Kommentar zum Evangelium Mt 31

Einunddreißigste Homilie. Kap. IX, V. 18-26.

31 Mt 9,18-26
1.

V.18: "Während der Herr solches zu ihnen sprach, siehe, da kam ein Obervorsteher herein, warf sich vor ihm nieder und sprach: Meine Tochter ist soeben gestorben; aber komm, lege ihr deine Hände auf und sie wird wieder leben." 

   Auf die Reden folgt wieder eine Tat, damit die Pharisäer noch mehr in die Enge getrieben würden. Derjenige, der da kam, war ja der Obervorsteher der Synagoge, und sein Schmerz war groß. Sein einziges Kind war gestorben im Alter von zwölf Jahren, in vollster Jugendblüte! Das erweckte denn der Herr alsbald wieder zum Leben. Wenn aber Lukas berichtet, es seien einige Leute gekommen und hätten gesagt: "Störe den Meister nicht, es ist schon gestorben" (Lc 8,49), so antworten wir: das "soeben ist sie gestorben" war eben gerechnet von dem Augenblick an, da er fortgegangen; oder aber, er wollte damit seinen Schmerz recht groß erscheinen lassen. Wer um etwas bittet, pflegt ja meistens seine Leiden recht beredt zu schildern und sie etwas größer zu machen, als sie in Wirklichkeit sind, um das Mitleid derer, die sie anflehen, um so eher zu erregen. Beachte auch wie unverfroren er ist. Er will gleich zwei Dinge von Christus haben: erstens, dass er komme; zweitens, dass er seiner Tochter die Hand auflege. Das deutet darauf hin, dass sie bei seinem Weggange noch am Leben war. Das gleiche verlangte ja auch jener Syrier Naaman vom Propheten: "Man sagte mir", sprach er, "er wird herauskommen und mir seine Hände auflegen" (2R 5,11). Die noch mehr irdisch Gesinnten haben eben stets das Bedürfnis nach etwas Sichtbarem und Greifbarem. Markus sagt hier, der Herr habe die drei Jünger genommen. Ebenso schreibt Lukas. Matthäus redet einfach von Jüngern. Weshalb hat er also den Matthäus nicht mitgenommen, der doch eben erst sich ihm angeschlossen hatte? Damit sein Verlangen noch größer würde und weil er noch zu wenig gefestigt war. Deshalb ehrt er diese drei, damit auch die anderen würden, wie sie. Für Matthäus genügt zunächst das Wunder, das er an der blutflüssigen Frau sehen konnte, sowie, dass er mit dem Herrn an einem Tische sitzen und seine Gesellschaft hatte genießen dürfen. Als sich aber der Herr erhob, da folgten ihm viele, weil es ja galt, ein großes Wunder zu schauen, und auch wegen der Persönlichkeit dessen, der gekommen war, endlich, weil die meisten noch so unvollkommen waren, dass sie weniger das Wohl der Seele, als die Gesundheit des Leibes suchten. Und sie strömten zusammen, die einen ob ihrer eigenen Leiden, die anderen, weil sie gerne zuschauen wollten, wie jene geheilt würden. Dagegen waren es vorläufig noch wenige, die hauptsächlich seiner Reden und seiner Lehre wegen zu ihm kamen. Indes ließ Christus sie nicht in das Haus hinein, sondern nur die Jünger und auch sie nicht alle. Damit zeigte er uns, wie man auf jede Weise die Ehre der Menschen fliehen soll.

   V.20: "Und siehe", heißt es weiter, "eine Frau, die seit zwölf Jahren blutflüssig war, näherte sich ihm und berührte den Saum seines Kleides.

   V.21: Denn, dachte sie bei sich selbst: Wenn ich nur wenigstens sein Kleid berühre, so werde ich gesund werden." 

   Weshalb ging sie denn aber nicht offen und frei zu ihm hin? Sie schämte sich ob ihres Leidens, da sie sich dessentwegen für unrein hielt. Denn wenn schon eine, die in der Monatsreinigung war, für unrein galt, dann kommt sie, die an einer solchen Krankheit litt, dies noch viel eher glauben. Denn vor dem Gesetz galt dieses Leiden als große Unreinheit. Deshalb hält sie sich zurück und verbirgt sich. Denn auch sie hatte noch nicht den rechten und vollkommenen Glauben an ihn; sonst hätte sie nicht gedacht, sie könnte ihm verborgen bleiben. Das ist auch die erste Frau, die sich in der Öffentlichkeit dem Herrn nahte. Sie hörte eben, dass er auch Frauen heile, und dass er eben jetzt zu dem verstorbenen Mädchen sich begebe. Ihn in ihr Haus zu bitten, wagte sie nicht, obgleich sie wohlhabend war. Aber auch offen nahte sie sich ihm nicht; nur heimlich, aber voll Glauben berührte sie sein Gewand. Sie zweifelte nicht und sagte nicht bei sich selbst: Werde ich auch wohl von meiner Krankheit befreit werden, oder werde ich nicht geheilt werden? Sie vertraute vielmehr fest auf die Heilung und kam so zu ihm hin. "Denn", sagte sie bei sich selbst, "wenn ich auch nur den Saum seines Kleides berühre, so werde ich gesund werden." Sie sah eben, aus was für einem Hause Christus herauskam: aus dem der Zöllner; und was für Leute sein Gefolge bildeten: Sünder und Zöllner. Das alles flößte ihr Mut ein und Hoffnung. Was tat nun Christus? Er läßt sie nicht im Verborgenen bleiben, sondern zieht sie mitten in die Öffentlichkeit, der Leute wegen. 

   Da sagen freilich einige unverständige Menschen, er habe das getan, um nachher geehrt zu werden. Denn aus welch anderem Grunde, sagen sie, ließ er sie nicht im Verborgenen? Was sagst du da, du Gottlosester aller Gottlosen? Er, der andere schweigen hieß, der ungezählte Wunder tat, der sollte nach Ruhm verlangen? Aber warum hat er dann die Frau an die Öffentlichkeit gezogen? Erstens, um der Frau ihre Furcht zu benehmen, damit sie nachher nicht von Gewissensbissen gequält würde, als hätte sie die Gnade der Heilung gleichsam gestohlen und so voll Angst dastünde. Zweitens wollte er sie eines Besseren belehren, da sie glaubte, sie könne vor ihm verborgen bleiben. Drittens wollte er, dass alle ihren Glauben sähen und sie so für andere zum Beispiel würde. Auch gibt er ihnen durch den Beweis seiner Allwissenheit kein geringes Wunder zu schauen, als durch die Heilung des Blutflusses. Ferner ermutigt er durch die Heilung der Frau auch den Synagogenvorsteher, der schon die Hoffnung aufgeben wollte, wodurch er alles verdorben hätte. Es kamen nämlich einige, die da sagten: "Belästige den Meister nicht weiter; das Mädchen ist schon gestorben" (Lc 8,49). Ja, die Leute im Hause lachten, weil Jesus sagte:"Es schläft." Und wahrscheinlich war es auch dem Vater ähnlich gegangen.



2.

Das ist also der Grund, weshalb der Herr zuerst die kranke Frau heilte und sie deswegen an die Öffentlichkeit zog. Dass nämlich jener Synagogenvorsteher noch zu den ganz Schwachgläubigen gehörte, das kannst du aus den Worten entnehmen, die der Herr zu ihm sprach: "Fürchte nichts, habe du nur Glauben und sie wird gesund werden" (Lc 8,50). Er wartete absichtlich, bis das Mädchen gestorben war, damit an der Wirklichkeit der Auferweckung durchaus kein Zweifel herrschen könnte. Deshalb ging er auch sehr langsam und redete verschiedenes mit der Frau, damit das Mädchen inzwischen sterbe und die Leute kämen, ihren Tod zu melden und zu sagen: "Belästige den Herrn nicht weiter." Das gibt uns andeutungsweise auch der Evangelist zu verstehen mit den Worten: "Während er noch sprach, kamen die Leute aus dem Haus und sagten: Deine Tochter ist gestorben; belästige den Meister nicht länger" (Mc 5,35). Der Herr wollte eben, dass der Tod zuerst ganz sicher festgestellt wäre, damit niemand Zweifel über die Auferweckung haben könnte. So machte es der Herr auch sonst immer. Beim Lazarus z.B. wartete er einen, zwei, ja drei Tage lang. Aus all diesen Gründen zieht also Christus die blutflüssige Frau ab die Öffentlichkeit und sagte zu ihr:

   V.22: "Sei guten Mutes, meine Tochter." Auch zu dem Gichtbrüchigen hatte er so gesagt: " 

   Sei guten Mutes, mein Sohn" (Mt 9,2). Die Frau war eben sehr furchtsam. Darum sagte er: "Sei guten Mutes" und nannte sie seine "Tochter". Der Glaube hat sie ja zur Tochter gemacht. Dann folgte auch das Lob:"Dein Glaube hat dir geholfen." Lukas berichtet uns noch etwas mehr von dieser Frau. Als sie zum Herrn hingegangen war, schreibt er, und sie ihre Gesundheit wieder erlangt hatte, rief Christus sie nicht sogleich, sondern fragte zuerst: "Wer ist es, der mich berührt hat?" Da sagte Petrus und die Umstehenden: "Meister, die Menge drängt und stößt Dich und Du fragst: Wer hat mich berührt?"[332] "Er aber", heißt es bei Lukas, "bestand darauf und sagte: Es hat mich jemand berührt; denn ich habe gemerkt, dass eine Kraft von mir ausgegangen ist" (Lc 8,46). Diese Antwort war der tatsächlichen Einsicht der Zuhörer angepaßt. So sprach er indessen, damit er auch die Frau aus sich selbst zu einem Geständnisse brächte. Deshalb hat er sie auch nicht sofort ins Verhör genommen; er wollte zuerst zeigen, dass er alles ganz gut wisse, und sie dadurch veranlassen, von selbst alles zu bekennen und das Geschehene bekannt zu machen. Auf diese Weise brauchte nicht er es zu sagen und entging so jedem Verdacht. 

   Siehst du, wie die Frau besser ist, als der Synagogenvorsteher? Sie hielt ihn nicht zurück, sie faßte ihn nicht an; sie berührte ihn nur mit den Fingerspitzen und so konnte sie, die zuletzt kam, als zuerst geheilt fortgehen. Der Vorsteher führte gleich den ganzen Arzt in sein Haus; der Frau genügte schon eine einfache Berührung. Denn wenn sie auch an das Leiden gleichsam gebunden war, der Glaube gab ihr Flügel. Beachte aber, wie der Herr sie tröstete mit den Worten: "Dein Glaube hat dir geholfen." Hätte er sie nur in die Mitte genommen, um sich zu zeigen, so hätte er das nicht hinzugefügt. Er sagte es aber, um den Synagogenvorsteher dadurch zum Glauben zu bringen und die Frau zu loben; und durch ihre leibliche Heilung hat er ihr nicht weniger Freude und Nutzen verschafft, als durch diese Worte. Hieraus ergibt sich ganz klar, dass er so handelte nicht um sich selbst zu verherrlichen, sondern um die Frau zu ehren und die anderen zu belehren. Er selbst sollte ja ohnehin auch ohne dies berühmt werden, denn die Wunderzeichen umgaben ihn ja dichter als Schneeflocken, und viel größere Taten als diese hatte er schon gewirkt und wollte er noch wirken. Wäre das also nicht geschehen, so wäre die Frau unvermerkt fortgegangen, ohne dieses große Lob erhalten zu haben. Deshalb zog sie der Herr in die Öffentlichkeit, um ihr Lob zu verkünden, und benahm ihr die Furcht[333] ; er hieß sie Mut schöpfen und schenkte ihr außer der Gesundheit des Leibes auch noch andere Gnaden, indem er sagte: "Gehe in Frieden" (Lc 8,48).

   V.23: "Als er aber in das Haus des Vorstehers gekommen war, und die Flötenspieler sah und die lärmende Menge, sprach er:

   V.24: Gehet fort; das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur. Und sie verlachten ihn." 

   Das sind doch merkwürdige Zeichen eines Synagogenvorstehers, bei einem Todesfall durch Flöten und Zimbeln zur Trauer stimmen zu wollen. Was tat da Christus? Er schickte alle hinaus, nur die Eltern führte er hinein, damit niemand nachher sagen könnte, er habe das Mädchen auf irgendeine andere Art geheilt. Und bevor er sie noch auferweckt, richtete er[334] auf mit den Worten: "Das Mädchen ist nicht tot; es schläft nur." So machte es der Herr immer. Auf dem Meere z.B. tadelte er zuerst die Jünger; ebenso beruhigte er hier zuerst die stürmische Trauer der Anwesenden; damit zeigte er zugleich, dass es für ihn ein Leichtes ist, Tote aufzuerwecken; (auch bei Lazarus machte er es so und sprach: "Lazarus, unser Freund, schläft"[1][1] Jn 11,11). Zugleich gibt er die Lehre, dass man den Tod nicht fürchten soll. Er selbst sollte ja auch sterben. Deshalb bereitete er seine Jünger an dem Beispiel anderer Toten zum voraus darauf vor, mutig zu sein und den Tod geduldig zu ertragen. Denn, nachdem er einmal in die Welt gekommen, war ja der Tod hinfort nur noch ein Schlaf. Gleichwohl verlachten sie ihn. Er aber wurde nicht ungeduldig, da er keinen Glauben fand in einer Sache, in der er gleich darauf ein Wunder wirken wollte. Auch tadelte er diejenigen nicht, die lachten, damit er selbst, die Flöten, die Zimbeln und alles andere für den wirklichen Tod des Mädchens Zeugnis ablegten.



3.

Wenn einmal ein Wunder geschehen ist, bleiben die meisten Menschen in der Regel ungläubig. Deshalb legte sie der Herr durch ihre eigenen Antworten zum voraus fest. So machte er es auch bei Lazarus und Moses. Zu Moses sagte er: "Was hast du da in deiner Hand?" (Ex 4,2). Denn wenn er nachher sähe, dass eine Schlange daraus geworden, so sollte er nicht vergessen, dass es früher ein Stab gewesen, sich vielmehr seiner eigenen Aussagen erinnern und das Wunderzeichen als solches anerkennen. Bei Lazarus fragte der Herr: "Wo habt ihr ihn hingelegt?" Da gaben sie ihm zur Antwort: "Komme mit und sieh ihn", und: "Er riecht, denn er liegt schon vier Tage im Grabe." Das mußte deshalb geschehen, damit sie nachher nicht an der Tatsache zweifelten, dass er einen wirklich Toten auferweckte. Wie also der Herr die Zimbeln sah, und die Volksmenge, schickte er sie alle hinaus und wirkte das Wunder in Gegenwart der Eltern; sonst ließ er keine Seele herein; nur sie, die wirklich fortgegangen[335] , rief er wieder zurück, und weckte sie auf, als hätte sie nur geschlafen. Er faßte sie aber bei der Hand, um die Zuschauer vollkommen zu überzeugen und um durch das, was sie sahen, dem Glauben an die Auferstehung den Boden zu bereiten. Der Vater hatte ihn ja gebeten: "Lege ihr die Hand auf." Er tut aber noch mehr; er legt sie dem Mädchen nicht nur auf, er faßt sie auch an und richtet sie empor, womit er zeigt, dass ihm alles untertan ist. Ja, er erweckte sie nicht bloß, er heißt sie auch Speise zu sich nehmen, damit niemand den Vorgang für eine Sinnestäuschung halten könnte. Und nicht er selbst gibt ihr zu essen, sondern er heißt die anderen dies tun. Ebenso hatte er auch bei Lazarus befohlen: "Macht ihn frei und laßt ihn fortgehen" (Jn 11,44) und dann setzte er sich mit ihm zu Tisch. Der Herr ist eben gewöhnlich auf beides bedacht, sowohl für den Tod. als auch für die Auferweckung den denkbar deutlichsten Beweis zu erbringen. 

   Du aber beachte nicht bloß die Tatsache der Auferweckung, sondern auch den Umstand, dass er befahl, niemand davon zu erzählen. Denn das war immer und vor allem sein Bestreben, das Beispiel der Demut und Bescheidenheit zu geben. Außerdem beachte auch, dass er die Trauergäste aus dem Hause fortschickte, und sie für unwürdig erklärte, einem solchen Schauspiel beizuwohnen. Du aber geh nicht hinaus mit den Flötenbläsern, sondern bleibe darin mit Petrus, Johannes und Jakobus. Denn wenn der Herr solche Leute schon damals fortschickte, dann um so mehr jetzt. Damals wußte man ja noch nicht, dass der Tod nur ein Schlaf sei; jetzt ist dies klarer als die Sonne. Aber, sagst du, er hat deine eigene Tochter jetzt nicht auferweckt. Aber er wird sie ganz gewiß auferwecken und zwar mit noch größerem Glanze. Jene wurde zwar auferweckt, aber sie starb dann wieder. Wenn aber deine Tochter aufersteht, so bleibt sie von da an unsterblich. Niemand soll also in Zukunft mehr trauern und wehklagen und das Heilswerk Christi nicht in Verruf bringen. Er hat ja den Tod besiegt. Was trauerst du also unnötigerweise: Der Tod ist ja zum Schlaf geworden. Was jammerst und weinst du? Es ist das schon lächerlich, wenn es die Heiden tun. Wenn sich aber selbst ein gläubiger Christ dessen nicht schämt, welche Entschuldigung hat der? Welche Nachsicht verdienen jene, die so töricht sind, und zwar jetzt, nachdem doch schon seit geraumer Zeit so klare Beweise der Auferstehung erbracht sind? 

   Du aber, als ob du dir eigens Mühe gäbest, deine Schuld noch zu vergrößern, bringst noch heidnische Frauen als Klageweiber daher, um die Trauer zu verringern und die Glut des Schmerzes zu entfachen, und du hörst nicht auf dem hl. Paulus, der da sagt: "Was hat Christus mit Belial zu tun Und was hat der Glaube gemein mit dem Unglauben?" (2Co 6,15). Die Kinder der Heiden wissen nichts von der Auferstehung; aber trotzdem finden sie Trostgründe und sagen: "Trage es tapfer, du kannst das Geschehene doch nicht ungeschehen und mit Wehklagen nicht wieder gut machen." Du aber, der du weisere und bessere Dinge gelehrt worden bist, du schämst dich nicht, weniger Selbstbeherrschung zu zeigen als sie. Wir sagen nicht: Trage es tapfer, weil du das Geschehene nicht mehr ändern kannst, sondern: "Trage es tapfer, weil der Verstorbene ganz sicher wieder auferstehen wird; dein Kind schläft nur, es ist nicht tot, es ruht im Frieden, es ist nicht verloren. Es harrt seiner die Auferstehung und das ewige Leben, die Unsterblichkeit, das Leben der Engel." Hörst du nicht, was der Psalmist sagt: "Kehr ein, meine Seele, an den Ort deiner Ruhe, denn der Herr hat dir eine Wohltat erwiesen" (Ps 114,7). Eine Wohltat nennt Gott das Sterben, und du trauerst? Und was würdest du mehr tun, wenn du ein Gegner und Feind des Verstorbenen gewesen wärest? Wenn jemand Grund hat zu trauern, so muß der Teufel trauern. Er soll weinen, soll wehklagen, weil wir einem besseren Leben entgegengehen. Zu seiner Schlechtigkeit paßt solches Klagegeschrei, nicht aber für dich, der du den Kranz der Unsterblichkeit erhalten und Ruhe finden sollst. Der Tod ist ja ein ruhiger Zufluchtshafen. Denn siehe nur, wie viele Leiden bringt nicht das Leben hienieden! Bedenke, wie oft du selbst das irdische Leben verwünscht hast! Das Leben wird ja immer schlimmer; schon von seinem Anfange an unterstehst du einem nicht geringen Fluch. "In Schmerzen", heißt es, "wirst du Kinder gebären" und "im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen" (Gn 3,16-17), und: "In dieser Welt werdet ihr Bedrängnis leiden" (Jn 16,33). Nichts dergleichen ist dagegen vom jenseitigen Leben gesagt worden, sondern in allem das gerade Gegenteil. "Entflohen ist der Schmerz, die Trauer und das Seufzen" (Is 35,10), und: "Vom Aufgange und vom Niedergange werden sie kommen, und ruhen werden sie im Schoße Abrahams, Isaaks und Jakobs" (Mt 8,11). Ja, ein geistig Brautgemach sei das andere Leben, ein glänzendes Licht, der Einzug in den Himmel.



4.

Warum entehrst du also den Toten? Warum machst du, dass andere den Tod fürchten und vor ihm zittern? Warum bringst du viele dazu, Gott anzuklagen, als hätte er ein großes Unrecht begangen? Ja, warum rufst du nachher die Armen und bittest die Priester um ihre Gebete? Damit der Verstorbene in die Ruhe eingehe, sagst du, damit er einen gnädigen Richter finde. Deshalb also trauerst und weinst du? Also führst du Krieg wider dich selber und machst, dass das für dich zum Sturme wird, was jenem den Eintritt in den ruhigen Hafen ermöglichte" Ja, sagst du, was kann ich dafür? So ist nun einmal die Natur. Nein, nicht die Natur verdient Tadel, noch auch, dass die Trauer der Natur entspricht; vielmehr sind es wir selbst, die alles in Unordnung bringen, weil wir eben verweichlicht sind, den Adel unserer Natur verleugnen, und[336] selbst die Ungläubigen noch schlechter machen. Wie sollen wir denn bei solchem Verhalten mit einem anderen von der Unsterblichkeit reden können? Wie sollen wir einen Heiden davon überzeugen, wenn wir den Tod noch mehr fürchten und scheuen als er? So haben sich viele Heiden bei dem Tode ihrer Kinder bekränzt, obwohl sie nichts wußten von Unsterblichkeit, und zeigten sich in Festkleidern, um irdischen Ruhm zu erlangen. Du aber läßt dich nicht einmal durch die Erwartung der zukünftigen Herrlichkeit bewegen, von deinen weibischen Klagen abzustehen. 

   Aber, sagst du, da hast keine Erben und keinen, der dir im Besitze deiner Güter nachfolgen könnte. Nun, was wäre dir lieber, dass[337] der Erbe deiner Güter sei, oder derjenige des Himmels? Was wolltest du lieber, dass er dir im Besitze von vergänglichen Dingen nachfolgte, die er doch nach kurzer Zeit wieder verlieren muß, oder jene Güter erlangte, die bleiben und unvergänglich sind? Du hattest ihn nicht zum Erben; aber anstatt dir, gehört er jetzt Gott. Er ward nicht zum Miterben seiner eigenen Brüder, dafür wurde er zum Miterben Christi. Aber wem sollen wir die Kleider, das Haus, die Sklaven, die Ländereien überlassen? Eben falls wieder ihm, denn so sind sie noch sicherer, als wenn dein Sohn noch lebte; da steht ja kein Hindernis im Wege. Wenn schon die Barbaren zugleich mit den Toten auch deren Habe verbrennen, so ziemt es sich um so mehr für dich, dem Toten seine Habe mitzugeben, nicht damit sie zu Asche werde, wie bei jenen, sondern damit du ihm um so größere Herrlichkeit verschaffest; und wenn er als Sünder[338] gestorben, damit du ihm Verzeihung seiner Sünden erwirkest; wenn er aber als Gerechter dahingeschieden, damit sein Lohn und sein Entgelt noch größer werde. Aber du möchtest ihn noch sehen? Nun, so führe auch du das gleiche Leben wie er, und bald wirst du jenes heilige Angesicht wieder schauen. Außerdem bedenke auch dieses: Wenn du jetzt nicht auf meine Worte hörst, so wirst du es seinerzeit sicher durch die Tat erfahren. Aber dann bekommst du keinen Lohn mehr dafür; denn deine Ergebung ist dann nur eine Wirkung der Länge der Zeit. Wenn du aber jetzt Einsicht zeigen willst, so wirst du zwei überaus große Dinge gewinnen. Dich selbst wirst du von allen Leiden befreien, die dich bedrängen, und von Gott wirst du eine viel schönere Krone erhalten. Denn etwas viel Größeres als Almosen und alles andere ist es, wenn man Unglück geduldig erträgt. 

   Bedenke, dass auch der Sohn Gottes gestorben ist. Er starb um deinetwillen, du bist selbst schuld an deinem Tode. Freilich hat der Herr gesagt: "Wenn es möglich ist, so gehe der Kelch an mir vorüber" (Mt 26,39), hat Trauer und Todesangst empfunden; aber doch ist er dem Tode nicht aus dem Weg gegangen, sondern hat ihn in außerordentlich heldenhafter Weise erlitten. Denn Jesus Christus hat keinen gewöhnlichen, sondern den allerschimpflichsten Tod erfahren, und bevor er starb, ward er gegeißelt, und vor der Geißelung ward er verhöhnt, verspottet und beschimpft. Damit hat er dir die Lehre gegeben, alle Leiden mutig zu ertragen. Obwohl er aber gestorben und den Leib abgelegt hat, hat er ihn doch wieder mit größerer Herrlichkeit angenommen und dir auch damit frohe Hoffnung gemacht. Wenn das[339] keine Fabel ist, so trauere nicht. Wenn du es für glaubwürdig hältst, so weine nicht. Wenn du aber weinst, wie willst du einen Heiden überzeugen, dass du wirklich glaubst?



5.

Aber trotzdem kommt dir der Verlust unerträglich vor. Nun, dann solltest du gerade deswegen den anderen nicht beweinen; denn er ist jetzt von vielen derartigen Schicksalsschlägen befreit. Sei also nicht abgeneigt und mißgünstig gegen ihn. Denn sich selbst den Tod wünschen wegen des vorzeitigen Verlustes des anderen, ihn betrauern, weil er nicht mehr lebt und nicht mehr imstande ist, viele ähnliche Leiden zu erfahren, das tut nur einer, der eher von Mißgunst und Abneigung erfüllt ist. Denke also nicht daran, dass er nicht nach Hause zurückkehrt, sondern vielmehr, dass du selbst nach kurzer Zeit zu ihm gehen wirst. Grüble nicht darüber nach, dass er nicht mehr hierher zurückkommen werde, sondern darüber, dass die ganze sichtbare Welt selbst nicht so bleiben wird, dass auch sie umgewandelt wird. Der Himmel, die Erde, das Meer, alles wird umgestaltet, und dann wirst du dein Kind in größerer Herrlichkeit wieder erhalten. Und wenn einer in Sünden dahingeschieden ist, so war er eben im Bösen verhärtet; denn hätte Gott gewußt, dass er sich noch bekehren würde, so hätte er ihn nicht vor der Buße sterben lassen. Ist er aber im Zustand der Gerechtigkeit gestorben, so ist er im sicheren Besitze der Seligkeit. Daraus ergibt sich klar, dass deine Tränen nicht der Ausfluß der Liebe sind, sondern unvernünftiger Leidenschaft. Denn hättest du den Verstorbenen geliebt, so müßtest du dich freuen und frohlocken darüber, dass er den Gefahren dieses Lebens entronnen ist. Oder sage, was bietet uns das Leben mehr? Was sieht man besonders Merkwürdiges und Neues? Wiederholt sich nicht Tag für Tag der Kreislauf der Dinge. Tag und Nacht, Nacht und Tag, Winter und Sommer, Sommer und Winter und weiter nichts? Das alles bleibt sich immer gleich. Nur die Übel sind außergewöhnlich und wirklich neu. Und du wolltest, dass er sich damit Tag für Tag abgebe und hier bleibe, Krankheiten, Trauer, Furcht und Angst ertrage, und viel Unheil entweder erfahre oder wenigstens fürchte, es erfahren zu müssen? Das kannst du doch wohl nicht behaupten, dass es möglich sei, das weite Meer dieses Lebens zu durchfahren und dabei von Kummer und Sorgen und allen anderen Dingen dieser Art freizubleiben. Außerdem bedenke auch, dass du keinem Unsterblichen das Leben geschenkt und wäre er nicht heute gestorben, der Tod hätte ihn doch kurze Zeit später erreicht. 

   Aber du konntest dich noch gar nicht satt sehen an ihm! Dafür wirst du ihn in der anderen Welt für immer besitzen. Allein du möchtest ihn auch hienieden sehen? Nun, was hindert dich daran? Er ist auch hienieden, wenn du nur vernünftig bist. Denn die Hoffnung auf das Zukünftige ist besser, als wenn du ihn vor dir sähest. Ja, wenn du ihn in einem königlichen Palaste wüßtest, so würdest du ihn nicht mehr zu sehen verlangen, in dem Bewußtsein, dass es ihm gut geht. Und hier, wo du ihn doch an einen viel besseren Ort hingehen sahest, bis du verzagt, obwohl es sich nur um kurze Zeit handelt, und obwohl du statt seiner doch noch deinen Gemahl hast. Aber du hast keinen Mann mehr? Dafür hast du doch einen Tröster, den Vater der Waisen, den Richter der Witwen. Höre nur, wie Paulus diese Witwenschaft glücklich preist mit den Worten: "Wer eine wahrhafte Witwe ist und allein lebt, hofft auf den Herrn" (1Tm 5,5). Eine solche Witwe wird ja auch um so ehrwürdiger erscheinen. je mehr sie sich ergeben zeigt. 

   Sei also nicht in Trauer über einen Sohn, der dir die Himmelskrone bringen soll, für den du Belohnung erwartest. Da hast ja nur geliehenes Gut zurückerstattet, wenn du das zurückgibst, was dir anvertraut war. Mache dir also keine weiteren Sorgen, wenn du deinen Besitz in einer unverletzlichen Schatzkammer hinterlegt hast. Wenn du dir aber auch klar würdest darüber, was das Leben hienieden ist, und was das zukünftige, und dass dieses Leben nur ein Spinngewebe ist und ein Schatten, das jenseitige aber von ewiger Dauer, so würdest du keine weiteren Trostgründe mehr brauchen. Jetzt ist dein Kind von allen Wechselfällen des Lebens befreit. Wäre es aber am Leben geblieben, so wäre es vielleicht gut, vielleicht aber auch schlecht geworden. Oder siehst du nicht, wie viele Eltern ihre eigenen Kinder verstoßen? Und wie viele gezwungen sind, Kinder zu haben und zu behalten, die noch schlimmer sind als andere, die verstoßen wurden? Das alles wollen wir bedenken, und uns daraus eine Lehre ziehen. So werden wir nicht bloß dem Verstorbenen nützen, sondern auch bei den Menschen großes Lob ernten, und von Gott noch größeren Lohn für unsere Ergebung erhalten. sowie die ewigen Güter erlangen, deren wir alle teilhaftig werden mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, der die Ehre und die Macht besitzt in alle Ewigkeit. Amen!





Zweiunddreißigste Homilie. Kap IX, V.27 - Kap. X, V.15.

32 Mt 9,27-10,15
1.

V.27: "Und als Christus weiterging, folgten ihm zwei Blinde, die schrieen und riefen: Erbarme Dich unser, Sohn Davids.

   V.28: Und als er in seine Wohnung eingetreten war, kamen die Blinden zu ihm, und Jesus sprach zu ihnen: Glaubt ihr, dass ich die Macht habe, dies zu tun? Sie antworteten: Ja, Herr.

   V.29: Da berührte er ihre Augen und sprach: Es geschehe euch nach eurem Glauben.

   V.30: Und ihre Augen wurden geöffnet." 

   Warum hielt denn der Herr die schreienden Blinden so lange hin? Weil er uns auch hier wieder die Lehre geben wollte, nicht das Lob und die Bewunderung der großen Menge zu suchen. Da gerade seine Wohnung in der Nähe war, so führte er sie dorthin, um sie im Verborgenen zu heilen. Das geht auch daraus klar hervor, dass er befahl, niemand etwas zu sagen. Darin liegt aber kein geringer Vorwurf gegen die Juden, dass diese beiden, die da blind waren, vom bloßen Hören den Glauben annahmen, während jene, die des Herrn Wunder schauten und deren Augen Zeugen für das Geschehene waren, gerade das Gegenteil taten. Beachte aber auch, wie groß der Blinden Ungestüm ist. Davon zeugt sowohl ihr lautes Schreien als auch ihre Bitte selbst. Sie kamen nicht bloß einfachhin zum Herrn, sondern kamen unter großem Schreien, und ohne etwas anderes zu rufen als nur immer: Erbarmen! Sohn Davids nannten sie ihn aber, weil sie dies für einen Ehrennamen hielten. So haben auch die Propheten gar oft die Könige, die sie ehren und auszeichnen wollten, mit diesem Namen genannt (Is 7,13 Is 38,5). Und nachdem er sie in sein Haus geführt hatte, legte er ihnen eine zweite Frage vor. Gewöhnlich trachtete der Herr, erst dann zu heilen, wenn er darum gebeten worden war, damit keiner glaube, er wirke nur deshalb so eifrig Wunder, um sich damit Ruhm und Ehre zu verschaffen. Außerdem wollte er zeigen, dass jene der Heilung auch würdig seien und wollte zugleich verhindern, dass jemand sagte: Wenn er nur aus Mitleid half, so hätte er allen helfen sollen. Denn auch sein Mitleid war im gewissen Sinne veranlaßt durch den Glauben derer, die er heilte. Aber nicht bloß deshalb verlangte er Glaube von ihnen; da sie ihn Sohn Davids genannt hatten, so wollte er sie zu noch Höherem führen und sie alles lehren, was sie von ihm glauben sollten. Deshalb fragte er: "Glaubt ihr, dass ich die Macht habe dies zu tun?" Er sagte nicht: Glaubt ihr, dass ich meinen Vater anrufen kann, dass ich bitten kann, sondern: dass ich die Macht habe, dies zu tun". 

   Was antworteten nun die beiden? "Ja, Herr." Sie nennen ihn nicht bloß Sohn Davids, sondern schwingen sich schon zu höherer Einsicht auf und bekennen ihn als Herrn. Da endlich streckt auch er die Hand aus und spricht: "Es geschehe euch nach eurem Glauben." Das tut er um ihren Glauben zu stärken, und zu zeigen, dass auch sie einen Anteil hatten an dem Wunder, sowie um sie zu überzeugen, dass diese Worte keine Schmeichelei enthielten. Er sagte nicht: Es sollen euch die Augen geöffnet werden, sondern: "Es geschehe euch nach eurem Glauben."Das sagte er später vielen von denen, die zu ihm kamen, weil er eben darauf bedacht war, vor der Heilung des Leibes den Glauben in der Seele aufzurichten, damit sie nachher selber eifriger wären und damit auch der Eifer der anderen wachse. So machte er es auch bei den Gichtbrüchigen. Bevor er dem Leib die Kraft zurückgab, richtete er die darniederliegende Seele wieder auf und sprach: "Habe Mut, mein Sohn, deine Sünden sollen dir nachgelassen sein" (Mt 9,2). Auch das Mädchen, das er auferweckte, faßte er an, und gab ihr durch die Speise, die sie nehmen mußte, zu erkennen, wie er ihr Wohltäter sei. Ebenso verfuhr er mit dem Hauptmanl, bei dem er ebenfalls alles seinem Glauben zuschrieb. Und als er seine Jünger aus dem Seesturme errettete, da befreite er sie zuerst von ihrem Kleinglauben. So machte er es also auch hier bei den zwei Blinden. Er kannte zwar ihre verborgene Gesinnung schon, bevor sie zu rufen anfingen. Um aber auch den anderen denselben Eifer mitzuteilen, machte er sie auch auf die beiden aufmerksam, und offenbarte deren verborgenen Glauben durch ihre endliche Heilung. Nachdem er sie aber geheilt, befiehlt er, niemanden etwas davon zu sagen. Ja, er befiehlt es nicht bloß, sondern schärft es ihnen mit großem Nachdruck ein. Denn "Jesus fuhr sie heftig an und sagte: Sehet wohl zu, dass keiner es erfahre."

   V.31: "Die aber gingen weg und verbreiteten seinen Ruf in der ganzen Gegend." 

   Die beiden brachten es nicht fertig, zu schweigen; sie wurden zu Herolden und Evangelisten, und obgleich sie geheißen worden, das Geschehene zu verheimlichen, konnten sie es doch nicht für sich behalten. Wenn wir aber anderswo finden, dass der Herr sagte: "Gehe hin und verkünde den Ruhm Gottes" (Lc 8,39), so steht das nicht im Widerspruch mit dem anderen, sondern paßt sogar ganz gut dazu. Der Herr will uns eben damit die Lehre geben, dass wir nicht bloß nie von uns selber reden, sondern sogar diejenigen hindern sollen, die uns loben wollen. Wenn aber die Ehre auf Gott zurückfällt, dann sollen wir den Leuten nicht nur kein Hindernis in den Weg legen, sondern ihnen sogar befehlen, dies zu tun.

   V.32: "Als sie aber hinausgingen, siehe, da brachten sie einen Menschen, der stumm war und vom Teufel besessen." 

   Er war nämlich nicht von Natur aus stumm, sondern durch Einwirkung des Teufels. Deshalb mußte er sich auch von andern führen lassen. Selbst konnte er ja seine Bitte nicht vortragen, da er stumm war, und konnte auch die anderen nicht darum anflehen, weil der Dämon seine Zunge gefesselt und mit der Zunge auch die Seele gefangen hielt. Deshalb verlangte auch der Herr den Glauben nicht von ihm, sondern heilte ihn sofort von der Krankheit.

   V.33: "Denn", heißt es, "nachdem der Teufel ausgetrieben war, redete der Stumme. Die Leute aber wunderten sich und sagten: So etwas hat man noch nie gesehen in Israel." 

   Dies ärgerte die Pharisäer gewaltig, dass die Leute den Herrn für größer hielten, als alle anderen, nicht bloß von denen, die damals lebten, sondern von allen, die jemals auf der Welt waren. Die Leute hielten ihn aber für größer, nicht weil er Krankheiten heilte. sondern weil er sie mit solcher Leichtigkeit und Schnelligkeit heilte, und zwar unzählig viele und sogar Unheilbare. So also redete das Volk.



2.

Die Pharisäer aber taten das gerade Gegenteil. Sie verdächtigten nicht nur das geschehene Wunder, sondern scheuten sich nicht einmal, sich selbst zu widersprechen. So geht es eben, wenn man bösen Willen hat. Und was sagen sie denn?

   V.34: "Durch den obersten der Teufel treibt er die Dämonen aus." 

   Was gibt es wohl Unsinnigeres als das? Es ist ja, wie der Herr im folgenden sagte, ganz und gar unmöglich, dass ein Teufel Teufel austreibe. Der Teufel pflegt ja sein Eigentum wohl zu hüten, nicht aber zu zerstören. Der Herr hatte aber nicht bloß Dämonen ausgetrieben, sondern auch Aussätzige gereinigt, Tote auferweckt, das Meer besänftigt, Sünden nachgelassen, das Himmelreich gepredigt und Seelen seinem Vater zugeführt. Alles das mochte und konnte ja doch ein Teufel niemals zustande bringen. Die Dämonen treiben die Menschen den Götzen zu und von Gott weg, und suchen ihnen den Glauben an das jenseitige Leben zu nehmen. Wenn ein Dämon beschimpft wird, erweist er keine Wohltaten dafür sucht er ja doch auch ohne Schmähung denen zu schaden, die ihn anbeten und verehren. Christus dagegen tut das gerade Gegenteil. Nachdem er selbst Beschimpfungen und Schmähungen erfahren hatte da heißt es:

   V.35: "Durchwanderte er alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Himmelreich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen." 

   Ja, er hat diejenigen, die ihn schmähten, nicht nur nicht gestraft, sondern erteilte ihnen nicht einmal einen einfachen Tadel. Damit zeigte er seine Sanftmut, und widerlegte so auch das böse Gerede. Sogleich wollte er durch kommende Wunderzeichen noch größere Beweise bieten und dann erst auch den mündlichen Tadel folgen lassen. Er ging also in die Städte, Dörfer und Synagogen, und gab uns dadurch die Lehre, Verleumdungen so zu vergelten, nicht auch unsererseits schlecht zu reden von anderen, sondern ihnen nur um so mehr Gutes zu tun. Wenn du also deinen Nächsten nicht um der Menschen, sondern um Gottes willen Gutes tust, so lasse von deinen Wohltaten nicht ab, was immer die dir auch tun mögen; dann wird dein Lohn nur um so größer sein. Wer aber infolge böser Nachreden vom Wohltun abläßt, der zeigt dadurch, dass er wegen des Lobes der anderen, nicht um Gottes willen diese Tugend geübt hat. Christus wollte uns also zeigen, dass er nur aus lauter Güte so handle; deshalb wartete er auch nicht, bis die Kranken zu ihm kamen, sondern ging selbst zu ihnen, um ihnen zwei große Wohltaten zu erweisen: erstens um ihnen das Reich Gottes zu verkünden, zweitens um sie von allen Krankheiten zu heilen. Dabei ließ er keine Stadt aus, ging an keinem Dorfe vorbei, sondern besuchte jeden Ort. Ja, selbst damit begnügte er sich nicht, sondern zeigte auch in anderer Weise sein Wohlgefallen für sie.

   V.36: "Denn als er die Schar der Leute sah, da erbarmte er sich ihrer, weil sie geplagt und verlassen waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.

   V.37: Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind nur wenige. V.38: Bittet also den Herrn unserer Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende." 

   Beachte hier wieder, wie wenig der Herr auf Menschenruhm achtet. Um nicht alle an sich zu ziehen, sendet er seine Jünger aus. Doch ist dies nicht der einzige Grund; er will auch, dass sie sich in Palästina wie in einer Ringschule übten, und sich so zu den Kämpfen in der weiten Welt rüsteten. Deshalb hat er ihnen auch außergewöhnlich große Kampfesübungen auferlegt, soviel als ihre Kraft nur zu leisten vermochte, damit sie die späteren Kämpfe um so leichter bestünden. So übte er sie gleichsam zum Flug, wie zarte junge Vögelchen. Und zunächst machte er sie zu Ärzten der Leiber; nachher aber verlieh er ihnen die höhere Gabe, auch die Seelen zu heilen. Beachte auch, wie er die Sache als leicht und zugleich als notwendig hinstellte. Denn wie lauten seine Worte? "Die Ernte ist groß, der Arbeiter sind aber wenige." Er will damit sagen: Ich sende euch nicht zur Aussaat, sondern zur Ernte. Bei Johannes heißt es: "Andere haben die Mühe der Arbeit gehabt, und ihr habt die Frucht ihrer Mühe geerntet" (Jn 4,38). Das sagte er, um sie etwas zu verdemütigen und zum Vertrauen anzuhalten und zu zeigen, dass die schwerere Arbeit schon vorher geschehen ist. Siehe aber, wie er auch hier mit der Nächstenliebe beginnt, nicht mit der Hoffnung auf Entgelt. "Denn er ward von Mitleid gerührt, weil sie so abgehetzt und verlassen waren, wie Schafe, die keinen Hirten haben." Dieser Vorwurf trifft die Hohenpriester der Juden, die sich als Wölfe erwiesen, während sie hätten Hirten sein sollen. Denn sie wiesen das Volk nicht nur nicht auf den rechten Weg, sondern hinderten es sogar im rechten Fortschritt. Als daher die Leute sich wunderten und sagten: "So etwas ist in Israel noch nicht gesehen worden", da sagten diese das Gegenteil und meinten; "Er treibt die Teufel im Namen des Beelzebub aus."Wer ist aber hier mit den Arbeitern gemeint? Die zwölf Jünger. Hat dann also der Herr, nachdem er doch selbst gesagt hatte: "Der Arbeiter sind wenige", noch einige andere hinzugefügt? Durchaus nicht; vielmehr hat er gerade sie ausgesandt. Weshalb sagte er also dann: "Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter aussende in seine Ernte"? Weil er später auch die zwölf vermehrt, nicht der Zahl nach, sondern durch die Kraft, die er ihnen verlieh.



3.

Um jenen sodann zu zeigen, wie wertvoll das Geschenk sei, sagte er ihnen: "Bittet den Herrn der Ernte", und gibt in direkter Weise zu verstehen, dass er selbst es ist, der diese Herrschaft besitzt. Denn kaum hatte er gesagt: "Bittet den Herrn der Ernte", da gibt er ihnen auch schon sogleich selbst den Auftrag, noch bevor sie um irgend etwas gebeten oder gebetet haben, und ruft ihnen die Ausdrücke, die Johannes gebraucht hatte, ins Gedächtnis zurück, nämlich die Scheune, die Wurfschaufel, die Spreu und den Weizen. Daraus geht klar hervor, dass er selbst der Landmann ist, er, der Herr der Ernte, er, der Herr der Propheten. Denn wenn er Leute in die Ernte sendet, so schickt er sie natürlich nicht in ein Feld, das andere bebaut, sondern in das, auf dem er selbst durch die Propheten die Saat gepflanzt. Doch nicht nur dadurch ermutigt er sie, dass er ihre Dienste eine Erntearbeit nennt, sondern auch dadurch, dass er sie für ihren Dienst ausrüstet. 

   Kapitel X. V.1: "Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen die Macht über die unreinen Geister, so dass sie dieselben austreiben, und jede Krankheit und jedes Gebrechen heilen konnten." 

   Und doch war damals der Geist noch nicht gesendet worden. "Dennoch" heißt es, "war der Geist nicht gekommen, da Jesus noch nicht verherrlicht worden war" (Jn 7,39). Wie haben sie also dann die Teufel ausgetrieben? Durch den Befehl und die Macht des Herrn. Beachte aber auch, zu welch günstiger Zeit der Herr die Sendung gab. Er sandte sie nicht gleich von Anfang an, sondern erst, nachdem sie lange genug in seiner Nachfolge gestanden waren, nachdem sie gesehen hatten, wie er einen Toten auferweckt, wie er dem Meere geboten, Dämonen ausgetrieben, Gichtbrüchige geheilt, Sünden nachgelassen, einen Aussätzigen gereinigt. Erst als sie durch Taten und Worte hinlängliche Beweise seiner Macht erhalten, erst dann sendet er sie aus; und zwar nicht zu gefahrvollen Taten[340] ; nur das sollten sie vorläufig lernen, Schmähreden standhaft zu ertragen. Indes sagte er ihnen auch das vorher, dass Gefahren ihrer harren, bereitet sie so schon vor der Zeit darauf vor, und macht sie dadurch kampfbereit, dass er ihnen fortwährend diese Dinge vorhersagt. Weil nun aber der Evangelist zwei Paare von Aposteln genannt, mit Petrus und Johannes an der Spitze und darnach von der Berufung des Matthäus gesprochen, während er über die Berufung und die Namen der anderen Apostel geschwiegen hatte, so mußte er notwendigerweise hier die Liste und die Zahl derselben mitteilen, sowie ihre Namen bekannt geben. Deshalb fährt er fort:

   V.2: "Die Namen der zwölf Apostel sind die: der erste ist Simon, der Petrus genannt wird." 

   Es gab nämlich noch einen anderen Simon, der aus Kananäa stammte; und Judas der Iskariote, mit Judas dem Sohne des Jakobus; und Jakobus, der Sohn des Zebedäus. Markus zählt die Apostel ihrer Würde nach auf und nennt nach den beiden obersten den Andreas. Matthäus macht es nicht so. Er zählt sie auf ohne geordnete Reihenfolge, ja er stellt sogar den Thomas, der ihm doch weit nachstand, vor seinen eigenen Namen. Doch gehen wir dieselben von Anfang an durch. "Der erste ist Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, sein Bruder." Auch das ist kein geringes Lob. Den einen benannte er nach seinem Starkmut, den anderen nach seiner hervorragenden Tugend.

   V.3: "Sodann Jakobus, Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder." 

   Siehst du, wie er sie nicht ihrer Würde nach aufzählt? Mir scheint nämlich Johannes nicht nur höher zu stehen als die anderen nachfolgenden, sondern auch höher als sein Bruder. Sodann fügt er zu den Namen: "Philippus und Bartholomäus" hinzu: Thomas und Matthäus der Zöllner." Lukas dagegen schreibt nicht so; er hält eine andere Reihenfolge ein und stellt Matthäus vor Thomas (Lc 6,15). Dann folgen Jakob, der Sohn des Alphäus. Es gab nämlich, wie schon gesagt, auch einen Jakob, den Sohn des Zebedäus. Dann nennt er Lebbäus mit dem Zunamen Thaddäus, und den Simon Zelotes, den er auch den Kananiter nennt; erst jetzt kommt er zu dem Verräter. Er machte aber diese Aufzählung nicht als dessen Feind und Gegner, sondern als Geschichtsschreiber. Er sagt nicht: der elende, verworfene Mensch, sondern benennt ihn nach seiner Geburtsstadt: Judas der Iskariote." Es gab nämlich noch einen zweiten Judas, den Labbäus, von dem Lukas sagt, er sei der Sohn des Jakob gewesen: "Judas, Sohn des Jakob" (Lc 6,16). Um ihn aber von diesem zu unterscheiden, sagt er:

   V.4: "Judas, der Iskariote, der ihn auch verraten hat." 

   Er scheut sich nicht, zu sagen: "der ihn auch verraten hat". So haben die Evangelisten niemals irgend etwas ausgelassen, auch wenn es sehr beschämend zu sein schien. Schon der erste von allen, deren Haupt, ist einer, der nicht lesen und schreiben kann und keine Bildung besitzt. Sehen wir aber zu, wohin und zu wem er die Apostel aussandte?

   V.5: "Diese Zwölf", heißt es, "sandte Christus aus." 

   Was für "diese"? Die Fischer und Zöllner. Vier von ihnen waren Fischer, zwei waren Zöllner: Matthäus und Jakobus; einer sogar der Verräter. Und welchen Auftrag gibt er ihnen? Er kündet es ihnen also an mit den Worten: "Gehet nicht den Heiden nach, und betretet keine Stadt, die von Samaritern bewohnt ist.

   V.6: Gehet vielmehr zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel." 

   Er will damit sagen: Glaubet nicht, dass ich sie hasse und verabscheue, wenn die Juden mich beschimpfen und sagen, ich hätte einen Dämon. Sie waren ja die ersten, die ich zu retten suchte. Von allen anderen halte ich euch ferne, und schicke euch nur zu diesen als Lehrer und Ärzte. Ja, ich verbiete euch nicht bloß, die frohe Botschaft anderen früher als ihnen zu bringen, ich befehle euch sogar, nicht einmal die Wege zu betreten, die dorthin führen und in keine solche Stadt hineinzugehen.



4.

Auch die Samariter waren ja den Juden feindlich gesinnt. Und doch wären sie viel leichter zu bekehren gewesen; denn sie waren viel bereitwilliger zur Annahme des Glaubens. Die Juden waren dagegen schwieriger als sie. Gleichwohl schickt sie der Herr zuerst auf das schwierigere Arbeitsfeld und zeigt damit, wie groß seine Fürsorge für die Juden sei. Auch bringt er sie auf diese Weise zum Schweigen, und bereitet der Verkündigung der Apostel zum Voraus die Wege, damit man ihnen nicht vorwerfe, sie gingen in die Häuser der Unbeschnittenen, und man so einen Scheingrund hätte, sie zu fliehen und zu meiden. Auch nennt er die Juden "verlorene Schafe", nicht solche, die von selbst davongegangen seien; er weist so darauf hin, dass sie ganz gewiß Verzeihung erhalten würden und sucht sie an sich zu ziehen. Dann fährt er fort:

   V.7: "Gehet und verkündet es: das Himmelreich ist nahe." 

   Siehst du da die Größe ihrer Aufgabe; erkennst du daraus die Würde der Apostel? Nichts sinnlich Wahrnehmbares sollten sie verkünden, wie zur Zeit des Moses und der früheren Propheten; nein, etwas ganz Neues und Unerhörtes. Jene verkündeten nichts dergleichen, sondern verhießen die Erde und irdische Güter. Aber nicht bloß in dieser Beziehung sind die Apostel größer, sondern auch ob ihres Gehorsams. Sie weigern sich nicht, sie zögern nicht wie die Propheten im Alten Bunde. Obgleich ihnen Gefahren, Kämpfe und unerträgliches Leiden in Aussicht gestellt wurden, nehmen die doch den Auftrag im Gehorsam an, da sie Herolde des Himmelreiches waren. Doch, sagst du, was ist da zu wundern, wenn sie eilig folgten? Hatten sie doch nichts Hartes und Schweres zu verkünden! Was meinst du? Nichts Schweres ward ihnen aufgetragen? Hörst du nicht von Gefängnis reden, von Todesgängen, Bruderkriegen, allseitigem Haß? All das hatte der Herr gesagt, würden sie bald nachher erleiden müssen. Zu den anderen schickte er sie als Vermittler und Herolden von tausend guten Dingen; ihnen selbst aber würden unerträgliche Leiden bevorstehen, und kündet ihnen dies im voraus an. Um ihnen sodann Anspruch auf Glaubwürdigkeit zu verleihen, sagt er:

   V.8: "Heilet die Kranken, reinigt die Aussätzigen, treibet die Teufel aus; umsonst hat ihr es erhalten, umsonst gebet es." 

   Siehst du, wieviel ihm am rechtschaffenen Handeln liegt, nicht weniger als an den Wunderzeichen, und wie er dadurch zeigt, dass ohne jenes die Wundertaten nichts bedeuten? Er hält sie zur Demut an mit den Worten: "umsonst habt ihr erhalten, umsonst gebet es". Damit hat er auch schon zum voraus dem Laster des Geizes einen Riegel vorgeschoben. Damit denn niemand glaube, sie wirkten die Wundertaten aus eigener Kraft, und damit die selbst nicht hochmütig würden ob der Zeichen, die durch sie geschehen, so sagt er auch deshalb: "umsonst habt ihr es erhalten". Nicht ihr seid es, die denen Glauben spenden, die euch aufnehmen; denn ihr habt diese Gabe nicht als Lohn bekommen, noch durch euer Bemühen; sie ist freies Gnadengeschenk. So geht es auch den anderen; es ist ja ohnehin nicht möglich, einen Lohn zu finden, der der Wundertat würdig wäre. Um aber dann das Übel alsbald mit der Wurzel auszureißen, sagt er:

   V.9: "Habet weder Gold noch Silber noch Geld in euren Gürteln,

   V.10: keine Tasche für die Reise, keine zwei Gewänder, keine Schuhe, keinen Stab." 

   Der Herr sagte nicht: nehmet nichts mit euch, sondern: Wenn du es auch sonst nehmen könntest, fliehe doch schon den bösen Gedanken daran. Damit hat der Herr viel Gutes erreicht. Fürs erste hat er verhindert, dass irgendwelcher Verdacht auf die Jünger falle; fürs zweite, hat er sie von allen Sorgen befreit, so dass sie ihre ganze Zeit der Predigt widmen konnten; drittens hat er ihnen dadurch seine eigene Macht gezeigt. Darauf weist er sie auch später wieder hin mit den Worten: "Habt ihr vielleicht an irgend etwas Mangel gelitten, als ich euch von allem entblößt und barfuß aussandte?"<f>Lk 22,35</f> . Doch sagt er nicht sofort: "Besitzet nicht", sondern erst nach den Worten: "Macht die Aussätzigen rein, treibt die Teufel aus", erst dann fügt er hinzu: "Besitzet nicht"; "Umsonst habt ihr erhalten, umsonst gebet." Was für die Apostel in ihren Verhältnissen geziemend, nützlich und möglich war, das gab er ihnen. Da könnte nun aber vielleicht jemand sagen: Alles andere hat wohl noch einen Siln; dagegen keine Tasche für den Weg zu haben, keine zwei Kleider, keinen Stab, keine Schuhe! weshalb hat er denn das verboten? Der Herr wollte sie eben zu aller Strenge erziehen. Auch oben hat er gesagt, man solle nicht einmal für den kommenden Tag sorgen. War es ja doch auch der ganze Erdkreis, für den er sie als Lehrer aussenden sollte. Deshalb berief er sie auch gleichsam wie Engel aus der Zahl der Menschen, und befreit sie von allen irdischen Sorgen, so dass nur eine Sorge sie noch beherrschte: die für ihr Lehramt. Ja, er benimmt ihnen auch diese noch und sagt: "Macht euch keine Sorgen , wie und was ihr reden werdet"<f>Mt 10,19</f> . Gerade das macht er ihnen angenehm und leicht, was recht hart und schwer zu sein schien. Nichts macht ja wohlgemuter, als wenn man von Sorgen und Kummer befreit ist; zumal dann, wenn man von ihnen befreit ist und doch deshalb keinerlei Nachteil leidet, weil eben Gott zugegen ist, der ihnen alles geworden. 

   Die Apostel sollen auch nicht sagen: Woher werden wir die notwendige Nahrung erhalten; deshalb sagt er nicht zu ihnen: Ihr habt gehört, dass ich früher gesagt habe: "Blicket auf die Vögel des Himmels"<f>Mt 6,26</f> sie waren eben noch nicht imstande, dieser Auffassung durch die Tat zu entsprechend</f> ; vielmehr fügt er etwas hinzu, was viel angenehmer zu hören war, nämlich die Worte: "Denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert." Damit zeigt er, dass sie ihren Lebensunterhalt von ihren Schülern erhalten sollen, damit einerseits die gegen ihre Schüler sich nicht in Hochmut erheben, weil ja sie ihnen alles böten, ohne etwas von ihnen anzunehmen, und damit andererseits auch die Jünger infolge solcher Mißachtung ihre Lehrer nicht verließen.



5.

Damit sie sodann nicht sagen: Willst du also, dass wir vom Betteln leben? und sich dessen schämten, so zeigt er, dass es sich hier um eine Pflicht handle, indem er sie Arbeiter und die gebotene Gabe einen Lohn nennt. Glaubet nicht, will er sagen, weil eure Wohltat im Reden besteht, sie sei deshalb von eurer Seite gering; es sind ja vielleicht Mühen damit verbunden. Und was immer eure Schüler geben wollen, sie geben es nicht als Gnade, sondern als Entgelt. "Denn der Arbeiter ist seiner Nahrung wert." So hat er aber geredet, nicht als ob ihre apostolischen Mühen nur soviel wert seien; nein, durchaus nicht, vielmehr wollte er ihnen als Regel einschärfen, nicht mehr zu verlangen und die Geber darüber belehren, dass ihre Gabe kein Akt der Liebe sei, sondern die Erfüllung einer Pflicht.

   V.11: "So oft ihr in eine Stadt oder in ein Dorf kommt, so fragt, wer in ihr ein rechtschaffenes Leben führe, und dann bleibet so lange dort, bis zu eurem Weggang." 

   Der Herr will sagen, mit den Worten: "Der Arbeiter ist seiner Nahrung wert" habe ich euch nicht auch schon alle Türen geöffnet; vielmehr will ich, dass ihr auch hierin große Vorsicht an den Tag legt. Das ist ja auch für euren Ruf von Vorteil, sowie für eure leiblichen Bedürfnisse. Denn wer rechtschaffen ist, wird ganz gewiß auch für eure Nahrung sorgen, zumal wenn ihr nicht mehr verlangt, als notwendig ist. Doch befiehlt der Herr, nicht allein rechtschaffene Leute aufzusuchen, er verbietet auch, von einem Haus ins andere zu wandern, damit nicht so ihre Gastgeber beleidigt und sie selbst sich den Ruf von schwelgerischen und genußsüchtigen Menschen zuzuziehen. Das gab er ihnen zu verstehen mit den Worten: "Bleibet dort bis zu euren Weggang." Dasselbe können wir auch aus den anderen Evangelisten lernen (Mc 6,10 Lc 10,7). Siehst du also, wie der Herr auch in dieser Beziehung dafür sorgt, dass das Ansehen der Jünger gewahrt bleibe, und wie er doch zugleich die Gastgeber zum Eifer anspornt, indem er zeigt, dass eigentlich mehr sie es sind, die dabei zu gewinnen haben, sowohl an Ehre als auch an Vorteil? Dann betont er im folgenden dasselbe Gebot und sagt:

   V.12: "Wenn ihr aber in das Haus eintretet, so entbietet ihm euren Gruß;

   V.13: und wenn das Haus würdig ist, so komme euer Friede über dasselbe; wenn es nicht würdig ist, so möge euer Friede zu euch selbst zurückkehren." 

   Siehst du, bis zu welchem Grade es der Herr sich nicht nehmen ließ, seine Anordnungen zu treffen? und dies ganz mit Recht. Er wollte ja die Jünger zu Helden des Glaubens und zu Herolden der ganzen Welt machen. Deshalb lehrt er sie auf diese Weise, Maß zu halten und sich damit selbst zu empfehlen; deshalb fährt er fort:

   V.14: "Und falls euch jemand nicht aufnimmt, und auf eure Worte nicht hört, so verlaßt jenes Haus oder die Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen.

   V.15: Wahrlich sage ich euch, Sodoma und Gomorrha werden ein erträglicheres Los finden an jenem Tage, als solch eine Stadt. 

   Wartet nicht, will der Herr sagen, bis ihr als Lehrer von anderen zuerst gegrüßt werdet, sondern erweiset ihr ihnen zuerst die Ehrenbezeigung. Daraufhin will er ihnen zeigen, dass dies kein leerer Gruß sei, sondern ein Segen; Deshalb sagt er: Wenn das Haus würdig ist, wird der Segen auf dasselbe kommen; ist es aber gottlos, so wird es schon dadurch gestraft, dass es die Gnade des Friedens nicht erlangt; sodann aber auch dadurch, dass es ihm ergehen wird wie Sodoma. Aber was nützt es uns, wenn jene gestraft werden, fragen sie? Die Häuser der Würdigen werden euch dafür offen stehen. Welches ist aber der Sinn dieser Worte: "Schüttelt den Staub von euren Füßen"? Entweder sollen sie damit andeuten, dass sie von ihnen nichts erhalten haben, oder ihnen zeigen, welch langen Weg sie um ihretwillen gemacht haben. 

   Du aber beachte, wie der Herr seinen Jüngern noch immer nicht die Fülle seiner Gaben verleiht. So hat er ihnen noch nicht die Gabe des Vorauswissens erteilt, so dass sie etwa schon zum voraus wußten, wer würdig ist und wer nicht: vielmehr will er, dass sie sich selbst umsehen und Erfahrungen machen. Warum ist er aber selbst bei dem Zöllner zu Gast gewesen? Weil ihn seine Bekehrung dessen würdig machte. Bemerke sodann auch, wie er ihnen zuerst alles nimmt und ihnen dann alles gibt, indem er ihnen befiehlt, in den Häusern der Schüler zu bleiben und hineinzugehen, ohne etwas in der Tasche zu haben. So wurden sie eben frei von Sorgen und konnten zugleich die anderen überzeugen, dass sie nur wegen ihres Seelenheiles gekommen seien, da sie ja nichts mit sich führten und nur das von ihnen verlangten, was durchaus notwendig war, auch nicht bei allen ohne Unterschied eintraten. Der Herr wollte eben, dass sie sich nicht bloß durch ihre Wundertaten auszeichneten, sondern schon vor den Wundertaten durch ihre eigene Tugend. Denn nichts charakterisiert die wahre Tugend so sehr, als wenn man nichts überflüssiges hat und so weit als möglich keine Ansprüche macht. Das wußten auch die falschen Apostel. Deshalb sagt auch der hl. Paulus: "Damit sie in dem, worin sie sich rühmen, erfunden würden wie auch wir" (2Co 11,12). Wenn aber schon diejenigen, die in der Fremde sind und in unbekannte Gegenden wandern, nicht mehr verlangen sollen, als die tägliche Nahrung, dann um so mehr jene, die zu Hause bleiben.



6.

All das sollen wir aber nicht bloß anhören, sondern auch nachahmen. Denn die Worte des Herrn gelten nicht bloß den Aposteln, sondern auch den Heiligen, die nach ihnen kommen. Suchen wir ihrer Nachfolge würdig zu werden. Denn je nach dem Willen derer, die wir aufnehmen, kommt dieser Friede oder geht wieder fort. Das hängt eben nicht bloß von dem freien Willen der Lehrenden ab, sondern auch von der Würdigkeit derer, die ihnen Aufnahme gewähren. Halten wir es auch nicht für einen geringen Verlust, einen solchen Frieden nicht zu erlangen. Denn ihn hat schon der Prophet zum voraus angekündigt mit den Worten: "Wie angenehm sind die Fußstapfen derer, die den Frieden künden!" Und dann fügt er zur Erläuterung seiner hohen Worte hinzu: "Derer, die Gutes verkünden" (Is 52,7). Dass dieser Friede etwas Großes sei, hat auch Christus bezeugt, da er sagt: "Den Frieden hinterlasse ich euch, den Frieden gebe ich euch" (Jn 14,27). Darum müssen wir alles tun, um seiner teilhaft zu werden, in der Familie wie in der Kirche. Auch in der Kirche entbietet ja der Vorsteher den Frieden. Das eine ist ein Vorbild des anderen, und man muß ihn mit allem Eifer zu erlangen suchen, durch die Bereitwilligkeit des Herzens noch mehr, als durch das Anerbieten des Mahles. Wenn es schon ein schwerer Fehler ist, nicht am Tische teilnehmen zu lassen, um wieviel schwerer ist es dann, den, der den Frieden entbietet, abzuweisen? Um deinetwillen sitzt der Priester in der Kirche, um deinetwillen steht dort der Prediger, strengt sich an und müht sich ab. Wie willst du dich da entschuldigen, wenn du nicht einmal soviel Bereitwilligkeit hast, ihn anzuhören? 

   Die Kirche ist ja das gemeinsame Haus aller Heiligen und wir betreten es nur, nachdem ihr uns vorangegangen und befolgen so das Beispiel der Apostel. Deshalb entbieten wir auch gleich beim Eintritt allen den Frieden, entsprechend jener Vorschrift des Herrn. Keiner sei also gleichgültig, keiner sei träge, wenn die Priester und Lehrer hereinkommen; es würde euch keine geringe Strafe dafür treffen. Tausendmal lieber möchte ich, dass man mich bein Eintritt in das Haus irgendeines unter euch allein stehen ließe, als dass ich hier reden muß, ohne dass mich jemand hört. Das ist für mich viel härter als das andere, denn dieses Haus ist ja viel wichtiger[341] . Hier sind uns die großen Schätze hinterlegt. Auf ihm beruht all unsere Hoffnung. Oder was wäre hier nicht groß und ehrfurchtgebietend? Dieser Tisch ist viel ehrwürdiger und besser als irgendein anderer Tisch; diese Lampe viel erhabener als sonst eine. Das wissen alle, die im Glauben und zur rechten Zeit mit ihrem Öle gesalbt und von ihren Krankheiten befreit wurden. Und dieser Schrank ist viel besser und notwendiger als jener. Denn er enthält nicht Kleider, sondern Almosen, wenn es auch wenige sind, die es empfangen. Auch findest du hier ein Ruhelager, das weit besser ist als das zu Hause; denn das Ruhen in den hl. Schriften ist mir angenehmer, als jedes andere Ruhelager. Ja, wenn wir wären, wie wir sein sollten, so hätten wir überhaupt kein anderes Haus als dieses. Dass ich da nichts Unmögliches sage, beweisen die dreitausend und fünftausend Menschen, die alle ein Haus, einen Tisch, eine Seele hatten. "Denn",heißt es, "die Menge der Heiligen hatte nur ein Herz und eine Seele" (Ac 4,32). 

   Da wir aber von der Tugend jener[342] gar weit entfernt sind, und jeder in seinem eigenen Hause wohnt, so wollen wir wenigstens dann, wenn wir hier zusammenkommen, dies mit Eifer und Bereitwilligkeit tun. Denn wenn wir schon in den anderen Dingen Bettler und arme Menschen sind, so wollen wir wenigstens in diesen Dingen reich sein. Deshalb nehmet uns wenigstens hier mit Liebe auf, wenn wir zu euch hereinkommen. Und wenn ich sage: der Friede sei mit euch, dann antwortet und mit deinem Geiste, und zwar nicht nur mit den Lippen, sondern auch mit dem Herzen; nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit der inneren Gesinnung. Wenn du aber in der Kirche sagst: "Friede auch mit deinem Geiste" und draußen mit mir streitest und haderst, mich anspuckst und lästerst und mich auf tausendfache Weise schmähst, was ist denn das für ein Friede? Wenn auch du tausendfach böse über mich redest, ich gebe dir den Frieden mit reinem Herzen, mir aufrichtigem Sinn, und niemals bin ich imstande, etwas Böses über dich zu sagen; ich habe eben das Herz eines Vaters. Und wenn ich je einmal tadeln muß, so tue ich es nur mit Bedauern. Wenn aber du mich heimlich herabsetzest und mich nicht einmal im Hause des Herrn aufnimmst, so fürchte ich, du wirst meine Mutlosigkeit noch vermehren, nicht weil du über mich geschmäht hast, nicht weil du mich zurückgewiesen, sondern weil du den Frieden nicht annehmen willst und dir die vom Herrn angedrohte Strafe zugezogen hast. Wenn ich auch den Staub nicht von meinen Füßen schüttle, wenn ich dir auch nicht den Rücken kehre, die angedrohte Strafe erwartet dich doch. Ich entbiete euch oft den Frieden, und ich werde nie aufhören, dies zu tun. Ja, selbst wenn ihr mich schmäht und mich nicht aufnehmt, auch dann will ich den Staub nicht von meinen Füßen schütteln; nicht etwa weil ich den Worten des Herrn nicht gehorchen will, sondern weil ich brenne vor Liebe zu euch. Übrigens habe ich ja um euretwillen noch mehr Mühsal ertragen. Ich bin nicht von weitem hergekommen, noch kam ich in der Kleidung und in der Armut der Apostel[343] . Auch habe ich Schuhe und ein zweites Gewand; und vielleicht habt ihr gerade deshalb auch eure Pflichten vernachlässigt. Aber gleichwohl genügt das nicht zu eurer Entschuldigung, vielmehr ist unsere Schuld zwar größer, gibt aber euch kein Recht auf Nachsicht.



7.

In jenen[344] Zeiten, da waren auch die Häuser Kirchen; heutzutage ist die Kirche zu einem gewöhnlichen Hause geworden. Damals konnte man in den Häusern keine weltlichen Reden hören und heutzutage in der Kirche keine geistlichen; vielmehr bringt ihr eure weltlichen Sorgen auch mit in die Kirche. Während Gott mit euch redet, bemüht ihr euch nicht nur nicht, das Gesagte schweigend anzuhören, ihr bringt im Gegenteil ganz andere Dinge vor. Und wenn es wenigstens noch eure Angelegenheiten wären! In der Tat redet ihr aber auch von Dingen und hört solche an, die euch gar nichts angehen. Deshalb bin ich betrübt und werde nicht aufhören, darüber zu trauern. Ich bin ja nicht der Herr dieses Hauses, so dass ich es auch verlassen könnte; vielmehr muß ich hier bleiben, bis ich aus diesem Leben scheide. Nehmt uns darum so auf wie der hl. Paulus (Ph 2,29 Col 4,10) es euch befohlen. Er sprach ja auch an jener Stelle nicht von einem Tisch, sondern von der geistigen Gesinnung des Herzens. Dasselbe erwarten auch wir von euch, nämlich die Liebe, das warme, aufrichtige Wohlwollen. Wenn ihr euch aber nicht einmal dazu verstehen könnt, so liebet wenigstens euch selbst und leget die Gleichgültigkeit ab, die euch jetzt erfüllt. Das ist für uns schon genug des Trostes, wenn wir sehen, dass ihr rechtschaffen seid und besser werdet. So werde auch ich noch größere Liebe zu euch bekunden, wenn ich zwar über alles Maß liebe, aber weniger Gegenliebe finde. Es gibt ja gar viel, das uns vereint: Ein und derselbe Tisch ist für alle bereitet; ein und derselbe Vater hat uns erzeugt; wir alle haben dieselbe[345] Geburt erfahren; derselbe Trunk wird allen gereicht; ja nicht bloß derselbe Trunk ist es, sondern sogar aus demselben Kelche empfangen wir ihn. Da eben der Vater uns zur Liebe bringen wollte, so hat er auch das so eingerichtet, dass wir aus demselben Kelche trinken; denn so etwas tut nur die allervertrauteste Liebe. 

   Indes sagst du, wir sind nicht so heilig wie die Apostel. Das gebe auch ich zu und werde mich sehr hüten, dem zu widersprechen. Wir reichen nicht bloß nicht an sie selbst, sondern nicht einmal an ihren Schatten heran. Aber gleichwohl müßt ihr tun, was in eurer Macht steht. Das kann euch keinerlei Schande verursachen, sondern nur noch größeren Nutzen bringen. Denn wenn ihr solche Liebe und solches Entgegenkommen selbst Unwürdigen zeigt, so werdet ihr nur um so größeren Lohn dafür empfangen. Wir reden ja nicht aus uns selbst: und ihr habt ja auch keinen bloß weltlichen Lehrmeister vielmehr bieten wir nur, was wir empfangen. Und wir geben es, ohne etwas anderes dafür von euch zu erwarten, als dass ihr uns liebet. Wenn wir aber auch dessen unwürdig sind, so verdienen wir eure Liebe vielleicht wenigstens deshalb, weil wir euch lieben. Freilich wurde uns befohlen, nicht nur diejenigen, die uns lieben, sondern auch unsere Feinde zu lieben. Wer möchte daher so unmenschlich und roh sein, dass er trotz eines solchen Gebotes selbst diejenigen von sich stieße und hassen wollte, die ihn selber lieben und wäre es auch der schlechteste Mensch von der Welt? Wir haben gemeinsam an dem geistigen Tische teilgenommen; nehmen wir auch gemeinsam Teil an der geistigen Liebe. Wenn selbst Diebe und Räuber beim Gastmahle ihre Wildheit vergessen, womit werden wir da uns rechtfertigen können, wenn wir fortwährend am Leibe des Herrn teilnehmen, aber nicht einmal die Verträglichkeit jener Menschen nachahmen? Ja, für manche war es schon Grund genug zur Freundschaft, nicht etwa, dass sie am gemeinsamen Tische saßen, sondern dass sie aus der gleichen Stadt stammten. Dagegen wir, die wir die gleiche Stadt bewohnen und dasselbe Haus, die wir Tisch, Weg, Türe, Abstammung, Leben und Oberhaupt gemeinsam haben, denselben König, Lehrmeister, Richter, Schöpfer, Vater, überhaupt gar alles gemeinsam besitzen, welche Nachsicht verdienen wir, wenn wir untereinander uneinig sind? 

   Allein ihr verlangt, dass wir die Wunder wirken, die jene beim Eintritt[346] gewirkt, dass wir Aussätzige heilen, Teufel austreiben, Tote auferwecken. Aber gerade das ist der beste Beweis eurer vornehmen Gesinnung und eurer Liebe, dass ihr Gott auch ohne derlei Garantien glaubt. Denn gerade deshalb und auch aus anderer Ursache hat Gott die Wunder aufhören lassen. Denn wenn jetzt, da keine Wunder geschehen, diejenigen sich brüsten, sich selbst überheben und sich entzweien, die durch sonstige Gaben ausgezeichnet sind, z.B. durch die Gabe weiser Rede, durch Betätigung der Frömmigkeit, welche Zwistigkeiten würden nicht erst dann entstehen, wenn sie auch noch Wunder wirken könnten? Und dass es keine bloße Vermutung ist, was ich sage, beweisen uns die Korinther, die gerade deshalb in viele Parteien gespalten wurden. Verlange also nicht nach Wunderzeichen, sondern nach Gesundheit der Seele. Verlange nicht darnach auch nur einen Toten auferweckt zu sehen; du weißt ja, dass die ganze Welt auferstehen wird. Suche nicht der Heilung eines Blinden beizuwohnen, sondern siehe, wie jetzt alle zu etwas Besserem und Nützlicherem ausblicken, und lerne auch du den Blick und die Augen züchtig zu beherrschen. Wenn wir alle so lebten wie wir sollten, so würden die Kinder der Heiden uns mehr anstaunen, als jene, die Wunder wirken. Die Wunder sind ja oft nur Täuschung der Phantasie oder sonst sehr verdächtig, obwohl dies bei den vorliegenden nicht der Fall ist. Auf ein tadelloses Leben dagegen kann kein solcher Argwohn fallen. Vielmehr bringt die Tugend, die sich einer erworben, alle bösen Zungen zum Schweigen.



8.

Der Tugend wollen wir uns befleißen; denn überfließend ist der Reichtum und groß dieses Wunder. Die Tugend gewährt die wirkliche Freiheit. Selbst an den Sklaven kann man diese Freiheit beobachten; nicht als ob sie von der Sklaverei befreite, sondern indem sie bewirkt, dass die Menschen trotz der Sklaverei ehrwürdiger erscheinen, als Freigeborene. Das ist mehr wert, als wenn sie die Freiheit brächte. Sie macht den Armen nicht reich, aber sie läßt ihn trotz seiner Armut glücklicher werden als einen Reichen. Wenn du aber auch Wunder wirken willst, so mache dich frei von der Sünde und du hast das größte Wunder gewirkt. Die Sünde ist ja auch ein mächtiger Dämon, geliebter Zuhörer! Wenn du sie austreibst, dann hast du etwas Größeres getan, als wenn du eine Legion Teufel ausgetrieben hättest. Höre nur, was Paulus sagt und wie er die Tugend höher schätzt als Wunderzeichen: "Ahmet", sagt er, "die höchsten Charismen nach, und noch will ich euch einen höheren Weg zeigen" (1Co 12,31). Und da er diesen Weg angeben will, nennt er nicht die Auferweckung von den Toten, nicht die Reinigung von Aussätzigen, gar nichts dergleichen; vielmehr stellt er höher als all dies die Liebe. Hört, wie auch Christus sagt: "Freuet euch nicht darüber, dass die Dämonen euch gehorchen, sondern darüber, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind" (Lc 10,20). Und schon vorher hatte er gesagt: "Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, Dämonen ausgetrieben und viele Zeichen der Kraft gewirkt? Und dann werde ich ihnen offen erklären: Ich kenne euch nicht" (Mt 7,22 Mt 7,23). Und bevor er gekreuzigt wurde, rief er seine Jünger zu sich und sagte: "Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, nicht wenn ihr Teufel austreibt, sondern wenn ihr Liebe zueinander habt" (Jn 13,35). Und an einer anderen Stelle sagt er: "Daran werden alle erkennen, dass Du mich gesandt hast, nicht wenn sie Tote auferwecken, sondern wenn sie eins sind" (Jn 17,23). Schon oft ist es vorgekommen, dass die Gabe, Wunder zu wirken, einem anderen genützt hat, während sie dem schadete, der sie besaß, weil sie ihn zu Stolz und Ruhmsucht verleitete, oder sonstwie Schaden brachte. Bei den guten Werken hat man nichts dergleichen zu befürchten; sie nützen denen, die sie ausüben, und noch vielen anderen. Sie wollen wir also mit großem Eifer üben. Denn wenn du dich von der Hartherzigkeit zur Mildtätigkeit bekehrst, so ist es, als hättest du eine verdorrte Hand wieder bewegen und ausstrecken können. Wenn du dem Theater entsagst und in die Kirche gehst, so ist es, als wäre dein hinkender Fuß wieder zurechtgerichtet worden. Wenn du deine Augen von Dirnen und fremder Schönheit abwendest, so hast du blinde Augen geöffnet zum Sehen. Wenn du anstatt liederlicher Gesänge die himmlischen Psalmen lernst, so hast du die Sprache wieder erlangt, nachdem du zuvor stumm gewesen. Das sind die allergrößten Wunder, das sind außergewöhnliche Zeichen. Wenn wir beharrlich solche Wunderzeichen wirken, dann werden auch wir dadurch groß und bewundernswert werden und werden auch die Bösen alle zur Tugend hinziehen, und noch des zukünftigen Lebens teilhaft werden; das mögen wir alle erlangen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, der die Ehre und die Macht besitzt in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 31