(De Officiis) - XXX. Kapitel

XXX. Kapitel

Schlußmahnungen an die Kleriker (152—156).

  Meine Söhne, flieht die Gottlosen, hütet euch vor den Neidern! Zwischen dem Gottlosen und dem Neider ist dieser Unterschied: der Gottlose ergötzt sich am eigenen, der Neider quält sich über fremdes Gut; jener liebt das Schlechte, dieser haßt das Gute. Fast erträgt man jenen, der sich Gutes wünscht, lieber als jenen, der allen Schlechtes wünscht.

  Meine Söhne, denkt, bevor ihr handelt! Und erst, wenn ihr länger überdacht habt, dann tut, was ihr für gut findet! Gibt sich Gelegenheit zu einem rühmlichen Tod, ist sie unverzüglich zu ergreifen. Aufgeschobener Ruhm entflieht und läßt sich nicht leicht zurückgewinnen.

  Liebt den Glauben! Denn durch Glaube und Andacht erwarb sich Josias von seinen Gegnern große Liebe, weil er im achtzehnten Jahre (seiner Regierung) wie keiner vor ihm das Pascha des Herrn feierte[206]. Alle übertraf er sonach an Eifer. Faßt auch ihr, meine Söhne, Eifer für Gott! Gottes Eifer dränge euch und verzehre euch, so daß ein jeder von euch ausrufen kann: „Der Eifer für Dein Haus drängte mich“ (Ps 68,10). Ein Apostel Christi hieß ‚der Eiferer‘ (Vgl. Lc 6,15). Was beziehe ich mich auf einen Apostel? Der Herr selbst beteuerte: „Der Eifer für Dein Haus verzehrt mich“ (Jn 2,17). Eifer für Gott also herrsche, nicht jene menschliche Eifersucht, die der Neid erzeugt!

  Der Friede, der allen Begriff übersteigt (Ph 4,7), walte unter euch! Liebet einander! (Jn 13,34 Jn 15,12 Jn 12,10) Nichts ist süßer als die Liebe, nichts köstlicher als der Friede. Und ihr selbst wißt, daß ich euch stets mehr als alle anderen geliebt habe und liebe. Wie Söhne eines Vaters seid ihr in der Bruderliebe geeint.

  Haltet fest am Guten! (1Th 5,21) Und der Gott des Friedens (Ebd. 23. 2Th 3,16 2Th 3,1 2Th 14,33) und der Liebe (Vgl. 1Jn 4,8 1Jn 4,16) wird mit euch sein im Herrn Jesus, dem Ehre, Ruhm, Herrlichkeit und Macht gebührt samt dem Heiligen Geist in alle Ewigkeiten. Amen (Vgl. Rm 16,27 Rm 16, Rm 25 Rm 5,13 Rm 7,12).







Drittes Buch: Vom Verhältnis des Nützlichen zum Sittlichguten

I. Kapitel

Nicht erst Scipio, schon David (1), Moses (2), die Apostel (3), Elias (4), Elisäus (5) verstanden es, in der Einsamkeit nicht vereinsamt, in der Muße nicht müßig zu sein. Wie unterscheidet sich die Muße eines Elisäus von der gewöhnlichen (6)! Der Gerechte lebt in Gemeinschaft mit Gott; sein Maßstab ist das Ewige (7).

  Der Prophet David lehrte uns, in unserem Herzen wie in einem geräumigen Hause wandeln und mit ihm wie mit einem guten Wohnungsgenossen verkehren, wie er selbst auch mit sich redete und plauderte. So heißt es: „Ich sprach: ich will acht haben auf meine Wege“ (Ps 38,2). Auch sein Sohn Salomo mahnt: „Trink Wasser aus den eigenen Gefäßen und aus den Quellen deiner Bronnen“ (Pr 5,15), d.i. schöpfe aus der eigenen Einsicht! Denn „tiefes Wasser ist die Einsicht im Herzen des Mannes“ (Ebd. 20, 5.). „Kein Fremder“, fährt er fort, „teile sich mit dir darein! Dein Wasserquell gehöre dir allein, und deine Freude habe an dem Weibe, das dein eigen von Jugend auf! Ein freundschaftlicher Hirsch und ein freundliches Füllen mögen mit dir plaudern!“ (Ebd. 6, 17—19.)

  Nicht Scipio war also der erste, der es verstand, nicht allein zu sein, wenn er allein war, und ebensowenig müßig, wenn er müßig war[207]. Vor ihm verstand es Moses, der, da er schwieg, schrie (Ex 14,15), da er müßig stand, kämpfte, und nicht bloß kämpfte, sondern auch über die Feinde, ohne mit ihnen in Berührung gekommen zu sein, triumphierte: so müßig, daß andere ihm sogar die Hände stützten, und doch nicht weniger tätig wie die übrigen, indem er mit seinen müßigen Händen den Feind bezwang, den die Kämpfenden nicht zu besiegen vermochten (Ebd. 17, 9 ff.). So also redete Moses im Schweigen und war tätig in der Muße. Wessen Tätigkeit aber überträfe an Bedeutung seine Muße? Empfing er doch nach vierzigtägiger Zurückgezogenheit auf dem Berge das ganze Gesetz (Ebd. 24, 12 ff.). Selbst in jener Einsamkeit fehlte es nicht an jemand, der mit ihm sprach. Daher denn auch Davids Wort: „Ich will hören, was Gott der Herr in mir spricht“ (Ps 84,9). Und wie unvergleichlich mehr bedeutet Gottes Sprechen mit einem als das Selbstgespräch, das einer führt!

  Die Apostel gingen vorüber, und ihr Schatten heilte die Kranken (Ac 6, 15f.). Man berührte ihre Kleider und erlangte Gesundung (Vgl. ebd. 19, 12.).

  Elias sprach nur ein Wort, und der Regen hielt inne und fiel drei Jahre und sechs Monate nicht mehr zur Erde. Wiederum sprach er, und der Mehltopf nahm nicht ab, und das Ölgefäß wurde während der ganzen Zeit der langen Hungersnot nicht leer (3 Kön. 17, 1 ff.).

  Und weil man so gern an Kriegsereignissen seine Freude hat: was ist großartiger, mit wuchtigen Armen oder mit bloßen Verdiensten das Ende einer Schlacht herbeigeführt zu haben? Elisäus blieb am gleichen Platz sitzen, und der König von Syrien zog mit großer Kriegsmacht wider das Vätervolk heran, bedrohte es einmal über das andere Mal mit mannigfachen tückischen Anschlägen und suchte ihm mit Hinterlist und Hinterhalt beizukommen. Doch der Prophet durchschaute alle seine Vorkehrungen, deckte den Seinigen, im Geiste mit Gottes Gnade überall zugegen, die Absichten der Feinde auf und machte auf die Orte aufmerksam, vor denen man sich zu hüten hätte. Sobald das dem Könige von Syrien kundgetan ward, sandte er ein Heer aus und ließ den Propheten einschließen. Elisäus betete und bewirkte, daß all jene, die gekommen waren ihn einzuschließen, mit Blindheit geschlagen wurden und Samaria als Gefangene betraten (4 Kön. 6, 8ff.).

  Vergleichen wir solche Muße mit der Muße anderer. Andere pflegen zum Ausruhen ihren Geist von Beschäftigungen abzulenken, vom Verkehr und Umgang mit Menschen sich zurückzuziehen und entweder auf das stille Land zu gehen und einsame Plätzchen aufzusuchen, oder aber in der Stadt den Geist abzuspannen und der Ruhe und Erholung zu frönen (Vgl. Cic. I. c. 1, 2.). Elisäus hingegen teilt in der Einsamkeit durch sein Hindurchgehen den Jordan, so daß er in seinem Unterlauf abfließt, in seinem Oberlauf zur Quelle zurückflutet (4 Kön. 2, 8.). Oder er verhilft auf dem Karmel einer Unfruchtbaren unerwartet zur Leibesfrucht, nachdem er das Hindernis der Zeugung beseitigt hatte (Ebd. 4, 16f.); oder erweckt Tote (Ebd. 32 ff.); oder benimmt Speisen ihre Bitterkeit und macht sie durch Beimischung von Mehl schmackhaft (Ebd. 38 ff.); oder läßt zehn Brote verteilen und die Reste nach der Sättigung des Volkes sammeln[208]; oder macht ein Axteisen, das abglitt und in die Tiefe des Jordanflusses sank, mittels eines ins Wasser gehaltenen Holzstückes an der Oberfläche schwimmen (2R 6,5 f.); oder schafft einem Aussätzigen durch Reinigung (Ebd. 5, 1 ff.), oder in der Zeit der Dürre durch Regen, oder in der Zeit der Hungersnot durch Fruchtbarkeit Wandel (Ebd. 8, 1 ff.).

  Wann wäre denn der Gerechte allein, nachdem er stets mit Gott weilt? Wann wäre er vereinsamt, nachdem er nimmer von Christus sich trennt? „Wer wird uns“, so heißt es, „von der Liebe Christi trennen?“ (Rm 8,35) „Wie ich vertraue, weder Tod, noch Leben, noch ein Engel“ (Ebd. 38.). Wann aber ruht er von Tätigkeit aus, nachdem er nimmer vom Verdienst ausruht, das sein Mühen krönt? Auf welche örtliche Grenzen aber soll er beschränkt sein, dem die ganze Welt voll Reichtümer zu eigen ist? Welchen Maßstab soll man zu seiner Beurteilung anlegen, da der Leute Urteil ihn nimmer voll und ganz würdigt. Er ist sozusagen ein Unbekannter, und doch kennt man ihn; sozusagen ein Sterbender, und sieh, er lebt; sozusagen ein Trauernder, und doch stets heiter; ein Dürftiger, und freigebig; einer, der nichts hat und alles besitzt (Vgl. 2Co 6, 8—10.). Denn der Gerechte richtet seinen Blick nur auf das Beständige und Sittlichgute. Daher ist er, ob er auch einem anderen arm dünkt, sich selbst reich; denn nicht das Vergängliche, sondern das Ewige bildet den Maßstab zu seiner Beurteilung.


II. Kapitel

Nach christlicher Auffassung decken sich die Begriffe ‚sittlichgut‘ und ‚nützlich‘ (8—9). Der Unterschied zwischen Erstpflichten und Mittelpflichten (10), zwischen Tugend und Tugend überhaupt (11—12). Der Gerechte, bezw. der Weise lebt nicht sich, sondern anderen (13-14).

  Weil wir die beiden früheren Abschnitte, worin wir das Sittlichgute und Nützliche behandelten, bereits besprochen haben, so ergibt sich nun die Frage, ob wir nicht das Sittlichgute und das Nützliche untereinander vergleichen und untersuchen sollen, was zu befolgen sei. Wie wir nämlich oben erörtert haben, ob diese und jene Handlung sittlichgut oder schimpflich, in zweiter Reihe, ob sie nützlich oder schädlich sei, so glaubten einige in ähnlicher Weise an dieser Stelle die Frage aufwerfen zu sollen, ob sie sittlichgut oder nützlich sei[209].

  Wir aber besorgen, wir möchten den Anschein wecken, als würden wir diese Begriffe sozusagen als Gegensätze einführen, nachdem wir doch oben bereits gezeigt haben, daß sie sich decken, daß nur das Nützliche sittlichgut, und nur das Sittlichgute nützlich sein kann. Wir folgen ja nicht der Weisheit des Fleisches, bei welcher der Nutzen, der im Geldgewinste liegt, am schwersten wiegt, sondern der Weisheit, die aus Gott ist (Vgl. 2Co 1,12), vor der das Große in den Augen dieser Welt als Nachteil gilt (Vgl. Phil. Ph 8,7 f.).

  Dieses ?at????µa nämlich, d. i. die vollkommene und vollendete Pflicht, entspringt nur der wahren Tugendquelle. Auf sie folgt in zweiter Reihe die gewöhnliche Leistung, die, wie schon das Wort andeutet, nicht Sache angestrengter und einzigartiger Tugend ist, sondern der großen Mehrzahl gemeinsam sein kann. Nach Geldgewinst haschen, ist vielen eigen, an feinerem Mahl und köstlicheren Speisen sich ergötzen, ist etwas Gewöhnliches; dagegen ist Fasten und Enthaltsamkeit Sache weniger, und Freisein von Begierde nach fremdem Gut eine Seltenheit. Das Gegenteil vom letzteren aber ist der Wunsch, den Nächsten zu benachteiligen, die Unzufriedenheit mit dem Seinigen: hierin begegnet man sich mit der großen Mehrzahl. So gibt es denn teils Erstpflichten, teils Mittelpflichten. Die Erstpflichten sind Gemeingut weniger, die Mittelpflichten Gemeinbesitz der Mehrheit[210].

  So liegt denn häufig in ein und denselben Worten ein verschiedener Sinn. In einem anderen Sinn heißen wir Gott, in einem anderen den Menschen gut. In ähnlicher Weise nennen wir in einem anderen Sinn Gott, in einem anderen den Menschen gerecht. Auch im Evangelium werden wir darüber belehrt: „So seid denn auch ihr vollkommen, wie euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist!“ (Mt 5,48) Selbst von Paulus lese ich, er sei vollkommen und nicht vollkommen gewesen. Denn nachdem er erklärt hatte: „Nicht daß ich es schon erreicht hätte oder schon vollkommen wäre; ich strebe aber danach, ob ich's etwa erreichen möchte“ (Ph 3,12), fügte er sogleich hinzu: „So viele nun von uns vollkommen sind“ (Ebd. 15.). Es gibt nämlich zweierlei Arten von Vollkommenheit: eine halbvollendete und eine ganz voll endete; eine diesseitige und eine jenseitige; eine nach Maßgabe des Menschenmöglichen, eine nach Maßgabe der künftigen Vollkommenheit. Gott aber ist in allem gerecht, über alles weise, in allem vollkommen.

  Auch zwischen den Menschen selbst besteht ein Abstand. In einem anderen Sinn ist Daniel weise, von dem es heißt: „Wer ist weiser als Daniel?“ (Ezech. 28, 3.), in einem anderen Sinn sind es sonstige Weise, in einem anderen Sinn Salomo, der mit einer Weisheit erfüllt war, die alle Weisheit der Alten und alle Weisen Ägyptens überragte (3 Kön. 4, 29 ff.). Denn zwischen der gewöhnlichen Weisheit und der vollkommenen Weisheit ist ein Unterschied. Die Weisheit des gemeinen Weisen bewegt sich um das Zeitliche, bewegt sich um das eigene Ich, um von dem Nächsten etwas zu ergattern und sich anzueignen. Dem vollkommenen Weisen liegt es fern, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein; sein ganzes Sinnen und Trachten geht vielmehr auf das Ewige, auf das Schickliche und Sittlichgute, indem er nicht seinen Nutzen, sondern den der Allgemeinheit sucht.

13. Um also auf jenen beiden Gebieten des Sittlichguten und Nützlichen nicht in die Irre zu gehen, bleibe das die Losung: der Gerechte glaube nicht, den Nächsten beeinträchtigen zu sollen, und wünsche nicht, daß ihm aus der Benachteiligung des Nächsten Vorteil erwachse! Diese Norm schreibt dir der Apostel mit den Worten vor: „Alles ist erlaubt, doch nicht alles frommt; alles ist erlaubt, aber nicht alles erbaut. Niemand suche das Seinige, sondern was des Nächsten ist“ (1Co 10, 22—24.), das heißt: niemand suche seinen Vorteil, sondern den des Nächsten; niemand suche seine Ehre, sondern die des Nächsten! Daher mahnt er auch an einer anderen Stelle: „.....indem einer den anderen höher achtet als sich selbst, ein jeder nicht an das Seinige denkt, sondern auf das, was der anderen ist“ (Ph 2,3 f.).

  Niemand gehe ferner auf Selbstgefälligkeit, niemand auf Eigenlob aus, sondern auf des Nächsten Lob. Das finden wir klar auch im Spruchbuche ausgesprochen, in dem der Heilige Geist durch Salomo mahnt: „Mein Sohn, wenn du weise bist, so sei weise zu deinem und des Nächsten Vorteil; wirst du aber böse, schlürfe allein das Böse ein!“ (Pr 9,12) Denn auch der Weise ist auf andere bedacht, wie der Gerechte, nachdem ja Tugendnormen auf das gleiche hinauszielen.


III. Kapitel

Die Gleichförmigkeit mit Christus (15) ja der bloße Name Mensch (16), seine soziale Stellung als Glied der menschlichen Gesellschaft (17—18), Naturgesetz (19) wie göttliches (20) und staatliches Gesetz (21) verbieten, den Nächsten um des eigenen Vorteils willen zu benachteiligen (22—23)[211].

  Wer aller Wohlgefallen wünscht, suche nicht seinen Nutzen, sondern den der großen Mehrheit, wie ihn Paulus suchte. Denn das heißt Christus gleichförmig werden: nicht nach fremdem Gute auslangen, nichts vom Nächsten ergattern, um es sich anzueignen. Christus der Herr nämlich, da er doch in Gottes Gestalt war, entäußerte sich, so daß er Menschengestalt annahm (Ph 2,6 f.), um sie mit den Tugendschätzen seines Wirkens zu bereichern. Du nun willst den berauben, den Christus ausstattete? Du willst den ausziehen, den Christus bekleidete? Denn das tust du, wenn du zum Nachteil des anderen deine eigenen Glücksgüter zu mehren trachtest.

  Bedenke, o Mensch, woher du deinen Namen bekommen hast! Von der Erde doch[212], die niemand etwas nimmt, sondern allen alles gibt und allen Lebewesen ihre mannigfaltigen Früchte zum Genusse darbietet. Daher der Name Menschlichkeit für jene besondere, dem Menschen eignende Tugend, die sich dem Nebenmenschen hilfreich erweist.

  Schon die Gestalt deines Leibes und die Tätigkeit deiner Glieder mag dich belehren. Maßt sich etwa ein Glied an dir die Dienste eines anderen an? Maßt sich das Auge den Dienst des Mundes, oder der Mund den Dienst des Auges, oder die Hand den Dienst der Füße, oder der Fuß den Dienst der Hände an? (Vgl. 1Co 12,12 ff. Rm 12,5) Ja selbst die rechte und die linke Hand haben vielfach ihre unterschiedlichen Dienste, so daß es naturwidrig wäre, würde man die Tätigkeit der beiden vertauschen. Eher ließe sich der ganze Mensch verkehren als die Dienste seiner Glieder: wenn man mit der Linken Speise nähme, oder mit der Rechten eine Tätigkeit der Linken verrichtete, wie die Beseitigung von Speiseresten, es würde denn der Notfall es erfordern.

  Setze den Fall und gib dem Auge die Kraft, daß es dem Haupte den Sinn, den Ohren das Gehör, dem Geiste die Gedanken, der Nase den Geruch, dem Munde den Geschmack nehme und sich selbst aneigne: würde das nicht die ganze Anlage der Natur aufheben? Daher der schöne Ausspruch des Apostels: „Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre das Gehör? Wenn der ganze Leib Gehör wäre, wo wäre der Geruch? (1Co 12,17) Alle sind wir sonach ein Leib und dessen verschiedene Glieder (Vgl. ebd. 20.), doch alle dem Leibe notwendige Glieder. Denn es kann nicht ein Glied vom anderen sagen: es ist mir nicht vonnöten. Vielmehr sind sogar die anscheinend schwächeren Glieder weitaus die notwendigeren (Ebd. 21 f.) und erfordern zumeist die größere Sorgfalt für ihren Schutz. Und wenn ein Glied leidet, leiden alle mit ihm (Ebd. 26.).

  Wie sündhaft ist es also, einen irgendwie zu schmälern, mit dem wir Mitgefühl haben sollten, und einen zu hintergehen und zu schädigen, dem wir teilnehmenden Dienst schulden! Ist dies doch ein Naturgesetz, das uns zu jeglicher Menschlichkeit verpflichtet: Wir sollen gegenseitig, einer dem andern, als Glieder eines Leibes zu Diensten stehen und nicht glauben, uns irgendeine Schmälerung erlauben zu dürfen, nachdem schon das Nichthelfen wider das Naturgesetz verstößt. Denn also treten wir ins Leben, daß zwischen den Gliedern Übereinstimmung herrscht, eines dem anderen anhängt, in gegenseitiger Dienstleistung untereinander Willfährigkeit herrscht. Läßt es nur eines an seiner Verrichtung fehlen, werden alle anderen behindert. Risse beispielsweise die Hand das Auge aus, hätte sie sich nicht damit die Ausübung ihrer Tätigkeit abgeschnitten? Würde sie den Fuß verletzen, wie viele ersprießliche Handlungen würde sie sich selbst versagen! Wie unvergleichlich schlimmer wäre die Schädigung des ganzen Menschen als die eines Gliedes! Liegt nun in einem Gliede die Verletzung des ganzen Leibes vor, so wird auch in einem Menschen die Gemeinschaft der ganzen Menschheit untergraben: man verletzt die Natur des Menschengeschlechtes und die Gemeinschaft der heiligen Kirche, die durch die Einheit des Glaubens und der Liebe zu einem fest verbundenen und gefügten Leibe ersteht. Auch wird es Christus den Herrn, der für alle gestorben ist, schmerzen, wenn er den Preis seines Blutes vereitelt sieht.

  Lehrt uns doch auch das Gesetz des Herrn selbst die Norm festhalten, den Nächsten nicht um des eigenen Vorteils willen zu benachteiligen, wenn es gebietet: „Verrücke die Grenzen nicht, die deine Väter gesetzt haben!“ (Pr 22,28); wenn es befiehlt, man solle das herumirrende Kalb seines Freundes zurückbringen (Ex 23,4); wenn es auf Diebstahl die Todesstrafe setzt (Ebd. 22, 2 f.); wenn es verbietet, den Taglöhner um den schuldigen Lohn zu betrügen (Lv 19,13) ; wenn es die Rückzahlung des Geldes ohne Zinsforderung verlangte (Dt 23,19 f.). Dem Mittellosen zu Hilfe zu kommen, ist Menschlichkeit; Hartherzigkeit hingegen ist es, mehr zu erpressen, als man hingegeben hat. Denn wenn er deshalb deiner Hilfe bedurfte, weil er nicht imstande war, aus eigenen Mitteln eine Heimzahlung zu leisten: wäre es nicht gottlos, unter dem Scheine der Menschlichkeit von einem, der außerstande war, eine geringere Summe heimzuzahlen, eine größere zu fordern? Du willst einem anderen einen Schuldner vom Halse schaffen, um ihn zum eigenen zu verurteilen: und das willst du Menschlichkeit nennen, wo Unrecht auf Unrecht sich häuft?

  Das haben wir vor den übrigen lebenden Wesen voraus, daß die einen Arten von ihnen nichts von einem Mitteilen wissen, die wilden Tiere aber auf Raub ausgehen, der Mensch mitteilsam ist. Daher des Psalmisten Wort: „Der Gerechte ist mitleidig und teilt aus“ (Ps 36,21). Wohl gibt es Wesen, denen auch die wilden Tiere etwas zutragen. Sie nähren ja durch Zutragen ihre Brut. Und auch die Vögel atzen ihre Jungen mit Speise. Dem Menschen allein aber war es verliehen, allen Nahrung zu reichen, als wären sie die Seinigen, Er schuldet das schon kraft des Naturgesetzes. Wenn nun schon ein Nichtgeben pflichtwidrig wäre, wie könnte eine Benachteiligung erlaubt sein? Belehren uns nicht auch die Gesetze hierüber? Verlangen sie doch in erhöhtem Maße Rückerstattung des Schadens, der einem unter persönlicher oder unter Sachverletzung zugefügt wurde, um so den Dieb, sei es durch Strafen von Schädigung abzuschrecken, sei es durch Geldbuße davon zurückzuhalten.

  Nimm jedoch den Fall, es wäre einer imstande, vor Strafe sich nicht zu fürchten, oder über die Strafe sich lustig zu machen: wäre es deshalb für jemand geziemend, dem Nächsten etwas zu entwenden? Das wäre das Laster der Sklaven, heimisch im niedrigsten Stande, so naturwidrig, daß es scheinen möchte, daß mehr die Not hierzu nötigte, als die Natur riet. Sklavenart ist heimlicher Diebstahl, der Reichen Art öffentliche Erpressung.

  Was aber wäre so naturwidrig, als die Schädigung des Nächsten um eines eigenen Vorteiles willen, da doch das natürliche Gefühl einem die Pflicht nahelegt, auf alle seine Sorge auszudehnen, für sie Beschwerden auf sich zu nehmen, der Mühe sich zu unterziehen; da es für jeden als rühmlich gilt, wenn er unter eigenen Gefahren für die Ruhe und den Frieden der Allgemeinheit eintritt; jeder es für viel edler erachtet, wenn er lieber den Untergang des Vaterlandes denn eigene Gefahren abwendete; es für vorzüglicher hält, daß er sein Wirken dem Vaterlande weihte, statt unter tausend Genüssen in Muße ein ruhiges Leben zu führen?


IV. Kapitel

Jede Benachteiligung des Nächsten ist ein Verstoß gegen das natürliche (24—26) und christliche Sittengesetz (27—28). (Forts.)

  Daraus folgt nun, daß der Mensch, der in seiner natürlichen Anlage die Weisung trägt, der Natur zu folgen, unmöglich dem Nächsten schaden darf; daß der Vorteil, den er zu erlangen glaubt, wenn er einen schädigt die Natur verletzt und nicht so groß ist als der Nachteil, der ihm daraus ersteht. Welch schwerere Strafe gäbe es denn als ein wundes Gewissen im Innern? Welch strengeres Gericht als das eigene, kraft dessen jeder sich vor sich selbst schuldig weiß, sich selbst anklagt, daß er in unwürdigem Verhalten dem Bruder Unrecht getan hat? Die Schrift verurteilt das nicht wenig scharf mit den Worten: „Aus dem Munde der Toren dringt die Rute der Schmach“ (Pr 14,3). Der Torheit wird sonach der Mensch geziehen, der Schmach zufügt. Ist das nicht mehr zu fliehen als der Tod, als Verlust, als Not, als Verbannung, als schmerzliche Krankheit? Wer wollte denn ein Leibesgebrechen oder einen Vermögensverlust nicht geringer anschlagen als ein Gebrechen der Seele oder die Einbuße des guten Namens?

  So hat denn, wie sich klar ergibt, jedermann darauf zu sehen und daran festzuhalten, daß nur das, was der Gesamtheit nützt, zugleich dem einzelnen frommt, und darf nichts für vorteilhaft erachten, was nicht gemeinnützig ist. Wie könnte denn auch das, was allen zum Schaden ist, dem einzelnen von Nutzen sein? Ich wenigstens glaube nicht, daß einer, der der Allgemeinheit nicht nützt, sich selbst nützen kann. Denn wenn es nur ein Naturgesetz für alle gibt, dann gibt es doch auch nur einen Nutzen für alle; dann sind wir durch das Naturgesetz zur Sorge für alle verpflichtet. Wer also für den Nächsten, wie es naturgemäß ist, gesorgt wissen will, dem liegt es fern, ihm wider das Naturgesetz zu schaden.

36. Wenn die Kämpfer, die in der Rennbahn laufen, wie es heißt, derart geschult und angeleitet werden, daß jeder durch Schnelligkeit, nicht durch Übervorteilung das Ziel anstreben und durch möglichst flinkes Laufen dem Ziel entgegeneilen soll, ohne sich zu erdreisten, dem anderen ein Bein zu stellen oder mit der Hand ihn zu Fall zu bringen[213]: wieviel mehr müssen wir in diesem unseren Lebenslaufe ohne Trug und Übervorteilung des Nächsten den Sieg anstreben?

  Manche werfen die Frage auf, ob ein Weiser, wenn er bei einem Schiffbruch einem Nichtweisen ein Brett entreißen könnte, es müsse[214]. Ich nun pflichte, ob es auch für das Gemeinwohl zweckdienlicher erscheinen mag, daß lieber ein Weiser als ein Unweiser dem Schiffbruch entgehe, gleichwohl nicht der Meinung zu, daß ein gerechter und weiser Christ sich sein Leben um den Preis des Unterganges eines anderen sich zu erhalten suchen soll. Darf er doch selbst im Fall, daß er einem bewaffneten Räuber in die Hand fällt, dem Schlagenden den Schlag nicht zurückversetzen, um nicht bei der Verteidigung seines Lebens die Liebe zu verletzen. Hierüber steht in den Evangelienschriften der klare und deutliche Ausspruch: „Stecke dein Schwert ein! Denn jeder, der mit dem Schwerte schlägt, wird mit dem Schwerte geschlagen werden“ (Mt 26,52). Wer wäre ein verabscheuungswürdigerer Räuber als der Häscher, der gekommen war, Christus zu töten? Doch Christus wollte sich nicht um den Preis der Verwundung seiner Verfolger verteidigen lassen: er, der durch seine Wunden alle heilen wollte.

  Warum wolltest du dich denn für besser halten als den Nächsten? Ist es doch Christenart, dem anderen den Vorzug vor sich zu geben, nichts sich anzumaßen, keine Ehre für sich in Anspruch zu nehmen, keinen Preis für sein Verdienst sich zu verlangen. Ferner warum wolltest du es dir nicht zur Gepflogenheit machen, lieber eigenen Nachteil zu erleiden, als fremden Vorteil an dich zu reißen? Was wäre so naturwidrig, als mit dem eigenen Besitz nicht zufrieden zu sein, nach fremdem Gut zu streben, schimpflich danach zu fahnden? Denn ist das Sittlichgute naturgemäß — alles hat ja Gott überaus gut gemacht —, so ist doch das Schändliche das Gegenteil davon. Es läßt sich darum zwischen dem Sittlichguten und dem Schandbaren kein Bund eingehen, da sie sich nach dem Naturgesetze gegenseitig ausschließen[215].


V. Kapitel

Der wahre Weise handelt auch im geheimen recht (29). Zum Beweis dessen bedarf es nicht der Erdichtung der Gygessage (30—32), sondern genügt der Hinweis auf wahre Begebenheiten aus der Geschichte Davids (33—34) oder des Täufers (35). Der wahre Jünger Christi führt ein verborgenes Leben (36).

  Doch um nun auch in diesem Buche ein Ziel uns zu setzen, gleichsam einen Endpunkt für unsere Abhandlung, auf den wir mit unserem Satz, nur das Sittlichgute sei erstrebenswert, hinauszielen: so handelt der Weise in allem voll Aufrichtigkeit, ohne Trug, und tut, auch wenn er verborgen bleiben kann, nichts, worin er sich irgendwie in Schuld verstricken würde[216]. Denn eher als vor anderen, fühlt er sich vor sich selbst schuldig; und schwerer wiegt bei ihm die Beschämung vor dem Gewissen als jene, welche das Offenkundigwerden einer Schandtat mit sich führt. Das können wir nicht nur an erdichteten Fabeln, wie die Philosophen es bei ihren Besprechungen tun[217], sondern an völlig wahren Beispielen von gerechten Männern aufzeigen.

  Ich brauche also keinen Erdspalt erdichten, indem die Erde auf angebliche heftige Regenschauer hin zerriß und auseinanderbarst. Gyges soll hier nach Plato hinabgestiegen und auf jenes fabelhafte Roß aus Erz gestoßen sein, das an seinen Seiten Türen hatte. Sogleich nach Öffnung derselben habe er einen goldenen Ring am Finger eines Toten bemerkt, dessen entseelter Leichnam daselbst lag, und aus Goldgier den Ring genommen. Da er sich aber zu des Königs Hirten, zu deren Zahl er selbst gehörte, zurückbegeben hatte, sah er, als er einmal zufällig die Fassung jenes Ringes nach der flachen Hand gedreht hatte, seinerseits alle, während er selbst niemand sichtbar war; sodann aber, als er den Ring an seinen Platz zurückgedreht hatte, ward er wiederum allen sichtbar. Mit diesem Wunder vertraut, nahte er mit Hilfe des Ringes der Königin und entehrte sie gewaltsam, tötete den König und ermordete die übrigen, die er töten zu müssen glaubte, um ihm nicht hinderlich im Wege zu stehen, und erlangte so das lydische Königreich.

  Gib, so fordert man, diesen Ring einem Weisen, daß er im Fall eines Fehltrittes mit Hilfe desselben verborgen bleiben könne! Er wird die Befleckung der Sünde nicht weniger fliehen, als wenn er nicht verborgen bleiben könnte. Denn nicht der Schlupfwinkel, sondern die Schuldlosigkeit verbürgt dem Weisen die Zuversichtlichkeit seiner Straffreiheit. So ist denn auch „das Gesetz nicht dem Gerechten auferlegt, sondern dem Ungerechten“ (1Tm 1,9). Denn der Gerechte hat zum Gesetz seinen Geist und zur Norm seine Rechtlichkeit und Gerechtigkeit. Darum hält er sich nicht aus Furcht vor Strafe, sondern kraft der Norm des Sittlichguten von Schuld fern.

  So laßt uns denn, um auf unseren Gegenstand zurückzukommen, nicht fabelhafte Beispiele an Stelle wahrer, sondern wahre an Stelle fabelhafter vorführen! Wofür hätte ich denn vonnöten, einen Erdspalt, ein ehernes Roß und einen goldenen Ring zu erdichten, der am Finger eines Toten gefunden worden sei, einen Ring, dessen Kraft so groß sei, daß der, welcher ihn ansteckte, nach Belieben, wann er wolle, sichtbar erscheinen, wann er nicht wolle, dem Blick der Anwesenden sich entziehen könne, so daß er, obschon gegenwärtig, unsichtbar bleibe? Auf die Frage zielt doch die Fabel ab, ob der Weise auch dann, wenn ihm jener Ring zur Verfügung stünde, mit dem er seine Schandtaten verbergen und eine Krone gewinnen könnte, gleichwohl nicht sündigen wollte und die verbrecherische Befleckung für schlimmer halten würde als die qualvollen Strafen hierfür; oder aber ob er die Straflosigkeit, die in Aussicht stünde, zur Begehung eines Verbrechens ausnützen würde. Was hätte ich, so wiederhole ich, einen erdichteten Ring vonnöten, da ich aus der Geschichte zeigen kann, wie ein weiser Mann, da er sah, daß er im Fall der Versündigung die Möglichkeit nicht bloß zum Verborgenbleiben in der Sünde, sondern auch zur Erlangung der Herrschaft hatte, während er umgekehrt im Fall der Nichtbegehung des Verbrechens augenscheinlich für sein Leben Gefahr lief, lieber zur Meidung des Verbrechens die Lebensgefahr der Schandtat vorzog, mit der er sich die Herrschaft hätte verschaffen können?

  David nämlich hat, als er vor König Saul floh, weil der König mit auserlesenen dreitausend Mann in der Wüste ihm nach dem Leben strebte, nicht bloß seinerseits dem Könige, als er in dessen Lager eindrang und ihn schlafend antraf, nichts zuleide getan, sondern ihn sogar geschützt, daß er von keinem anderen, der zugleich eingedrungen war, ums Leben gebracht würde (1R 26,1 ff.). Denn als Abisai zu ihm sprach: „Heute hat der Herr deinen Feind in deine Hände geliefert, und nun will ich ihn töten“ (Ebd. 8.), erwiderte er: „Vernichte ihn nicht; denn wer wird an den Gesalbten des Herrn seine Hand legen und rein bleiben?“ (Ebd. 9.) Und er fügte bei: „So wahr der Herr lebt, wenn der Herr ihn nicht schlägt, oder wenn seine Stunde nicht gekommen ist, daß er sterbe, oder wenn er nicht in den Kampf geht und mir sich gegenüberstellt, so bewahre mich der Herr, daß ich meine Hand an den Gesalbten des Herrn lege“ (Ebd. 10 f.).

  So ließ er denn nicht zu, daß man ihn tötete, sondern nahm nur die Lanze zu seinen Häupten und das Trinkgefäß hinweg. Während alle schliefen, verließ er das Lager, ging hinüber auf die Spitze eines Berges und begann die Trabanten des Königs und allen voran dessen Kriegsobersten Abner zu beschuldigen, daß er seinem König und Herrn so gar keine treue Wache angedeihen lasse; er möge ferner zeigen, wo die Lanze des Königs und das Trinkgefäß zu dessen Häupten wären. Und er gab sogar auf die Aufforderung des Königs die Lanze zurück (1R 26,12 ff.). „Und der Herr“, so fügte er hinzu, „vergelte jedem seine Gerechtigkeit und seine Treue, so wie der Herr dich heute in meine Hände gegeben hat, und ich meine Hand nicht an den Gesalbten des Herrn legen wollte“ (Ebd. 23.). Während er dies sprach, mußte er doch dessen Nachstellungen fürchten, seinen Wohnsitz mit der Verbannung vertauschen und fliehen. Und dennoch ging ihm sein Wohl nicht über seine Schuldlosigkeit. Er hatte, obschon sich ihm bereits zum zweiten Mal die Möglichkeit bot, den König zu töten, die vorteilhafte Gelegenheit nicht benützen wollen, die ihm, dem Fürchtenden, die Sicherheit des Lebens, dem Verbannten die Königskrone bot.

  Wo bedurfte Johannes des gygeischen Ringes? Hätte er geschwiegen, wäre er von Herodes nicht getötet worden (Vgl. Matth. Mt 14,1 ff.). Sein Schweigen hätte ihm den Vorteil gebracht, am sichtbaren Leben zu bleiben und nicht ermordet zu werden. Weil er aber nicht bloß keine persönliche Sünde zum Schutz seines Lebens zuließ, sondern nicht einmal eine fremde Sünde dulden und ertragen konnte, darum beschwor er selbst die Ursache zu seiner Ermordung herauf. Sie, die von jenem Gyges leugnen, daß er dank jenem Ringe verborgen bleiben konnte, können sicherlich nicht leugnen, daß jener die Möglichkeit hatte, zu schweigen.

  Aber entspricht auch der Fabel keine Wirklichkeit, hat sie doch den Sinn, daß der Gerechte, ob er auch verborgen bleiben könnte, dennoch die Sünde meidet, als könnte er nicht verborgen bleiben; und daß er, wenn nicht mit dem Ringe angetan, seine Person, so doch, mit Christus angetan, sein Leben verborgen hält nach des Apostels Wort: „Unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott“ (Col 8,8). Niemand suche denn im Diesseits zu glänzen! Niemand maße sich etwas an! Niemand poche auf sich! Christus wollte hier keine Anerkennung, wollte nicht, daß sein Name im Evangelium gepriesen werde, solange er auf Erden weilte. Er kam, um vor dieser Welt sich zu verbergen (Vgl. Matth. Mt 8,4 Mt 9,30 Mt 12,16 ff.; Mt 17,9 Mt 17, Mt 6,15). So laßt denn auch uns nach dem Beispiel Christi unser Leben verborgen halten! Laßt uns Prahlerei fliehen, nicht nach Lob haschen! Besser ist es, hier in Niedrigkeit, dort in Herrlichkeit zu sein. „Wenn Christus erscheint“, so heißt es, „dann werdet auch ihr mit ihm erscheinen in Herrlichkeit“ (Col 8,4).



(De Officiis) - XXX. Kapitel