Augustinus - Bekenntnisse 1110

Elftes Buch - Zehntes Kapitel

1110
Sind nun jene nicht noch ganz erfüllt von ihren alten Irrtümern, die zu uns sagen: Was tat denn Gott, ehe er Himmel und Erde schuf? Wenn er bis dahin ruhete, sagen sie, und weiter nichts tat, warum war er so nicht immer und in der Folge, worin er auch vorher verblieben war. Wenn in Gott irgendeine neue Bewegung entstand und ein neuer Wille, um einem Geschöpfe das Dasein zu geben, das er zuvor noch nicht geschaffen hatte, ist denn das eine wahre Ewigkeit, in der ein Wille entsteht, der vorher noch nicht vorhanden war? Denn der Wille Gottes ist ja nicht ein Geschöpf, sondern er ist vor aller Kreatur, weil nichts geschaffen werden konnte, wenn nicht der Wille des Schöpfers vorhanden wäre; der Wille Gottes gehört also zum Wesen Gottes selbst. Wenn also etwas in Gottes Wesen entstand, was vorher nicht war, so könnte man jenes Wesen nicht mit Wahrheit ewig nennen, wenn aber der Wille Gottes, daß es eine Kreatur gebe, ewig war, warum soll denn nicht auch die Kreatur ewig sein?

Elftes Buch - Elftes Kapitel

1111
Die, welche so reden, erkennen dich noch nicht, du Weisheit Gottes, Licht des Geistes; sie erkennen nicht, wie das geschieht, was durch dich und in dir geschieht, sie erdreisten sich, das Ewige verstehen zu wollen, aber ihr Herz flattert noch in den vergangenen und zukünftigen Bewegungen der Dinge und ist noch voll Eitelkeit. Wer wird es festhalten und zum Stillstand bewegen, damit es nur ein wenig den Glanz der immer stetigen Ewigkeit erfasse und ihn vergleiche mit der nie stetigen Zeit; und erkenne, daß sie unvergleichbar seien, und sehe, daß eine lange Zeit nicht lang werde als nur durch viele vorübergehende Augenblicke, die nicht zugleich verfließen können; daß aber in der Ewigkeit nichts vorübergehe, sondern in ihr alles stets gegenwärtig sei; dagegen keine Zeit ganz gegenwärtig sei; daß er sehe, wie alle Vergangenheit von der Zukunft verdrängt werde und alle Zukunft der Vergangenheit folge und alle Vergangenheit und Zukunft von der ewigen Gegenwart erschaffen werde und ausgehe? Wer wird. das Herz des Menschen festhalten, daß es stehe und in der Gegenwart fußend erkenne, wie es festgegründete, zukünftige und vergangene Zeiten bestimme, wie aber die Ewigkeit weder zukünftig noch vergangen ist. Vermag etwa meine Hand dieses, oder kann die Hand meines Mundes durch Worte ein so großes Werk vollbringen?

Elftes Buch - Zwölftes Kapitel

1112
Siehe ich antworte dem, der da fragt: Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf? Ich gebe ihm nicht die Antwort, die einst jemand scherzweise gegeben haben soll, um der Schwierigkeit dieser Frage zu entgehen: "Er bereitet denen, die sich vermessen, jene hohen Geheimnisse zu ergründen, Höllen." Etwas anderes ist "wissen" als "witzeln", darum möchte ich diese Antwort nicht geben, lieber hätte ich geantwortet: Ich weiß nicht, was ich nicht weiß, als eine Antwort zu geben, die den zum Spott macht, der so Hohes erfragt, um dem nichtigen Spötter Lob einzubringen. Aber ich nenne dich, unsern Gott, den Schöpfer der ganzen Schöpfung. Und wenn man unter dem Namen Himmel und Erde die ganze Schöpfung versteht, so sage ich kühn: "Bevor Gott Himmel und Erde schuf, tat er nichts." Denn wenn er schaffte, was war's anders als ein Geschöpf? Wenn ich doch das, was ich zu meinem Nutzen zu wissen wünschte, so gut wüßte, wie ich weiß, daß kein Geschöpf geschaffen wurde, bevor eine Schöpfung stattfand. Wenn aber irgend jemandes schwärmerischer Sinn sich mit seiner Phantasie in vergangene Zeiten verliert und sich wundert, daß du, allmächtiger, alles erschaffender und alles erhaltender Gott, der Baumeister von Himmel und Erde, vor der Erschaffung dieses so großen Werkes unzählige Jahrhunderte geruht hast, ehe du es schufest, so möge er sich fassen und bedenken, daß er sich über Falsches wundere. Dem wie konnten unzählige Jahrhunderte vergehen, die du nicht geschaffen hättest, wenn du aller Jahrhunderte Urheber und Schöpfer bist? oder wie hätte Zeit sein können, die du nicht geschaffen hättest, und wie konnte sie vorübergehen, wem sie niemals war? Wenn du also der Schöpfer der Zeiten bist, und wenn es eine Zeit gab, bevor du Himmel und Erde erschufst, wie kann man dann sagen, du habest damals nicht gewirkt? Denn gerade diese Zeit ist es, die du geschaffen hattest, und es konnten keine Zeiten vorübergehen, bevor du die Zeit erschufst. Wenn es also vor Himmel und Erde keine Zeit gab, wie kann man dann fragen, was du damals machtest? Denn es war kein Damals, wo noch keine Zeit war.

Elftes Buch - Dreizehntes Kapitel

1113
Du gehst nicht in der Zeit den Zeiten voran, sonst könntest du nicht aller Zeit vorausgehen. Aber du gehst in der Erhabenheit der stets gegenwärtigen Ewigkeit aller Vergangenheit voran und bist über alle Zukunft erhaben, weil sie eben zukünftig ist, und wenn sie einmal kommt, ist sie auch schon vergangen; du aber bleibst, wie du bist und deine Jahre nehmen kein Ende. Deine Jahre gehen weder, noch kommen sie; unsere irdischen Jahre gehen und kommen, so daß sie endlich alle kommen. Alle deine Jahre sind ein ewiges Heute, weil sie unbeweglich bestehen; und da sie nicht dahingehen, werden sie von den kommenden nicht verdrängt, weil sie nicht vorübergehen; aber unsere irdischen Jahre werden erst dahin sein, wenn sie einmal alle dahin sind. Dein Heute ist die Ewigkeit; deshalb zeugtest du den Gleichewigen, zu dem du sagtest: Heute habe ich dich gezeuget. Alle Zeiten schufst du und vor allen Zeiten bist du und nie gab's eine Zeit, wo keine Zeit war.

Elftes Buch - Vierzehntes Kapitel

1114
Niemals also hat es eine Zeit gegeben, wo du nicht schon etwas geschaffen hattest, weil du ja die Zeit selbst geschaffen hast. Und keine Zeit ist ewig wie du, weil du immerdar derselbe bleibst. Wenn sie aber bliebe und nicht verginge, dann wäre sie keine Zeit. Denn was ist die Zeit? Wer vermöchte dies leicht und in Kürze auseinanderzusetzen. Wer kann nun darüber etwas je sprechen, es auch nur in Gedanken umfassen? Und doch erwähnen wir nichts so häufig und nichts ist als so selbstverständlich als die Zeit. Und wir verstehen es allerdings irgendwie, wenn wir davon sprechen, noch verkennen wir es, wenn wir eine andere von ihr reden hören. Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, daß ich weiß, daß, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wem nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit Übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wem also die Gegenwart nur darum zur Zeit wird, weil sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir da sagen, daß sie ist und wenn sie deshalb ist, weil sie sofort nicht mehr ist; so daß wir insofern in Wahrheit nur sagen könnten, daß sie eine Zeit ist, weil sie dem Nichtsein zustrebt?

Elftes Buch - Fünfzehntes Kapitel

1115
Und doch sagen wir, das ist eine lange, jenes eine kurze Zeit; dies können wir aber nur von der Vergangenheit sagen und der Zukunft. Die vergangene Zeit, z. B. vor hundert Jahren, nennen wir lange, ebenso nennen wir in der Zukunft die Zeit nach hundert Jahren. Die Vergangenheit von zehn Tagen nennen wir, meiner Meinung nach, kurz, sowie wir die zukünftige Zeit nach zehn Tagen kurz nennen. Wie aber kann nun lang oder kurz sein, was gar nicht ist? Denn die Vergangenheit ist nicht mehr und die ,Zukunft ist noch nicht. Wir sollten daher von der Vergangenheit nicht sagen: "Sie war lang!" und von der Zukunft: "Sie wird lang sein." O mein Gott und Herr, mein Licht, spottet nicht auch hier deine Wahrheit der Menschen? Denn wie war die vergangene Zeit lang, war sie lang, als sie bereits vergangen war oder als sie noch gegenwärtig war, Denn dann nur konnte sie lang sein, als sie überhaupt etwas war, was lang sein konnte; als Vergangenheit aber war sie nicht mehr; deshalb konnte sie auch nicht lang sein, wie sie überhaupt nicht war. Wir dürfen also eigentlich nicht sagen: "Die vergangene Zeit war lang", denn wir werden nichts an ihr finden, was lang gewesen wäre, da es, seitdem es vergangen ist, nicht mehr ist; sondern wir müssen sagen: "jene gegenwärtige Zeit war lang", weil sie nur, während sie Gegenwart war, lang war. Denn noch war sie nicht zum Nichtsein übergegangen, und deshalb war sie etwas, was lang sein konnte. Sobald sie aber vergangen war, hörte sie zugleich auch auf, lang zu sein, da sie zu sein überhaupt aufgehört hat.

Laß uns sehen, o Menschenseele, ob die Gegenwart lang sein könne; denn dir ist's gegeben, die Dauer der Zeit wahrzunehmen und zu berechnen. Was ist deine Antwort darauf? Sind hundert Jahre der Gegenwart eine lange Zeit? Sich zuerst, ob hundert Jahre überhaupt gegenwärtig sein können. Wenn das erste Jahr vergeht, so ist dies nur gegenwärtig, neunundneunzig Jahre aber sind noch zukünftig und deshalb noch gar nicht; während nun das zweite Jahr vergeht, ist bereits eins vergangen, das andere gegenwärtig, die übrigen aber noch zukünftig. Und wenn wir so ein beliebiges Jahr aus der Mitte dieser hundert als gegenwärtig setzen, so haben wir vor ihm vergangene und nach ihm zukünftige; folglich können hundert Jahre nicht gegenwärtig sein. Nun siehe, ob nicht wenigstens das eine Jahr, das verläuft, gegenwärtig ist. Während der erste Monat desselben verläuft, sind die andern zukünftig, verläuft der zweite, so ist der erste bereits wieder vergangen und die übrigen sind noch zukünftig. Folglich gehört auch das Jahr, das vergeht, nicht ganz der Gegenwart an, und ist es nicht in seinem ganzen Umfange gegenwärtig, so ist es überhaupt nicht gegenwärtig. Denn das Jahr hat zwölf Monate, von denen jedesmal der ablaufende Monat gegenwärtig ist, die übrigen aber gehören entweder der Vergangenheit oder der Zukunft an. Nun ist aber freilich auch nicht einmal der ablaufende Monat ganz gegenwärtig, sondern nur ein Tag davon; ist's der erste, so sind die übrigen noch kommende, ist's der letzte, so sind die übrigen vergangene; ist's irgendeiner aus der Mitte, so läuft er ab zwischen vergangenen und zukünftigen Tagen.

So ist die gegenwärtige Zeit, die allein, wie wir fanden, lang genannt werden kann, kaum auf den Raum eines Tages beschränkt. Aber laßt uns auch diese noch zerlegen, da auch nicht ein Tag ganz gegenwärtig ist. Er wird von vierundzwanzig Stunden des Tages und der Nacht ausgefüllt, von denen die erste die übrigen als zukünftig vor sich hat; die letzte sie als vergangen nach sich; eine jede in der Mitte hat vergangene vor sich und zukünftige nach sich. Und selbst die eine Stunde verläuft in flüchtigen Augenblicken; was von ihr schon enteilte, ist vergangen, und was noch übrig ist, zukünftig. Könnte man sich irgendeine Zeit denken, die sich nicht mehr, auch nicht in die kleinsten Teilchen zerteilen läßt, so könnte diese allein gegenwärtig genannt werden. Und doch würde auch diese so schnell von der Zukunft in die Vergangenheit hinübereilen, daß sie auch nicht die geringste Dauer aufweisen könnte. Denn wenn es der Fall wäre, so würde es in Vergangenheit und Zukunft zu teilen sein; für die Gegenwart bliebe kein Raum. Wo ist also eine Zeit, die wir lang nennen könnten? Etwa die Zukunft? Wir können nicht sagen von ihr: "Sie ist lang", weil ja noch gar nichts vorhanden ist, was lang sein könnte; wir sagen vielmehr: "Sie wird lang sein." Wann wird sie es erst nun sein? Denn wenn sie auch dann, wo sie noch Zukunft ist, nicht lang sein kann, weil das, was lang sein soll, noch nicht ist, sie aber ebensowenig lang sein kann, wenn sie aus der Zukunft, die noch nicht ist, allmählich das Dasein gewinnt und zur Gegenwart wird, damit etwas da sei, was lang wäre, da ruft uns bereits die Gegenwart mit obigen Worten zu, daß sie nicht lang sein könne.

Elftes Buch - Sechzehntes Kapitel

1116
Und doch, Herr, nehmen wir Zeiträume wahr und vergleichen sie miteinander und nennen die einen länger, die andern kürzer. Wir berechnen auch, um wieviel diese Zeit kürzer oder länger ist als jene, und wir sagen, diese ist zwei- oder dreimal so lang als jene, oder sie sind sich gleich. Aber wir messen die Zeiten nur im Vorübergehen, wenn wir sie durch die Wahrnehmung messen. Wer aber kann vergangene Zeiten messen, die nicht mehr sind oder als zukünftige noch nicht sind? Es sei denn, daß jemand zu behaupten wagte, etwas messen zu können, was gar nicht ist. Während also die Zeit vorübergeht, kann man sie wahrnehmen, wenn sie aber vorübergegangen ist, ist es unmöglich, weil sie dann nicht mehr ist.

Elftes Buch - Siebzehntes Kapitel

1117
Ich forsche, o Vater, und behaupte nicht; mein Gott schütze und regiere mich. Wer dürfte mir sagen, es gäbe nicht drei Zeiten, wie wir als Knaben es gelernt haben und wir wiederum den Knaben es gelehrt haben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern nur die Gegenwart, weil jene beiden nicht sind? Oder sind auch diese und tritt etwa jene nur aus der Verborgenheit hervor, wenn aus der Zukunft die Gegenwart wird, und tritt diese etwa nur in die Verborgenheit zurück, wenn aus der Gegenwart die Vergangenheit wird? Denn wie sahen es die, welche das Zukünftige voraussagten, wenn es noch nicht war? Denn was nicht ist, kann nicht gesehen werden. Und die, welche Vergangenes erzählen, würden nichts Wahres erzählen, wenn sie es nicht im Geiste schauten. Wäre es gar nicht, so könnte es überhaupt nicht gesehen werden. Es gibt also eine Zukunft und Vergangenheit.

Elftes Buch - Achtzehntes Kapitel

1118
Laß mich, Herr, noch weiter fragen, meine Hoffnung, möge mein Bemühen nicht gestört werden. Wenn es also eine Zukunft und Vergangenheit gibt, so möchte ich wissen, wo sie sind. Wenn ich dies auch noch nicht vermag, so weiß ich doch, daß, wo sie auch sein mögen, sie dort nicht Zukunft oder Vergangenheit sind, sondern Gegenwart. Denn wäre die Zeit nicht auch dort noch Zukunft, so wäre sie dort noch nicht, wäre aber dort schon die Vergangenheit vergangen, so wäre sie dort nicht mehr.

Wo immer also etwas ist, so ist es nie in der Gegenwart vorhanden. Wem wir demgemäß Vergangenes der Wahrheit gemäß erzählen, so schöpfen wir zwar nicht die Dinge selbst, die vergangen sind, aus dem Gedächtnis, sondern nur Worte, die den Vorstellungen von Dingen entsprungen sind, die in der Seele gleichsam beim Vorüberziehen dem Geiste Spuren einprägten. So gehört meine Kindheit, die nicht mehr ist, der Vergangenheit an, die nicht mehr ist. Wenn ich ihrer aber gedenke, schaue ich ihr Bild in der Gegenwart, weil es noch in meinem Gedächtnisse ist. Ob nun bei der Verkündigung der Zukunft die Sache sich ähnlich verhält, so daß von Dingen, die noch gar kein Sein haben, die Bilder davon als bereits seiend sich im Geiste spiegeln, ob dem so ist, o mein Gott, ich bekenne, das weiß ich nicht. Das aber weiß ich sicher, daß wir sehr oft über unsere zukünftigen Handlungen im voraus nachdenken und daß diese Vorüberlegung der Gegenwart, die Handlung selbst dagegen, über die wir nachdenken, der Zukunft angehört, weil sie noch nicht ist; sobald wir aber mit der Ausführung jener Handlung, die wir vorüberlegten, begonnen haben, dann gewinnt sie das Sein, weil sie nun nicht mehr zukünftig, sondern gegenwärtig ist.

Wie es sich auch mit dem geheimen Vorgefühl für zukünftige, verhalten mag, was kein Sein besitzt, kann auch nicht gesehen werden. Was aber bereits ist, das ist nicht zukünftig, sondern gegenwärtig. Wenn man also von einem Schauen in die Zukunft redet, so ist dies nicht ein Schauen dessen, was noch nicht ist, sondern was bereits gegenwärtig ist, aus dem das im Geiste Aufgefaßte als zukünftig vorausgesagt wird. Diese Vorstellungen sind bereits da und die, welche dies voraussagen, schauen sie in sich als gegenwärtig. Unter so vielen Dingen möge ein beliebiges Beispiel für mich sprechen. Ich sehe die Morgenröte, ich verkündige den Aufgang der Sonne; was ich sehe, ist gegenwärtig, was ich verkünde, ist zukünftig; die Sonne aber ist in diesem Falle nicht das Zukünftige, denn sie ist bereits da, sondern ihr Aufgang selbst, der noch nicht ist, doch auch den Aufgang könnte ich nicht vorhersehen, wenn ich mir ihn nicht im Geiste vorstellte wie eben jetzt, wo ich dies sage.

Indes ist weder jene Morgenröte, die ich am Himmel sehe, der Sonnenaufgang, obgleich sie ihm vorangeht, noch jene seelische Vorstellung; ich sehe aber beide als gegenwärtig, so daß ich jene, die noch zukünftig ist, voraussagen kann. Das Zukünftige ist also noch nicht vorhanden, und was noch nicht ist, ist überhaupt nicht, und was nicht ist, kann man auch gar nicht sehen, sondern nur vorhersagen aus dem Gegenwärtigen, das bereits ist und somit gesehen werden kann.

Elftes Buch - Neunzehntes Kapitel

1119
Du aber, Herrscher über deine Schöpfung, wie belehrest du die Seele über das, was da zukünftig ist? Denn du hast ja deine Propheten darüber belehrt. Welches ist die Art, wie du, für den es keine Zukunft gibt, die Zukunft lehrst, oder vielmehr bezüglich der Zukunft Gegenwärtiges? Denn was nicht ist, kann ja überhaupt nicht gelehrt werden. Diese Weise ist meiner Fassungskraft nicht gewachsen; solche Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu hoch; ich kann es nicht begreifen; durch dich aber vermag ich es wohl, wenn du es mir verleihest, du süßes Licht meines inneren Auges.

Elftes Buch - Zwanzigstes Kapitel

1120
Das ist nun wohl klar und einleuchtend, daß weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung. Wenn es uns gestattet ist, so zu sagen, so sehe ich allerdings drei Zeitunterschiede und gestehe, daß es wirklich drei gibt. Man mag auch sagen: Es gibt drei Zeiten, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wie es einmal der Mißbrauch der Gewohnheit ist; mag man es sagen, ich kümmere mich nicht darum, ich widerstrebe nicht, ich tadele es nicht; wem man nur versteht, was man sagt, und nicht der Meinung ist, als ob das Zukünftige oder Vergangene jetzt sei. In der Sprache gibt es weniges, was mit dem eigentlichen Ausdruck gesagt werden kann, das meiste uneigentlich, dessenungeachtet erkennt man, was wir wollen.

Elftes Buch - Einundzwanzigstes Kapitel

1121
Ich habe kurz vorher gesagt, daß wir die Zeit im Vorübergehen messen, so daß wir sagen können, diese Zeit ist im Verhältnis zu jener einfachen Zeit das Doppelte oder diese ist gerade so groß wie jene. Deshalb messen wir, wie ich sagte, die Zeiten, wenn sie vorübergehen. Wenn mir nun jemand sagt: Woher weißt du das? würde ich antworten: Ich weiß es, daß wir sie messen, und daß das, was nicht ist, nicht gemessen werden kann, und daß Vergangenheit und Zukunft nicht sind. Wie messen wir aber die gegenwärtige Zeit, wenn sie keine Ausdehnung hat? Sie wird gemessen, wenn sie vorübergeht, wenn sie aber bereits vorübergegangen ist, wird sie nicht mehr gemessen, weil dann nichts mehr da ist, was gemessen werden kann. Aber woher, wie und wohin geht sie vorüber, indes sie gemessen wird? Woher, wenn nicht aus der Zukunft, wie, wenn nicht durch die Gegenwart, wohin, wem nicht in die Vergangenheit? Aus dem also, was noch nicht ist, durch das, was keine Dauer hat, zu dem, was nicht mehr ist. Was messen wir aber, wenn nicht die Zeit in irgendeiner Ausdehnung? Denn wenn wir sagen: Das Einfache, das Doppelte, das Dreifache, das Gleiche, so sagen wir das nur von der Zeit in ihrer Ausdehnung und Dauer. In welcher Dauer messen wir also die vorübergehende Zeit? Etwa in der Zukunft, von wo aus sie vorübergeht? Aber was noch nicht ist, messen wir nicht, oder in der Gegenwart, durch die sie vorübergeht? Aber wir können nicht messen, was keine Dauer hat. oder in der Vergangenheit, wohin sie vorübergeht. Aber wir können nicht messen, was nicht mehr ist.

Elftes Buch - Zweiundzwanzigstes Kapitel

1122
Meine Seele brennt vor Verlangen, diesen rätselhaften Knoten zu lösen. Verschließe nicht, o mein Gott und Herr, gütiger Vater, ich flehe dich an im Namen Jesu Christi, verschließe meinem Verlangen nicht dieses Alltägliche und doch so Geheimnisvolle, auf daß mein Geist in dasselbe eindringe und es durch die Erleuchtung deiner Barmherzigkeit, Herr, erhelle. Wen kann ich, Herr, über diese Dinge befragen? Und wem kann ich mit größerem Nutzen meine Unwissenheit bekennen, als dir, der meinen Eifer nicht tadelt, der mich so in heißem Drange unwiderstehlich zu deiner Schrift hinzieht. Gib, was ich liebe; denn ich hebe und auch dies hast du mir gegeben. Gib, Vater, der du in Wahrheit deinen Kindern gute Gaben zu geben weißt. Gib mir's, denn ich hab's auf mich genommen, zur Erkenntnis zu gelangen, aber es ist mir zu schwer, bis du es mir aufschließest.

Bei Christus beschwör ich dich, im Namen dieses Heiligen der Heiligen, laß niemand mir dabei hinderlich sein. Ich glaubte, deshalb redete ich auch. Das ist meine Hoffnung und ihr lebe ich nach, daß ich schauen darf die Freude des Herrn. Siehe du hast von alters her meine Tage bestimmt und sie fliehen dahin, ich weiß nicht wie. Wir sprechen von Zeit und Zeit, von Zeiten und Zeiten und fragen: Wann hat er das gesagt? Wann hat er das getan? Wie lange habe ich das nicht gesehen? Und dann diese letzteren Silben nehmen doppelte Zeit in Anspruch im Vergleich mit jener einfachen kürzeren. Wir sagen es und hören es und wir verstehen es und werden verstanden. Das ist so klar und gewöhnlich wie etwas und doch auch wiederum so völlig dunkel und die Lösung des Rätsels noch unbekannt.

Elftes Buch - Dreiundzwanzigstes Kapitel

1123
Ich hörte éinstmals von einem gelehrten Manne sagen, die Zeit sei die Bewegung der Sonne, des Mondes und der Gestirne. Ich aber stimmte nicht bei. Denn warum sollten nicht vielmehr die Bewegungen aller Körper die Zeit sein? Oder wenn die Lichter des Himmels feierten und die Scheibe des Töpfers sich nur noch bewegte, gäbe es dann keine Zeit mehr, um die Drehungen dieser Scheibe zu messen, und sagen zu können, daß sie entweder in gleicher Schnelligkeit vollbracht würden, oder wenn die Bewegung vielleicht eine langsamere oder schnellere wäre, daß einige mehr, die andern minder langsam seien? Oder wenn wir dieses sprächen, würden wir nicht auch noch in der Zeit sprechen, oder wären in unsern Worten einige Silben nicht allein deshalb von verschiedener Länge und Kürze, weil sie bald längere, bald kürzere Zeit tönten?

Ich möchte zur Erkenntnis der Bedeutung und des Wesens der Zeit kommen, wodurch wir die Bewegung der Körper messen und zum Beispiel sagen, jene Bewegung sei doppelt so lang als diese. De= ich frage dies, weil wir nicht bloß den Zeitraum Tag nennen, wo die Sonne sich über dem Horizont befindet, danach scheiden wir Tag und Nacht - sondern auch den Zeitraum des ganzen Umlaufes vom Aufgang bis wieder zum Aufgang, demgemäß wir sagen: "So viele Tage sind verflossen", wir meinen dann die Tage mit den dazugehörigen Nächten und zählen die Nächte nicht besonders; wird nun der Tag durch die Bewegung der Sonne und ihren Kreislauf vom Morgen bis wieder zum Morgen vollendet, so frage ich danach, ob die Bewegung selbst der Tag ist oder ob es der Zeitraum ist, worin sie stattfindet, oder beides zugleich. Denn wäre das erste der Tag, so wäre er also auch Tag, wenn die Sonne ihren Lauf innerhalb einer einzigen Stunde vollendet; wäre es das zweite, so wäre dann kein Tag, wenn es von einem Sonnenaufgang bis zum andern nicht länger als eine Stunde währte, sondern vierundzwanzigmal müßte alsdann die Sonne umlaufen, um einen Tag zu vollenden.

Wäre endlich beides zugleich der Tag, so wäre es weder ein Tag zu nennen, wenn die Sonne ihren Lauf in der Zeit einer Stunde vollendete, noch auch, wenn die Sonne ausbliebe und darüber so viel Zeit verginge, als sie in der Regel braucht zur Vollendung ihres ganzen Umlaufs von einem Morgen zum andern. ich will darum jetzt nicht weiter fragen, was eigentlich ein Tag, sondern was denn die Zeit sei, mittels deren wir den Umlauf der Sonne messen und sagen, er sei um die Hälfte Zeit kürzer als gewöhnlich, wenn er in einem Zeitraume vollendet wäre, in welchem zwölf Stunden ablaufen, und wenn wir beide Zeiten vergleichen, würden wir jene die einfache, diese die doppelte Zeit nennen, wenn die Sonne zuweilen in jener einfachen, zuweilen in jener doppelten Zeit vom Aufgange bis wieder zum Aufgange liefe. Niemand sage mir deshalb, die Bewegung der Himmelskörper sei die Zeit, denn als einst die Sonne auf Eines Wunsch stillstand, damit er eine Schlacht siegreich vollende, stand wohl die Sonne still, die Zeit dagegen ging ihren Lauf, und jene Schlacht wurde geliefert und beendigt in dem Zeitraume, der für sie genügte. Ich sehe also, daß die Zeit eine gewisse Ausdehnung ist. Aber erkenne ich es, oder glaube ich es nur zu erkennen? Du wirst mich es lehren, der du das Licht und die Wahrheit bist.

Elftes Buch - Vierundzwanzigstes Kapitel

1124
Willst du, daß ich beistimme, wenn jemand sagt, die Zeit sei die Bewegung eines Körpers? Das willst du nicht. Denn jeder Körper bewegt sich, wie ich gehört habe, nur in der Zeit. So sagst du es. Daß aber die Bewegungen eines Körpers die Zeit selber sei, höre ich nicht; du sagst das nicht. Denn wenn sich ein Körper bewegt, so messe ich durch die Zeit, wie lange er sich bewegt von Anfang bis zu Ende der Bewegung. Und sehe ich nicht den Beginn jener Bewegung und fährt er fort, sich zu bewegen, so daß ich das Ende der Bewegung nicht absehe, so bin ich nicht imstande, sie zu messen, als nur etwa von der Zeit an, wo ich sie wahrnahm bis zum Ende meiner Wahrnehmung. Sah ich lange Zeit die Bewegungen, so kann ich mir sagen, die Zeit ist eine lange, nicht aber, wie lang sie ist. Denn wenn wir wirklich eine Bestimmung der Länge angeben, so tun wir das doch nur infolge einer Vergleichung; so wenn wir sagen, diese ist so groß als jene, oder diese ist doppelt so lang im Vergleich zu jener usw. Wenn wir aber den Punkt bezeichnen könnten, woher und wohin ein Körper bei jener Bewegung kommt, so könnten wir auch bestimmen, wieviel Zeit der Körper oder einer seiner Teile braucht, um sich von einem Punkt zum andern zu bringen. Da nun die Bewegung eines Körpers etwas anderes ist als das Maß, mit dem wir ihre Länge messen, wer erkennt nicht, was wir von diesen beiden vielmehr Zeit nennen müssen? Denn wenn auch ein Körper sich verschiedentlich bald bewegt, bald stillsteht, so messen wir doch nicht bloß jene Bewegung, sondern auch die Dauer seines Stillstandes und sagen: Er stand so lange still, als er sich bewegte, oder zwei- oder dreimal so lang war, als sonst er war. Das ist das Resultat unserer Messung, sei es ein genaues oder ungefähres. Es ist also die Zeit etwas anderes als die Bewegung des Körpers.

Elftes Buch - Fünfundzwanzigstes Kapitel

1125
Ich bekenne es dir, Herr, daß ich immer noch nicht weiß, was die Zeit ist, und wiederum ich bekenne dir, Herr, zu wissen, daß ich dieses in der Zeit sage und daß ich schon lange über die Zeit rede: Wie weiß ich nun dieses, wenn ich doch nicht weiß, was die Zeit selber ist? oder weiß ich vielleicht das nicht auszudrücken, was ich weiß, weh mir, daß ich nicht einmal weiß, was ich nicht weiß? Siehe, mein Gott, ist's offenbar, daß ich nicht lüge, wie ich rede, so ist mein Herz. Du erleuchtest, mein Gott und Herr, meine Leuchte, machst meine Finsternis ficht.

Elftes Buch - Sechsundzwanzigstes Kapitel

1126
Bekennt dir nicht meine Seele in wahrhaftigem Bekenntnisse, daß ich die Zeiten messe? ja, mein Gott, ich messe sie, und doch weiß ich nicht, was ich messe? Ich messe die Bewegung des Körpers durch die Zeit, und doch messe ich nicht die Zeit selbst? Oder könnte ich die Bewegung eines Körpers messen, wie lang sie ist und in welcher Zeit er von einem Punkte zum andern gelangte, wenn ich nicht die Zeit mäße, in der er sich bewegt? Wodurch messe ich also die Zeit selbst? Messen wir etwa die längere Zeit durch die kürzere, wie wir die Länge eines Balkens durch das Maß eines Fußes messen? Denn so scheinen wir durch das Maß einer kurzen Silbe das Maß einer langen Silbe zu messen und nennen sie doppelt so lang. So messen wir den Umfang von Gedichten durch die Länge der Verse und die Länge der Verse durch die Länge der Füße und die Länge der Füße durch die Länge der Silben und die Länge der langen Silben durch die kurzen: doch nicht wie sie auf dem Papier stehen - denn so messen wir räumliche Ausdehnungen, nicht die Zeit -, sondern wie sie sich ergibt, wenn die Worte beim Aussprechen vorübergehn und wir dann sagen: das Gedicht ist lang, denn es besteht aus soundso vielen Versen, die Verse sind lang, denn sie bestehen aus soundso viel Füßen; die Füße sind lang, denn sie zählen soundso viel Silben; die Silbe ist lang, denn sie hat das Doppelte einer kurzen. Aber auch so wird noch kein sicheres Zeitmaß erreicht, da ja erst auch ein kürzerer Vers, wenn er gedehnter ausgesprochen wird, einen geraumeren Zeitraum hindurch ertönt als ein längerer, wenn er rasch vorgetragen wird. Ebenso verhält es sich mit einem Gedichte, mit einem Fuße, einer Silbe, deshalb scheint es mir, daß die Zeit nichts anderes ist als eine Ausdehnung; aber von was, weiß ich selber nicht; und wunderbar, wenn nicht von dem Geiste selbst. Was messe ich, ich bitte dich, mein Gott, wenn ich unbestimmt sage: "Diese Zeit ist länger als jene", Oder auch bestimmt-. "Diese ist doppelt so lang als jene?" Ich messe die Zeit, ich weiß es; aber ich messe nicht die zukünftige Zeit, weil sie im Raume keine Ausdehnung; ich messe nicht die vergangene, weil sie nicht mehr ist. Was messe ich also? Etwa die vorübergehende Zeit, aber noch nicht vergangene Zeit. So war es meine Meinung.

Elftes Buch - Siebenundzwanzigstes Kapitel

1127
Fasse dich, meine Seele, und merke wacker auf; Gott ist unsere Hilfe; er hat uns gemacht, und nicht wir selbst. Merke auf, wo das Morgenrot der Wahrheit aufgeht. Denke dir, ein Körper beginnt mit seiner Stimme zu ertönen, läßt sich hören, sie ertönt und ertönt fort und verhallt; es ist Schweigen eingetreten und jene Stimme ist nicht mehr. Ehe sie ertönte, war sie zukünftig und konnte nicht gemessen werden, weil sie noch nicht war, und nun kann sie es nicht, weil sie nicht mehr ist. Als sie ertönte, war es möglich, denn da war sie in Wirklichkeit vorhanden und konnte gemessen werden. Aber auch damals war sie nicht bleibend; sie kam und ging vorüber. Oder war es deshalb um so eher möglich? Denn vorübergehend dehnte sie sich zu einer gewissen Dauer aus, durch die sie gemessen werden konnte, weil die Gegenwart keinen Raum hat. Wenn es also möglich war, so denke dir, eine andere Stimme ertönt, und sie ertönt noch fort und fort ohne Unterbrechung; laßt sie uns messen, solange sie noch ertönt, denn wem sie zu tönen aufgehört hat, wird sie bereits vorübergegangen sein, und dann ist's nicht mehr möglich, sie zu messen; laßt sie uns also wirklich messen und sagen, welche Dauer sie hat. Aber noch ertönt sie, und doch kann sie nur gemessen werden von ihrem Anfange, wo sie zu ertönen begann, bis zu dem Ende, wo sie aufhörte. Wir messen nämlich den Zwischenraum selbst von irgendeinem Anfange bis zu einem Ende. Daher kann die Stimme, die noch nicht ihr Ende erreicht hat, nicht gemessen werden, daß man sagen könne, wie lang oder wie kurz sie sei; auch läßt sich nicht sagen, sie sei irgendeiner gleich oder im Vergleich zu irgendeiner andern einfach oder doppelt oder etwas Derartiges. Ist sie aber zu Ende, so ist sie überhaupt nicht mehr. Wie wäre es also möglich, sie zu messen? Und doch messen wir die Zeiten; aber weder die, welche noch ist, noch die, welche nicht mehr ist, noch auch die, die sich auf keine Dauer erstreckt, noch auch die, die keine Grenze hat; also weder die zukünftige Zeit, noch die vergangene, noch die gegenwärtige, noch die vorübergehende Zeit messen wir, und dennoch messen wir die Zeit.

"O Gott, du Schöpfer aller Welt"; dieser Vers besteht aus acht abwechselnd kurzen und langen Silben. Vier sind also kurz: die erste, dritte, fünfte und siebente, sie sind einfach im Vergleich zu den vier langen, der zweiten, vierten, sechsten und achten. Diese erfordern im Vergleich zu jenen die doppelte Zeitdauer. Ich spreche sie aus, ich wiederhole sie, und es ist so, soweit wir unserm Sinne darüber Gewißheit verschaffen. Soweit nun die sinnliche Wahrnehmung zuverlässig ist, messe ich die lange Silbe mit der kurzen und mache die Wahrnehmung, daß sie doppelt so lang ist als jene. Aber wenn die eine nach der andern ertönt, wenn die erste kurz, die folgende lang ist, wie kann ich dann die kurze festhalten und sie beim Messen der langen anwenden, um zu finden, daß sie die zweifache Länge von jener hat, da die lange erst zu ertönen beginnt, wenn die kurze bereits aufgehört hat? Auch die lange Silbe selbst messe ich nicht, während siegegenwärtig ist, sie ist ja erst zu messen, wenn sie beendet ist. Hat sie aufgehört, so ist sie bereits vorübergegangen. Was soll ich da messen? Wo ist denn die kurze Silbe, mit der ich messe, wo die lange, die ich messe? Beide sind erklungen, sind verklungen, vergangen, sind bereits nicht mehr. Und doch messe ich und gebe mit Zuversicht die Antwort, soweit man sich auf ein geübtes Gehör verlassen kann, jene sei das Einfache, diese das Zweifache, nämlich der Zeitdauer nach. Es wäre unmöglich, wenn diese beiden Silben nicht bereits vergangen und beendet wären. Ich messe also nicht sie selbst, die bereits nicht mehr sind, sondern etwas, was sich meinem Gedächtnisse eingeprägt hat.

In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten; entgegne mir nicht: Wieso das? Laß dich nicht durch die Menge deiner Vorurteile verwirren. In dir, ich sage es nochmals, messe ich die Zeiten; der Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen, bleibt auch, wenn sie vorübergegangen sind, und ihn messe ich, wenn ich die Zeiten messe. Es ist also entweder er selbst die Zeit, oder es ist nicht die Zeit, die ich messe. Aber wie, wenn wir nun selbst das Stillschweigen messen und sagen, dieses Schweigen hat ebenso lange gedauert, als jene Stimme anhält? Dehnen wir da nicht unsere Gedanken nach der Dauer der Stimme, als wenn sie noch ertönte, um darnach etwas von der Dauer des Schweigens angeben zu können? Denn wenn auch Stimme und Mund schweigen, lassen wir doch in Gedanken Gedichte, Verse und jegliche Rede an unserem Geiste vorübergehen und geben dann die betreffende Ausdehnung ihres Vorübergangs und das Verhältnis der Zeitdauer des einen zum andern gerade so an, als wenn wir jene Gedichte usw. laut aussprächen. Wenn irgend jemand einen etwas längeren Laut von sich gäbe und im voraus dessen Länge bestimmte, so bestimmt er diesen Zeitraum in der Stille, übergibt ihn seinem Gedächtnisse und beginnt jenen Ton hervorzubringen, bis er die von ihm festgesetzte Dauer erreicht hat, oder vielmehr er ertönte und wird ertönen, denn soweit er vorüber ist, soweit erschallte er bereits; was aber noch übrig ist, das wird noch ertönen. Es wird also vollendet, während die gegenwärtige Aufmerksamkeit das Zukünftige in die Vergangenheit überträgt, so, daß durch die Abnahme der Zukunft die Vergangenheit wächst, bis sich nach gänzlichem Aufbruch der Zukunft alles in Vergangenheit umgesetzt hat.


Augustinus - Bekenntnisse 1110