BOTSCHAFT 2006-2010 58

BENEDICTUS PP. XVI PÄPSTLICHE BOTSCHAFT VON BENEDIKT XVI. ZUM 96. WELTTAG DES MIGRANTEN UND FLÜCHTLINGS (2010)



"Die minderjährigen Migranten und Flüchtlinge"




Liebe Brüder und Schwestern!

Die Feier des Welttages der Migranten und Flüchtlinge bietet mir erneut die Gelegenheit, die ständige Fürsorge der Kirche gegenüber all denen zum Ausdruck zu bringen, die auf verschiedene Weise mit der Erfahrung der Migration konfrontiert sind. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, das uns – wie ich in der Enzyklika Caritas in veritate geschrieben habe – erschüttert aufgrund der Menge der betroffenen Personen, aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Probleme, die es aufwirft, und aufgrund der dramatischen Herausforderungen, vor die es die Nationen und die internationale Gemeinschaft stellt. Jeder Migrant ist eine menschliche Person, die als solche unveräußerliche Grundrechte besitzt, die von allen und in jeder Situation respektiert werden müssen (vgl. Nr. 62). Das diesjährige Thema: „Die minderjährigen Migranten und Flüchtlinge“ berührt einen Aspekt, dem die Christen besondere Aufmerksamkeit widmen, eingedenk der mahnenden Worte Christi, der beim Jüngsten Gericht all das, was wir „für einen seiner geringsten Brüder“ getan oder aber nicht getan haben, so beurteilen wird, als hätten wir es für ihn selbst getan (vgl. Mt 25,40 Mt 25,45). Und wie könnten wir denn in den minderjährigen Migranten und Flüchtlingen nicht unsere „geringsten Brüder“ erkennen? Jesus hat als Kind persönlich die Erfahrung der Migration durchlebt, als er, wie es im Bericht des Evangeliums heißt, zusammen mit Josef und Maria nach Ägypten fliehen mußte, um den Drohungen des Herodes zu entkommen (vgl. Mt 2,14).

Obwohl die Kinderrechtskonvention in aller Deutlichkeit hervorhebt, daß das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist (vgl. Art. 3) und dem Kind in gleicher Weise wie einem Erwachsenen alle grundlegenden Rechte der Person zuerkannt werden müssen, ist dies in der Realität bedauerlicherweise nicht immer der Fall. Während nämlich in der öffentlichen Meinung das Bewußtsein dafür wächst, daß ein umfassendes und wirkungsvolles Handeln zum Schutz der Minderjährigen notwendig ist, sind in Wirklichkeit viele von ihnen sich selbst überlassen und laufen Gefahr, ausgebeutet zu werden. Diese dramatische Situation, in der sie sich befinden, hat mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. in der Botschaft angesprochen, die er am 22. September 1990 aus Anlaß des Weltgipfels der Kinder an den Generalsekretär der Vereinten Nationen richtete. „Ich bin Zeuge“, so schrieb er, „für die herzzerreißenden Schreie von Millionen von Kindern auf jedem Kontinent. Sie sind am verwundbarsten, weil sie am wenigsten in der Lage sind, ihre Stimme zu Gehör zu bringen“ (O.R. dt., Nr. 46, 16.11.1990, S. 15). Es ist mein aufrichtiger Wunsch, daß den minderjährigen Migranten die nötige Aufmerksamkeit entgegengebracht werde, denn sie brauchen ein soziales Umfeld, das ihre physische, kulturelle, geistliche und moralische Entwicklung ermöglicht und fördert. In einem fremden Land ohne feste Bezugspunkte aufzuwachsen bereitet vor allem denjenigen unter ihnen, die ohne die Unterstützung der Familie aufwachsen müssen, zahlreiche und mitunter massive Entbehrungen und Schwierigkeiten.

Ein typischer Aspekt der Migration von Minderjährigen ist die Situation der in den jeweiligen Gastländern geborenen Kinder sowie derjenigen, die nicht mit den nach ihrer Geburt emigrierten Eltern zusammenleben, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt mit ihnen zusammenkommen. Diese Heranwachsenden gehören zwei Kulturen an und sind mit all den Vor- und Nachteilen konfrontiert, die mit dieser zweifachen Zugehörigkeit verbunden sind, obgleich ihnen dieser Lebensumstand auch die Gelegenheit geben kann, den Reichtum der Begegnung zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen zu erfahren. Es ist wichtig, daß ihnen der Schulbesuch und die spätere Eingliederung in die Welt der Arbeit ermöglicht werden und sie durch angemessene Strukturen im sozialen Bereich und im Bildungswesen in die Gesellschaft integriert werden. Dabei darf nie vergessen werden, daß das Jugendalter eine grundlegende Etappe auf dem Bildungsweg des Menschen darstellt.

59 Eine besondere Gruppe von Minderjährigen sind die asylsuchenden Flüchtlinge, die aus verschiedenen Gründen ihr Land, in dem sie nicht den nötigen Schutz erfahren, verlassen haben. Die Statistiken zeigen, daß ihre Zahl im Ansteigen begriffen ist. Es handelt sich also um ein Phänomen, das aufmerksam untersucht und mit koordinierten Aktionen angegangen werden muß. Anzuwenden sind dabei die geeigneten Maßnahmen zur Vorbeugung, zum Schutz und zur Aufnahme, die auch in der Kinderrechtskonvention vorgesehen sind (vgl. Art. 22).

In besonderer Weise wende ich mich nun an die Pfarreien und die vielen katholischen Vereinigungen, die, beseelt vom Geist des Glaubens und der Liebe, große Anstrengungen unternehmen, um den Nöten dieser unserer Brüder und Schwestern abzuhelfen. Ich bringe meine Dankbarkeit zum Ausdruck für dieses mit beeindruckender Großherzigkeit geleistete Werk und möchte alle Christen einladen, sich der sozialen und pastoralen Herausforderung bewußt zu werden, vor die uns die Situation der minderjährigen Migranten und Flüchtlinge stellt. In unseren Herzen hallen die Worte Jesu wider: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen“ (
Mt 25,35) sowie das grundlegende Gebot, das er uns hinterlassen hat: Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all unseren Gedanken zu lieben, was in untrennbarer Verbindung zum Gebot der Nächstenliebe steht (vgl. Mt 22,37-39). Diese Worte regen uns an, darüber nachzudenken, daß jede unserer konkreten Taten zuallererst vom Glauben an das Wirken der Gnade und der göttlichen Vorsehung erfüllt sein muß. Auf diese Weise wird auch die Gastfreundschaft und Solidarität gegenüber dem Fremden, vor allem wenn es sich bei ihnen um Kinder handelt, zur Verkündigung des Evangeliums der Solidarität. Die Kirche verkündet es, indem sie ihre Arme öffnet und sich dafür einsetzt, daß die Rechte der Migranten und Flüchtlinge respektiert werden, wobei sie die Verantwortlichen der Nationen, der internationalen Organisationen und Einrichtungen zur Schaffung geeigneter Initiativen zugunsten dieser Menschen aufruft. Die selige Jungfrau Maria wache über all diese Menschen und helfe uns, die Schwierigkeiten der Menschen, die fern von ihrer Heimat leben, zu verstehen. Ich versichere all jene, die zu dieser weiten Welt der Migranten und Flüchtlinge gehören, meines Gebets und erteile ihnen von Herzen meinen Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, 16. Oktober 2009



BENEDIKT XVI.



BOTSCHAFT VON PAPST BENEDIKT XVI.

ZUM WELTTAG DES MIGRANTEN UND FLÜCHTLINGS (2011)

»Eine einzige Menschheitsfamilie«


Liebe Brüder und Schwestern!


Der Welttag des Migranten und Flüchtlings bietet der ganzen Kirche Gelegenheit, über ein Thema nachzudenken, das mit dem wachsenden Phänomen der Migration verbunden ist, zu beten, daß die Herzen sich für die christliche Gastfreundschaft öffnen mögen und dahin zu wirken, daß Gerechtigkeit und Liebe in der Welt zunehmen, als Stützpfeiler zum Aufbau eines wahren und dauerhaften Friedens. »Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben« (Jn 13,34): Diese Aufforderung richtet der Herr stets aufs neue mit Nachdruck an uns. Wenn der Vater uns aufruft, geliebte Kinder in seinem geliebten Sohn zu sein, dann ruft er uns auch auf, uns alle gegenseitig als Brüder in Christus zu erkennen.

Dieser tiefen Verbindung zwischen allen Menschen entspringt das Thema, das ich in diesem Jahr für unsere Reflexion gewählt habe: »Eine einzige Menschheitsfamilie«, eine einzige Familie von Brüdern und Schwestern in Gesellschaften, die immer multiethnischer und interkultureller werden, wo auch die Personen unterschiedlicher Religion zum Dialog geführt werden, um zu einem friedlichen und fruchtbaren Zusammenleben zu gelangen, unter Achtung der legitimen Unterschiede. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt: »Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdkreis wohnen ließ (vgl. Ac 17,26); auch haben sie Gott als ein und dasselbe letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Heilsratschlüsse erstrecken sich auf alle Menschen« (Erklärung Nostra aetate NAE 1). So leben wir »nicht zufällig nebeneinander; als Menschen sind wir alle auf demselben Weg und darum gehen wir ihn als Brüder und Schwestern« (Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2008, 6; in O.R. dt., Nr. 51/52 vom 21.12.2007, S. 14).

Wir sind auf demselben Weg, dem Lebensweg, durchleben aber auf diesem Weg unterschiedliche Situationen. Viele sehen sich mit der schwierigen Erfahrung der Migration konfrontiert, in ihren verschiedenen Formen: innerhalb eines Landes oder im Ausland, ständige oder vorübergehende, wirtschaftliche oder politische, freiwillige oder erzwungene. In manchen Fällen ist das Verlassen des eigenen Landes durch unterschiedliche Formen der Verfolgung bedingt, die die Flucht notwendig machen. Auch das Phänomen der Globalisierung, das für unsere Zeit bezeichnend ist, ist nicht nur ein sozioökonomischer Prozeß, sondern bringt auch eine »zunehmend untereinander verflochtene Menschheit« mit sich und überwindet geographische und kulturelle Grenzen. In diesem Zusammenhang erinnert die Kirche stets daran, daß der tiefere Sinn dieses epochalen Prozesses und sein grundlegendes ethisches Kriterium in der Einheit der Menschheitsfamilie und in ihrem Voranschreiten im Guten gegeben sind (vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate ). Alle gehören also zu einer einzigen Familie, Migranten und die sie aufnehmenden Gastvölker, und alle haben dasselbe Recht, die Güter der Erde zu nutzen, deren Bestimmung allgemein ist, wie die Soziallehre der Kirche lehrt. Solidarität und Teilen haben hier ihre Grundlage.

»In einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung müssen das Gemeinwohl und der Einsatz dafür unweigerlich die Dimensionen der gesamten Menschheitsfamilie, also der Gemeinschaft der Völker und der Nationen, annehmen, so daß sie der Stadt des Menschen die Gestalt der Einheit und des Friedens verleihen und sie gewissermaßen zu einer vorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes machen« (Benedikt XVI. , Caritas in veritate ). Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Wirklichkeit der Migrationen betrachtet werden. Wie bereits der Diener Gottes Paul VI. sagte, ist das »Fehlen der brüderlichen Bande unter den Menschen und unter den Völkern« die tiefere Ursache für die Unterentwicklung (Enzyklika Populorum progressio PP 66) und – so können wir hinzufügen – nimmt starken Einfluß auf das Migrationsphänomen. Die Brüderlichkeit unter den Menschen ist die – manchmal überraschende – Erfahrung einer Beziehung, die vereint, einer tiefen Verbindung mit dem anderen, der anders ist als ich, basierend auf der einfachen Tatsache, Menschen zu sein. Wenn sie verantwortungsvoll angenommen und gelebt wird, nährt sie ein Leben der Gemeinschaft und des Teilens mit allen, insbesondere mit den Migranten; unterstützt sie die Selbsthingabe an die anderen, an ihr Wohl, an das Wohl aller Menschen, in der lokalen, nationalen und weltweiten politischen Gemeinschaft.

Der ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. betonte anläßlich desselben Welttages im Jahre 2001: »[Das universelle Gemeinwohl] umfaßt die gesamte Völkerfamilie, über jeden nationalistischen Egoismus hinweg. In diesem Zusammenhang muß das Recht auf Auswanderung betrachtet werden. Die Kirche gesteht dieses Recht jedem Menschen zu, und zwar in zweifacher Hinsicht, einmal bezüglich der Möglichkeit sein Land zu verlassen und zum anderen hinsichtlich der Möglichkeit, in ein anderes Land einwandern zu können, um bessere Lebensbedingungen zu suchen« (Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2001, 3; in O.R. dt., Nr. 13 vom 30.3.2001, S. 7; vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Mater et magistra MM 30 Paul VI., Enzyklika Octogesima adveniens, 17). Gleichzeitig haben die Staaten das Recht, die Einwanderungsströme zu regeln und die eigenen Grenzen zu schützen, wobei die gebührende Achtung gegenüber der Würde einer jeden menschlichen Person stets gewährleistet sein muß. Die Einwanderer haben darüber hinaus die Pflicht, sich im Gastland zu integrieren, seine Gesetze und nationale Identität zu respektieren. »Es wird sich dann darum handeln, die Aufnahme, die man allen Menschen, besonders wenn es Bedürftige sind, schuldig ist, mit der Einschätzung der Voraussetzungen zu verbinden, die für ein würdevolles und friedliches Leben der ursprünglich ansässigen Bevölkerung und der hinzugekommenen unerläßlich sind« (Johannes Paul II., Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 2001, 13; in O.R. dt., Nr. 51/52 vom 22.12.2000, S. 10).

In diesem Zusammenhang ist die Anwesenheit der Kirche als Volk Gottes, das in der Geschichte inmitten aller anderen Völker unterwegs ist, Quelle des Vertrauens und der Hoffnung. »Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« (Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium LG 1); und dank des Wirkens des Heiligen Geistes ist »der Versuch, eine allumfassende Brüderlichkeit herzustellen, nicht vergeblich« (ebd., Pastorale Konstitution Gaudium et spes GS 38). Besonders die heilige Eucharistie stellt im Herzen der Kirche eine unerschöpfliche Quelle der Gemeinschaft für die gesamte Menschheit dar. Dank ihrer umfaßt das Gottesvolk »alle Nationen und Stämme, Völker und Sprachen« (vgl. Ap 7,9) nicht aus einer Art heiliger Vollmacht heraus, sondern durch den erhabenen Dienst der Liebe. Der Liebesdienst, insbesondere an den Armen und Schwachen, ist in der Tat das Kriterium, auf Grund dessen die Echtheit unserer Eucharistiefeiern überprüft wird (vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Mane nobiscum Domine, 28; in O.R. dt., Nr. 42 vom 15.10.2004, S. 10).

Im Licht des Themas »Eine einzige Menschheitsfamilie« muß insbesondere die Situation der Flüchtlinge und der anderen Zwangsmigranten in Betracht gezogen werden, die einen bedeutenden Teil des Migrationsphänomens ausmachen. Gegenüber diesen Personen, die vor Gewalt und Verfolgung fliehen, hat die internationale Gemeinschaft bestimmte Verpflichtungen übernommen. Die Achtung ihrer Rechte sowie die berechtigte Sorge um Sicherheit und sozialen Zusammenhalt fördern ein stabiles und einträchtiges Zusammenleben.

60 Auch gegenüber den Zwangsmigranten nährt sich die Solidarität aus dem »Vorrat« der Liebe, der daraus entsteht, daß wir uns als eine einzige Menschheitsfamilie und, im Falle der katholischen Gläubigen, als Glieder des mystischen Leibes Christi betrachten: Wir sind nämlich voneinander abhängig und tragen alle Verantwortung für unsere Brüder und Schwestern in der Menschennatur und – was die Gläubigen betrifft – im Glauben. Ich hatte schon einmal Gelegenheit zu sagen: »Die Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Gastfreundschaft zu gewähren ist für alle eine Pflicht menschlicher Solidarität, damit diese sich aufgrund von Intoleranz und Desinteresse nicht isoliert fühlen« (Generalaudienz Am 20 Am 2007 in O.R. dt., Nr. Dt 26 vom Dt 29 Dt 6 Dt 2007, Dt 2). Das bedeutet, daß jenen, die gezwungen sind, ihr Zuhause oder ihr Land zu verlassen, geholfen werden muß, einen Ort zu finden, wo sie in Frieden und Sicherheit leben, wo sie in ihrem Gastland arbeiten und die bestehenden Rechte und Pflichten übernehmen und zum Gemeinwohl beitragen können, ohne dabei die religiöse Dimension des Lebens zu vergessen.

Einige besondere Überlegungen, stets begleitet vom Gebet, möchte ich zum Abschluß den ausländischen und internationalen Studenten widmen, die ebenso eine wachsende Realität innerhalb des großen Migrationsphänomens darstellen. Diese Kategorie ist auch gesellschaftlich von Bedeutung, im Hinblick auf die Rückkehr in ihre Heimatländer als zukünftige Verantwortungsträger. Sie sind kulturelle und wirtschaftliche »Brücken« zwischen diesen Ländern und ihren Gastländern, und all das geht in Richtung auf die Herausbildung »einer einzigen Menschheitsfamilie«. Eben diese Überzeugung muß die Bemühungen zugunsten der ausländischen Studenten stützen und die Aufmerksamkeit gegenüber ihren konkreten Problemen begleiten – wie die wirtschaftliche Eingeschränktheit oder das unangenehme Gefühl, einem völlig anderen sozialen und universitären Umfeld allein gegenüberzustehen, und die Schwierigkeiten bei der Eingliederung. In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung rufen, daß »Zugehörigkeit zu einer Universitätsgemeinschaft bedeutet, am Knotenpunkt der Kulturen zu stehen, die die moderne Welt geprägt haben« (Johannes Paul II., Ansprache an die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika aus den Kirchenprovinzen Chicago, Indianapolis und Milwaukee anläßlich ihres »Ad-limina»-Besuchs, 30. Mai 1998, 6; in O.R. dt., Nr. 30 vom 24.7.1998, S. 9). In Schule und Universität wird die Kultur der neuen Generationen herausgebildet: Von diesen Einrichtungen hängt weitgehend deren Fähigkeit ab, die Menschheit als eine Familie zu betrachten, die berufen ist, in der Vielfalt vereint zu sein.

Liebe Brüder und Schwestern, die Welt der Migranten ist weit und vielschichtig. Es gibt darin wunderbare und vielversprechende Erfahrungen, aber leider auch viele andere, dramatische Erfahrungen, die des Menschen und der Gesellschaften, die sich als zivilisiert bezeichnen, unwürdig sind. Für die Kirche stellt diese Wirklichkeit ein beredtes Zeichen unserer Zeit dar, das die Berufung der Menschheit, eine einzige Familie zu bilden, deutlicher zum Vorschein treten läßt, gleichzeitig aber auch die Schwierigkeiten, die sie spalten und zerreißen statt sie zu vereinen. Wir wollen die Hoffnung nicht verlieren und Gott, den Vater aller Menschen, gemeinsam bitten, daß er uns helfen möge, Männer und Frauen zu sein, die – jeder ganz persönlich – zu brüderlichen Beziehungen fähig sind, und daß auf sozialer, politischer und institutioneller Ebene das Verständnis und die gegenseitige Wertschätzung zwischen Völkern und Kulturen wachsen mögen. Mit diesem Wunsch bitte ich die allerseligste Jungfrau Maria »Stella maris« um ihre Fürsprache und erteile allen von Herzen den Apostolischen Segen, insbesondere den Migranten und den Flüchtlingen sowie allen, die in diesem wichtigen Bereich tätig sind.

Aus Castel Gandolfo, am 27. September 2010





BENEDICTUS PP. XVI




BOTSCHAFT VON PAPST BENEDIKT XVI. FÜR DIE FASTENZEIT 2006


„Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen“ (Mt 9,36)

Liebe Brüder und Schwestern!


Die Österliche Bußzeit ist besonders geeignet, sich innerlich zu dem aufzumachen, der die Quelle des Erbarmens ist. Es ist ein Pilgern, bei dem Er selbst uns durch die Wüste unserer Armut begleitet, und uns Kraft gibt auf dem Weg zur tiefen Osterfreude. Gott behütet und stärkt uns auch in der „finsteren Schlucht“, von welcher der Psalmist (Ps 23,4) spricht, während der Versucher uns einflüstert, zu verzagen oder irrig auf das Werk unserer Hände zu hoffen. Ja, auch heute hört der Herr den Schrei der vielen, die nach Freude, nach Frieden, nach Liebe hungern. Sie fühlen sich verlassen wie eh und je. Aber Gott erlaubt nicht, dass die Finsternis des Schreckens grenzenlos herrsche inmitten des jammervollen Elends, der Verlassenheit, der Gewalt und des Hungers, von denen unterschiedslos alte Menschen, Erwachsene und Kinder betroffen sind. Wie mein geliebter Vorgänger Johannes Paul II. geschrieben hat, gibt es in der Tat eine „von Gott gesetzte Grenze für das Böse“, nämlich seine Barmherzigkeit (in Identität und Erinnerung, 28 ff; 74 ff). All das hat mich veranlasst, das Wort des Evangeliums „Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen“ (Mt 9,36) an den Anfang dieser Botschaft zu stellen. In seinem Lichte möchte ich bei einer viel diskutierten Frage unserer Zeit innehalten, bei der Frage der Entwicklung.

Auch heute ist Jesus bewegt und schaut auf die Menschen und Völker. Er schaut sie an im Bewusstsein, dass der göttliche „Plan“ sie zum Heile ruft. Jesus kennt die Hindernisse, die diesem Plan entgegenstehen, und hat mit den vielen Mitleid: Er ist entschlossen, sie vor den Wölfen zu verteidigen selbst um den Preis seines Lebens. Mit solchem „Blick“ umfasst Jesus die Einzelnen wie die vielen und vertraut alle dem Vater an, indem er sich selbst als Sühneopfer hingibt.

Von dieser österlichen Wahrheit erleuchtet, weiß die Kirche, dass für die Förderung einer vollen Entwicklung unser „Blick“ an dem Jesu Maß nehmen muss. Die Antwort auf die materiellen und sozialen Bedürfnisse der Menschen kann nämlich keineswegs von der Erfüllung der tiefen Sehnsucht ihrer Herzen getrennt werden. Dies ist in unserer Zeit großer Veränderungen umso mehr herauszustellen, je stärker wir unsere lebendige und unerlässliche Verantwortung für die Armen der Welt spüren. Bereits mein verehrter Vorgänger Paul VI. bezeichnete die Unterentwicklung mit ihren schlimmen Folgen als einen Entzug von Menschlichkeit. In diesem Sinne beklagte er in der Enzyklika Populorum Progressio „die materiellen Nöte derer, denen das Existenzminimum fehlt; … die sittliche Not derer, die vom Egoismus zerfressen sind. … die Züge der Gewalt, die im Missbrauch des Besitzes oder der Macht ihren Grund haben, in der Ausbeutung der Arbeiter, in ungerechtem Geschäftsgebaren“ (Nr. 21). Als Gegenmittel dieser Übel empfahl Paul VI. nicht nur „das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen, das Ausrichten auf den Geist der Armut, die Zusammenarbeit zum Wohle aller, der Wille zum Frieden“, sondern auch „die Anerkennung letzter Werte vonseiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles“ (ebd.). In diesem Sinne zögerte der Papst nicht zu versichern, dass „endlich vor allem der Glaube“ zählt. „Gottes Gabe, angenommen durch des Menschen guten Willen, und die Einheit in der Liebe Christi“ (ebd.). Der „Blick“ Jesu gebietet uns also die echten Gehalte jenes „Humanismus im Vollsinn des Wortes“ hervorzuheben, der – wieder nach den Worten Pauls VI. – in der „umfassende Entwicklung des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit“ besteht (ebd. Nr. 42). Darum ist der erste Beitrag der Kirche zur Entwicklung des Menschen und der Völker nicht die Bereitstellung materieller Mittel oder technischer Lösungen, sondern die Verkündigung der Wahrheit Christi, welche die Gewissen erzieht und die authentische Würde der menschlichen Person wie der Arbeit lehrt, und zudem eine Kultur fördert, die auf alle echten Fragen der Menschen antwortet.

Angesichts der schrecklichen Herausforderungen der Armut vieler Menschen stehen die Gleichgültigkeit und die Verschlossenheit im eigenen Egoismus in unerträglichem Gegensatz zum „Blick“ Christi. Fasten und Almosen, welche die Kirche zusammen mit dem Gebet in besonderer Weise in der Fastenzeit empfiehlt, sind eine günstige Gelegenheit, eins zu werden mit dem „Blick“ Christi. Die Beispiele der Heiligen und die vielen Erfahrungen der Mission, welche die Geschichte der Kirche kennzeichnen, sind kostbare Verweise darauf, wie Entwicklung zu fördern ist. Auch in der heutigen Zeit globaler gegenseitiger Abhängigkeit kann man feststellen, dass die Hingabe seiner selbst an den anderen, in der sich die Liebe ausdrückt, durch kein ökonomisches, soziales oder politisches Projekt ersetzt werden kann. Wer nach dieser Logik des Evangeliums tätig ist, lebt den Glauben als Freundschaft mit dem menschgewordenen Gott und nimmt sich – wie ER – der materiellen und geistlichen Nöte des Nächsten an. Er erschaut ihn als unmessbares Geheimnis, das unbegrenzter Sorge und Aufmerksamkeit würdig ist. Er weiß, wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig – wie die selige Theresa von Kalkutta sagte: „Die erste Armut der Völker ist es, dass sie Christus nicht kennen“. Darum gilt es, Gott im barmherzigen Antlitz Christi zu finden; ohne diese Perspektive baut eine Völkergemeinschaft nicht auf festen Grund.

Durch dem Hl. Geiste gehorsame Männer und Frauen sind in der Kirche viele Werke der Nächstenliebe entstanden. Sie haben die Entwicklung von Krankenhäusern, Universitäten, berufsbildenden Schulen oder Mikrounternehmen gefördert. Sie stifteten diese Werke, weil sie von der Botschaft des Evangeliums bewegt waren: Viel früher als andere Formen der Gesellschaft haben sie die echte Sorge um den Menschen unter Beweis gestellt. Diese Initiativen geben noch heute einen Weg an, der die Welt zu einer Globalisierung führen kann, die um das wahre Wohl des Menschen kreist und so zu authentischem Frieden führt. Zusammen mit Jesu Mitleid für die vielen sieht die Kirche es auch heute als ihre ureigene Aufgabe an, die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Finanzen zu bitten, eine Entwicklung zu fördern, die die Würde jedes Menschen beachtet. Eine wichtige Bewährung dieser Anstrengung zeigt sich in wirklicher Religionsfreiheit – nicht nur als Möglichkeit für die Verkündigung und Feier des Christusgeheimnisses, sondern auch als Freiraum an einer von der Nächstenliebe bestimmten Welt mitzubauen. Solchem Bemühen dient es auch, wenn die zentrale Rolle beachtet wird, die die echten religiösen Werte im Leben des Menschen haben, sobald es um die Antwort auf seine tiefsten Fragen geht und um die ethische Verantwortung auf persönlicher und sozialer Ebene. Anhand dieser Kriterien lernen die Christen auch, mit Weisheit Regierungsprogramme zu beurteilen.

61 Wir können unsere Augen nicht verschließen vor den Irrtümern, die im Laufe der Geschichte von vielen begangen worden sind, die sich Jünger Jesu nannten. Von schweren Problemen bedrängt haben sie nicht selten gedacht, man müsse zuerst die Erde verbessern und dann an den Himmel denken. Es gab die Versuchung, angesichts drückender Zwänge zu meinen, man müsse zuerst die äußeren Strukturen verändern. Für manche wandelte sich so das Christentum in Moralismus, und der Glauben wurde durch das Tun ersetzt. Zurecht bemerkte mein Vorgänger ehrwürdigen Gedenkens, Johannes Paul II.: „Die Versuchung heute besteht darin, das Christentum auf eine rein menschliche Weisheit zu reduzieren, gleichsam als Lehre des guten Lebens. In einer stark säkularisierten Welt ist ‚nach und nach eine Säkularisierung des Heiles‘ eingetreten, für die man gewiss zugunsten des Menschen kämpft, aber eines Menschen, der halbiert und allein auf die horizontale Dimension beschränkt ist. Wir unsererseits wissen, dass Jesus gekommen ist, um das umfassende Heil zu bringen“ ( Enzyklika Redemptoris missio RMi 11).

Gerade zu diesem ganzheitlichen Heil möchte uns die Fastenzeit führen angesichts des Sieges Christi über alles Böse, das den Menschen unterdrückt. In der Hinwendung zum göttlichen Lehrer, in der Bekehrung zu Ihm, in der Erfahrung seiner Barmherzigkeit durch das Sakrament der Versöhnung werden wir eines „Blickes“ inne, der uns in der Tiefe anschaut und prüft; er kann der großen Zahl und jedem einzelnen von uns wieder aufhelfen. Er lässt allen, die sich nicht in Skepsis verschließen, neu Vertrauen und einen Schimmer der ewigen Seligkeit aufleuchten. Selbst wenn der Hass zu herrschen scheint, so lässt es der Herr doch bereits in unserem Äon nicht an hellen Zeugnissen seiner Liebe fehlen. Maria, „der lebendigen Quelle der Hoffnung“ (Dante Alighieri, Paradiso, XXXIII, 12), vertraue ich unseren Weg durch die Fastenzeit an, auf dass sie uns zu ihrem Sohn führe. Ihr vertraue ich besonders die vielen an, die noch heute Armut erleiden und nach Hilfe, Halt und Verständnis rufen. Somit erteile ich allen den besonderen Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, am 29. September 2005



BENEDICTUS PP. XVI



BOTSCHAFT VON PAPST

BENEDIKT XVI.

FÜR DIE FASTENZEIT 2007


„Sie werden auf den schauen,

den sie durchbohrt haben“ (Jn 19,37)

Liebe Brüder und Schwestern!


»Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben« (Jn 19,37). Dieses Wort aus der Heiligen Schrift leitet unsere diesjährige Betrachtung zur Fastenzeit. Die österliche Bußzeit ist besonders geeignet, zusammen mit Maria und Johannes, dem Liebesjünger, bei dem zu verweilen, der am Kreuze für die ganze Menschheit sein Leben geopfert hat (vgl. Jn 19,25). In dieser Zeit der Buße und des Gebetes wenden wir darum unseren Blick mit lebendiger Anteilnahme zum gekreuzigten Christus, der durch seinen Tod auf Golgota uns die Fülle der Liebe Gottes offenbart hat. In der Enzyklika Deus caritas est – »Gott ist die Liebe« habe ich mich dem Thema der Liebe gewidmet und die beiden Grundformen: Agape und Eros in den Blick gerückt.

Die Liebe Gottes: Agape und Eros

Mit dem Ausdruck Agape, der häufig im Neuen Testament vorkommt, wird die hingebende Liebe dessen bezeichnet, der ausschließlich das Wohl des anderen sucht; das Wort Eros hingegen meint die Liebe dessen, den ein Mangel bedrückt und der nach der Vereinigung mit dem Ersehnten verlangt. Die Liebe, mit der Gott uns umgibt, entspricht der Agape.Kann der Mensch etwa Gott etwas geben, was Er nicht schon besäße? Was das menschliche Geschöpf ist und hat, ist Gottes Gabe: folglich ist es das menschliche Geschöpf, das in allem Gott braucht. Doch Gott liebt auch mit der Kraft des Eros. Im Alten Testament erweist der Schöpfer des Universums dem von Ihm erwählten Volk eine erwählende Liebe, die jeden menschlichen Beweggrund übersteigt. Der Prophet Hosea bringt diese göttliche Passion in wagemutigen Bildern zum Ausdruck, wie etwa dem von der Liebe eines Mannes zu einer ehebrecherischen Frau (vgl. 3,1–3); wenn Ezechiel von der Beziehung Gottes zum Volk Israel spricht, scheut er sich nicht, eine glühende und leidenschaftliche Sprache zu wählen (vgl. 16,1–22). Solche biblische Texte zeigen, daß der Eros zum Herzen Gottes selbst gehört: der Allmächtige erwartet das »Ja« seiner Geschöpfe wie ein junger Bräutigam das seiner Braut.

Durch die Falschheit des Bösen hat sich die Menschheit leider von Anfang an der Liebe Gottes verschlossen in der Illusion einer unmöglichen Selbstgenügsamkeit (vgl. ). In sich verkrümmt hat sich Adam von Gott, der Quelle des Lebens, entfernt und ist der Erste all derer geworden, »die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren« (He 2,15). Gott aber blieb unbesiegbar. Das »Nein« des Menschen war statt dessen der entscheidende Anstoß für die Offenbarung Seiner Liebe in all ihrer erlösenden Kraft.

Das Kreuz offenbart die Fülle der Liebe Gottes

62 Im Geheimnis des Kreuzes offenbart sich in aller Fülle die uneingeschränkte Macht, mit der sich der himmlische Vater erbarmt. Um die Liebe seines Geschöpfes wiederzugewinnen, hat Er einen sehr hohen Preis aufgebracht: das Blut seines eingeborenen Sohnes. Der Tod, für den ersten Adam Zeichen der äußersten Einsamkeit und Ohnmacht, wurde gewandelt in den höchsten Akt der Liebe und der Freiheit des neuen Adam. So kann man gut mit Maximus dem Bekenner sagen, daß Christus »sozusagen göttlich gestorben ist, weil er freiwillig gestorben ist« (Ambigua, 91,1056). Im Kreuz enthüllt sich Gottes Eros zu uns. Eros ist in der Tat nach einem Ausdruck des Pseudo-Dionysius jene Kraft, »die es dem Liebenden nicht erlaubt, in sich selbst zu verweilen, sondern ihn drängt, sich mit dem Geliebten zu vereinigen« (De divinis nominibus, IV, 13; ). Gibt es einen »verrückteren Eros« (N. Cabasilas, Vita in Cristo, 648) als den des Gottessohnes? Er wollte mit uns bis zu dem Punkte eins werden, der ihm die Folgen unserer Verbrechen an Sich Selbst zu erleiden gestattet.

»Den sie durchbohrt haben«

Liebe Brüder und Schwestern! Schauen wir auf den am Kreuz durchbohrten Christus! Er ist die erschütterndste Offenbarung der Liebe Gottes, einer Liebe, in der Eros und Agape jenseits von allem Gegensatz sich gegenseitig erhellen. Am Kreuz bettelt Gott selbst um die Liebe seines Geschöpfes: Ihn dürstet nach der Liebe eines jeden von uns. Der Apostel Thomas hat in Jesus den »Herrn und Gott« erkannt, als er die Hand in die Seitenwunde legte. Es überrascht nicht, daß viele Heilige im Herzen Jesu den bewegendsten Ausdruck des Geheimnisses dieser Liebe sehen. Man könnte geradezu sagen, daß die Offenbarung des Eros Gottes gegenüber dem Menschen in Wirklichkeit der höchste Ausdruck seiner Agape ist. Fürwahr nur die Liebe, in der sich die kostenlose Selbsthingabe und der leidenschaftliche Wunsch nach Gegenseitigkeit vereinen, gewährt eine Trunkenheit, welche die schwersten Opfer leicht macht. Jesus hat gesagt: »Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen« (Jn 12,32). Sehnsüchtig erwartet der Herr von uns vor allem die Antwort, daß wir seine Liebe annehmen und uns von Ihm an sich ziehen lassen. Wobei es nicht genügt, seine Liebe lediglich anzunehmen. Solche Liebe und solcher Einsatz wollen ihre Entsprechung in der Weitergabe an die anderen: Christus »zieht mich zu sich«, um sich mit mir zu vereinigen, damit ich lerne, die Brüder und Schwestern mit seiner Liebe zu lieben.

Blut und Wasser

»Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben.« Schauen wir mit Vertrauen auf die durchbohrte Seite Jesu, aus der »Blut und Wasser« (Jn 19,34) flossen. Die Kirchenväter haben diese Elemente als Symbole für Taufe und Eucharistie gesehen. Durch das Wasser der Taufe erschließt sich uns in der Kraft des Heiligen Geistes die Intimität der trinitarischen Liebe. Die Fastenzeit drängt uns, daß wir in der Gnade der Taufe aus uns selbst ausziehen und uns der barmherzigen Umarmung des Vaters öffnen (vgl. hl. Johannes Chrysostomus, Katechesen, 3,14 ff.). Das Blut, Symbol der Liebe des Guten Hirten, strömt durch das Geheimnis der Eucharistie in uns ein: »Die Eucharistie zieht uns in den Hingabeakt Jesu hinein … wir werden in die Dynamik seiner Hingabe hineingenommen« (Deus caritas est ). Leben wir also die Fastenzeit als eine »eucharistische « Zeit, in der wir die Liebe Jesu empfangen und sie um uns in Wort und Tat verbreiten. Die Betrachtung dessen, »den sie durchbohrt haben«, drängt uns somit, den anderen das Herz zu öffnen und die Wunden zu erkennen, die der Würde des Menschseins geschlagen werden. Es drängt insbesondere, jede Form der Verachtung des Lebens und der Ausbeutung der menschlichen Person zu bekämpfen und die dramatische Vereinsamung und Verlassenheit vieler Menschen zu lindern. So werde die Fastenzeit für jeden Christen zur erneuten Erfahrung der Liebe Gottes, die uns in Jesus Christus geschenkt worden ist – eine Liebe, die wir unsererseits dem Nächsten weiterschenken müssen, vor allem denen, die leiden und in Not sind. Nur so können wir in reichem Maße der Freude von Ostern teilhaft werden. Maria, die Mutter der Schönen Liebe, leite uns auf diesem Wege der österlichen Bußzeit, einem Weg echter Umkehr zur Liebe Christi. Euch, liebe Brüder und Schwestern, wünsche ich eine fruchtbare Fastenzeit und erteile allen von Herzen den besonderen Apostolischen Segen.

Aus dem Vatikan, 21. November 2006

BENEDICTUS PP. XVI

BOTSCHAFT VON PAPST

BENEDIKT XVI.

FÜR DIE FASTENZEIT 2008 „Christus wurde euretwegen arm“ (@2CO 8,9@)




Liebe Brüder und Schwestern!

1. Jedes Jahr bietet uns der liturgische Weg nach Ostern willkommene Gelegenheit, den Sinn und den Wert unseres Christseins zu vertiefen, und sie regt uns an, die Barmherzigkeit Gottes wiederzuentdecken, damit wir unsererseits den Brüdern und Schwestern gegenüber barmherziger werden. In der Fastenzeit ist es die Sorge der Kirche, einige besondere Werke zu empfehlen, die die Gläubigen konkret in diesem Prozess der inneren Erneuerung fördern, nämlich Gebet, Fasten und Almosengeben.Dieses Jahr möchte ich in der üblichen Botschaft zur Fastenzeit bei der Überlegung zur Praxis des Almosens verweilen, die eine konkrete Weise darstellt, dem Notleidenden zu Hilfe zu kommen, und gleichzeitig eine asketische Übung zur Befreiung von der Gebundenheit an die irdischen Güter ist. Wie stark der Einfluss von materiellem Besitz ist und wie eindeutig unsere Entscheidung sein soll, sie nicht zu Götzen zu machen, bekräftigt Jesus nachdrücklich: „Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon“ (Lc 16,13). Almosen hilft uns, diese ständige Versuchung zu überwinden; denn es erzieht uns, die Bedürfnisse des Nächsten wahrzunehmen und mit den anderen das zu teilen, was wir durch göttliche Güte besitzen. Das ist das Ziel der besonderen Kollekten für die Armen, die während der Fastenzeit in vielen Teilen der Welt durchgeführt werden. Auf diese Weise verbindet sich innere Reinigung mit einer Geste in der kirchlichen Gemeinschaft, wie sie schon die Urkirche kennt. Von ihr spricht etwa der heilige Paulus in seinen Briefen über die Kollekte für die Gemeinde von Jerusalem (vgl. 2Co 8-9 Rm 15,25-27).

2. Das Evangelium lehrt: Wir sind nicht Eigentümer, sondern Verwalter der Güter, die wir besitzen. Sie dürfen deswegen nicht als unantastbares Eigentum betrachtet werden, sondern als Mittel, durch die der Herr jeden von uns ruft, seine Fürsorge für den Nächsten zu vermitteln. Wie der Katechismus der Katholischen Kirche betont, haben die materiellen Güter entsprechend ihrer universellen Bestimmung einen sozialen Wert (vgl. Nr. 2404).

Deutlich ist der Tadel Jesu im Evangelium dem gegenüber, der die irdischen Reichtümer nur für sich allein will und benutzt. Angesichts der Massen, denen es an allem fehlt und die Hunger leiden, sind die Worte des 1. Johannesbriefes eine harte Zurechtweisung: „Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?“ (1Jn 3,17). Mit noch größerer Deutlichkeit ertönt der Ruf zum Teilen in mehrheitlich christlichen Ländern, da deren Verantwortung gegenüber den vielen Elenden und Verlassenen schwerer wiegt. Ihnen zu Hilfe zu kommen ist eher eine Pflicht der Gerechtigkeit als ein Akt der Caritas.

3. Das Evangelium bringt ein typisches Merkmal des christlichen Almosens ans Licht: Es soll im Verborgenen gegeben werden. „Deine linke Hand soll nicht wissen, was deine rechte tut“, fordert Jesus, „Dein Almosen soll verborgen bleiben“ (Mt 6,3-4). Noch kurz zuvor hatte er gesagt, dass man sich nicht der eigenen guten Taten rühmen soll, um nicht zu riskieren, des himmlischen Lohns verlustig zu gehen (vgl. Mt 6,1-2). Die Sorge des Jüngers ist es, dass alles zur höheren Ehre Gottes geschieht. Jesus mahnt: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). Alles zielt deshalb nicht auf unsere Ehre, sondern auf die Ehre Gottes. Möge dieses Bewusstsein, liebe Brüder und Schwestern, jede Tat der Hilfe für den Nächsten begleiten; dann wird sie nicht zu einem Mittel, das als solches in den Vordergrund tritt. Wenn wir beim Vollbringen einer guten Tat nicht die Ehre Gottes und das wahre Wohl der Mitmenschen zum Ziel haben, sondern vor allem nach einem persönlichen Gewinn oder einfach nach Beifall streben, entsprechen wir nicht dem Evangelium. In der modernen von Bildern geprägten Gesellschaft muss man sehr wachsam sein gegenüber dieser Versuchung. Die Mildtätigkeit des Evangeliums ist keine bloße Philanthropie: Es ist vielmehr ein konkreter Akt der Caritas, eine theologische Tugend, die aus der inneren Umkehr hin zur Gottes- und Bruderliebe folgt und Jesus Christus nachahmt, der sich uns selbst ganz geschenkt hat bis zum Tod am Kreuz. Wie sollten wir Gott nicht für die vielen Menschen danken, die fernab von den Scheinwerfern der Mediengesellschaft in der Stille aus christlichem Geist großzügige Taten zur Unterstützung des Nächsten in Not vollbringen? Sehr wenig nützt es, die eigenen Güter den anderen zu schenken, wenn sich dadurch unser Herz in Eitelkeit aufbläst: Darum sucht derjenige, der weiß, dass Gott „das Verborgene sieht“ und im Verborgenen belohnen wird, nicht die menschliche Anerkennung für die vollbrachten Werke der Barmherzigkeit.


BOTSCHAFT 2006-2010 58