ANSPRACHE 2006 11

AN DIE BISCHÖFE AUS DER DEMOKRATISCHEN REPUBLIK KONGO ANLÄSSLICH IHRES "AD-LIMINA"-BESUCHES

Freitag, 27. Januar 2006



Herr Kardinal,
liebe Mitbrüder im Bischofsamt!

Mit Freude richte ich meinen brüderlichen Gruß an euch anläßlich eures Besuches »ad limina Apostolorum«. Ihr seid gekommen, um die Bande der Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom und dadurch mit dem gesamten Bischofskollegium zu festigen, und möchtet auf diese Weise eure Treue und die aller eurer Gläubigen zum Nachfolger Petri zum Ausdruck bringen. Ich wünsche mir, daß euer gemeinsames Gebet an den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus und eure Begegnungen mit den Mitgliedern der Römischen Kurie euch Freude und Kraft für euer Amt geben und euch mit neuem Eifer erfüllen. Mit Zuneigung grüße ich die Hirten und Gläubigen der Kirchenprovinzen Kinshasa, Mbandaka- Bikoro und Kananga, in denen ihr beauftragt seid, den Leib Christi aufzubauen und das Volk Gottes zu leiten. Die Katholiken der Demokratischen Republik Kongo bereiten sich zusammen mit allen Menschen guten Willens derzeit auf wichtige Ereignisse für die Zukunft ihres Landes vor, und ich möchte ihnen dazu meine geistige Nähe aussprechen. Zum Herrn erhebe ich ein inständiges Gebet, daß sie mit fester Hoffnung den Frieden und die Brüderlichkeit immer weiter voranbringen!

In den vergangenen Jahren war das Leben eures Landes geprägt von mörderischen Konflikten, die tiefe Narben im Gedächtnis der Völker hinterlassen haben. Im Laufe dieser Tragödie, von der besonders der Osten des Landes betroffen war, habt ihr in eindringlichen Botschaften die erfolgten Übergriffe verurteilt und die örtlichen Verantwortungsträger zu gewissenhaftem und mutigem Handeln aufgefordert, damit die Bevölkerung in Frieden und Sicherheit leben kann. Ich ermutige die Bischofskonferenz, in einträchtiger und furchtloser Zusammenarbeit wachsam zu bleiben, um die gegenwärtigen Fortschritte zu begleiten.

Die besonderen Zeiten des kirchlichen Lebens haben den letzten Jahren ihren Rhythmus gegeben. Sie, Herr Kardinal, erinnerten an das Große Jubiläum der Menschwerdung Christi. Außerdem sprachen sie vom Jahr 2005, in dem der 10. Jahrestag der Veröffentlichung des Nachsynodalen Schreibens Ecclesia in Africa begangen wurde. Durch die Einberufung dieser Versammlung wollte Papst Johannes Paul II. eine organische pastorale Solidarität auf dem afrikanischen Kontinent fördern, damit die Kirche allen Menschen guten Willens eine authentische Botschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe vermittelt im Hinblick auf einen neuen missionarischen Impuls der Ortskirchen. Während nun einige Diözesen das erste Jahrhundert ihrer Evangelisierung feiern, spreche ich den Wunsch aus, daß sich jeder von euch ein genaues Bild von der zentralen Frage der Darlegung des Evangeliums macht und daraus die nötigen pastoralen Schlußfolgerungen für das Leben der lokalen Gemeinden ableitet. Dadurch soll der apostolische Eifer der Hirten und Gläubigen erneuert werden und der sittliche, spirituelle und materielle Wiederaufbau die Gemeinschaften in einer einzigen Familie vereinen, als Zeichen der Brüderlichkeit für eure Mitmenschen.

Die Kirche erfüllt ihren prophetischen Auftrag, das Evangelium mit Mut und Begeisterung zu verkünden, in immer größerer Aufmerksamkeit gegenüber den Eingebungen des Heiligen Geistes und in immer engerer Verbundenheit mit Christus. Diese Sendung, zu der der auferstandene Herr seine Jünger beruft und dem sie sich nicht entziehen können, steht euch, liebe Brüder im Bischofsamt, in besonderem Maße zu, denn »die Evangelisierungstätigkeit des Bischofs, deren Ziel es ist, die Menschen zum Glauben zu führen oder sie im Glauben zu stärken, bildet einen herausragenden Ausdruck seiner Vaterschaft« (Pastores gregis ).

12 Daher ermutige ich euch, durch das Beispiel und die Redlichkeit eurer tief mit Christus vereinten Existenz das Evangelium Christi unermüdlich zu verkünden und euch von ihm erneuern zu lassen. Ich möchte euch auch daran erinnern, daß die Kirche vom Evangelium lebt, weil sie die Orientierungen für ihren Weg ständig aus ihm bezieht. Das Evangelium kann nur dann das Gewissen in der Tiefe erleuchten und die Kulturen von innen heraus verwandeln, wenn jeder Gläubige sich in seinem persönlichen und gemeinschaftlichen Leben vom Wort Christi ansprechen läßt, das uns zu einer persönlichen, reifen Glaubensantwort durch eine wahre, dauerhafte Bekehrung einlädt im Hinblick auf das soziale Wohlergehen und die Geschwisterlichkeit unter allen Menschen. Eure Liebe, eure Demut und euer schlichter Lebenswandel seien auch für eure Priester und Gläubigen ein anregendes Zeugnis, damit alle in der Wahrheit auf dem Weg der Heiligkeit vorangehen.

Ihr betont die Notwendigkeit, auf eine tiefgehende Evangelisierung der Gläubigen hinzuwirken. Die lebendigen kirchlichen Gemeinden, die überall in euren Diözesen zu finden sind, spiegeln gut diese »Evangelisierung aus der Nähe« wider, welche die Gläubigen im Glauben heranreifen läßt. Der brüderliche Geist des Evangeliums führt dann alle dazu, gemeinsam die unterschiedlichen Aspekte des kirchlichen Lebens zu überdenken, insbesondere das Gebet, die Evangelisierung, die Initiativen für die Armen und die Selbstfinanzierung der Pfarreien. Diese Gemeinschaften sind ebenfalls ein wertvolles Bollwerk gegen die Offensive der Sekten, die die Leichtgläubigkeit der Menschen ausnutzen und sie irreführen, indem sie ihnen eine falsche Auffassung vom Heil und vom Evangelium und bequeme Moralvorstellungen bieten.

In dieser Hinsicht fordere ich euch auf, mit äußerster Sorgfalt über die Qualität der ständigen Weiterbildung der in den Gemeinden verantwortlichen Personen zu wachen. Dies gilt vor allem für die Katecheten, deren Hingabe und kirchlichen Geist ich ausdrücklich loben möchte. Außerdem sollt ihr dafür sorgen, daß sie die geistigen, intellektuellen und materiellen Voraussetzungen besitzen, die es ihnen erlauben, ihre Aufgabe unter der verantwortungsvollen Leitung der Hirten bestmöglich zu erfüllen. Wacht auch darüber, daß diese lebendigen Kirchengemeinden wirklich missionarisch sind und sich darum bemühen, das Evangelium Christi nicht nur anzunehmen, sondern es auch vor den Menschen zu bezeugen. Vom Wort Christi und von den Sakramenten der Kirche gestärkt, werden die Gläubigen die nötige Freude und Kraft zu einem furchtlosen Zeugnis für die christliche Hoffnung finden. In diesen entscheidenden Zeiten für das Leben eures Landes sollt ihr besonders die Laiengläubigen an ihren dringenden Auftrag zur Erneuerung der weltlichen Ordnung erinnern und sie auffordern, »auf das Gesellschaftsgefüge einen Einfluß auszuüben, der nicht nur die Denkweisen, sondern die eigentlichen Strukturen der Gesellschaft so umwandeln soll, daß sich darin Gottes Pläne bezüglich der menschlichen Familie besser widerspiegeln« (Ecclesia in Africa ).

Meine Gedanken gehen nun mit herzlicher Zuneigung zu allen euren Welt- und Ordenspriestern, Mitarbeiter des bischöflichen Standes, die Christus als Amtsträger im Dienste des Gottesvolks und aller Menschen eingesetzt hat. Ich kenne die schwierigen Umstände, unter denen viele von ihnen ihr Amt ausüben, und ich danke ihnen für ihren oft heldenhaften Dienst zugunsten der geistigen Entfaltung ihrer Gemeinden. Zeigt ihnen eure Nähe durch die stete Präsenz in euren Diözesen, entwickelt mit ihnen einen vertrauensvollen Dialog und verfolgt ihr menschliches, intellektuelles und spirituelles Wachstum aufmerksam, damit sie durch das Streben nach Heiligkeit in ihrer Amtsausübung wahre Glaubenserzieher und Vorbilder der Liebe für die Gläubigen seien.

Außerdem sollt ihr die Priester zu einem vorbildlichen geistlichen und sittlichen Leben ermahnen. Diesbezüglich sollt ihr sie besonders an das einzigartige Band erinnern, das den Priester mit Christus vereint. Der priesterliche Zölibat, in vollkommener Keuschheit gelebt, offenbart die Tiefe und den vitalen Charakter dieser Verbindung. Sorgt auch für ihre ständige Weiterbildung, damit sie immer tiefer in das Mysterium Christi eindringen können. Sie mögen das Gewissen der Gläubigen erleuchten und solide, missionarische christliche Gemeinden aufbauen, die ihre Wurzeln und ihren Mittelpunkt in der Eucharistie haben, die von den Priestern im Namen Christi gefeiert wird.

»Alle Priester haben zusammen mit den Bischöfen so an ein und demselben Priestertum und Amt Christi teil, daß diese Einheit der Weihe und Sendung ihre hierarchische Gemeinschaft mit dem Stand der Bischöfe erfordert« (Presbyterorum ordinis
PO 7). In dieser Hinsicht ermutige ich euch auch zu einer ständigen Weiterentwicklung der Bande der Gemeinschaft innerhalb eurer Diözesanpriesterschaft. Ihr selbst habt in euren Fünfjahresberichten darauf hingewiesen, daß das Andauern der Konflikte sich zuweilen negativ auf die Einheit dieser Priester ausgewirkt hat, indem nämlich die Entwicklung von Stammesdenken und Machtkämpfen gefördert wurde. Das ist dem Aufbau des Leibes Christi abträglich, und es stiftet Verwirrung unter den Gläubigen. Ich ermahne einen jeden, zu der tiefen priesterlichen Brüderlichkeit, die den geweihten Amtsträgern eigen ist, zurückzufinden, um die besondere Einheit zu verwirklichen, die die Menschen zu Christus zieht. Ihr sollt eure Priester ermutigen, einander gegenseitig zur brüderlichen Liebe anzuspornen, besonders indem ihr ihnen bestimmte Formen des Gemeinschaftslebens vorschlagt, um ihnen zu helfen, gemeinsam in der Heiligkeit zu wachsen und ihrer Berufung und ihrem Auftrag treu zu bleiben in voller Gemeinschaft mit euch.

Große Aufmerksamkeit sollt ihr außerdem der Qualität der Ausbildung eurer künftigen Priester widmen. Mit euch danke ich für die Großherzigkeit zahlreicher junger Männer, die den Aufruf Christi, ihm als Hirten in der Kirche zu dienen, gehört haben und zur Fortführung ihrer Entscheidungsfindung in die Seminare aufgenommen werden. Es kommt jedoch darauf an - und dies ist eine pastorale Pflicht des Bischofs als erstem Vertreter Christi in der Priesterausbildung -, daß die Kirche ihrer großen Verantwortung in der Begleitung und im Erkennen der Priesterberufungen immer besser nachkommt.

Dies gilt vor allem für die Wahl der Ausbilder, deren anspruchsvolle Arbeit ich an dieser Stelle würdigen möchte. Unter der Führung des Rektors entwickelt sich die Seminargemeinschaft um diese Personen. Ihre menschliche und spirituelle Reife, ihre Liebe zur Kirche und ihre pastorale Weisheit mögen ihnen dabei helfen, ihren schönen Auftrag, die geistlichen, menschlichen und intellektuellen Fähigkeiten der Priesteramtskandidaten zu prüfen, sicher und gerecht auszuüben. Abschließend möchte ich mir die Bemerkungen zu eigen machen, in denen die Synodenväter die grundlegenden Eigenschaften, die im Hinblick auf ein fruchtbringendes Priesteramt erworben werden müssen, ganz korrekt zum Ausdruck gebracht haben: »Man wird heute dafür Sorge tragen müssen, die künftigen Priester zu den echten kulturellen Werten der jeweiligen Länder zu erziehen, zum Sinn für Ehrlichkeit, Verantwortung und Treue zum gegebenen Wort. Sie sollen dahingehend ausgebildet werden, […] daß sie geistlich gefestigte Priester sind, verfügbar, der Sache des Evangeliums ergeben, fähig, das Vermögen der Kirche transparent zu verwalten und ein einfaches, ihrer Umgebung entsprechendes Leben zu führen« (Ecclesia in Africa ).

Liebe Brüder im Bischofsamt! Zum Schluß unserer Begegnung rufe ich euch zur Hoffnung auf. Seit über einem Jahrhundert wird die Frohe Botschaft in eurem Land verkündet. Ich danke dem Herrn für die hochherzige Arbeit aller an der Evangelisierung Beteiligten, unter ihnen viele Missionare, die die Einsetzung und das Wachstum eurer Kirche möglich gemacht haben. Heute ermahne ich euch zur mutigen Fortsetzung der von euren Vorgängern begonnenen Evangelisierung. Kirche Gottes in der Demokratischen Republik Kongo, verliere nie die Freude am Glauben und an der Verkündigung des Evangeliums Christi, unseres Erlösers! Gestützt von den Glaubenszeugen eures Landes, insbesondere von der sel. Marie-Clémentine Anuarite Nengapeta und dem sel. Isidore Bakanja, seien eure Gemeinden prophetische Zeichen einer von Christus erneuerten Menschheit, die von Ressentiments und Angst befreit ist. Ich vertraue euch der mütterlichen Fürsprache der Jungfrau Maria an und erteile euch von Herzen meinen Apostolischen Segen, den ich auf die Priester, die Ordensmänner und -frauen, die Katechisten und alle Laiengläubigen eurer Diözesen ausweite.

AN DIE MITGLIEDER DER ITALIENISCHEN CHRISTLICHEN ARBEITERVERBÄNDE


Clementina-Saal

Freitag, 27. Januar 2006



13 Verehrte Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
liebe Mitglieder der Italienischen Christlichen Arbeiterverbände!

Unsere heutige Begegnung findet aus Anlaß des 60. Jahrestages der Gründung der Italienischen Christlichen Arbeiterverbände statt. Ich grüße den Präsidenten Luigi Bobba und danke ihm herzlich für die freundlichen Worte, die er an mich gerichtet hat und die mich wirklich berührt haben; ich grüße die anderen Verantwortlichen und jeden einzelnen von euch. Einen besonderen Gruß richte ich an die Bischöfe und Priester, die euch begleiten und Sorge tragen um eure geistliche Bildung. Einführung des Festes des hl. Josef des Arbeiters Die Entstehung eures Verbandes geht auf den Weitblick und die Intuition Papst Pius’ XII. seligen Angedenkens zurück, der eine sichtbare und einflußreiche Präsenz der italienischen Katholiken in der Arbeitswelt schaffen wollte, wobei er sich der wertvollen Mitarbeit des damaligen Substituten des Staatssekretariats, Giovanni Battista Montini, bediente. Zehn Jahre später, am 1. Mai 1955, sollte derselbe Oberhirte dann das Fest des hl. Josef des Arbeiters einführen, um allen Arbeitern der Welt den Weg zur persönlichen Heiligung durch die Arbeit zu weisen und so der Mühe des Alltags die Perspektive einer echten Humanisierung zurückzugeben. Auch heute appelliert das Thema der »Arbeit«, die im Mittelpunkt rascher und komplexer Veränderungen steht, an das menschliche Gewissen und verlangt, das Wohl des einzelnen und der Gesellschaft, das die Orientierungsgrundlage für jede konkrete Entscheidung ist, nicht aus den Augen zu verlieren.

Auf dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Treue zum ursprünglichen Plan Gottes möchte ich jetzt kurz mit euch und für euch die drei »Aufträge« oder »Treueversprechen« noch einmal betrachten, auf die ihr euch traditionell für eure verschiedenartigen Aktivitäten verpflichtet habt. Das erste »Treueversprechen«, das die ACLI zu leben berufen sind, ist die »Treue zu den Arbeitern«. Der Mensch ist »das Maß, an dem die Würde der Arbeit gemessen wird« (Kompendium der Soziallehre der Kirche, 271). Aus diesem Grund hat das Lehramt immer auf die menschliche Dimension der Arbeit verwiesen und hat sie so zu ihrem wahren Zweck zurückgeführt, ohne dabei zu vergessen, daß das Gebot der Sonntagsruhe die Krönung der biblischen Lehre über die Arbeit ist. Die Forderung, daß der Sonntag nicht den Werktagen gleichgemacht werde, ist daher eine Entscheidung zugunsten der Zivilisation.

Vom übergeordneten Stellenwert der Ethik in Bezug auf die menschliche Arbeit lassen sich weitere Prioritäten ableiten: der Vorrang des Menschen gegenüber der Arbeit (vgl. Laborem exercens
LE 12), der Arbeit gegenüber dem Kapital (ebd.), der Bestimmung der Güter für alle gegenüber dem Recht auf Privatbesitz (ebd., 14): kurz gesagt, der Vorrang des Seins gegenüber dem Haben (ebd., 20). Diese Rangordnung der Prioritäten zeigt deutlich, daß der Bereich der Arbeit vollberechtigt zur anthropologischen Frage gehört. Heute tritt in dieser Hinsicht eine neue und nie dagewesene Kehrseite der mit dem Schutz des Lebens verbundenen sozialen Frage hervor. Wir leben in einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik außergewöhnliche Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen bieten. Ein Mißbrauch dieser Macht kann jedoch zu einer ernsten und irreparablen Bedrohung für das Leben selbst werden. Daher muß die Lehre des geliebten Johannes Paul II., der uns aufforderte, das Leben als den neuen Horizont der sozialen Frage zu betrachten, noch einmal bekräftigt werden (vgl. Enzyklika Evangelium vitae EV 20). Der Schutz des Lebens von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende und überall dort, wo es bedroht, verletzt oder mit Füßen getreten wird, ist vorrangige Pflicht, in der eine wahre Ethik der Verantwortlichkeit zum Ausdruck kommt, die sich folgerichtig auch auf alle anderen Formen der Armut, der Ungerechtigkeit und der Ausgrenzung erstreckt.

Der zweite Auftrag, zu dem ich euch Mut zusprechen möchte, ist - in Übereinstimmung mit dem Geist eurer Gründerväter - die »Treue zur Demokratie«, denn nur sie kann die Gleichheit und die Rechte aller gewährleisten. Demokratie und Gerechtigkeit stehen nämlich in einer Art gegenseitiger Abhängigkeit voneinander, die alle Menschen auffordert, sich verantwortungsbewußt für den Schutz der Rechte jedes Menschen und besonders der Schwachen und Ausgegrenzten einzusetzen. Die Gerechtigkeit ist der Prüfstand für eine echte Demokratie. Unter diesen Voraussetzungen darf man nicht vergessen, daß die Suche nach der Wahrheit gleichzeitig die Bedingung ist, unter der eine echte Demokratie entstehen kann, die keine Scheindemokratie ist: »Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus« (Centesimus annus CA 46). Daher sind wir aufgefordert, an einer immer größeren Konsensbildung um den Rahmen gemeinsamer Bezugspunkte herum zu arbeiten. Andernfalls läuft die Berufung auf die Demokratie Gefahr, zur reinen Formalität zu werden, die Differenzen andauern läßt und Problematiken verschärft.

Der dritte Auftrag ist die »Treue zur Kirche«. Nur eine herzliche und leidenschaftliche Verbundenheit mit dem Weg der Kirche kann die Identität schaffen, die notwendig ist, um in jedem Teil der Gesellschaft und der Welt präsent zu sein, ohne dabei den Geschmack und den Duft des Evangeliums zu verlieren. Es ist kein Zufall, daß die Worte, die Johannes Paul II. am 1. Mai 1995 an euch gerichtet hat - »Nur das Evangelium erneuert die ACLI« - heute noch wegweisend für euren Verband sind, da sie euch ermutigen, das Wort Gottes zum Lebensmittelpunkt des Verbandes zu machen und die Evangelisierung als festen Bestandteil eurer Sendung zu betrachten. Die Anwesenheit der Priester, die euch im geistlichen Leben begleiten, hilft euch darüber hinaus, die Beziehungen zur Ortskirche aufzuwerten und den Einsatz für die Ökumene und den interreligiösen Dialog zu verstärken. Tragt als Laien und Angehörige eines christlichen Arbeiterverbandes stets Sorge um die Ausbildung eurer Mitglieder und Leiter, im Hinblick auf den besonderen Dienst, zu dem ihr berufen seid. Seid als Zeugen des Evangeliums und als Bauleute brüderlicher Verbundenheit in allen wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mutig präsent.

Liebe Freunde, der rote Faden, der eure 60-Jahr-Feier durchzogen hat, war eine Neuinterpretation der traditionellen »Treueversprechen « in Anbetracht des vierten Auftrags, mit dem der verehrte Johannes Paul II. euch aufgerufen hat, »die Grenzen eurer Sozialarbeit zu erweitern« (Ansprache an die ACLI, 27. April 2002; in O.R. dt., Nr. 19, 10.5.2002, S. 9). Ein solches Bemühen um die Zukunft der Menschheit soll immer von christlicher Hoffnung beseelt sein. So werdet auch ihr als Zeugen des auferstandenen Christus, der Hoffnung für die Welt, dazu beitragen, der großen Tradition der Italienischen Christlichen Arbeiterverbände neue Dynamik zu verleihen und vom Heiligen Geist geleitet das Antlitz der Erde zu erneuern. Gott stehe euch bei, und die allerseligste Jungfrau Maria schütze euch, eure Familien und alle eure Initiativen. Mit Zuneigung segne ich euch und versichere euch meines besonderen Gedenkens im Gebet.



AN DIE MITGLIEDER DER RÖMISCHEN ROTA ZUR FEIERLICHEN ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES

Clementina-Saal - Samstag, 28. Januar 2006

14
Verehrte Richter, Offiziale und Mitarbeiter

des Apostolischen Gerichtshofs der Römischen Rota!

Fast ein Jahr ist vergangen seit dem letzten Treffen eures Gerichtshofs mit meinem geliebten Vorgänger Johannes Paul II., das den Abschluß einer langen Reihe von Begegnungen bildete. Von dem reichen Erbe, das er uns auch auf dem Gebiet des kanonischen Rechts hinterlassen hat, möchte ich heute die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Instruktion Dignitas connubii lenken, die das Verfahren regelt, das bei Ehenichtigkeitsprozessen zu beachten ist. Mit ihr wollte man eine Art Vademecum erarbeiten, das die auf diesem Gebiet geltenden Normen nicht nur zusammenfaßt, sondern sie durch weitere Anordnungen bereichert, die für die rechte Anwendung der Normen notwendig waren. Der wichtigste Beitrag dieser Instruktion, die, wie ich wünsche, von den Mitarbeitern der kirchlichen Gerichtshöfe vollständig angewendet wird, besteht darin, aufzuzeigen, in welchem Maß und auf welche Weise in den Ehenichtigkeitsverfahren die Normen angewendet werden müssen, die in den Kanones bezüglich des ordentlichen Streitverfahrens enthalten sind, unter Beachtung der vorgeschriebenen besonderen Normen für Personenstandssachen und Sachen des öffentlichen Wohls.

Wie ihr sehr gut wißt, übersteigt die den Ehenichtigkeitsprozessen gewidmete Aufmerksamkeit immer mehr den Bereich der Spezialisten. Denn die kirchlichen Urteile auf diesem Gebiet wirken sich bei nicht wenigen Gläubigen auf die Möglichkeit aus, die eucharistische Kommunion empfangen zu können oder nicht. Gerade dieser vom Standpunkt des christlichen Lebens so entscheidende Aspekt erklärt, warum das Thema der Nichtigkeit der Ehe auch bei der jüngsten Bischofssynode über die Eucharistie wiederholt vorgebracht wurde. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß die in den Arbeiten der Synode zum Ausdruck gebrachte pastorale Sorge und der Geist der in Dignitas connubii gesammelten Rechtsnormen weit auseinandergehen, ja beinahe entgegengesetzt sind. Einerseits könnte es scheinen, als hätten die Synodenväter die kirchlichen Gerichtshöfe eingeladen, sich dafür einzusetzen, daß die nicht kanonisch getrauten Gläubigen so bald wie möglich ihre eheliche Situation regeln und wieder zum eucharistischen Mahl hinzutreten können. Anderseits hat es aber den Anschein, die kanonische Gesetzgebung und die jüngste Instruktion würden diesem pastoralen Antrieb Grenzen setzen, als sei es die Hauptsorge, die vorgesehenen juridischen Formalitäten zu erledigen, unter der Gefahr, die pastorale Zielsetzung des Verfahrens außer acht zu lassen. Hinter diesem Ansatz verbirgt sich eine behauptete Gegensätzlichkeit zwischen Recht und Pastoral im allgemeinen. Ich möchte jetzt nicht erneut die Frage vertiefen, die schon Johannes Paul II. wiederholt, vor allem in seiner Ansprache an die Römische Rota von 1990 (vgl. O.R. dt., Nr. 5, 2.2.1990, S. 9f.), behandelt hat. Bei dieser ersten Begegnung mit euch will ich mich vielmehr auf das konzentrieren, was den grundlegenden Berührungspunkt zwischen Recht und Pastoral darstellt: die Liebe zur Wahrheit. Mit dieser Aussage schließe ich mich in geistiger Weise auch dem an, was euch mein verehrter Vorgänger in der Ansprache vom vergangenen Jahr gesagt hat (vgl. O.R. dt., Nr. 8, 25.2.2005, S. 7).

Der kanonische Ehenichtigkeitsprozeß ist im wesentlichen ein Mittel, um die Wahrheit über das Eheband festzustellen. Sein konstitutives Ziel ist daher nicht, das Leben der Gläubigen unnötig zu verkomplizieren und ebensowenig ihre Streitlust anzufachen, sondern nur der Wahrheit zu dienen. Im übrigen ist das Institut des Prozesses im allgemeinen kein Mittel an sich, um irgendein Interesse zu verfolgen, sondern ein qualifiziertes Mittel, um der Verpflichtung zur Gerechtigkeit, jedem das Seine zu geben, nachzukommen. Der Prozeß ist gerade in seiner Wesensstruktur ein Institut der Gerechtigkeit und des Friedens. Denn das Ziel des Prozesses ist die Erklärung der Wahrheit seitens eines unparteiischen Dritten, nachdem den Parteien gleiche Gelegenheit gegeben worden war, innerhalb eines angemessenen Zeitraums der Erörterung Argumente und Beweise vorzubringen. Dieser Austausch der Ansichten ist normalerweise notwendig, damit der Richter die Wahrheit erkennen und folglich das Verfahren nach Gerechtigkeit entscheiden kann. Jedes prozessuale System muß also darauf abzielen, die Objektivität, die Rechtzeitigkeit und die Wirksamkeit der richterlichen Entscheidungen sicherzustellen.

Auch auf diesem Gebiet ist die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft von grundlegender Bedeutung. Wenn der Prozeß der rechten Vernunft entspricht, kann die Tatsache nicht verwundern, daß die Kirche das prozessuale Verfahren anwendet, um innerkirchliche Fragen rechtlicher Natur zu lösen. So hat sich eine nunmehr jahrhundertlange Tradition gefestigt, die in den kirchlichen Gerichten der ganzen Welt bis heute beibehalten wird. Man sollte sich auch vor Augen halten, daß das kanonische Recht in der Zeit des mittelalterlichen klassischen Rechts ganz erheblich dazu beigetragen hat, die Gestaltung des prozessualen Verfahrens selbst zu vervollkommnen. Seine Anwendung in der Kirche betrifft vor allem die Fälle, in denen, wenn die Streitfrage verfügbar ist, die Parteien eine Einigung finden könnten, die den Streit beilegt, was aber aus verschiedenen Gründen nicht geschieht. Die Anwendung des Prozeßweges bei der Suche nach der Bestimmung dessen, was gerecht ist, zielt nicht darauf ab, die Konflikte zu verschärfen, sondern sie menschlicher zu machen, indem Lösungen gefunden werden, die den Erfordernissen der Gerechtigkeit objektiv angemessen sind. Natürlich genügt diese Lösung allein nicht, weil die Personen Liebe brauchen, aber wenn es unvermeidlich ist, ist sie ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung. Die Prozesse können sich dann auch um Sachverhalte drehen, die über die Verfügungsfähigkeit der Parteien hinausgehen, insofern sie die Rechte der ganzen kirchlichen Gemeinschaft betreffen. Gerade in diesen Bereich gehört der Prozeß, der die Nichtigkeit einer Ehe erklärt. Denn die Ehe ist in ihrer zweifachen natürlichen und sakramentalen Dimension kein Gut, über das die Eheleute verfügen könnten, und ebensowenig ist es möglich, in Anbetracht ihrer sozialen und öffentlichen Natur irgendeine Art von Selbsterklärung anzunehmen.

Hier ergibt sich von selbst die zweite Bemerkung. Kein Prozeß ist streng gegen die andere Partei gerichtet, als ginge es darum, ihr einen ungerechten Schaden zuzufügen. Das Ziel ist nicht, jemandem ein Gut zu nehmen, sondern die Zugehörigkeit der Güter zu den Personen und den Institutionen zu bestimmen und zu schützen. Zu dieser für jeden Prozeß gültigen Überlegung kommt im Fall der Ehenichtigkeit noch eine weitere spezifische Überlegung hinzu. Hier gibt es kein zwischen den Parteien strittiges Gut, das der einen oder anderen Partei zuzusprechen wäre. Gegenstand des Prozesses ist hingegen, die Wahrheit zu erklären im Bezug auf die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer konkreten Ehe, das heißt hinsichtlich einer Wirklichkeit, welche die Institution der Familie begründet und welche die Kirche und die zivile Gesellschaft im höchsten Maß betrifft. Deshalb kann man bekräftigen, daß in dieser Art von Prozessen die Adressatin des Antrags auf Erklärung die Kirche selbst ist. In Anbetracht der natürlichen Vermutung der Gültigkeit der formell geschlossenen Ehe bestellte mein Vorgänger Benedikt XIV., ein bedeutender Kanonist, den Bandverteidiger und machte dessen Beteiligung an besagten Prozessen zur Pflicht (vgl. Apostolische Konstitution Dei miseratione, 3. November 1741). Auf diese Weise wird die prozessuale Dialektik, die auf die Feststellung der Wahrheit ausgerichtet ist, in höherem Maße garantiert.

Das Kriterium der Suche nach der Wahrheit kann, ebenso wie es uns dazu anleitet, die Dialektik des Prozesses zu verstehen, auch dazu dienen, einen weiteren Aspekt der Frage zu erfassen: ihre pastorale Bedeutung, die von der Wahrheitsliebe nicht zu trennen ist. Denn es kann geschehen, daß die pastorale Liebe manchmal beeinträchtigt wird durch Haltungen, die den Menschen entgegenkommen wollen. Diese Haltungen scheinen pastoral zu sein, aber in Wirklichkeit entsprechen sie nicht dem Wohl der Personen und der kirchlichen Gemeinschaft; weil sie die Konfrontation mit der rettenden Wahrheit vermeiden, können sie sich geradezu als kontraproduktiv für die heilbringende Begegnung eines jeden mit Christus erweisen. Das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe, das von Johannes Paul II. an dieser Stelle mit Nachdruck bekräftigt wurde (vgl. Ansprachen vom 21. Januar 2000, in O.R. dt., Nr. 7, 18.2.2000, S. 7f. und vom 28. Januar 2002, in O.R. dt., Nr. 8, 2.2.2002, S. 7f.), gehört zur Unversehrtheit des christlichen Mysteriums. Heute müssen wir leider feststellen, daß diese Wahrheit mitunter im Gewissen der Christen und der Menschen guten Willens verdunkelt ist. Gerade aus diesem Grund ist der Dienst trügerisch, den man den Gläubigen und den nichtchristlichen Eheleuten in Schwierigkeiten anbietet, wenn man in ihnen, vielleicht auch nur implizit, die Tendenz verstärkt, die Unauflöslichkeit der eigenen Ehe zu vergessen. So läuft gegebenenfalls das Eingreifen der kirchlichen Behörde in den Nichtigkeitsverfahren Gefahr, als reine Kenntnisnahme eines Scheiterns zu erscheinen.

Die in den Ehenichtigkeitsverfahren gesuchte Wahrheit ist jedoch keine abstrakte, vom Wohl der Personen losgelöste Wahrheit. Sie ist eine Wahrheit, die sich in den menschlichen und christlichen Weg jedes Gläubigen integriert. Es ist deshalb sehr wichtig, daß ihre Erklärung innerhalb eines vernünftigen Zeitraums erfolgt. Die göttliche Vorsehung weiß gewiß aus Bösem Gutes zu ziehen, auch wenn die kirchlichen Institutionen ihre Pflicht vernachlässigen oder Fehler begehen. Aber es ist eine dringende Pflicht, den Gläubigen das institutionelle Wirken der Kirche in den Gerichten immer näher zu bringen. Die pastorale Sensibilität muß dahin führen, daß man sich bemüht, den Ehenichtigkeiten schon bei der Zulassung zur Trauung vorzubeugen, und darauf hinwirkt, daß die Eheleute gegebenenfalls ihre Probleme lösen und den Weg der Versöhnung finden. Eben dieses pastorale Feingefühl muß angesichts der tatsächlichen Situation der Personen auch dazu führen, die Wahrheit zu verteidigen und die Normen anzuwenden, die vorgesehen sind, um sie im Prozeß zu schützen.

Ich hoffe, daß diese Überlegungen deutlich machen können, wie die Liebe zur Wahrheit die Institution des kanonischen Ehenichtigkeitsprozesses mit dem wahren pastoralen Sinn verbindet, der diese Prozesse erfüllen soll. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, erweisen sich die Instruktion Dignitas connubii und die Sorgen, die in der letzten Synode vorgebracht wurden, als völlig übereinstimmend. Meine Lieben, diese Harmonie herbeizuführen ist die schwierige und faszinierende Aufgabe, für deren diskrete Erfüllung die kirchliche Gemeinschaft euch sehr dankbar ist. Mit dem herzlichen Wunsch, daß eure richterliche Tätigkeit zum Wohl all derer beitrage, die sich an euch wenden, und ihnen helfe in der persönlichen Begegnung mit der Wahrheit, die Christus ist, segne ich euch voll Dankbarkeit und Zuneigung.

Februar 2006 AN DEN NEUEN BOTSCHAFTER DES KÖNIGREICHS MAROKKO BEIM HL. STUHL, ALI ACHOUR

Montag, 20. Februar 2006


Herr Botschafter!

15 Ich freue mich, Eure Exzellenz anläßlich der Überreichung Ihres Beglaubigungsschreibens als außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter Marokkos beim Heiligen Stuhl zu begrüßen.

Ich danke Ihnen für die liebenswürdigen Worte, die Sie an mich gerichtet haben, und für die freundlichen Grüße, die Seine Majestät König Mohammed VI. mir durch Sie übermitteln ließ. Indem ich noch einmal meine Wertschätzung für die traditionelle Gastfreundschaft und Verständigung ausspreche, die seit langer Zeit die Beziehungen des Königreiches Marokko zur katholischen Kirche kennzeichnet, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie meinerseits Seine Majestät meiner herzlichen Wünsche für seine Person sowie für das Glück und Wohlergehen des edlen marokkanischen Volkes versichern würden. Fortschritte in Richtung einer demokratischen Zukunft

Herr Botschafter, Sie haben mir von den Bemühungen berichtet, die von Ihrem Land, das eben den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit begangen hat, unternommen werden, um Fortschritte in Richtung einer modernen, demokratischen und gedeihlichen Zukunft zu machen.

Man kann sich nur freuen über diese Fortschritte, die allen Marokkanern ein Leben in Sicherheit und Würde ermöglichen sollen, so daß jeder aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes teilnehmen kann. Eine echte Demokratie erfordert nämlich einen Konsens über eine Reihe von Grundwerten, wie die transzendente Würde der menschlichen Person, die Achtung der Menschenrechte, das »Gemeinwohl« als Ziel und Kriterium für die Regelung des politischen Lebens (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, 407).

Andererseits soll eine, schon vor mehreren Jahren begonnene, immer engere Zusammenarbeit zwischen den Anrainerländern des Mittelmeeres sich mit Entschlossenheit und Ausdauer nicht nur den Fragen der Sicherheit und des Friedens in der Region stellen, sondern sich auch des Problems der Entwicklung der Gesellschaften und der einzelnen Menschen annehmen und sich dabei neu der Pflicht zu Solidarität und Gerechtigkeit bewußt werden. Deshalb ist der Mittelmeerraum mehr denn je dazu berufen, ein Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen den Völkern und zwischen den Kulturen zu sein.

Unter den schwerwiegenden Problemen, welche die Anrainerländer des Mittelmeeres zu bewältigen haben, stellt das Phänomen der Migration einen komplexen Tatbestand in den Beziehungen zwischen den Staaten dar. Die Migranten aus benachteiligten Regionen klopfen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in immer größerer Zahl an die Türen Europas, was eine ständig wachsende Zahl von ihnen in die Illegalität führt und mitunter Situationen schafft, die die Würde und Sicherheit der Menschen ernsthaft in Frage stellen.

Genauso müssen die Institutionen der Aufnahme- bzw. der Transitländer dafür sorgen, die Migranten nicht als Ware oder bloße Arbeitskräfte zu betrachten und ihre Grundrechte und ihre menschliche Würde zu achten. Die schwierige Situation so vieler Ausländer sollte die Solidarität zwischen den betroffenen Staaten fördern, um zur Entwicklung der Herkunftsländer der Migranten beizutragen.

Diese Probleme können nämlich nicht von der nationalen Politik im Alleingang gelöst werden. Durch eine immer intensivere Zusammenarbeit zwischen allen betroffenen Ländern wird die Suche nach Lösungen für diese leidvollen Situationen wirksame Fortschritte machen.

Herr Botschafter, Sie haben den Beitrag Ihres Landes zur Stärkung des Dialogs zwischen den Zivilisationen, Kulturen und Religionen hervorgehoben. In der internationalen Lage, die wir gegenwärtig erleben, ist die katholische Kirche ihrerseits davon überzeugt, daß es zur Förderung des Friedens und der Verständigung zwischen den Völkern und zwischen den Menschen notwendig und dringend geboten ist, die Religionen und ihre Symbole zu respektieren; die Gläubigen dürfen nicht zur Zielscheibe von Provokationen werden, die ihre Einstellung und ihre religiösen Gefühle verletzen.

Intoleranz und Gewalt jedoch lassen sich niemals als Antwort auf Beleidigungen rechtfertigen, denn solche Reaktionen sind mit den unantastbaren Grundsätzen der Religion nicht vereinbar. Man kann deshalb das Vorgehen jener Menschen, die bewußt die Verletzung religiöser Gefühle ausnutzen, um zu Gewalttaten anzustiften, nur beklagen; und das um so mehr, als es hier um Ziele geht, die mit der Religion nichts zu tun haben.

Für die Gläubigen sowie für alle Menschen guten Willens ist der einzige Weg, der zu Frieden und Brüderlichkeit führen kann, die Überzeugungen und religiösen Ausdrucksformen des anderen zu respektieren, damit durch gegenseitigen Respekt in allen Gesellschaften für jeden einzelnen die Ausübung der von ihm frei gewählten Religion wirklich sichergestellt ist. Durch Ihre Vermittlung,

16 Herr Botschafter, möchte ich auch einen herzlichen Gruß an die Mitglieder der katholischen Gemeinschaft in Marokko und ihre Hirten richten. Möge es ihnen ein Herzensanliegen sein, ihre christliche Berufung mit Freude zu leben, indem sie immer hochherziger und in fruchtbarer Zusammenarbeit mit allen Zeugnis geben von der Liebe Gottes zu allen Menschen!

In diesem Augenblick, wo Eure Exzellenz Ihr hohes Amt beim Heiligen Stuhl antreten, spreche ich Ihnen meine besten Wünsche für die vornehme Aufgabe aus, die Sie erwartet. Bei meinen Mitarbeitern werden Sie stets das aufmerksame Entgegenkommen und das freundliche Verständnis finden, dessen Sie bedürfen.

Auf Eure Exzellenz, auf Ihre Familie, auf Ihre Mitarbeiter, auf das marokkanische Volk und seine Verantwortlichen rufe ich von ganzem Herzen den reichen Segen des Allerhöchsten herab.




ANSPRACHE 2006 11