ANSPRACHE 2007 Januar 2007 18

AN EINE GRUPPE FINANZMINISTER UND ANDERER PERSÖNLICHKEITEN BEI DER PRÄSENTATION DES PROJEKTS "ADVANCE MARKET COMMITMENT"

Freitag, 9. Februar 2007



Meine Damen und Herrn!

Mit Freude begrüße ich Sie, die Finanzminister Italiens, Großbritanniens, Kanadas und Rußlands, die anderen Minister, bedeutende internationale Verantwortliche und Persönlichkeiten, einschließlich der Königin von Jordanien und des Präsidenten der Weltbank.

Herrn Minister Tommaso Padoa Schioppa danke ich für seine im Namen aller gesprochenen freundlichen Worte. Unser heutiges Treffen ist sehr zu begrüßen, denn es ist Teil der Einführung eines Pilotprogramms für die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen zur Bekämpfung pandemischer Krankheiten, die für ärmere Länder zugänglich gemacht werden sollen. Diese lobenswerte Initiative mit dem Namen »Advance Market Commitment« soll dazu beitragen, eine der dringlichsten Herausforderungen präventiver Gesundheitspflege zu lösen, ein Problem, das vor allem Nationen betrifft, die bereits an Armut und schwerer Not leiden. Ein weiteres Verdienst ist, daß im Rahmen dieser Initiative öffentliche Einrichtungen mit dem privaten Sektor zusammengebracht werden, dies in dem Bestreben, die wirksamsten Mittel und Wege für den Eingriff auf diesem Gebiet zu finden.

Unser Treffen findet kurz vor dem Welttag der Kranken statt, der alljährlich am 11. Februar, am Fest Unserer Lieben Frau in Lourdes, gefeiert wird. Für die Kirche ist es eine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Not der Leidenden zu lenken. In diesem Jahr konzentriert sie sich vor allem auf die unheilbar Kranken, die sich oft in der Endphase ihres Lebens befinden. Voll und ganz unterstütze ich in diesem Kontext eure Bemühungen für dieses neue Programm und sein Ziel, die wissenschaftliche Forschung zur Entdeckung neuer Impfstoffe zu fördern. Solche Impfstoffe sind dringend notwendig, um zu verhindern, daß vor allem in den meistgefährdeten Regionen unserer Welt Millionen von Menschen, einschließlich zahlloser Kinder, jedes Jahr an Infektionskrankheiten sterben. In diesem Zeitalter globalisierter Märkte sind wir alle von der wachsenden Kluft zwischen dem Lebensstandard in den wohlhabenden, technologisch hochentwickelten Ländern und dem der unterentwickelten Länder mit anhaltender und sogar zunehmender Armut betroffen.

19 Die heute gestartete kreative und vielversprechende Initiative versucht, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Ihr Ziel ist es, »zukünftige« Märkte für Impfstoffe zu schaffen, in erster Linie solche, die zur Vorbeugung der Kindersterblichkeit dienen. Ich versichere Sie der vollen Unterstützung des Heiligen Stuhls für dieses humanitäre Projekt, das von jenem Geist menschlicher Solidarität inspiriert ist, den unsere Welt braucht, um jede Form von Egoismus zu überwinden und die friedliche Koexistenz der Völker zu fördern. Wie ich in meiner Botschaft zum diesjährigen Weltfriedenstag sagte, ist jeder Dienst an den Armen ein Dienst am Frieden, denn »an der Wurzel nicht weniger Spannungen, die den Frieden bedrohen, liegen sicherlich die vielen ungerechten Ungleichheiten, die tragischerweise noch in der Welt vorhanden sind« (Nr. 6).

Verehrte Damen und Herrn, ich werde für einen jeden von Ihnen beten, auf daß der Allmächtige Gott Ihren Anstrengungen zur Erfüllung dieser wichtigen Arbeit beistehe. Von Herzen erbitte ich seinen Segen der Weisheit, der Kraft und des Friedens.



AN EINE DELEGATION DER PARISER "AKADEMIE FÜR MORAL- UND POLITIKWISSENSCHAFTEN"

Samstag, 10. Februar 2007



Herr Ständiger Sekretär,
Herr Kardinal,
liebe Freunde, Akademiemitglieder, meine Damen und Herren!

Mit Freude empfange ich Sie heute, Mitglieder der Akademie für Moral- und Politikwissenschaften. An erster Stelle danke ich dem Ständigen Sekretär, Herrn Michel Albert, für die Worte, mit denen er sich zum Sprecher Ihrer Delegation gemacht hat, sowie für die Medaille zur Erinnerung an meine Aufnahme als assoziiertes ausländisches Mitglied Ihrer erlesenen Institution.

Die Akademie für Moral- und Politikwissenschaften ist ein Ort des Austausches und der Debatte, der den Bürgern insgesamt und dem Gesetzgeber Denkanstöße anbietet, die helfen sollen, »die für das Gemeinwohl und die Entfaltung des einzelnen geeignetsten Formen politischer Organisation zu finden«. Im Mittelpunkt der Überlegungen und Handlungen der Obrigkeiten und der Bürger müssen immer zwei Elemente stehen: die Achtung vor jedem Menschen und die Suche nach dem Gemeinwohl. In der heutigen Welt ist es dringlicher denn je, die Aufmerksamkeit unserer Zeitgenossen erneut auf diese beiden Elemente zu lenken. Die Entwicklung des Subjektivismus hat zur Folge, daß jeder dazu neigt, sich für den einzigen Bezugspunkt zu halten und zu meinen, das, was er denke, habe Wahrheitscharakter; so drängt sie uns dazu, die Gewissen auf der Grundlage der fundamentalen Werte zu formen, die nicht verhöhnt werden können, ohne den Menschen und die Gesellschaft selbst in Gefahr zu bringen, sowie auf der Grundlage der objektiven Entscheidungskriterien, die einen Akt der Vernunft voraussetzen.

Wie ich in meinem Vortrag vor Ihrer Akademie im Jahr 1995 über das Thema »Der Neue Bund« unterstrichen habe, ist der Mensch »von Natur aus ein auf Beziehung ausgerichtetes Geschöpf « und dazu aufgerufen, sich jeden Tag mehr für seine Brüder und Schwestern im Menschsein verantwortlich zu fühlen. Die von Gott schon im ersten Text der Heiligen Schrift gestellte Frage muß unaufhörlich im Herzen jedes Menschen widerhallen: »Wo ist dein Bruder?« Der Sinn für die Brüderlichkeit und Solidarität und der Sinn für das Gemeinwohl beruhen auf der Wachsamkeit hinsichtlich der Brüder und hinsichtlich der Gestaltung der Gesellschaft, die jedem einen Platz gibt, damit er in Würde leben, ein Dach über dem Kopf und das nötige Auskommen für sich und die Familie, für die er zu sorgen hat, haben kann. In diesem Geist ist der Antrag zu den Menschenrechten und der freien Meinungsäußerung, die zu den Grundrechten gehört, zu verstehen, über den Sie im vergangenen Oktober abgestimmt haben. Ihr Anliegen war immer, daß die grundlegende Würde der einzelnen Menschen und der menschlichen Gruppen nicht verhöhnt und auch ihr religiöser Glaube respektiert werde.

Es sei mir gestattet, vor Ihnen auch die Erinnerung an die Gestalt von Andrej Dmitrijewitsch Sacharow wachzurufen, in dessen Nachfolge ich meinen Platz in der Akademie eingenommen habe. Diese edle Persönlichkeit erinnert uns daran, daß es im persönlichen wie im öffentlichen Leben notwendig ist, den Mut zu haben, die Wahrheit zu sagen und ihr zu folgen, frei zu sein in bezug auf die uns umgebende Welt, die oft dazu neigt, ihre Anschauungen und die zu übernehmenden Verhaltensweisen aufzudrängen. Die echte Freiheit besteht darin, daß man auf dem Weg der Wahrheit vorangeht, gemäß der eigenen Berufung und im Wissen, daß jeder vor seinem Schöpfer und Erlöser Rechenschaft über sein Leben ablegen müssen wird.

Es ist wichtig, daß wir den jungen Menschen einen solchen Weg vorschlagen können, indem wir sie daran erinnern, daß wahre Entfaltung nicht um jeden Preis zu haben ist, und sie einladen, sich nicht damit zufrieden zu geben, allen sich bietenden Moden zu folgen. So werden sie mit Mut und Beharrlichkeit den Weg der Freiheit und des Glücks unterscheiden können, der voraussetzt, daß eine Reihe von Anforderungen gelebt wird und die Anstrengungen, Opfer und Entsagungen vollbracht werden, die für rechtes Handeln notwendig sind.

20 Eine der Herausforderungen für unsere Zeitgenossen und insbesondere für die Jugend besteht darin, ein Leben zu akzeptieren, das sich nicht nur in der Äußerlichkeit, im Schein abspielt, sondern in der Entfaltung des inneren Lebens, einem Ort, wo sich Sein und Tun verbinden, einem Ort der Anerkennung unserer Würde als Kinder Gottes, die zur Freiheit berufen sind, indem sie sich nicht von der Quelle des Lebens trennen, sondern mit ihr verbunden bleiben. Was das Herz des Menschen erfreut, ist, sich als Söhne und Töchter Gottes zu erkennen, ist ein schönes und gutes Leben unter dem Blick Gottes; gleiches gilt für die Siege, die über das Böse und gegen die Lüge errungen werden. Indem wir jeden entdecken lassen, daß sein Leben einen Sinn hat und daß er dafür verantwortlich ist, öffnen wir den Weg zum Reifwerden der Menschen sowie zu einem versöhnten Menschsein, das auf das Gemeinwohl bedacht ist.

Der russische Gelehrte Sacharow ist dafür ein Vorbild; während in der Zeit des Kommunismus seine äußere Freiheit eingeschränkt wurde, erlaubte es ihm seine innere Freiheit, die ihm keiner nehmen konnte, das Wort zu ergreifen, um mit beharrlicher Entschlossenheit seine Mitbürger im Namen des Gemeinwohls zu verteidigen. Auch heutzutage ist es wichtig, daß sich der Mensch nicht von äußeren Ketten behindern läßt, wie etwa vom Relativismus, vom Streben nach Macht und Profit um jeden Preis, von der Droge, von ungeordneten Gefühlsbeziehungen, von der Verwirrung im Bereich der Ehe, von der Nichtanerkennung des Menschen in allen Phasen seiner Existenz, von seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende, die zur Meinung führt, es gebe Stadien, in denen der Mensch nicht wirklich existiere. Wir müssen den Mut haben, unsere Zeitgenossen daran zu erinnern, was der Mensch und was das Menschsein ist. Ich fordere die zivilen Obrigkeiten und die Personen, die eine Aufgabe bei der Weitergabe der Werte haben, auf, immer diesen Mut zur Wahrheit über den Menschen zu haben.

Lassen Sie mich zum Abschluß unserer Begegnung den Wunsch aussprechen, daß die Akademie der Moral- und Politikwissenschaften durch ihre Arbeiten, zusammen mit anderen Institutionen, immer den Menschen helfen könne, ein besseres Leben einzurichten und eine Gesellschaft aufzubauen, wo es schön ist, als Brüder zu leben. Dieser Wunsch verbindet sich mit dem Gebet, das ich für Sie, für Ihre Familien und für alle Mitglieder der Akademie der Moral- und Politikwissenschaften zum Herrn erhebe.



AN DIE ITALIENISCHE FREIWILLIGENORGANISATION "MISERICORDIE D’ITALIA"


Audienzenhalle

Samstag, 10. Februar 2007



Liebe Freunde der »Misericordie d’Italia«!

Mit Freude empfange ich euch und richte meinen herzlichen Willkommensgruß an alle hier Anwesenden. Ich bin dankbar für diesen Besuch, der mir Gelegenheit gibt, euch besser kennenzulernen. Ich grüße den Präsidenten eurer Konföderation und danke Kardinal Antonelli für die freundlichen Worte, die er in euer aller Namen an mich gerichtet hat. Die »Misericordie« sind - wie gebührend betont werden muß - die weltweit älteste Form des organisierten Freiwilligendienstes. Sie gehen auf die Initiative des heiligen Märtyrers Petrus von Verona zurück, der 1244 in Florenz einige Bürger jeden Alters und aller Gesellschaftsschichten versammelte, um in absoluter Anonymität und vollkommen unentgeltlich »Gott durch barmherzige Werke an den Mitmenschen zu ehren«. Heute besteht die Konföderation der »Misericordie d’Italia« aus über 700 »Bruderschaften« - wie ihr sie so vielsagend nennt -, die vor allem in der Toskana, aber auch im übrigen Staatsgebiet, insbesondere in den Regionen Mittel- und Süditaliens vertreten sind. Zu ihnen gehören auch die zahlreichen Blutspendergruppen, die sogenannten »Fratres«. Eure wohltätige Organisation zählt über 100.000 Freiwillige, die ständig im Bereich des Gesundheitswesens tätig sind. Die Vielfältigkeit eurer Initiativen ist nicht nur eine Antwort auf die Erfordernisse der Gesellschaft, sondern auch ein Zeichen jenes Eifers, jener »Phantasie« der Nächstenliebe, die von einem pulsierenden Herzen ausgeht, dessen »Motor« die Liebe zu notleidenden Menschen ist.

Gerade dafür verdient ihr Anerkennung: Mit eurer Gegenwart und euren Initiativen tragt ihr dazu bei, das Evangelium der Liebe Gottes unter allen Menschen zu verbreiten. Wie könnten wir dabei nicht an den eindrucksvollen Abschnitt des Evangeliums denken, in dem der hl. Matthäus von der endgültigen Begegnung mit dem Herrn spricht? Dann, so hat Jesus selbst gesagt, wird der Richter der Welt uns fragen, ob wir im Laufe unseres Lebens den Hungernden zu essen und den Dürstenden zu trinken gegeben haben, ob wir die Fremden aufgenommen und den Bedürftigen die Tore unseres Herzens geöffnet haben. Mit einem Wort, beim Letzten Gericht wird Gott uns fragen, ob wir auf abstrakte Weise geliebt haben oder vielmehr in konkreter, tätiger Form (vgl. Mt 25,31-46). Und es berührt mich immer wieder zutiefst, wenn ich von neuem diese Zeilen lese über Jesus, den Menschensohn und letzten Richter, der uns in diesem Tun vorausgeht, indem er selbst Mensch wird, arm und durstig, und uns schließlich umarmt und an sein Herz drückt. So tut Gott das, was wir seinem Willen entsprechend tun sollen: offen zu sein für andere und die Liebe nicht mit Worten, sondern mit Taten zu leben. Gerne wiederholte der hl. Johannes vom Kreuz, daß wir am Ende unseres Lebens nach unserer Liebe gerichtet werden. Wie notwendig ist es doch, daß auch heute, ja vor allem heute, in unserer von zahlreichen menschlichen und spirituellen Herausforderungen geprägten Zeit, die Christen durch Taten und Werke die barmherzige Liebe Gottes verkünden! Jeder Getaufte sollte ein »gelebtes Evangelium« sein. Viele Menschen, denen es nicht leichtfällt, Christus und seine anspruchsvolle Lehre anzunehmen, sind jedoch empfänglich für das Zeugnis derer, die seine Botschaft durch konkrete Nächstenliebe vermitteln. Die Liebe ist eine Sprache, die unmittelbar zum Herzen spricht und es dem Vertrauen öffnet. So wie sich der hl. Petrus an die ersten Christen wandte, fordere auch ich euch auf, stets bereit zu sein, »jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt« (1P 3,15).

Einen weiteren Gedanken möchte ich noch hinzufügen: Eure Vereinigung ist ein typisches Beispiel dafür, wie wichtig es ist, die eigenen christlichen Wurzeln in Italien und in Europa zu bewahren. Eure Bruderschaften, die »Misericordie«, sind eine lebendige und lebhafte, überaus realistische Präsenz dieser christlichen Wurzeln. Heutzutage sind die »Misericordie« keine kirchliche Vereinigung, aber ihre Wurzeln sind eindeutig christlich, was der Name »Misericordie« selbst zum Ausdruck bringt, und was auch die bereits erwähnte Tatsache verdeutlicht, daß euer Ursprung auf die Initiative eines Heiligen zurückgeht. Nun, um weiterhin Früchte zu tragen, müssen die Wurzeln lebendig und stark bleiben. Deshalb bietet ihr euren Mitgliedern regelmäßige Schulungs- und Ausbildungsmöglichkeiten an, um die menschlichen und christlichen Grundlagen eurer Tätigkeit immer mehr zu vertiefen. Es besteht nämlich die Gefahr, daß der Freiwilligendienst zu bloßem Aktivismus wird. Wenn hingegen die spirituelle Kraft lebendig bleibt, kann er anderen weit mehr als die bloßen materiellen Notwendigkeiten vermitteln: Er kann dem notleidenden Mitmenschen jenen Blick der Liebe schenken, den er braucht (vgl. Deus caritas est ).

Schließlich möchte ich noch einen dritten Aspekt hervorheben, der Grund zur Anerkennung gibt: Zusammen mit anderen Freiwilligenvereinigungen übt ihr eine wichtige erzieherische Funktion aus, indem ihr die Empfänglichkeit für die erhabensten Werte wie Brüderlichkeit und selbstlose Unterstützung der Notleidenden aufrechterhaltet. Vor allem können junge Menschen von der Erfahrung im Freiwilligendienst profitieren, denn, wenn er gut gestaltet ist, wird er für sie eine »Schule des Lebens«, die ihnen hilft, dem eigenen Leben einen höheren Sinn und Wert und größere Fruchtbarkeit zu schenken. Mögen die »Misericordie« sie anregen, in der Dimension des Dienstes am Nächsten zu wachsen und eine große Wahrheit des Evangeliums zu entdecken, daß nämlich »geben seliger [ist] als nehmen« (Ac 20,35 vgl. Deus caritas est ).

Liebe Freunde, morgen, am 11. Februar, dem Gedenktag Unserer Lieben Frau in Lourdes, feiern wir nunmehr zum fünfzehnten Mal den Welttag der Kranken. In diesem Jahr richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf all jene, die an unheilbaren Krankheiten leiden. Vielen von ihnen widmet auch ihr, liebe Freunde, euren Dienst. Die Jungfrau Maria, die Mutter der Barmherzigkeit, möge über jede eurer Bruderschaften, ja über jedes einzelne Mitglied der »Misericordie d’Italia« wachen. Möge sie euch helfen, eure Aufgabe mit wahrer Liebe zu erfüllen und so zur Verbreitung der Liebe Gottes, Quelle des Lebens für jeden Menschen, in aller Welt beitragen. Euch, die ihr hier versammelt seid, und allen »Misericordie« Italiens wie den Blutspendern »Fratres« erteile ich von Herzen meinen Segen.

AN HERRN LUIS PARÍS CHAVERRI, NEUER BOTSCHAFTER VON COSTA RICA BEIM HL. STUHL


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Samstag, 10. Februar 2007



Herr Botschafter!

1. Gern empfange ich Sie zu dieser Audienz, bei der Sie mir das Beglaubigungsschreiben überreichen, mit dem Sie als außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter Costa Ricas beim Heiligen Stuhl akkreditiert werden.

Ich danke Ihnen aufrichtig für die freundlichen Worte, die Sie bei diesem feierlichen Akt an mich gerichtet haben, mit dem Sie die Ihnen von Ihrer Regierung übertragene Mission beginnen. Ich bitte Sie, dem Herrn Präsidenten der Republik, Dr. Óscar Arias, meinen ehrerbietigen Gruß bestellen zu lassen, in Erwiderung seines Grußes, den Sie mir übermittelt haben und mit dem er die Nähe und die Zuneigung des Volkes von Costa Rica zum Nachfolger Petri zum Ausdruck bringt.

2. Costa Rica besitzt eine starke religiöse Prägung, die den Glauben seines Volkes mehr als fünf Jahrhunderte nach seiner Evangelisierung widerspiegelt. In diesem Sinn bemüht sich die katholische Kirche, getreu ihrer Sendung, allen Menschen die Heilsbotschaft zu bringen, und gemäß ihrer Soziallehre die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und die Verteidigung seiner Würde zu fördern. Die Kirche tut dies, indem sie zur Stärkung der Grundwerte beiträgt, damit die Gesellschaft Stabilität und Eintracht genießen kann, wie es ihrer großen Sehnsucht nach einem Leben in Frieden, Freiheit und Demokratie entspricht.

Veranlaßt von ihrem Wunsch, die Botschaft des Evangeliums lebendig zu erhalten, arbeiten die verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften in so wichtigen Bereichen zusammen wie der Bildung, der Betreuung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, dem Gesundheitsdienst und der Förderung des Menschen als Staatsbürger und Kind Gottes.

Daher beobachten die Bischöfe von Costa Rica mit Aufmerksamkeit und Sorge die in dem Land herrschenden sozialen Verhältnisse, wie die zunehmende Verarmung, die öffentliche Unsicherheit und die Gewalt in den Familien; dazu kommt eine starke Zuwanderung aus den Nachbarländern.

Angesichts von nicht selten konfliktreichen Situationen und zur Verteidigung des Gemeinwohls bieten sie ihre Mitarbeit bei Initiativen an, die die Verständigung und Versöhnung begünstigen und zur Förderung der Gerechtigkeit und Solidarität führen, indem sie, wenn nötig, den nationalen Dialog unter den für das öffentliche Leben Verantwortlichen fördern.

Andererseits soll, wie Seine Exzellenz betont hat, der genannte Dialog jede Form von Gewalt in ihren verschiedenen Äußerungen ausschließen und dazu beitragen, durch die Zusammenarbeit aller eine menschlichere Zukunft aufzubauen.

Unter diesem Gesichtspunkt muß daran erinnert werden, daß eine Verbesserung der sozialen Situation nicht durch ausschließliche Anwendung der notwendigen technischen Maßnahmen herbeigeführt wird, sondern daß es auch der Förderung von Reformen bedarf, bei denen im Hinblick auf die Person, die Familie und die Gesellschaft ethische Erwägungen berücksichtigt werden.

Darum müssen die sittlichen Grundwerte, wie Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit und Verantwortung für das Gemeinwohl gepflegt werden. Auf diese Weise wird sich der persönliche und kollektive Egoismus sowie die in vielen Bereichen verbreitete Korruption vermeiden lassen, die jeglichen Fortschritt verhindern.

22 3. Es ist wohl bekannt, daß die Zukunft einer Nation auf den Frieden, Frucht der Gerechtigkeit (vgl. Jc 3,18), gegründet sein muß und so eine Gesellschaft aufgebaut wird, die, angefangen bei den Verantwortlichen für das politische, parlamentarische, administrative und rechtliche Leben, Eintracht, Ausgeglichenheit und die Achtung der Person sowie die Verteidigung ihrer Grundrechte fördert.

Lobenswert sind in dieser Hinsicht die Initiativen, die die Regierung von Costa Rica auf internationaler Ebene ergriffen hat, um den Frieden und die Menschenrechte in der Welt zu fördern; gleiches gilt für die traditionelle Nähe zu den vom Heiligen Stuhl auf verschiedenen internationalen Foren vertretenen Positionen über so bedeutsame Fragen wie die Verteidigung des menschlichen Lebens und die Förderung von Ehe und Familie.

Alle Costaricaner müssen mit den Qualitäten, die sie auszeichnen, durch ihr Mitwirken an einer politischen Stabilität, die allen Bürgern die Teilnahme am öffentlichen Leben gestattet, Hauptakteure und Urheber des Fortschritts des Friedens sein. Jeder Einzelne ist, seiner Fähigkeit und seinen persönlichen Möglichkeiten entsprechend, dazu aufgerufen, seinen Beitrag zum Wohl des Vaterlandes zu leisten, das auf einer gerechteren Sozialordnung beruht, an der der einzelne in höherem Maß teilnehmen kann.

Dafür bietet die Morallehre der Kirche etliche Werte und Orientierungen an, die, wenn sie besonders von denen, die im Dienst der Nation arbeiten, berücksichtigt werden, sehr hilfreich sind, um auf angemessene Weise den Bedürfnissen und Wünschen der Bürger entgegenzukommen.

Das schmerzliche und weitverbreitete Problem der Armut mit seinen schwerwiegenden Konsequenzen im Bereich der Erziehung, der Gesundheit und des Wohnraums ist eine drängende Herausforderung für die Regierenden und Verantwortlichen der öffentlichen Einrichtungen im Hinblick auf die Zukunft der Nation. Es bedarf einer tiefgehenden Gewissensbildung, die es erlaubt, sich mit Entschlossenheit der gegenwärtigen Situation in allen ihren Dimensionen zu stellen und so an einem echten Einsatz für das Wohl aller mitzuwirken.

Wie in anderen Teilen der Welt mangelt es den Armen auch hier an den primären Gütern, und sie finden nicht die Mittel, die für ihre Förderung und ganzheitliche Entwicklung nötig sind. Das betrifft vor allem die Zuwanderer auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebenslage.

Angesichts dessen bemüht sich die Kirche, auf der Grundlage ihrer Soziallehre Initiativen zur Beseitigung von Situationen der Marginalisierung, die viele notleidende Brüder und Schwestern betreffen, ins Leben zu rufen und zu fördern, denn die Sorge um den sozialen Bereich ist auch Teil ihres Handelns in der Evangelisierung (vgl. Johannes Paul II., Sozialenzyklika Sollicitudo Rei Socialis, SRS 41). 4.

Herr Botschafter, vor dem Ende dieser Begegnung möchte ich Ihnen meine besten Wünsche aussprechen, daß die Mission, die heute beginnt, fruchtbar und erfolgreich sein möge. Ich bitte Sie noch einmal, meine Empfindungen und Hoffnungen dem Herrn Präsidenten der Republik und den übrigen Autoritäten Ihres Landes zu übermitteln, und rufe gleichzeitig den Segen Gottes und den Schutz der Patronin des Landes, »Nuestra Señora de los Ángeles«, auf Sie, auf Ihre werte Familie und Ihre Mitarbeiter und auf alle geliebten Söhne und Töchter Costa Ricas herab.

XV. WELTTAG DES KRANKEN HL. MESSE FÜR DIE KRANKEN

AM GEDENKTAG UNSERER LIEBEN FRAU IN LOURDES AN DIE KRANKEN NACH DER HL. MESSE

Petersdom

Sonntag, 11. Februar 2007

Liebe Brüder und Schwestern!


23 Heute, am Gedenktag Unserer Lieben Frau in Lourdes und dem jährlichen Welttag der Kranken, treffe ich voll Freude hier in der Vatikanischen Basilika mit euch zum Abschluß der Eucharistiefeier zusammen, der Kardinal Ruini vorstand. Mein herzlicher Gruß gilt an erster Stelle ihm und dann allen hier Anwesenden: dem Erzpriester der Basilika, Erzbischof Angelo Comastri, den weiteren Bischöfen, den Priestern und den Ordensleuten. Ich grüße die Verantwortlichen und die Mitglieder der UNITALSI, die für den Transport und die Pflege der Kranken während der Wallfahrten und bei anderen wichtigen Anlässen sorgen. Ich grüße die Verantwortlichen und Pilger der »Opera Romana Pellegrinaggi« und alle, die am XV. Nationalen Kongreß für Pastoraltheologie teilnehmen, zu dem viele Besucher aus Italien und dem Ausland erwartet werden. Weiter grüße ich die Delegation der Vertreter der »Cammini d’Europa«. Aber den herzlichsten Gruß möchte ich an euch, liebe Kranke, an eure Angehörigen und an die freiwilligen Helfer richten, die mit Liebe für euch sorgen und euch auch heute begleiten. Zusammen mit euch möchte ich mich mit denen vereinen, die an diesem selbigen Tag an den vielen Feiern des Welttags der Kranken teilnehmen, der in Seoul, in Korea, stattfindet. Kardinal Javier Lozano Barragán, Präsident des Päpstlichen Rates für die Pastoral im Krankendienst, steht dort in meinem Namen den Feierlichkeiten vor.

Heute ist also der Gedenktag Unserer Lieben Frau in Lourdes, die vor fast 150 Jahren einem einfachen Mädchen, der hl. Bernadette Soubirous, erschienen ist und sich als die Unbefleckte Empfängnis zu erkennen gab. Die Gottesmutter hat sich auch in dieser Erscheinung als zärtliche Mutter ihrer Kinder gezeigt und daran erinnert, daß die Kleinen, die Armen die von Gott Bevorzugten sind und ihnen das Geheimnis des Himmelreiches offenbart ist. Liebe Freunde, Maria, die den Sohn mit ihrem Glauben bis unter das Kreuz begleitet hat; sie, die durch einen geheimnisvollen Plan mit den Leiden Christi, ihres Sohnes, tief verbunden war, wird es nie müde uns aufzurufen, die Erfahrung des Leidens und der Krankheit mit zuversichtlichem Vertrauen zu leben und zu teilen, indem wir diese dem Vater voll Glauben darbringen und so in unserem Fleisch das ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt (vgl.
Col 1,24). Dabei kommen mir die Worte in den Sinn, mit denen mein verehrter Vorgänger Paul VI. das Apostolische Schreiben Marialis cultus beendete: »Dem heutigen Menschen, der nicht selten zwischen Angst und Hoffnung hin- und hergerissen wird, von der Erfahrung seiner Grenzen niedergedrückt und von grenzenlosen Erwartungen bestürmt wird, … vermittelt die Jungfrau Maria, wenn sie in ihrer biblischen Gestalt und in der von ihr in der Stadt Gottes bereits erlangten Wirklichkeit betrachtet wird, eine hoffnungsvolle Sicht und ein ermunterndes Wort: den Sieg der Hoffnung über die Angst, der Gemeinschaft über die Einsamkeit, des Friedens über die Verwirrung, der Freude und der Schönheit über die Langeweile und den Verdruß, der ewigen Dimensionen über die zeitlichen, des Lebens über den Tod« (Nr. 57). Das sind Worte, die unseren Weg erhellen, auch wenn der Sinn für die Hoffnung und die Sicherheit der Genesung zu entschwinden scheinen; es sind Worte, von denen ich möchte, daß sie besonders diejenigen aufrichten, die an schweren und schmerzhaften Krankheiten leiden.

Eben diesen besonders betroffenen Brüdern und Schwestern widmet der heutige Welttag der Kranken seine Aufmerksamkeit. Wir möchten sie die physische und geistliche Nähe der ganzen christlichen Gemeinschaft spüren lassen. Es ist wichtig, daß wir sie nicht allein lassen, daß sie nicht vereinsamen, wenn sie eine so schwere Zeit durchmachen. Diejenigen, die ihnen mit Geduld und Liebe durch ihre berufliche Kompetenz und ihre menschliche Wärme dienen, haben große Verdienste. Ich denke an die Ärzte, die Pfleger, das Krankenpersonal, die freiwilligen Helfer, die Ordensleute und die Priester, die sich nicht schonen und sich wie der barmherzige Samariter über sie beugen, ohne auf ihren sozialen Stand, ihre Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit zu achten, sondern nur auf das, was sie nötig haben. Im Antlitz eines jeden Menschen, noch mehr, wenn es von der Krankheit gezeichnet und entstellt ist, erstrahlt das Antlitz Christi, der gesagt hat: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40).

Liebe Brüder und Schwestern, in Kürze wird eine stimmungsvolle Lichterprozession die Atmosphäre neu lebendig werden lassen, die in Lourdes beim Einbruch des Abends unter den Pilgern und Gläubigen entsteht. Der Gedanke geht zur Grotte von Massabielle, wo sich das menschliche Leiden und die Hoffnung, die Angst und das Vertrauen kreuzen. Wie viele Pilger finden, vom Blick der Gottesmutter getröstet, in Lourdes die Kraft, den Willen Gottes, auch wenn er sie Verzicht und Schmerz kostet, leichter zu erfüllen, dies im Bewußtsein, daß Gott - wie der Apostel Paulus schreibt - bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt (vgl. Rm 8,28). Die brennende Kerze, die ihr in den Händen haltet, sei auch für euch, liebe Brüder und Schwestern, das Zeichen des aufrichtigen Verlangens, mit Jesus zu gehen, dem Glanz des Friedens, der die Finsternis erhellt und uns drängt, selbst Licht und Stütze zu sein für unseren Nächsten. Niemand, besonders wer sich in der Lage schweren Leidens befindet, darf sich einsam und verlassen fühlen. Ich vertraue euch alle heute abend der Jungfrau Maria an. Sie wurde, nachdem sie unsägliches Leiden erfahren hat, in den Himmel aufgenommen, wo sie uns erwartet und wo wir - so hoffen wir - mit ihr eines Tages die Herrlichkeit ihres göttlichen Sohnes teilen können, die Freude ohne Ende. Mit diesen Empfindungen erteile ich allen hier Anwesenden und euren Lieben meinen Segen.

AN DIE TEILNEHMER AN DEM VON DER PÄPSTLICHEN LATERANUNIVERSITÄT VERANSTALTETEN INTERNATIONALEN KONGRESS ÜBER DAS NATÜRLICHE SITTENGESETZ

Clementina-Saal

Montag, 12. Februar 2007



Verehrte Brüder im Bischofs- und im Priesteramt,
hochgeschätzte Professoren,
sehr geehrte Damen und Herren!

Mit besonderer Freude empfange ich Sie zu Beginn der Arbeiten des Kongresses, auf dem Sie sich in den nächsten Tagen mit einem Thema beschäftigen werden, dem angesichts des aktuellen historischen Augenblicks erhebliche Bedeutung zukommt: dem natürlichen Sittengesetz. Ich danke Erzbischof Rino Fisichella, Rector Magnificus der Päpstlichen Lateranuniversität, für die Gedanken, die er in der Grußadresse zur Einführung dieser Begegnung formuliert hat.

Es steht außer Zweifel, daß wir einen Moment der außerordentlichen Entfaltung in der Fähigkeit des Menschen, die Gesetze und Strukturen der Materie zu entschlüsseln, und in der daraus folgenden Herrschaft des Menschen über die Natur erleben. Wir sehen alle die großen Vorteile dieses Fortschritts, wir sehen aber auch immer mehr die drohenden Gefahren einer Zerstörung der Natur durch die Macht unseres Tuns. Es gibt noch eine weitere, weniger sichtbare, aber nicht weniger beunruhigende Gefahr: Die Methode, die es uns erlaubt, die vernünftigen Strukturen der Materie immer gründlicher zu erkennen, macht uns immer unfähiger, die Quelle dieser Vernünftigkeit, die schöpferische Vernunft, zu sehen. Die Fähigkeit, die Gesetze des materiellen Seins zu erkennen, macht uns unfähig, die im Sein enthaltene ethische Botschaft zu sehen, die von der Tradition »lex naturalis«, natürliches Sittengesetz, genannt wird. Dieses Wort ist heute für viele beinahe unverständlich; der Grund dafür liegt in einem Naturbegriff, der nicht mehr metaphysisch, sondern rein empirisch ist. Die Tatsache, daß die Natur, das Sein selbst nicht mehr transparent für eine moralische Botschaft ist, erzeugt ein Gefühl von Orientierungslosigkeit, das die Entscheidungen des täglichen Lebens prekär und unsicher macht. Die Verwirrung bedrängt natürlich in besonderer Weise die jüngeren Generationen, die in diesem Kontext die grundlegenden Entscheidungen für ihr Leben finden müssen.

24 Im Lichte dieser Feststellungen wird mit aller Dringlichkeit die Notwendigkeit sichtbar, über das Naturrecht nachzudenken und seine Wahrheit, die allen Menschen gemeinsam ist, wiederzuentdecken. Dieses Gesetz, auf das auch der Apostel Paulus hinweist (vgl. Rm 2,14-15), ist in das Herz des Menschen eingeschrieben und ist folglich auch heute nicht einfach unzugänglich. Dieses Gesetz hat als sein erstes und allgemeinstes Prinzip das »Tue das Gute und meide das Böse!« Das ist eine für jeden unmittelbar offenkundige Wahrheit. Ihr entspringen dann die anderen, spezifischeren Prinzipien, die das ethische Urteil über die Rechte und Pflichten jedes Einzelnen regulieren. Ein solches Prinzip ist die Achtung vor dem menschlichen Leben von seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende, da dieses Gut des Lebens nicht verfügbares Eigentum des Menschen, sondern unentgeltliches Geschenk Gottes ist. Ein solches Prinzip ist auch die Pflicht, nach der Wahrheit zu suchen - notwendige Voraussetzung jeder echten Reifung der Person. Eine weitere grundlegende Instanz des Subjekts ist die Freiheit. Wenn man jedoch der Tatsache Rechnung trägt, daß die menschliche Freiheit immer eine mit anderen geteilte Freiheit ist, ist klar, daß der Einklang der Freiheiten nur in dem gefunden werden kann, was allen gemeinsam ist, also in der Wahrheit über den Menschen, in der fundamentalen Botschaft des Seins selbst, eben in der »lex naturalis«. Und wie könnte man einerseits das Bedürfnis nach Gerechtigkeit unerwähnt lassen, das sich darin zeigt, »unicuique suum«, jedem das Seine, zu geben, und andererseits die Erwartung der Solidarität, die in jedem, besonders wenn er bedürftig ist, die Hoffnung auf Hilfe von seiten derer nährt, denen ein besseres Los beschieden war? In diesen Werten kommen unabdingbare, zwingende Normen zum Ausdruck, die nicht vom Willen des Gesetzgebers und auch nicht vom Konsens abhängen, den ihnen die Staaten einräumen. Es sind in der Tat Normen, die jeglichem menschlichen Gesetz vorangehen: Als solche lassen sie von keiner Seite Eingriffe zur Derogation, das heißt zur teilweisen Außerkraftsetzung des Gesetzes zu.

Das Naturrecht ist die Quelle, aus der zusammen mit Grundrechten auch sittliche Gebote entspringen, deren Einhaltung verpflichtend ist. In der derzeitigen Ethik und Rechtsphilosophie sind die Postulate des Rechtspositivismus weit verbreitet. Die Folge davon ist, daß die Gesetzgebung häufig lediglich zu einem Kompromiß zwischen verschiedenen Interessen wird: Man versucht, private Interessen oder Wünsche, die den aus der sozialen Verantwortung erwachsenden Verpflichtungen zuwiderlaufen, in Rechte umzuwandeln. In dieser Situation ist es angebracht, daran zu erinnern, daß jede Rechtsordnung, sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene, ihre Rechtmäßigkeit letztlich aus ihrer Verwurzelung im Naturrecht, in der in das Sein des Menschen selbst eingeschriebenen ethischen Botschaft bezieht. Das Naturrecht ist schließlich das einzige gültige Bollwerk gegen die Willkür der Macht oder die Täuschungen der ideologischen Manipulation. Die Kenntnis dieses Gesetzes, das in das Herz des Menschen eingeschrieben ist, wächst mit dem Fortschreiten des Gewissens. Die erste Sorge aller und insbesondere jener, die öffentliche Verantwortung tragen, müßte deshalb darin bestehen, das Reifen des Gewissens zu fördern. Das ist der grundlegende Fortschritt, ohne den sich alle anderen Fortschritte schließlich als unecht herausstellen. Das in unsere Natur eingeschriebene Gesetz ist die jedem angebotene Garantie dafür, frei und in seiner Würde geachtet leben zu können. Das bisher Gesagte findet sehr konkrete Anwendungen, wenn man es auf die Familie bezieht, das heißt auf jene »innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, die vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt « worden ist (II. Vatikan. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes GS 48). Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesbezüglich in geeigneter Weise bekräftigt, daß die Ehe »eine nach göttlicher Ordnung feste Institution« und damit »dieses heilige Band« ist, das »im Hinblick auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft sowie auf das Wohl der Gesellschaft nicht mehr menschlicher Willkür unterliegt« (ebd.). Kein von den Menschen gemachtes Gesetz kann daher die vom Schöpfer geschriebene Norm umstürzen, ohne daß die Gesellschaft auf dramatische Weise in dem verletzt wird, was ihre eigentliche Grundlage darstellt. Dies zu vergessen, würde bedeuten, daß man die Familie schwächt, die Kinder benachteiligt und die Zukunft der Gesellschaft unsicher macht.

Schließlich empfinde ich es als meine Pflicht, noch einmal zu bekräftigen, daß nicht alles, was wissenschaftlich machbar ist, auch ethisch erlaubt ist. Wenn die Technik den Menschen auf ein Experimentierobjekt reduziert, liefert sie am Ende das schwache Subjekt der Willkür des Stärkeren aus. Sich der Technik als einzigem Garanten des Fortschritts blind anzuvertrauen, ohne gleichzeitig einen ethischen Kodex zu bieten, der seine Wurzeln in derselben Wirklichkeit hat, die erforscht und entfaltet wird, wäre gleichbedeutend damit, der menschlichen Natur Gewalt anzutun, mit verheerenden Folgen für alle. Der Beitrag der Wissenschaftler ist von entscheidender Bedeutung. Zusammen mit den Fortschritten, die sie bei unseren Fähigkeiten zur Beherrschung der Natur erzielen, müssen die Wissenschaftler auch einen Beitrag leisten, um uns zu helfen, unsere Verantwortung für den Menschen und die ihm anvertraute Natur in ihrer ganzen Tiefe zu verstehen. Auf dieser Grundlage ist es möglich, einen fruchtbaren Dialog zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, unter Theologen, Philosophen, Juristen und Wissenschaftlern zu entwickeln, die auch dem Gesetzgeber wertvolles Material für das persönliche und soziale Leben liefern können. Ich wünsche mir daher, daß diese Studientage nicht nur zu einer größeren Sensibilität der Gelehrten gegenüber dem natürlichen Sittengesetz beitragen können, sondern auch die Schaffung der Voraussetzungen anstoßen mögen, damit man über diese Thematik zu einem immer gründlicheren Bewußtsein des unveräußerlichen Wertes gelange, den die »lex naturalis« für einen wirklichen und kohärenten Fortschritt des persönlichen Lebens und der sozialen Ordnung besitzt. Mit diesem Wunsch versichere ich Sie meines Gedenkens im Gebet für Sie und für Ihr akademisches Engagement in Forschung und Reflexion, während ich allen von Herzen den Apostolischen Segen erteile.


ANSPRACHE 2007 Januar 2007 18