ANSPRACHE 2006 155

AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DER PÄPSTLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN


Clementina-Saal

Montag, 6. November 2006



Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren!

156 Mit Freude begrüße ich die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anläßlich der Vollversammlung, und ich danke Herrn Professor Nicola Cabibbo für seine freundlichen Grußworte, die er mir in Ihrem Namen ausgesprochen hat. Das Thema Ihres Treffens - »Vorhersagbarkeit in den Wissenschaften: Genauigkeit und Grenzen« - befaßt sich mit einem besonderen Merkmal der modernen Wissenschaft. Die Vorhersagbarkeit ist in der Tat einer der Hauptgründe für das Prestige der Wissenschaft in der heutigen Gesellschaft. Die Etablierung der wissenschaftlichen Methode hat den Wissenschaften die Fähigkeit verliehen, Phänomene vorauszusagen, ihre Entwicklung zu studieren und so die Umwelt zu kontrollieren, in welcher der Mensch lebt.

Dieses zunehmende »Fortschreiten« der Wissenschaft und vor allem ihre Fähigkeit, die Natur durch Technologie zu beherrschen, ist gelegentlich mit einem entsprechenden »Rückzug« der Philosophie, der Religion und sogar des christlichen Glaubens in Verbindung gebracht worden. In der Tat haben einige im Fortschritt der modernen Wissenschaft und Technologie eine der Hauptursachen der Säkularisation und des Materialismus gesehen: Warum sollte man sich auf Gottes Herrschaft über diese Phänomene berufen, wenn sich die Wissenschaft als fähig erwiesen hat, dasselbe zu tun? Sicherlich erkennt die Kirche an, daß der Mensch »mit den Mitteln der Wissenschaft und der Technik seine Herrschaft über beinahe die gesamte Natur ausgebreitet hat« und sich demnach »viele Güter, die er einst vor allem von höheren Mächten erwartete, durch seine eigene Tat beschafft« (Gaudium et spes
GS 33). Gleichwohl postuliert das Christentum keinen unvermeidlichen Konflikt zwischen dem übernatürlichen Glauben und dem wissenschaftlichen Fortschritt. Der eigentliche Ausgangspunkt der biblischen Offenbarung ist die Aussage, daß Gott die Menschen geschaffen, sie mit Vernunft ausgestattet und über alle Geschöpfe der Erde gestellt hat. Auf diese Weise ist der Mensch zum Verwalter der Schöpfung und zum »Helfer« Gottes geworden. Wenn wir zum Beispiel daran denken, wie die moderne Wissenschaft durch die Vorhersage von Naturphänomenen zum Schutz der Umwelt, zum Fortschritt der Entwicklungsländer, zum Kampf gegen die Epidemien und zur Erhöhung der Lebenserwartung beigetragen hat, scheint es offensichtlich, daß es keinen Konflikt zwischen der göttlichen Vorsehung und der Initiative des Menschen gibt. Wir könnten in der Tat sagen, daß die Tätigkeit der Vorhersage, der Kontrolle und der Beherrschung der Naturphänomene, die durch die heutige Wissenschaft realisierbarer ist als in der Vergangenheit, zum Plan des Schöpfers gehört.

Obwohl die Wissenschaft viel gibt, gibt sie nur das, wozu sie bestimmt ist. Der Mensch darf in Wissenschaft und Technologie kein derartig radikales und unbedingtes Vertrauen setzen, daß er meint, der wissenschaftliche und technologische Fortschritt könne alles erklären und seine existentiellen und geistlichen Bedürfnisse vollkommen erfüllen. Die Wissenschaft kann die Philosophie und die Offenbarung nicht ersetzen und auch keine erschöpfende Antwort auf die grundlegenden Fragen des Menschen geben: Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Sterbens, über die höchsten Werte und über die Natur des Fortschritts selbst. Aus diesem Grund hat das II. Vatikanische Konzil den dem wissenschaftlichen Fortschritt entspringenden Gewinn anerkannt, hob dann aber hervor, daß »die Forschungsmethode dieser Disziplinen unberechtigt als oberste Norm der Findung der Wahrheit schlechthin angesehen wird«. Und weiter heißt es: »Ja es besteht die Gefahr, daß der Mensch in allzu großem Vertrauen auf die heutigen Errungenschaften sich selbst zu genügen glaubt und darüber hinaus nicht mehr sucht« (ebd., 57).

Die wissenschaftliche Vorhersagbarkeit wirft auch die Frage nach der ethischen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers auf. Seine Schlußfolgerungen müssen von der Achtung der Wahrheit und von der ehrlichen Anerkennung sowohl der Genauigkeit als auch der unvermeidlichen Grenzen der wissenschaftlichen Methode geleitet sein. Dies bedeutet gewiß, unnötig alarmierende Vorhersagen zu vermeiden, wenn diese nicht durch ausreichende Daten gestützt sind oder über die tatsächlichen Fähigkeiten der Wissenschaft zur Vorhersage hinausgehen. Dies heißt aber auch, das Gegenteil zu vermeiden, nämlich aus Angst zu schweigen angesichts der wirklichen Probleme. Der Einfluß der Wissenschaftler auf die Bildung der öffentlichen Meinung auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse ist zu wichtig, um von einer unbotmäßigen Eile oder von der Suche nach einer oberflächlichen Publizität untergraben zu werden. Wie mein Vorgänger Papst Johannes Paul II. einmal bemerkte: »Deshalb sind die Wissenschaftler, gerade weil sie ›mehr wissen‹, berufen, ›mehr zu dienen‹. Weil die Forschungsfreiheit, die sie genießen, ihnen den Zutritt zum Fachwissen gibt, haben sie die Verantwortung, dieses weise zum Wohl der ganzen Menschheitsfamilie zu nutzen« (Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften, 11. November 2002; in O.R. dt., Nr. 48, 29.11.2002, S. 7).

Liebe Mitglieder der Akademie, unsere Welt schaut weiterhin auf Sie und Ihre Kollegen, um die möglichen Konsequenzen vieler wichtiger Naturphänomene zu verstehen. Ich denke zum Beispiel an die beständige Bedrohung der Umwelt, die ganze Völker in Mitleidenschaft zieht, und an die dringende Notwendigkeit, alternative Energiequellen zu entdecken, die sicher und allen zugänglich sind. Die Wissenschaftler werden bei ihren Bemühungen, derartige Problematiken anzugehen, die Unterstützung der Kirche finden, denn die Kirche hat von ihrem göttlichen Stifter die Aufgabe erhalten, das Gewissen der Menschen zum Guten, zur Solidarität und zum Frieden zu führen. Gerade aus diesem Grund hält sie es für ihre Pflicht, darauf zu bestehen, daß die Fähigkeit der Wissenschaft zur Vorhersage und Kontrolle niemals gegen das menschliche Leben und seine Würde benutzt wird, sondern immer in seinen Dienst gestellt wird, in den Dienst der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen.

Das Thema Ihrer Versammlung kann uns heute eine abschließende Überlegung nahelegen. Wie einige der in den letzten Tagen vorgelegten Referate hervorgehoben haben, hat bei der Sammlung, Bearbeitung und Verwendung von Daten für Vorhersagen die wissenschaftliche Methode ihr selbst innewohnende Grenzen, die die wissenschaftliche Vorhersagbarkeit notwendigerweise auf spezifische Kontexte und Annäherungsweisen beschränken. Daher kann die Wissenschaft nicht den Anspruch erheben, eine vollständige und deterministische Darstellung unserer Zukunft und der Entwicklung eines jeden von ihr untersuchten Phänomens zu liefern. Die Philosophie und die Theologie könnten einen wichtigen Beitrag zu dieser im wesentlichen epistemologischen Frage leisten, zum Beispiel indem sie den empirischen Wissenschaften dabei helfen, einen Unterschied zwischen der mathematischen Unfähigkeit, bestimmte Ereignisse vorherzusagen, und der Gültigkeit des Kausalprinzips anzuerkennen, oder zwischen dem wissenschaftlichen Indeterminismus oder der Kontingenz (Zufälligkeit) und der Kausalität auf philosophischer Ebene, oder, radikaler, zwischen der Evolution als dem Ursprung einer raumzeitlichen Sukzession und der Schöpfung als letztem Ursprung des Seins durch Teilhabe aus dem wesenhaften Sein.

Gleichzeitig gibt es eine höhere Ebene, die notwendig alle wissenschaftlichen Vorhersagen überschreitet, das heißt die menschliche Welt der Freiheit und der Geschichte. Während der physikalische Kosmos eine eigene raumzeitliche Entwicklung haben kann, hat strenggenommen nur die Menschheit eine Geschichte, die Geschichte ihrer Freiheit. Die Freiheit ist wie die Vernunft ein wertvoller Teil des Bildes Gottes in uns und kann nie auf eine deterministische Analyse reduziert werden. Ihre Transzendenz hinsichtlich der materiellen Welt muß anerkannt und respektiert werden, da sie ein Zeichen unserer menschlichen Würde ist. Die Negation dieser Transzendenz im Namen einer vermeintlichen absoluten Fähigkeit der wissenschaftlichen Methode, die menschliche Welt vorherzusagen und zu konditionieren, brächte den Verlust des Menschlichen im Menschen mit sich, und die Nichtanerkennung seiner Einzigartigkeit und Transzendenz könnte seiner Ausbeutung auf gefährliche Weise die Tore öffnen.

Liebe Freunde, während ich diese Betrachtungen abschließe, versichere ich Sie nochmals meines großen Interesses für die Aktivitäten dieser Päpstlichen Akademie sowie meines Gebets für Sie und Ihre Familien. Für Sie alle erbitte ich den Segen, die Weisheit, Freude und den Frieden des Allmächtigen Gottes.

TREFFEN MIT DEN SCHWEIZER BISCHÖFEN

Dienstag, 7. November 2006



Eminenzen, Exzellenzen, liebe Mitbrüder,

ich möchte Sie zuerst sehr herzlich begrüßen und meine Freude darüber ausdrücken, daß wir den 2005 abgebrochenen Pastoralbesuch nun zu Ende führen dürfen und noch einmal das ganze Panorama der Fragen, die uns bewegen, miteinander durcharbeiten können. Ich kann mich noch sehr lebhaft an den Ad-limina-Besuch 2005 erinnern, wo wir gemeinsam in der Glaubenskongregation Probleme, die auch in diesen Tagen wieder zur Debatte stehen werden, besprochen haben, und weiß noch, welch ein Klima des inneren Einsatzes herrschte dafür, daß das Wort des Herrn lebendig sei und ankomme in den Herzen der Menschen dieser Zeit, damit die Kirche lebe. In der uns gemeinsamen Situation der Bedrängnis durch eine säkulare Kultur versuchen wir, den Auftrag des Herrn zu verstehen und so gut zu erfüllen, wie wir es vermögen.

157 Ich habe keine richtige Rede vorbereiten können und möchte jetzt nur zu den einzelnen großen Problemkomplexen, die wir berühren werden, ein paar „erste Vorstöße“ machen, die nicht endgültige Aussagen in den Raum stellen, sondern das Gespräch in Gang bringen wollen. Es ist dies ja eine Begegnung zwischen den Schweizer Bischöfen und den verschiedenen Dikasterien der Kurie, in denen die einzelnen Sektoren unserer pastoralen Aufgabe sichtbar werden und vertreten sind; zu einigen davon möchte ich versuchen, die eine oder andere Anmerkung zu machen. Wie es meiner eigenen Vorgeschichte entspricht, fange ich mit der Glaubenskongregation an, oder besser gesagt: mit dem Thema Glaube. Ich habe schon in der Homilie zu sagen versucht, daß der Glaube in der Tat die Priorität in dem ganzen Ringen dieser unserer Zeit haben muß. Vielleicht konnte er vor zwei Generationen noch als selbstverständlich vorausgesetzt werden: Man wuchs im Glauben auf; der Glaube war irgendwie als ein Teil des Lebens einfach gegenwärtig und brauchte gar nicht besonders gesucht zu werden. Er mußte geformt, mußte vertieft werden, erschien aber wie selbstverständlich. Heute ist das Umgekehrte selbstverständlich: daß man eigentlich nicht glauben kann und daß Gott abwesend ist. Jedenfalls erscheint der Glaube der Kirche wie etwas sehr Vergangenes, so daß dann auch aktive Christen es sich so vorstellen, daß man aus dem Gefüge des Glaubens der Kirche sich die Sachen heraussucht, die man als für heute noch vertretbar ansieht. Und vor allen Dingen müht man sich, durch den Einsatz für die Menschen eben auch zugleich sozusagen seine Pflicht Gott gegenüber zu erfüllen. Das ist dann aber doch eine Art „Werkrechtfertigung“, die einsetzt: Der Mensch rechtfertigt sich und die Welt, in der er das tut, was offenkundig notwendig zu sein scheint, aber es fehlt das innere Licht und die Beseelung des Ganzen. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, daß wir einfach wieder sehen: Der Glaube ist die Mitte des Ganzen - „Fides tua te salvum fecit“, sagt unser Herr immer wieder zu den Geheilten. Nicht die Berührung, nicht das Äußere ist entscheidend, sondern daß sie geglaubt haben. Und auch wir können nur lebendig dem Herrn dienen, wenn der Glaube stark und in seiner Fülle gegenwärtig wird.

Ich möchte da zwei Eckpunkte unterstreichen. Einerseits: Glaube ist vor allen Dingen Glaube an Gott. Im Christentum geht es nicht um ein riesiges Gepäck von disparaten Sachen, sondern alles, was das Glaubensbekenntnis sagt und was die Glaubensentwicklung entfaltet hat, ist doch nur da, um uns das Gesicht Gottes deutlicher zu machen. Er ist und er lebt; ihm glauben wir; ihm gegenüber, auf ihn hin, im Mitsein mit ihm und von ihm her leben wir. Und in Jesus Christus ist er sozusagen körperlich mit uns. Diese Zentralität Gottes muß, wie ich meine, in all unserem Denken und Tun ganz neu erscheinen. Das beseelt dann auch die Aktivitäten, die sonst leicht in Aktivismus verfallen und leer werden können. Das ist das eine: daß der Glaube entscheidend wirklich auf Gott hinschaut und uns auf Gott hinschauen, auf ihn hin in Bewegung kommen läßt.

Das andere ist, daß wir den Glauben nicht uns selbst ausdenken und zusammensetzen aus Stücken, die man „verkraften“ kann, sondern daß wir mitglauben mit der Kirche. Nicht alles können wir verstehen, was die Kirche lehrt, nicht alles muß in jedem Leben gegenwärtig sein. Aber wichtig ist doch, daß wir in dem großen Ich der Kirche, in ihrem lebendigen Wir, Mitglaubende sind und dadurch in der großen Gemeinschaft des Glaubens stehen, in jenem großen Subjekt, in dem wirklich das Du Gottes und das Ich der Menschen sich anrühren; in dem das Vergangene der Schriftworte gegenwärtig ist, die Zeiten sich durchdringen, Vergangenheit gegenwärtig ist und sich auf Zukunft öffnet und das Ewige, der Ewige in die Zeit hereinleuchtet. Diese volle Form des Glaubens, wie das Credo sie ausdrückt, des Glaubens in und mit der Kirche als lebendigem Subjekt, in dem der Herr wirkt, sollten wir versuchen, wirklich als Mitte unserer Aktivitäten hinzustellen. Wir sehen es ja auch heute ganz deutlich: Wo man nur Entwicklung vorangetrieben und der Seele nichts gegeben hat, schadet die Entwicklung. Dann kann man zwar technisch mehr, aber daraus werden vor allem neue Möglichkeiten des Zerstörens. Wenn nicht mit der Entwicklungshilfe, mit dem Lernen all dessen, was der Mensch kann, was sein Verstand erdacht hat und was sein Wille ermöglicht, auch die Seele erleuchtet wird und die Kraft Gottes kommt, dann lernt man vor allem zerstören. Und insofern, glaube ich, muß uns die missionarische Verantwortung neu überkommen, daß, wenn wir selber des Glaubens froh sind, wir uns verpflichtet wissen, anderen davon zu reden. Gottes Sache ist es, wie weit die Menschen dann ihn annehmen können oder nicht.

Von da wollte ich gleich zur „Educazione Cattolica“ übergehen und dabei zwei Sektoren ansprechen. Das eine, denke ich, was uns allen „Sorge“ im guten Sinne macht, ist, daß die theologische Ausbildung der künftigen Priester und anderen den Glauben Lehrenden und Verkündenden gut sein sollte, daß wir also gute theologische Fakultäten und Priesterseminare brauchen und entsprechende Lehrer der Theologie, die nicht nur intellektuelle Kenntnisse vermitteln, sondern die einen intelligenten Glauben formen, so daß Glaube Intelligenz und Intelligenz Glaube wird. Da habe ich ein ganz spezifisches Anliegen. Unsere Exegese hat ja große Fortschritte gemacht; wir wissen ungeheuer viel über die Entstehung der Texte, über die Unterteilungen der Quellen usw., was das Wort damals genau gesagt haben kann… Aber wir sehen auch immer mehr, daß die historisch-kritische Exegese, wenn sie nur historisch-kritisch bleibt, das Wort in die Vergangenheit zurückschiebt, es ein Wort im Damals werden läßt, das uns eigentlich gar nicht anredet; und daß sie es fragmentiert, weil es sich ja in lauter verschiedene Quellen auflöst. Das Konzil, Dei Verbum, hat uns gesagt, daß die historisch-kritische Methode eine wesentliche Dimension der Exegese ist, weil es zum Wesen des Glaubens gehört, daß er factum historicum ist. Wir glauben nicht einfach einer Idee; Christentum ist nicht eine Philosophie, sondern ein Ereignis, das Gott in diese Welt gestellt hat, eine Geschichte, die er real als Geschichte mit uns gestaltet hat und gestaltet. Deswegen muß das Historische in seinem Ernst und Anspruch wirklich auch in unserem Lesen der Bibel da sein: daß wir wirklich das Faktum und eben dieses „Geschichte-Machende“ im Wirken Gottes erkennen. Aber Dei Verbum fügt hinzu, daß die Schrift, die demgemäß nach historischen Methoden gelesen werden muß, auch als Einheit zu lesen ist und daß sie in der lebendigen Gemeinschaft der Kirche gelesen werden muß. Diese beiden Dimensionen, die fallen in großen Teilen der Exegese aus. Die Einheit der Schrift ist kein rein historisch-kritisches Faktum, obwohl das Ganze doch auch historisch gesehen ein innerer Prozeß des Wortes ist, das immer weiter reift, in Relectures immer neu gelesen und verstanden wird. Aber letztlich ist sie doch theologisches Faktum: Diese Schriften sind eine Schrift, und man versteht sie nur ganz, wenn man sie in der analogia fidei als Einheit liest, in der es vorwärts geht auf Christus hin und Christus umgekehrt die ganze Geschichte an sich zieht, und wenn dies wiederum seine Lebendigkeit hat im Glauben der Kirche. Anders gesagt, mir liegt sehr daran, daß die Theologen die Schrift auch so lieben und lesen lernen, wie das Konzil es wollte nach Dei Verbum: daß sie die innere Einheit der Schrift sehen, wozu heute die „Kanonische Exegese“ ja hilft (die freilich immer noch in schüchternen Ansätzen ist) und dann eine geistliche Lesung der Schrift üben, die nicht äußere Erbaulichkeit ist, sondern das innere Eintreten in die Präsenz des Wortes. Da etwas zu tun, dazu beizuragen, daß neben und mit und in der historisch-kritischen Exegese wirklich Einführung in die lebendige Schrift als heutiges Wort Gottes geschieht, erscheint mir eine sehr wichtige Aufgabe. Wie man das praktisch macht, weiß ich nicht; aber man kann, glaube ich, schon Lehrer finden, sei es im akademischen Bereich, sei es im Seminar, sei es in einem Einführungskurs usw., damit diese gegenwärtige Begegnung mit der Schrift stattfindet im Glauben der Kirche, aus der dann erst Verkündigung möglich wird.

Das andere ist die Katechese, die ja in den letzten etwa fünfzig Jahren einerseits methodisch große Fortschritte gemacht hat, aber sich doch so sehr ins Anthropologische und in das Studieren der Anknüpfungspunkte hineinverloren hat, daß man oft gar nicht mehr zu den Glaubensinhalten kommt. Ich kann das verstehen: Selbst, als ich Kaplan war - das ist also 56 Jahre her - war es in der pluralistischen Schule mit vielen ungläubigen Eltern und Kindern schon sehr schwer, dort den Glauben zu verkünden, weil er als eine total fremde und unwirkliche Welt erschien. Heute ist das natürlich noch schlimmer. Trotzdem ist es wichtig, daß auch weiterhin in der Katechese, die ja Schule, Pfarrei, Gemeinde usw. umfaßt, der Glaube der Kirche wirklich voll zur Geltung kommt und die Kinder wirklich lernen, was das ist: „Schöpfung“, was das ist: „Heilsgeschichte“, die Gott gemacht hat, was Jesus Christus, wer Jesus Christus ist, was die Sakramente sind, was wir hoffen dürfen… Ich denke, wir müssen uns alle nach wie vor sehr um eine Erneuerung der Katechese mühen, in der der Mut, den eigentlichen Glauben zu bezeugen und Wege zu finden, damit er verstanden und angenommen wird, ganz grundlegend ist. Denn die religiöse Unwissenheit ist heute erschreckend groß geworden. Und dabei haben in Deutschland die Kinder alle mindestens zehn Jahre Katechese, müßten also doch eigentlich unheimlich viel wissen. So müssen wir gewiß ernstlich darüber nachdenken, wie wir wieder dazu führen können, daß auch einfach die Kenntnisse vermittelt werden, die Kultur des Glaubens gegenwärtig ist.

Und nun möchte ich zum „Culto divino“ kommen. Das Eucharistische Jahr hat uns dafür sehr viel geschenkt. Ich kann sagen, daß die Nachsynodale Instruktion auf gutem Wege ist. Sie wird sicher eine große Bereicherung sein. Dann hatten wir das Dokument der Kult-Kongregation über die rechte Feier der Eucharistie, das sehr wichtig ist. Ich glaube, aus alledem wird allmählich wieder deutlich, daß die Liturgie eben nicht eine „Selbstveranstaltung“ der Gemeinde ist, die sich dabei einbringt, wie man so schön sagt, sondern das Heraustreten der Gemeinde aus dem bloßen Selbersein und das Hineintreten in das große Mahl der Armen, in die große, lebendige Gemeinschaft, in der Gott uns selber speist. Dieser universale Charakter der Liturgie muß wieder allen bewußt werden. In der Eucharistie empfangen wir etwas, das wir nicht machen können, sondern treten in ein Größeres hinein, das gerade dann unsrig wird, wenn wir uns in dieses Größere hineingeben und die Liturgie wirklich als Liturgie der Kirche zu feiern versuchen. Damit verbunden ist dann auch das berühmte Problem der Homilie. Rein funktional kann ich das sehr gut verstehen: Vielleicht ist der Pfarrer müde oder hat schon mehrfach gepredigt, oder er ist alt und kräftemäßig überfordert. Wenn dann ein gescheiter Pastoralassistent da ist, der das Wort Gottes sehr gut und überzeugend auslegen kann, sagt man natürlich: Warum soll nicht der Pastoralassistent sprechen, der kann's besser, und dann haben die Leute mehr davon. Aber das ist eben die rein funktionale Sicht. Dagegen muß man berücksichtigen, daß die Homilie nicht eine Unterbrechung der Liturgie für einen Redeteil ist, sondern daß sie ins sakramentale Geschehen hineingehört und eben das Wort Gottes in die Gegenwart dieser Gemeinde hineinträgt. Sie ist der Augenblick, wo wirklich das Subjekt dieser Gemeinde angesprochen werden will und zum Hören und zum Annehmen gebracht werden soll; das heißt, sie ist selbst Teil des Mysteriums, der Mysterienfeier, und daher nicht einfach aus ihr herauszulösen. Vor allen Dingen aber ist mir auch wichtig, daß der Priester nicht sozusagen auf das Sakrament und auf die Jurisdiktion beschränkt wird, in der Überzeugung, alle anderen Aufgaben könnten auch andere übernehmen, sondern daß die Integralität seines Auftrags bleibt. Nur dann ist Priestertum auch schön, wenn es da einen Auftrag zu erfüllen gilt, der eine Ganzheit ist, an dem man nicht einfach herumschneiden kann. Und zu diesem Auftrag gehört immer schon - auch im alttestamentlichen Kult - die Pflicht des Priesters, mit dem Opfer das Wort zu verbinden, das wesentlicher Bestandteil des Ganzen ist. Rein praktisch müssen wir dann natürlich dafür sorgen, den Priestern die nötigen Hilfen zu geben, damit sie auch den Dienst des Wortes recht tun können. Grundsätzlich ist diese innere Einheit sowohl des Wesens der Eucharistiefeier wie auch des Wesens des priesterlichen Dienstes ganz wichtig.

Das zweite Thema, das ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte, betrifft das Sakrament der Versöhnung, das ja in den letzten etwa 50 Jahren immer mehr verkümmert ist. Gott sei Dank gibt es Klöster, Abteien und Wallfahrtsorte, zu denen die Menschen pilgern und wo sich ihr Herz öffnet und auch bereit ist zum Bekenntnis. Dieses Sakrament müssen wir wirklich neu erlernen. Schon unter einem rein anthropologischen Gesichtspunkt ist es wichtig, einerseits Schuld zu erkennen und andererseits Vergebung zu üben. Eines der bedenklichen Erscheinungen unserer Zeit ist ein weit verbreitetes Ausfallen des Sündenbewußtseins. So besteht das Geschenk des Bußsakramentes nicht nur darin, daß wir Vergebung erhalten, sondern darin, daß wir zunächst einmal überhaupt unsere Vergebungsbedürftigkeit bemerken und dadurch schon gereinigt werden, uns innerlich verändern und dann auch andere besser verstehen und ihnen vergeben können. Die Erkenntnis von Schuld ist elementar für den Menschen - er ist krank, wenn er sie nicht mehr erkennt -, und ebenso wichtig ist für ihn die befreiende Erfahrung, Vergebung zu empfangen. Für beides ist das Sakrament der Versöhnung der entscheidende Einübungsort. Darüber hinaus wird der Glaube dort ganz persönlich und verbirgt sich nicht mehr im Kollektiv. Wenn der Mensch sich der Herausforderung stellt und in seiner Lage der Vergebungsbedürftigkeit gleichsam „schutzlos“ vor Gott tritt, macht er die ergreifende Erfahrung einer ganz persönlichen Begegnung mit der Liebe Jesu Christi.

Zum Schluß möchte ich noch auf das Bischofsamt eingehen. Darüber haben wir ja implizit schon die ganze Zeit gesprochen. Es scheint mir wichtig, daß die Bischöfe als Nachfolger der Apostel einerseits wirklich die Verantwortung für die Ortskirchen tragen, die der Herr ihnen anvertraut, und dafür sorgen, daß dort die Kirche als Kirche Jesu Christi wächst und lebt. Andererseits müssen sie die Lokalkirchen ins Universale hinein öffnen. Wir merken an den Nöten der Orthodoxie mit den Autokephalien wie auch an den Problemen unserer protestantischen Freunde angesichts des Zerfalls der Landeskirchen, welch große Bedeutung der Universalität zukommt, wie wichtig es ist, daß die Kirche sich ins Ganze hinein öffnet und in der Universalität wirklich eine Kirche wird. Das kann sie andererseits aber nur, wenn sie am Ort lebendig ist. Dieses Miteinander muß in bewußter Nachfolge des Apostelkollegiums von den Bischöfen gemeinsam mit dem Nachfolger Petri getragen werden. Wir alle müssen uns ständig bemühen, in dieser Wechselbeziehung das rechte Gleichgewicht zu finden, so daß die Lokalkirche ihre Authentizität lebt und zugleich die Universalkirche davon immer wieder empfängt, damit beide geben und empfangen und so die eine Kirche des Herrn wächst.

Bischof Grab hat schon von den Mühsalen des Ökumenismus gesprochen; den brauche ich Ihnen allen nur einfach ans Herz zu legen. In der Schweiz sind Sie ja tagtäglich mit dieser Aufgabe konfrontiert, die uns mühsam ist, aber auch freut. Ich glaube, das Wichtige sind zum einen die persönlichen Beziehungen, in denen wir uns als Glaubende unmittelbar kennen und gegenseitig schätzen lernen und als spirituelle Menschen einander auch reinigen und helfen. Zum anderen geht es, wie Bischof Grab schon gesagt hat, um das Einstehen für die von Gott her kommenden, wesentlichen, tragenden Werte unserer Gesellschaft. Da haben wir alle zusammen - Protestanten, Katholiken und Orthodoxe - eine große Aufgabe. Und ich bin froh, daß das Bewußtsein dafür auch wächst. Im Osten ist es die Kirche in Griechenland, die, obwohl sie sich mit den Lateinern gelegentlich schwertut, doch immer deutlicher sagt: In Europa können wir unsere Aufgabe nur wahrnehmen, wenn wir uns gemeinsam für das große christliche Erbe einsetzen. Auch die Kirche in Rußland sieht dies immer mehr, und ebenso sind sich unsere protestantischen Freunde dessen bewußt. Ich meine, wenn wir lernen, auf diesem Gebiet miteinander zu handeln, dann können wir selbst da ein gutes Stück Einheit verwirklichen, wo die volle theologische, sakramentale Einheit noch nicht möglich ist.

Abschließend möchte ich Ihnen noch einmal meine Freude über Ihren Besuch ausdrücken und Ihnen in diesen Tagen viele fruchtbare Gespräche wünschen.

AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DES PÄPSTLICHEN KOMITEES FÜR DIE EUCHARISTISCHEN WELTKONGRESSE

Donnerstag, 9. November 2006



158 Meine Herren Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
liebe Brüder und Schwestern!

Euer Besuch ist mir sehr willkommen, und ich grüße euch alle herzlich. An erster Stelle begrüße ich Herrn Kardinal Jozef Tomko, dem ich dafür danke, daß er den gemeinsamen Empfindungen Ausdruck verliehen und mich über den Verlauf eurer in diesen Tagen stattfindenden Vollversammlung unterrichtet hat. Ein herzlicher Gruß geht an die Mitglieder des Päpstlichen Komitees für die Internationalen Eucharistischen Kongresse und an die Nationaldelegierten, die an dieser Begegnung teilgenommen haben, um gemeinsam den nächsten 49. Internationalen Eucharistischen Kongreß vorzubereiten, der im Juni 2008 in Québec stattfinden soll. Ich grüße schließlich die Vertreter des örtlichen Vorbereitungskomitees dieses großen kirchlichen Ereignisses sowie die kleine, aber wichtige Gruppe der »Anbeter der Eucharistie«.

Ihr kommt aus verschiedenen Teilen der Welt, und Ziel eurer Tagung ist die Vorbereitung einer für die gesamte Kirche mehr denn je wichtigen Feier, wie es gerade auf einen Internationalen Eucharistischer Kongreß zutrifft. Wie Kardinal Jozef Tomko soeben in Erinnerung gerufen hat, ist der Eucharistische Kongreß eine gemeinsame Antwort des Gottesvolkes auf die Liebe des Herrn, die in außerordentlicher Weise im eucharistischen Geheimnis offenbar wird. Ja, es ist wahr! Die Eucharistischen Kongresse, die jedesmal an anderen Orten und auf verschiedenen Kontinenten stattfinden, sind immer eine Quelle der geistlichen Erneuerung, eine Gelegenheit, eine bessere Kenntnis von der heiligsten Eucharistie zu vermitteln, dem wertvollsten Schatz, den Jesus uns hinterlassen hat. Sie sind ebenso eine Ermutigung für die Kirche, in jedem Bereich der Gesellschaft die Liebe Christi zu verbreiten und mit Entschiedenheit zu bezeugen. Euer verdienstvolles Päpstliches Komitee hat sich seit seiner Errichtung ja gerade zum Ziel gesetzt, daß »unser Herr Jesus Christus im Geheimnis der Eucharistie immer mehr erkannt, geliebt und daß ihm besser gedient werde; denn er ist die Mitte des Lebens der Kirche und ihrer Sendung für das Heil der Welt«.

Jeder Eucharistische Kongreß ist somit eine willkommene Gelegenheit, um der Menschheit in feierlicher Weise »die Eucharistie, Gabe Gottes für das Leben der Welt« zu zeigen, wie es im Grundtext des kommenden Kongresses heißt. Dieses Dokument wurde im Rahmen der Arbeiten eurer Vollversammlung von Kardinal Marc Ouellet, Erzbischof von Québec, vorgestellt, den ich besonders grüße. Nicht nur alle, die die Möglichkeit einer persönlichen Teilnahme haben, sondern auch die verschiedenen christlichen Gemeinschaften, die dazu eingeladen sind, sich ihm im Geiste anzuschließen, werden an den besonderen Gnaden teilhaben können, die der Herr durch diesen Internationalen Eucharistischen Kongreß spenden wird. In jenen Tagen wird die katholische Welt die Augen des Herzens fest auf das höchste Geheimnis der Eucharistie gerichtet halten, um daraus erneuerten apostolischen und missionarischen Schwung zu erhalten. Deshalb ist es wichtig, sich gut vorzubereiten, und ich danke euch, liebe Brüder und Schwestern, für die Arbeit, die ihr leistet, um den Gläubigen aller Kontinente zu helfen, den Wert und die große Bedeutung der Eucharistie in unserem Leben immer besser zu verstehen. Die Anwesenheit einiger Vertreter der »Anbeter der Eucharistie« sowie die Tatsache, daß Sie, Herr Kardinal Tomko, die »Federación Mundial de la Adoración Nocturna« erwähnt haben, geben mir darüber hinaus die Gelegenheit, daran zu erinnern, daß die Wiederentdeckung der eucharistischen Anbetung seitens vieler Christen Früchte trägt. Dabei kehre ich gerne in der Erinnerung zu dem zurück, was wir im letzten Jahr mit den Jugendlichen in Köln anläßlich des Weltjugendtages und auf dem Petersplatz zusammen mit den von ihren Familien und Katecheten begleiteten Kommunionkindern erlebt haben. Wie notwendig ist es für die heutige Menschheit, im eucharistischen Sakrament die Quelle der eigenen Hoffnung wiederzuentdecken! Ich danke dem Herrn dafür, daß viele Pfarreien neben der ehrfürchtigen Feier der heiligen Messe die Gläubigen an die eucharistische Anbetung heranführen, und wünsche, daß sich diese Praxis auch im Hinblick auf den bevorstehenden Internationalen Eucharistischen Kongreß immer mehr verbreiten möge.

Liebe Brüder und Schwestern, das nächste nachsynodale Apostolische Schreiben wird bekanntlich der Eucharistie gewidmet sein. Es wird die aus der letzten, dem eucharistischen Geheimnis gewidmeten Bischofssynode hervorgegangenen Hinweise und Anregungen aufnehmen, und ich bin sicher, daß auch dieses Dokument der Kirche helfen wird, mit innerer Anteilnahme den Eucharistischen Kongreß vorzubereiten und zu feiern, der im Juni 2008 stattfinden wird. Bereits heute vertraue ich ihn der Jungfrau Maria an, der ersten und unvergleichlichen Anbeterin Christi in der Eucharistie. Die Gottesmutter schütze und begleite einen jeden von euch und eure Gemeinschaften, sie mache die Arbeit fruchtbar, die ihr im Hinblick auf das wichtige kirchliche Ereignis von Québec leistet. Meinerseits versichere ich euch eines Gebetsgedenkens und segne euch von ganzem Herzen.

ANSPRACHE 2006 155