschichte, denken wir an die anonymen Kapitale, die den Menschen versklaven, die nicht mehr eine Sache sind, die dem Menschen gehören, sondern eine anonyme Macht, der die Menschen dienen, von der Menschen gequält und sogar getötet werden. Sie sind eine zerstörerische Macht, die die Welt bedroht. Und dann die Macht der terroristischen Ideologien. Scheinbar im Namen Gottes werden Gewalttaten verübt, aber es ist nicht Gott: Es sind falsche Götter, die entlarvt werden müssen, die nicht Gott sind. Und dann die Drogen, diese Macht, die wie ein gefräßiges Ungeheuer seine Klauen in alle Teile der Welt ausstreckt und zerstört: Sie sind eine Gottheit, aber eine falsche Gottheit, die gestürzt werden muß. Oder auch die Lebensweise, die von der öffentlichen Meinung verbreitet wird: Heute macht man es so, die Ehe zählt nicht mehr, die Enthaltsamkeit ist keine Tugend mehr und so weiter.

Diese Ideologien, die vorherrschen und sich so mit Macht aufdrängen, sind Gottheiten. Und im Schmerz der Heiligen, im Schmerz der Gläubigen, der Mutter Kirche, zu der wir gehören, müssen diese Gottheiten gestürzt werden, muß das umgesetzt werden, was in den Briefen an die Kolosser und an die Epheser steht: die Herrschaften, die Mächte werden gestürzt und dem einzigen Herrn Jesus Christus unterworfen. Von diesem Kampf, in dem wir uns befinden, von dieser Entmachtung der Gottheit, von diesem Sturz der falschen Götter, die gestürzt werden, weil sie keine Gottheiten sind, sondern Mächte, die die Welt zerstören, spricht die Offenbarung im 12. Kapitel - durch ein geheimnisvolles Bild, für das es, wie ich meine, jedoch verschiedene schöne Auslegungen gibt. Es wird gesagt, daß der Drache einen großen Strom von Wasser hinter der fliehenden Frau herspeit, damit sie von den Fluten fortgerissen werde. Und es scheint unvermeidlich, daß die Frau in diesem Strom ertrinkt. Aber die gute Erde verschlingt diesen Strom, so daß er keinen Schaden zufügen kann. Ich glaube, daß der Strom leicht zu interpretieren ist: Es sind die Strömungen, die alle beherrschen und die den Glauben der Kirche verschwinden lassen wollen, für die es keinen Platz mehr zu geben scheint angesichts der Kraft dieser Strömungen, die sich als das einzig Vernünftige aufdrängen, als einzige Lebensweise.

Und die Erde, die diese Strömungen verschlingt, ist der Glaube der einfachen Menschen, der sich nicht von diesen Strömen fortreißen läßt und die Mutter rettet und den Sohn rettet. Daher heißt es im Psalm - dem ersten Psalm der Tageshore -, daß den Unerfahrenen Einsicht geschenkt wird (vgl. Ps 119,130). Diese wahre Einsicht des einfachen Glaubens, der sich nicht von den Fluten verschlingen läßt, ist die Kraft der Kirche. Und damit sind wir wieder beim marianischen Geheimnis. Und noch ein letztes Wort findet sich im 82. Psalm: »Movebuntur omnia fundamenta terrae «, alle Grundfesten der Erde wanken (Ps 82,5).

Durch die Klimaprobleme sehen wir heute, daß die Grundfesten der Erde bedroht sind, aber sie sind durch unser Verhalten bedroht. Die äußeren Grundfesten wanken, weil die inneren Grundfesten wanken, die sittlichen und religiösen Grundfesten, der Glaube, aus dem die rechte Lebensweise folgt. Und wir wissen, daß der Glaube die Grundfeste ist, und letztendlich können die Grundfesten der Erde nicht wanken, wenn der Glaube, die wahre Einsicht, fest bleibt. Und dann heißt es im Psalm: »Erheb dich, Gott, und richte die Erde!« (Ps 82,8). So sagen auch wir zum Herrn: »Erheb dich in diesem Augenblick, nimm die Erde in deine Hände, schütze deine Kirche, schütze die Menschheit, schütze die Erde«. Und wir wollen uns erneut der Gottesmutter Maria anvertrauen und beten: »Du, die große Glaubende, die die Erde dem Himmel geöffnet hat, hilf uns, öffne auch heute die Tore, damit die Wahrheit siegt, der Wille Gottes, der das wahre Gut ist, das wahre Heil der Welt«. Amen.





KONZERT ZU EHREN VON PAPST BENEDIKT XVI.,

DARGEBOTEN VON MAESTRO ENOCH ZU GUTTENBERG

Aula Paolo VI

130

Samstag, 16. Oktober 2010

Meine Herren Kardinäle,

verehrte Mitbrüder,
sehr geehrte Damen und Herren!

Nach einem so intensiven Hörerlebnis möchte der Geist in Sammlung verweilen, aber zugleich spürt er die Notwendigkeit, seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.

Sehr herzlich danke ich Maestro Enoch zu Guttenberg für seine bewegenden Worte und für die Darbietung dieses Konzertes, das er mir gemeinsam mit dem wunderbaren Orchester »Die KlangVerwaltung«, mit der Chorgemeinschaft Neubeuern und mit der Familie der Freiherren von und zu Guttenberg zum Geschenk gemacht hat. Ihnen, dem Dirigenten dieser Aufführung, wie auch den Solisten und jedem einzelnen Mitglied des Orchesters und des Chors gilt meine Anerkennung. Vielen herzlichen Dank!

Ich freue mich, die Herren Kardinäle, die Bischöfe, besonders die Synodenväter, die verehrten Obrigkeiten und Sie alle - darunter auch die von der Caritas der Diözese Rom betreuten Armen - zu begrüßen, die Sie diese hervorragende Aufführung der Messa da Requiem von Giuseppe Verdi genießen konnten. Er hat sie 1873 komponiert aus Anlaß des Todes von Alessandro Manzoni, den er bewunderte, ja geradezu verehrte. In einem Brief stellt er die Frage: »Was soll ich Ihnen zu Manzoni sagen? Wie Ihnen die schöne, unbeschreibliche, neue Empfindung erklären, die die Gegenwart dieses Heiligen, wie Sie ihn zu nennen pflegen, in mir ausgelöst hat?«. Nach der Absicht des großen Komponisten sollte dieses Werk der Höhe- und Schlußpunkt seines musikalischen Schaffens sein; es war nicht nur eine Hommage an den großen Schriftsteller, sondern auch die Antwort auf ein künstlerisches, inneres und spirituelles Bedürfnis, die die Auseinandersetzung mit der menschlichen und christlichen Persönlichkeit Manzonis in ihm hervorgerufen hatte.

Giuseppe Verdi hat sein Leben lang das Herz des Menschen erforscht; in seinen Werken hat er das Drama der menschlichen Situation ins Licht gerückt: anhand der Musik, der dargestellten Geschichten, der verschiedenen Personen. Sein Theater ist bevölkert von Unglücklichen, Verfolgten, Opfern. An vielen Stellen der Messa da Requiem erklingt diese tragische Sicht der menschlichen Schicksale: hier rühren wir an die unabwendbare Realität des Todes und die grundlegende Frage der transzendenten Welt, und Verdi stellt ohne szenische Elemente, nur mit den Worten der katholischen Liturgie und der Musik die ganze Bandbreite der menschlichen Empfindungen angesichts des Lebensendes dar: die Angst des Menschen im Konfrontiert-Sein mit der eigenen zerbrechlichen Natur, das Gefühl der Rebellion gegen den Tod, die Erschütterung an der Schwelle zur Ewigkeit. Diese Musik ist eine Einladung, über die letzten Wahrheiten nachzudenken, mit all den Seelenzuständen des menschlichen Herzens, in denen in einer Reihe von Form-, Ton- und Farbkontrasten dramatische und melodische, das heißt von Hoffnung gekennzeichnete Momente miteinander abwechseln.

Giuseppe Verdi, der sich in einem berühmten Brief an den Verleger Ricordi als »ein bißchen atheistisch« bezeichnete, schrieb diese Messa, die uns wie eine Anrufung des Ewigen Vaters erscheint, in dem Versuch, den Verzweiflungsschrei angesichts des Todes zu überwinden, um den Lebensatem wiederzufinden, der stilles und inständiges Gebet wird: »Libera me, Domine.« Verdis Requiem wird in der Tat eröffnet von einer Melodie in a-Moll, die sich beinahe in der Stille zu verlieren scheint - einige Cellotöne, ganz leise, mit Dämpfer gespielt - und mit der leisen Anrufung an den Herrn abschließt: »Libera me.« Diese Kathedrale aus Musik offenbart sich als Beschreibung des geistlichen Dramas des Menschen im Angesicht des allmächtigen Gottes, des Menschen, der der ewigen Frage über seine eigene Existenz nicht ausweichen kann.

Im Anschluß an die Messa da Requiem erlebt Verdi so etwas wie einen zweiten »kompositorischen Lebensabschnitt«, der ebenfalls mit religiöser Musik abschließt, den »Quattro Pezzi Sacri«, vier geistlichen Werken: ein Zeichen seiner spirituellen Unruhe, ein Zeichen dafür, daß die Sehnsucht nach Gott in das Herz des Menschen eingeschrieben ist, weil unsere Hoffnung auf dem Herrn ruht. »Qui Mariam absolvisti, et latronem exaudisti, mihi quoque spem dedisti«, haben wir eben gehört: »Der du Maria (Magdalena) vergeben hast und den Schächer erhörtest, hast auch mir Hoffnung geschenkt.« Das große musikalische Fresko dieses Abends erneuert auch in uns die Überzeugung von den Worten des hl. Augustinus: »Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te - Ruhelos ist unser Herz, bis es ruhet in dir« (Bekenntnisse, I,1).


ANSPRACHE 2010 126