Kommentar zum Evangelium Mt 59

Neunundfünfzigste Homilie. Kap. XVIII, V.7-14.

59 Mt 18,7-14
1.

V.7: "Wehe der Welt ob der Ärgernisse! Es ist zwar notwendig, dass die Ärgernisse kommen; aber wehe dem Menschen, durch welchen das Ärgernis kommt!" 

   Es könnte vielleicht ein Gegner sagen: Wenn es notwendig ist, dass Ärgernisse kommen, warum ruft Christus wehe über die Welt, während er doch helfen und die Hand bieten sollte? Helfen ist doch die Aufgabe des Arztes und Anwaltes: wehklagen kann auch der erste beste. Was sollen wir wohl auf eine so unverschämte Rede erwidern? Könntest du etwas ausfindig machen, das der Fürsorge des Herrn für uns gleichkäme? Er, der Gott ist, wurde Mensch deinetwegen, kleidete sich in Knechtsgestalt, nahm alles Schimpfliche auf sich und hat nichts von dem unterlassen, was er tun konnte. Da aber die Undankbaren es sich nicht zunutze gemacht haben, nennt er sie unselig, weil sie trotz einer so ausgezeichneten Fürsorge dennoch in ihrer Krankheit verharrten. So müßte man auch einen Kranken, der mit vieler Sorgfalt behandelt wurde, aber den Weisungen des Arztes sich nicht fügen mochte, beklagen und sagen: Wehe über einen solchen Menschen, weil er durch seinen Leichtsinn seine Krankheit verschlimmert hat. Das Klagen nützt da freilich nichts. In unserem Falle dagegen kann es zur Heilung beitragen, wenn man voraussagt, was bevorsteht, und wehe ausspricht. Oft schon sind ja Leute, denen durch Raten nicht zu helfen war, dadurch, dass man sie beklagte, wieder zur Einsicht gekommen. Gerade deshalb sprach der Herr das "Wehe" aus, um die Zuhörer aufzurütteln, aufzumuntern und zur Wachsamkeit anzuspornen. Zugleich liegt hierin ein Beweis seines Wohlwollens für sie, und seiner Sanftmut, dass er sie trotz ihrer Widerspenstigkeit noch beklagt, anstatt unwillig zu werden, und sie sogar zu bessern sucht durch seinen Wehruf und durch seine Voraussage und sie so zu gewinnen trachtet. Du fragst: Wie soll dies aber möglich sein? Wenn es notwendig ist, dass Ärgernisse kommen, wie kann man sie da vermeiden? Es ist allerdings notwendig, dass Ärgernisse kommen, aber es ist keineswegs notwendig. zugrunde zu gehen. Ich will noch einmal das Beispiel vom Arzt anführen. Es ist hier aber so, wie wenn ein Arzt sagte, diese oder jene Krankheit werde notwendig auftreten, aber man müsse ihr nicht unbedingt erliegen, wenn man sich nur vorsieht. 

   Der Herr redete, wie schon erwähnt, in dieser Weise, um nebst den anderen namentlich seine Jünger aufzurütteln. Sie sollten sich nämlich nicht der Bequemlichkeit überlassen, als wären sie zu friedlichem und ungestörtem Leben berufen; deshalb stellt er ihnen Kampf in Aussicht, von außen und von innen. Darauf weist auch Paulus hin, wenn er sagt: "Von außen Kämpfe, von innen Befürchtungen", und: "Gefahren unter falschen Brüdern" (2Co 7,5 u. 2Co 11,26), und zu den Milesiern sagte er in einer Ansprache: "Aus euch selber werden Männer aufstehen, welche Verkehrtes reden" (Ac 20,30). Christus selbst aber sprach: "Die Feinde des Menschen sind seine Hausgenossen" (Mt 10,36). Wenn aber der Herr von einer Notwendigkeit spricht, so will er damit nicht die Freiheit des Willens in Abrede stellen, noch das Leben einem Zwange der Verhältnisse unterwerfen. Er sagt damit lediglich vorher, was jedenfalls eintreten wird. So erklärt es auch Lukas mit anderen Worten: "Unmöglich ist, dass nicht kommen die Ärgernisse" (Lc 17,1). Was sind dann aber "die Ärgernisse"? Das sind Fallstricke auf dem geraden Wege. Damit bezeichnet man ja auch bei den Schauspielern jene, welche besonders geschickt sind, andere zum Falle zu bringen. Also nicht des Herrn Voraussagung ist Ursache der Ärgernisse, das sei ferne, und nicht deshalb kommen sie vor, weil er sie vorhergesagt hat; sondern umgekehrt, er sagt sie voraus, weil sie unbedingt geschehen werden. Sie würden nicht vorkommen, wenn die Ärgernisgebenden nichts Böses täten, er hätte sie nicht anzukündigen brauchen, wenn sie nicht sicher eintreten würden. Weil nun diese Menschen Böses tun und sich nicht bessern wollen, deshalb kommen Ärgernisse vor, und Christus sagt es nur voraus, dass sie eintreten werden. 

   Würden sie sich nun bessern und niemand mehr Ärgernis geben, fragst du, müßte man da seine Worte nicht als falsch brandmarken? O nein, in diesem Falle wären sie eben nicht gesprochen worden. Wenn nämlich alle sich besserten, so hätte er nicht gesagt: "Es ist notwendig, dass sie kommen"; aber er sah voraus, dass sie von sich aus unverbesserlich seien, und so konnte er sagen, dass unbedingt Ärgernisse eintreten würden. Warum verhindert er sie aber nicht? fragst du. Ja, warum hätte er das tun sollen? Etwa derjenigen wegen, die dadurch zu Schaden kommen? Aber nicht in der ärgerlichen Handlung liegt der Grund, wenn die Geärgerten verloren gehen, sondern in ihrer eigenen Leichtfertigkeit. Beweis hierfür sind die Tugendhaften, welche, weit entfernt, dadurch Schaden zu nehmen, vielmehr den größten Vorteil daraus ziehen, so z.B. Job, Joseph, so alle Gerechten und Apostel. Wenn aber viele infolge der Ärgernisse zugrunde gehen, so kommt das daher, dass sie nicht wachsam sind. Wäre dem nicht so, wäre das Ärgernis an sich Ursache des Verderbens, so hätten alle zugrunde gehen müssen. Da es nun aber solche gibt, die dabei ohne Nachteil bleiben, so muß man es sich folgerichtig selbst zuschreiben, wenn man dabei zu Schaden kommt. Durch die Ärgernisse wird man, wie gesagt, wachsamer, behutsamer, vorsichtiger; nicht bloß, dass man sich davor in acht nimmt, sondern auch in dem Sinne, dass man alsbald aufsteht, wenn man gefallen ist. Wer nämlich gefallen ist, der ist dadurch gewitzigt, dass er nicht so leicht wieder in die Schlinge geht. Wer aber auf der Hut ist, wird zu beständiger Wachsamkeit angetrieben, und das ist kein geringer Vorteil. Wenn m an aber schon so vielen Feinden und Versuchungen gegenüber so leicht von der Wachsamkeit läßt, was müßte aus uns werden, wenn man ohne Anfechtungen leben dürfte? Betrachte nur einmal den ersten Menschen. Er hatte nur kurze Zeit, vielleicht kaum einen Tag im Paradiese gelebt und ein bequemes Dasein genossen, und schon verfiel er in solche Sündhaftigkeit, dass er sich einbildete, er könne Gott gleich werden, dass er den Betrüger für einen Wohltäter hielt und nicht fähig war, auch nur ein einziges Gebot zu beobachten; was würde er wohl noch getan haben, wenn er auch den übrigen Teil seines Lebens ohne Mühsal hätte zubringen können?



2.

Wenn wir aber die Sache so darlegen, macht man wieder eine andere Einwendung und sagt: Warum hat denn Gott den Menschen so erschaffen? Gott hat ihn nicht erschaffen, damit er so handle, beileibe nicht; denn da hätte er ihn ja auch nicht strafen dürfen. Wenn schon wir unseren Dienern für Handlungen, an denen wir selbst schuld sind, keine Vorwürfe machen, wieviel weniger wird dies Gott tun, der Herr der Schöpfung? Aber wie ist es dann gekommen, fragst du weiter, dass der Mensch so handelte? Der Grund lag an ihm selbst und in seinem Leichtsinn. Was soll das heißen: an ihm selbst? Frage doch dich selbst! Wenn die Schlechten nicht selber an ihrer Schlechtigkeit schuld sind, dann darfst du ja auch deinen Knecht nicht strafen und dein Weib nicht schelten, wenn sie einen Fehler begangen hat, darfst deinen Sohn nicht schlagen oder zurechtweisen, noch den Hund fassen, der sich gegen dich vergeht; denn wenn sie nicht aus eigener Schuld fehlen, so verdienen sie Mitleid, aber keine Strafe. Da sagst du: Ich kann aber[570] nicht begreifen. Aber du verstehst es doch[571] recht wohl, sobald du siehst, dass sie nicht selbst daran schuld sind, sondern andere zwingende Umstände. Wenn z.B. dein Diener seine Aufträge nicht ausführt, weil er krank ist, so wirst du ihm deshalb keine Vorwürfe machen, sondern nachsichtig gegen ihn sein. Damit gibst du aber zu, dass die Schuld bald in ihm, bald außer ihm gelegen sein kann. Folgerichtig müßtest du auch nachsichtig gegen ihn sein und dürftest ihn nicht tadeln, wenn du wüßtest, dass er schlecht ist, weil er von Natur aus so veranlagt ist. Denn du wirst doch nicht nachsichtig sein wollen wegen einer Krankheit, während du wegen der fehlerhaften Natur, die doch Gottes Werk ist, es nicht sein wolltest, in dem Falle nämlich, dass jemand von Natur aus fehlerhaft wäre? 

   Indes, da die Wahrheit gar reich an Gründen ist, kann man solche Leute noch durch einen anderen Hinweis zum Schweigen bringen. Man frage sie: Warum hältst du es denn deinem Diener nicht vor, dass er kein schönes Gesicht, keinen hohen Wuchs hat, dass er nicht behend ist? Man erwidert: Ja, das sind eben Gaben der Natur. Damit ist aber allgemein zugegeben, dass man niemanden wegen eines Naturfehlers tadeln darf. Wenn du also einmal eine Zurechtweisung erteilst, gibst du damit zu, dass der getadelte Fehler nicht aus der Naturanlage, sondern aus dem Willen hervorgeht. Denn wenn wir in dem Falle, wo wir uns des Tadels enthalten, bezeugen, dass wir den Fehler der Naturanlage zuschreiben, so geben wir offenbar dann, wenn wir schelten, zu verstehen, dass der Verstoß freiwillig begangen wurde. Es komme mir also niemand mit Trugschlüssen oder mit Klügeleien und Kniffen, die durchsichtiger sind als Spinnengewebe. Man antworte mir vielmehr weiter auf folgende Frage: Hat Gott alle Menschen erschaffen? Ja, das weiß doch jedermann! Woher kommt es dann aber, dass nicht alle einander gleich sind in Bezug auf das Gute und Böse? Warum sind die einen gut, brav und ordentlich? warum andere verkehrt und schlecht? Denn wenn alles das nicht vom Willen abhängt, sondern von Natur aus so ist, warum sind diese so, jene anders? Wenn alle von Natur aus schlecht sind, so kann gar niemand gut sein, und wenn alle von Natur gut sind, so kann niemand schlecht sein. Da nämlich alle Menschen dieselbe Natur haben, so müssen auch von Natur aus alle gleich sein, entweder gut oder böse. Behauptet aber jemand, der eine sei gut, der andere böse von Natur aus wie wir gezeigt haben, eine widersinnige Behauptung , so müßten sie auch darin unveränderlich sein, weil alles, was von Natur ist, unveränderlich ist. 

   So sind alle Menschen sterblich und dem Leiden unterworfen, niemand ist des Leidens enthoben, wenn er auch noch so sehr darnach strebt. Nun beobachten wir aber, dass viele, die gut waren, schlecht, und viele, die schlecht waren, gut werden; jene durch Leichtsinn, diese durch ernstes Streben. Damit liefern sie den besten Beweis, dass diese Eigenschaften nicht mit der Natur gegeben sind. Was von Natur ist, läßt sich ja nicht ändern, auch nicht durch Anstrengung erwerben; wie es z.B. keine Anstrengung kostet, um zu sehen oder zu hören, so brauchte man sich auch nicht abzumühen, um sich Tugenden anzueignen, wenn sie uns mit der Natur gegeben worden wären. Warum hat aber Gott auch Menschen erschaffen, die schlecht sind, da er doch imstande war, lauter Gute zu erschaffen? Woher kommt denn also das Böse? fährst du zu fragen fort. Frage dich selbst! Meine Sache ist es nur, zu beweisen, dass das Böse weder von der Natur noch von Gott herrührt. Also rührt das Böse vom Zufall her? sagst du. Mit nichten! Ist es also gar unerschaffen? Versündige dich doch nicht, Mensch, und gib endlich einen solchen Wahnsinn auf, Gott und das Böse gleichzustellen, beiden die höchste Ehre zu erweisen. Wenn das Böse ohne Anfang ist, so ist es doch allmächtig und kann nicht ausgerottet oder aus der Welt geschafft werden. Das Unerschaffene ist ja, wie jedermann weiß, auch unvergänglich.



3.

Wie käme es, dass es so viele Gute gibt, wenn das Böse eine so große Macht ausübte? Wie könnten die geschaffenen Wesen stärker sein, als das Ungeschaffene? Ja, Gott selbst, sagt man, räumt es aus dem Wege. Wann denn? Wie soll er es vernichten, wenn es ihm, wie man doch behauptet, gleich ist an Ehre, Kraft und Alter. Da sieht man die Tücke des Teufels! Wieviel Verderben hat er ersonnen! So verführt er den Menschen, gegen Gott derartige Lästerungen zu schleudern! Unter dem Vorwande der Frömmigkeit hat er ihn verleitet, eine andere Ursache für das Böse auszuklügeln, die eine Lästerung enthält. Um die Ursache des Bösen nicht im Menschen selbst suchen zu müssen, stellt man die gottlose Behauptung auf, es sei von Ewigkeit her. 

   Woher ist denn also das Böse? Es kommt daher, dass man will oder nicht will. Und wie kommt es, dass man will oder nicht will? Das geht von uns selbst aus. Mit deiner Frage machst du es ebenso, wie wenn du fragtest, woher es kommt, dass man sieht oder nicht sieht, und wenn du, nachdem ich dir entgegne: Daher, dass man die Augen öffnet oder schließt, wiederum fragtest: Woher kommt es, dass man die Augen öffnet oder schließt? und dann wenn ich dir sage, dass das von uns selbst abhängt, weil wir es so wollen, noch eine weitere Ursache erforschen wolltest. Das Böse ist nichts anderes als Ungehorsam gegen Gott. Wie aber, fragst du, kam der Mensch zu diesem Ungehorsam? Sage mir: War es denn so mühevoll, dazuzukommen? Ich will damit keineswegs sagen, dass es schwer war, sondern fragen, woher es kam, dass er ungehorsam sein wollte? Sein Leichtsinn war schuld daran. Da er Herr über sein Tun war, neigte er sich auf diese Seite. Wenn du trotz dieser Erklärung noch immer im Zweifel und in der Unklarheit bist, so will ich dir etwas sagen, was nicht so schwer und verwickelt, sondern höchst einfach und leichtverständlich ist. Warst du nicht auch manchmal gut und manchmal böse? Ich meine damit: Hast du nicht zuweilen deine Leidenschaft überwunden, und bist ein andermal ihr unterlegen? Hast du dich nicht einmal der Trunksucht ergeben, und ihr gelegentlich widerstanden? Hast du dich nicht bisweilen vom Zorne hinreißen lassen, andere Male nicht? Hast du nicht einen Armen einmal abgewiesen, ein andermal nicht? Hast du nicht etwa auch Unzucht getrieben, und bist andere Male enthaltsam gewesen? Sage mir, wie ist das alles so gekommen? Woher? Wenn du es nicht wagst, so will ich es dir sagen. Es kam daher, dass du dir das eine Mal ernstlich Gewalt antatest, dann aber wieder nachlässig und leichtsinnig wurdest. 

   Mit jenen Leuten, welche ganz verzweifelt und völlig dem Bösen verfallen, welche abgestumpft und wie toll sind und von einer Besserung nichts hören wollen, mit solchen kann ich über die Tugend allerdings nicht reden. Mit denen jedoch, welche bald auf der einen, bald auf der anderen Seite stehen, rede ich gern. Nun sage mir: Hast du dich einmal an fremdem Eigentum vergriffen, dann wieder voll Mitleid einem Armen von deinem Eigentum ein Almosen gegeben? Woher kommt dieser Wechsel? Offenbar von deinem Willen und deiner freien Wahl. Das ist ganz klar; das wird wohl kein Mensch in Abrede stellen. Darum fordere ich euch auf, Ernst zu machen und die Tugend zu üben; dann werdet ihr keine solchen Fragen mehr stellen. Wenn wir wollen, ist das Böse für uns nur mehr ein bloßer Name. Forsche also nicht darnach, woher das Böse kommt; sei auch nicht zweifelsüchtig, sondern meide lieber das Böse, nachdem du dich überzeugt hast, dass es allein im Leichtsinn seine Quelle hat. Und wenn dir jemand mit der Behauptung entgegentritt, alle unsere Verkehrtheiten rührten nicht von uns selbst her, so nimm die Gelegenheit wahr, wenn er einmal einem Diener zürnt oder gegen sein Weib aufgebracht ist, sein Kind schilt oder einen Beleidiger verklagt, und sage zu ihm: Wie konntest du behaupten, das Böse sei nicht aus uns? Denn wenn man nicht daran schuld ist, wie kannst du dann schelten? Oder sage zu ihm: Bist du an deinen Schmähungen und Schimpfreden selbst schuld? Wenn nicht, so darf dir auch deshalb niemand grollen; wenn ja, dann rührt auch das Böse von dir und deinem Leichtsinn her. 

   Wie also, glaubst du wirklich, dass es Gute gibt? Wenn niemand gut ist, woher hast du dann dieses Wort? warum spendest du dann Lob? Wenn es aber Gute gibt, so werden sie gewiß die Bösen rügen. Wenn aber niemand aus eigenem Willen und aus eigener Schuld böse ist, muß man es nicht als ein Unrecht bezeichnen, wenn die Bösen von den Guten getadelt werden, so dass also die Guten selbst auch als Böse dastehen. Denn könnte es eine größere Ungerechtigkeit geben, als jemanden mit Vorwürfen zu überhäufen, den keine Verantwortung trifft? Wenn sie aber gut bleiben, auch wenn sie tadeln, und wir gerade in ihrem Tadel einen Beweis für ihre Tugendhaftigkeit sehen, so muß es doch dem größten Toren einleuchten, dass niemand böse ist, weil er nicht anders könnte. Und wenn du nach alle dem immer noch fragst, woher das Böse stammt, so erwidere ich: vom Leichtsinn, von der Nachlässigkeit, vom Umgange mit den Bösen, von der Geringschätzung der Tugend. Hierin ist die Wurzel des Bösen und der Grund zu suchen, dass gewisse Leute fragen, woher das Böse komme. Denn wer tugendhaft ist und sich zu einem sittsamen, enthaltsamen Leben entschließt, stellt keine solchen Fragen, wohl aber wer sich vermißt, das Böse zu tun; denn durch derartige unsinnige Reden sucht er sich einen nichtigen Trost zu verschaffen; es sind aber nur Spinngewebe. Wir aber wollen dieselben nicht bloß durch Worte, sondern auch durch unsere Werke zerreißen. Zum Bösen wird niemand genötigt; denn sonst hätte der Herr nicht gesagt: "Wehe dem Menschen, durch den Ärgernis kommt." Er nennt doch nur solche unselig, die aus eigener Wahl böse sind. Über die Worte "durch welchen" darfst du dich nicht wundern. Damit will der Herr keineswegs sagen, dass ein anderer durch ihn das Ärgernis errege, sondern dass der Schuldige alles selbst ins Werk setzt. Die Schrift pflegt oft zu sagen: "durch welche", anstatt: "von welchen", z.B.:"Ich habe einen Menschen erhalten durch Gott" (Gn 4,1), indem sie nicht die nächste, sondern die letzte Ursache anführt, oder: "Kommt nicht die Deutung durch Gott" (Gn 40,8) oder:"Getreu ist Gott, durch welchen ihr berufen worden seid zur Gemeinschaft seines Sohnes" (1Co 1,9).



4.

Dass also niemand zum Bösen gezwungen wird, darüber mag dich auch das Folgende belehren. Nachdem der Herr das "Wehe" ausgesprochen, fährt er nämlich fort: 

   V.8: "Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, hau sie ab und wirf sie fort von dir. Denn besser ist es dir, verstümmelt oder lahm ins Leben einzugehen, als zwei Hände oder zwei Füße zu haben und in das ewige Feuer geworfen zu werden. 

   V.9: Und wenn dein Auge dich ärgert, reiß es aus und wirf es fort von dir. Denn es ist dir besser, einäugig in das Leben einzugehen, als zwei Augen zu haben und in den Feuerofen geworfen zu werden." 

   Mit diesen Worten meint Jesus nicht etwa die eigentlichen Gliedmaßen, sondern die Freunde, die Angehörigen, welche uns ebenso teuer sind wie notwendige Glieder. Dasselbe hatte er schon früher einmal gesagt und wiederholt es jetzt. Es gibt eben nichts so Verderbliches wie bösen Umgang. Denn was oft der Zwang nicht vermag, das bringt die Freundschaft zuwege, sei es zum Schaden, sei es zum Nutzen. Daher sein strenges Gebot, alle zu entfernen, die uns zum Schaden gereichen; er versteht darunter jene, die uns Ärgernis gaben. Siehst du da, wie er den Schaden, der aus den Ärgernissen entspringt, abwehrt? Er sagt voraus, dass auf jeden Fall Ärgernisse kommen werden, damit niemand unvorbereitet davon Betroffen werde, sondern in Behutsamkeit dieselbe gewärtige; er weist darauf hin, dass Ärgernisse ein großes Übel seien[572] ; endlich nennt er solche Leute, die Ärgernis geben, mit Nachdruck "unselig". Denn durch die Worte: Wehe aber jenem Menschen" kündigt er deutlich an, dass die Strafe eine schwere sein werde. 

   Zu diesen Worten fügt er auch noch ein Gleichnis, um das Fürchterliche der Sache noch mehr hervorzuheben. Auch das ist ihm noch nicht genug; er gibt auch die Art und Weise an, wie man das Ärgernis meiden kann. Und auf welche Weise soll das sein? Mit den Bösen, sagt er, mußt du jede Beziehung abbrechen, auch wenn sie deine größten Freunde wären. Der Grund, den er hierfür vorbringt, ist unwiderleglich. Wenn sie deine Freunde bleiben, sagt er, wirst du sie nicht gewinnen und obendrein noch selbst ins Verderben stürzen; wenn du hingegen mit ihnen brichst, wirst du wenigstens dein eigenes Heil sichern. Sobald dir also die Freundschaft mit irgendeinem Menschen zum Schaden gereicht, dann mache der Sache gründlich ein Ende. Wir lassen uns ja häufig ein oder das andere Glied wegschneiden, wenn es unheilbar krank ist und den übrigen verderblich geworden ist; wieviel mehr gilt das bei der Freundschaft. Wäre aber das Böse naturnotwendig, dann wäre unsere Mahnung und unser Rat ganz überflüssig; überflüssig wäre es auch, sich vor der erwähnten Gefahr in acht zu nehmen. Ist es aber nicht überflüssig und das ist es wirklich nicht , so erhellt deutlich, dass das Böse seine Quelle im Willen hat. 

   V.10: "Sehet zu, dass ihr keines von diesen Kleinen verachtet; denn ich sage euch, dass ihre Engel im Himmel immerdar das Angesicht meines Vaters schauen, welcher im Himmel ist." 

   Unter "Kleinen" versteht der Herr nicht solche, die dem Leibe nach klein sind, sondern jene, die in den Augen der Welt für klein gelten: die Armen, die Verachteten, die Unbekannten. Oder wie sollte derjenige klein sein, der soviel Wert hat als die ganze Welt? wie sollte klein sein, wer ein Freund Gottes ist? Also jene meint er, welche nach der Ansicht der großen Menge zum niederen Volk gerechnet werden. Er redet so, auch wo es sich nur um einen, nicht schon um mehrere handelt, um auch hierdurch den Schaden hintanzuhalten, der entstünde, wenn viele geärgert würden. Denn wie die Flucht vor dem Bösen, so bringt die Achtung vor dem Guten gar großen Gewinn; und zweifach ist der Vorteil, den einer, der diese Maßregel beobachtet, daraus ziehen kann erstens, dass er die Freundschaft mit Leuten aufgibt, die ihm zum Ärgernis gereichen, und zweitens, dass er jene, die heiligmäßig leben, achtet und ehrt. Dann aber zeigt der göttliche Heiland, dass diese Kleinen auch noch aus einem anderen Grunde Ehrerbietung verdienen, denn: "Ihre Engel schauen immerdar das Angesicht meines Vaters, der im Himmel ist." Daraus geht klar hervor, dass den Heiligen, ja allen Menschen, Engel zur Seite stehen. Denn auch der Apostel sagt von den Frauen: "Deshalb soll das Weib einen Schleier haben auf dem Haupte, um der Engel willen" (1Co 11,10) und Moses schreibt: "Er setzte der Stämme Grenzen nach der Zahl der Engel Gottes" (Dt 32,8). An unserer Stelle spricht Christus jedoch nicht bloß von Engeln überhaupt, sonders von besonders hervorragenden Engeln. Durch die Worte: "das Angesicht meines Vaters" meint er nichts anderes als ihre größere Gottesvereinigung und die Fülle ihrer Ehrenauszeichnung. 

   V.11: "Denn gekommen ist der Sohn des Menschen, um zu retten, was verloren war." 

   Damit führt er einen neuen Grund an, der noch gewichtiger ist als der vorausgehende, und zeigt durch das nachfolgende Gleichnis, dass dies auch dem Willen des Vaters entspreche. 

   V.12: "Was dünkt euch? Wenn jemand hundert Schafe hat und es geht eines von ihnen irre, wird er nicht die neunundneunzig zurücklassen und auf die Berge steigen, um das verirrte zu suchen? 

   V.13: Und wenn er es glücklich wieder findet, so freut er sich über selbes mehr, als über die neunundneunzig, welche nicht irre gegangen sind. 

   V.14: So ist es auch nicht der Wille eures Vaters, dass eines dieser Kleinen verloren gehe." 

   Siehst du, wie Christus es sich angelegen sein läßt, uns zur Sorge für unsere ärmeren Brüder aufzumuntern? Sage also nicht in Geringschätzung: das ist ja nur ein Schmied, ein Schuster, ein Bauer, ein Tölpel! Um dich davor zu hüten, beachte, wieviel der Herr tut, um dich zur Bescheidenheit zu bewegen und dir die Sorge für sie ans Herz zu legen. Er stellt ein Kind vor sie hin und sagt: "Werdet wie die Kinder", und: "Wer ein solches Kind aufnimmt, nimmt mich auf", und "wer es ärgert", wird auf das schwerste gestraft werden. Er führt nicht bloß das Beispiel vom Mühlstein an, sondern spricht auch sein "Wehe" aus; er befiehlt uns, von solchen Leuten uns loszusagen, mögen sie uns auch lieb sein wie die Hände oder die Augen. Auch auf die Engel, die eben diesen ärmeren Brüdern beigegeben sind, weist er hin, um uns zur Wertschätzung derselben anzutreiben; ebenso bezeichnet er dies als seinen ausdrücklichen Willen. da er ja auch für sie gelitten hat. Wenn er nämlich sagt: "Der Sohn des Menschen ist gekommen zu retten, was verloren war", deutet er offenbar seinen Kreuzestod an, ähnlich wie Paulus von einem Mitbruder schreibt: "Für welchen Christus gestorben ist" (Rm 14,15); ferner zeigt er, dass es den Vater schmerzt, wenn sie zugrunde gehen; schließlich beruft er sich auf die allgemeine Sitte, dass der Hirt die geretteten Schafe verläßt, um das verlorene zu suchen, und wenn er das verirrte gefunden hat, sich freut, dass er es wohlbehalten wieder hat.



5.

Wenn also Gott sich so sehr freut über den Kleinen, der wiedergefunden wurde, wie könntest du diejenigen geringschätzen, für welche Gott so besorgt ist? Ja, man sollte sogar das Leben hingeben für einen von diesen Kleinen. Aber, sagst du, er ist schwach und unbedeutend. Dann muß man um so mehr alles tun, um ihn zu retten. Er selbst hat ja auch die neunundneunzig Schafe stehen lassen, um dem einen nachzugehen, und dass so viele in Sicherheit waren, vermochte ihn über den Verlust des einen nicht zu beruhigen. Lukas erzählt, dass er es sogar auf seinen Schultern trug, und sagt: "Über einen einzigen bußfertigen Sünder wird mehr Freude herrschen, als über neunundneunzig Gerechte" (Lc 15,7). Indem er die geretteten verläßt und sich über das eine gefundene mehr freute[573] , gibt er zu erkennen, wie sehr er um dasselbe besorgt war. Vernachlässigen wir also nicht solche Seelen. Denn um ihretwillen hat er alle diese Worte geredet. Um nämlich die Aufgeblasenheit der Hochmütigen niederzudrücken, sprach er die Drohung aus, dass niemand in das Himmelreich eingehen kann, der nicht wie ein Kind wird, und führte noch dazu das Gleichnis vom Mühlsteine an. Nichts läuft aber so sehr der Liebe zuwider wie Hochmut. Durch die Worte ferner: "Es ist notwendig, dass Ärgernisse kommen", ermuntert er zur Wachsamkeit und spornt durch den folgenden Satz: "Wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt" einen jeden an, darauf zu sehen, dass sie nicht durch ihn kommen. Durch das Gebot, mit denen, die zum Ärgernis gereichen, jeden Verkehr abzubrechen, gab er ein leichtes Mittel an, sich zu retten. Endlich gibt er den Befehl, die Kleinen nicht zu verachten, und zwar befiehlt er dies mit besonderem Nachdruck[574] , und sucht schließlich alle, deren Pflicht es ist, sich ihrer anzunehmen, zu großem Eifer anzutreiben, indem er hinzusetzte: "Ihre Engel schauen das Angesicht meines Vaters", und: "Dazu bin ich gekommen", und: Mein Vater will es." 

   Siehst du also, mit was für Schutzwehren der Herr die "Kleinen" und Verlorenen umgibt, was für Sorge er ihnen angedeihen läßt, indem er jenen, die ihnen nachstellen, unerträgliche Strafe androht, und denen großen Lohn verheißt, die sich ihrer annehmen und für sie sorgen, und überdies sich und seinen Vater ihnen als Vorbild hinstellt? Ihn wollen also auch wir nachahmen, wollen uns nicht weigern, unserer Brüder uns anzunehmen, mag es auch niedrig und lästig erscheinen; allen Diensten vielmehr soll man sich willig für die Rettung des Bruders unterziehen. mag derselbe auch gering sein und niedrig stehen, mag der Dienst lästig fallen, ja müßte man selbst über Berge und Abgründe schreiten. Gott hat nicht einmal seines eigenen Sohnes geschont, so sehr liegen ihm die Seelen am Herzen. Deshalb bitte ich euch inständig: wenn wir früh am Morgen zum Hause hinaustreten, sollen wir einzig diesen Zweck verfolgen und dieses Ziel im Auge haben, den Gefährdeten beizustehen. Damit meine ich jedoch nicht so sehr die Gefahren, die man leicht wahrnimmt, das sind eigentlich keine Gefahren, sondern die Gefahren, welche der Seele vom Teufel bereitet werden. Befährt doch auch der Kaufmann das Meer, um sein Vermögen zu vergrößern, und der Handwerker tut alles mögliche, um seinen Besitz zu mehren. Darum sollen auch wir uns nicht darauf beschränken, unser eigenes Heil zu wirken, wir würden es damit nur in Frage stellen. Auch im Kriege und in der Schlacht würde ja ein Soldat, der nur darauf bedacht wäre, sich selbst durch die Flucht zu retten, sich und die anderen ins Verderben reißen, während der Tapfere auch für die anderen kämpft, mit den anderen auch sich selbst rettet. 

   Nun ist auch unser Leben ein Krieg, und zwar der allerwütendste, ist ein Kampf, eine Schlacht. Darum sollen wir dem Befehle unseres Königs entsprechend in die Schlachtreihe treten, gefaßt auf Wunden, Blutvergießen und Tod, sollen auf die Rettung aller sehen, die Standhaften bestärken und die Gefallenen aufrichten. Viele unserer Brüder sind in diesem Kampf gefallen, mit Wunden bedeckt, vom Blut überströmt, und niemand nimmt sich ihrer an, kein Laie, kein Priester, noch sonst jemand, weder ein Gefährte noch ein Freund, noch ein Bruder; ein jeder von uns denkt nur an sich. Damit benachteiligt man sich aber nur selbst. Unsere größte Sicherheit und unsere Stärke liegt darin, dass wir nicht auf unseren eigenen Vorteil bedacht sind. Eben darum sind wir den Menschen und dem Teufel gegenüber so schwach und leicht zu überwinden, weil wir gerade das Gegenteil davon tun, weil wir nicht untereinander Waffenbrüder sind, weil wir nicht das Siegel der göttlichen Liebe tragen, weil wir unsere gegenseitigen Beziehungen auf andere Gründe aufbauen: auf die Verwandtschaft, auf den Verkehr, auf den Umgang, auf die Nachbarschaft. Jedes andere Motiv vermag uns viel mehr zu gegenseitiger Liebe zu bewegen, als die Gottesfurcht. Und doch sollte nur sie allein die Bande der Freundschaft knüpfen. Nun geschieht aber das reine Gegenteil davon; ja es kommt vor, dass wir eher mit Juden und Heiden Freundschaft schließen, als mit den Kindern der Kirche.



6.

Allerdings erwiderst du, so ist es; denn dieser ist schlecht, der andere hingegen brav und bescheiden. Was sagst du? Deinen Mitbruder nennst du schlecht, wo es doch verboten ist, zu ihm auch nur "Raka" zu sagen. Schämst du dich nicht, errötest du nicht, deinen Mitbruder an den Pranger zu stellen, ein Glied deines Leibes, ihn, der dieselbe Mutter hat, der an demselben Tische teilnimmt wie du? Wenn du einen leiblichen Bruder hast, so suchst du ihn zu schützen, auch wenn er tausend Schandtaten begeht, und erachtest es für deine eigene Schmach, wenn man ihm Schmach zufügt; deinen geistlichen Bruder dagegen, den du vor Verleumdung retten sollst, überhäufst du selber mit zahllosen Schmähungen? Er ist schlecht, sagst du, und unausstehlich. Nun, dann werde doch gerade darum sein Freund, um ihn zur Besinnung zu bringen, um ihn zu bessern, um ihn zur Tugend zurückzuführen. Aber er folgt nicht, fährst du fort, er nimmt keinen Rat an. Woher weißt du das? Hast du ihn ermahnt und zu bessern versucht? Schon oft habe ich es getan, antwortest du. Wie oft denn? Oft, einmal, und dann noch einmal Ei das nennst du oft? Du hättest nicht ermüden und nicht ablassen dürfen, und wenn du es das ganze Leben hindurch tun müßtest. Siehst du nicht, dass auch Gott uns immer von neuem ermahnt, durch die Propheten, die Apostel, die Evangelisten? Und mit welchem Erfolge? Handeln etwa wir stets recht, folgen wir in allen Stücken? Nein. Läßt er etwa deswegen ab, uns zu mahnen? schweigt er deshalb? oder spricht er nicht vielmehr Tag für Tag: "Ihr könnet nicht Gott und dem Mammon dienen" (Mt 6,24 u. Lc 16,13), und wächst nicht dennoch bei vielen die Macht und Tyrannei des Geldes? Ruft er nicht täglich: "Vergebet, so wird euch vergeben werden" (Mt 6,14 u. Lc 6,37), während wir uns zu immer größerem Zorne hinreißen lassen? Ermahnt er uns nicht ohne Unterlaß, die Leidenschaften zu bändigen und die böse Lust zu beherrschen, und doch wälzen sich viele im Schmutz der Unlauterkeit ärger als Schweine. Aber trotzdem hört er nicht auf, zu uns zu sprechen. Das sollten wir wohl überdenken und bei uns sagen: Gott spricht zu uns und spricht immer wieder, obschon wir oft nicht auf ihn hören. Darum konnte er auch sagen: "Wenige sind es, welche selig werden" (Lc 13,23).Wir sollen doch, um selig zu werden, nicht bloß selbst tugendhaft sein, sondern auch andere zur Tugend anleiten. Wie wird es uns da ergehen, wenn wir weder uns noch andere gerettet haben? Worauf könnten wir dann noch unsere Hoffnung auf Rettung gründen? 

   Aber warum mache ich euch Vorwürfe wegen Fremder, da wir ja nicht einmal um die Nächststehenden uns kümmern, um Weib und Kind und Angehörige, sondern wie Betrunkene tausend andere Sorgen haben: dass das Gesinde zahlreicher werde und uns mit größerem Eifer diene, dass die Kinder von uns ein reiches Erbe erhalten, dass die Frau kostbare Kleider und Goldschmuck besitze, also nur um unser Hab und Gut, nicht um uns selbst besorgt sind? Nicht die Frau liegt uns am Herzen, nur ihr Schmuck; nicht am Kinde ist uns gelegen, sondern an seinem Vermögen. Wir handeln da ebenso töricht wie einer, der rings um sein baufälliges Haus gewaltige Zäune errichtet, anstatt die schiefstehenden Mauern instandzusetzen; wie einer, der für seinen schwerkranken Leib goldene Kleider weben läßt, anstatt ihn zu heilen; wie einer, der die leidende Herrin im Fieber stöhnen läßt und sich um die Mägde, die Webstühle, das Hausgeräte und dergleichen Dinge kümmert. So verkehrt handelt man auch, wenn man um Häuser und Dienerschaft besorgt ist, während es um unsere Seele schlimm und elend steht, während man sie den Leidenschaften zum Spielball überläßt, und sie von Zorn, Schmähsucht, unersättlichen Begierden, Eitelkeit, Feindseligkeit zu Boden geschmettert und wie von wilden Tieren zerfleischt wird. 

   Wenn einmal ein Bär heimlich entkommen ist, da verschließt man seine Wohnung und schlägt Seitenwege ein, um ja nicht dem wilden Tiere zu begegnen; wenn aber unsere Seele nicht von einer Bestie allein, sondern von vielen bösen Gedanken angefallen wird, da bleiben wir kalt. Ferner, wenn es sich um eine Stadt handelt, ist man gar sehr besorgt, die wilden Tiere an einem einsamen Orte oder in einem Zwinger einzusperren, man hält sie irgendwo abseits gefangen, nicht aber in der Nähe des Rathauses oder des Gerichtsgebäudes oder der Königsburg. In der Stadt unserer Seele hingegen, die ihr eigenes Rathaus, ihre eigene Königsburg, ihren eigenen Gerichtshof besitzt, lassen wir die Bestien ganz frei sogar rings um den Verstand und den Königsthron brüllen und toben. Die Folge davon ist, dass alles drüber und drunter geht, innen und außen alles voll Verwirrung ist, dass dann jeder von uns einer Stadt gleicht, die ob eines Barbareneinfalls in Verwirrung kam. Es sieht da aus wie in einem Vogelnest, in das eine Schlange geraten ist piepsend vor Furcht und Entsetzen flattern die Tierlein nach allen Seiten hin und her und wissen nicht, wo sie in ihrer Angst Rettung suchen sollen.



7.

Darum bitte ich auch inständig, bringen wir diese Schlange um, sperren wir die Bestie ein, erwürgen, vertilgen wir sie, liefern wir die bösen Gedanken dem Schwerte des Geistes aus, damit nicht auch uns die Drohung gelte, die der Prophet an die Juden richtete: "Waldteufel tanzen dort und Igel und Drachen" (Is 13,22). O, es gibt Menschen, die tatsächlich schlimmer sind als Waldteufel, weil sie wie diese gleichsam in der Wüste hausen und ausschlagen. Ist nicht eigentlich ein Großteil unserer Jugend so? Voll wilder Begierden, springen sie, schlagen aus, laufen zügellos umher und haben für ihre Pflichten nicht den nötigen Ernst. Die Schuld an diesen Unordnungen trifft die Väter. Ihre Rosse lassen sie von den Knechten mit großer Sorgfalt dressieren, lassen die Füllen in ihrer Jugend gewöhnlich nicht ohne Zucht, sondern legen ihnen beizeiten einen Zaum an und tun, was sonst notwendig erscheint. Ihre Söhne dagegen, vernachlässigen sie in der Regel, und kümmern sich nicht darum, wenn sie zügelund sittenlos sich herumtreiben, und durch Unzucht, Würfelspiel und gottlose Theaterstücke sich selbst entwürdigen. Man sollte sie, ehe sie der Unzucht verfallen, verheiraten mit einem klugen und verständigen Weibe: ein solches versteht es, den Mann von einem so unwürdigen Zeitvertreibe abzulenken, wie man ein Füllen durch den Zaum lenkt. Denn aus keiner anderen Ursache rühren die Sünden der Unzucht und die Ehebrüche her, als weil die jungen Leute so zügellos sind. Sobald einer ein braves Weib hat, wird ihm auch an dem Hause, an seinem Ruf und guten Namen gelegen sein. 

   Aber er ist ja noch jung, redet man sich aus. Das weiß auch ich ganz wohl. Wenn aber Isaak, der erst im Alter von vierzig Jahren eine Braut heimführte, sein Leben bis zu dieser Zeit in Keuschheit verbrachte, dann sollten noch viel eher unsere jungen Leute mit Hilfe der Gnade imstande sein, dieselbe Tugend zu üben. Aber was soll ich eigentlich tun? Es ist euch gleichgültig, ob sie enthaltsam sind oder nicht, es liegt euch nichts daran, wenn sie sich entehren, beflecken, mit Fluch beladen. Warum? Weil ihr keine Ahnung davon habt, wie hochbedeutsam es für den Ehestand ist, dass man seinen Leib rein bewahrt. Hat man ihn befleckt, so kann dann die Ehe keinen Nutzen mehr bringen. Ihr handelt ganz verkehrt; erst wenn sie sich mit tausend Schändlichkeiten entehrt haben, führt ihr sie dem Ehestande zu; dann ist es aber bereits zu spät. Eine andere Entschuldigung lautet: Er muß doch warten, bis er sich einen Namen gemacht, bis er in der Öffentlichkeit etwas geleistet hat. An der Seele liegt euch also nichts, ihr lasset es ruhig zu, dass sie weggeworfen wird. Daher kommt es eben, dass alles voll Wirrwarr, Unordnung und Unruhe ist, weil die Seele als Nebensache gilt, weil das Notwendige vernachlässigt und dem Wertlosen soviel Sorgfalt gewidmet wird. Weißt du nicht, dass du deinem Kinde keine größere Wohltat erweisen kannst, als wenn du es unbefleckt erhältst vor der Verunreinigung mit der Unzucht? Es gibt nichts, das solchen Wert hätte wie die Seele. Denn: "Was nützt es dem Menschen",spricht der Herr, "wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?" (Mt 16,26). Leider hat aber die Habsucht alles umgekehrt und auf den Kopf gestellt und die wahre Gottesfurcht vertrieben; wie ein Tyrann eine Burg, so hat sie die Herzen der Menschen eingenommen. So achtet man denn auch nicht auf die Kinder und das eigene Heil, man hat nur das eine Ziel im Auge, wie man reicher werden könne, um das Vermögen anderen zu hinterlassen, diese wieder anderen, und die Nachfolgenden wieder den Nachfolgenden; so sind wir nicht Eigentümer, sondern gewissermaßen nur Vermittler von Geld und Gut. 

   Aus diesen Verhältnissen entsteht soviel Torheit. Daher kommt es, dass man sich um die Freien weniger kümmert, als um die Sklaven. Diese werden zurechtgewiesen, wenn auch nicht ihretwegen, so doch um unseretwillen; den Freien erweist man diese Wohltat nicht, sie gelten uns eben weniger als jene. Ja nicht bloß weniger als Sklaven, sogar weniger als die Tiere. Denn auf die eigenen Kinder achtet man nicht soviel, als auf Esel und Maultiere, man sorgt mehr für diese. Hat z.B. jemand auch nur einen Maulesel, so ist er sorgsam bemüht, einen tüchtigen Treiber dazu zu finden, der nicht nachlässig, nicht diebisch, nicht trunksüchtig ist, sondern sein Geschäft gut versteht. Handelt es sich aber darum, für die Seele des Kindes einen Erzieher zu suchen, so nimmt man den ersten besten. Seele des Kindes einen Erzieher zu suchen, so nimmt man den ersten besten. Und doch gibt es keine größere Kunst, als gerade die Erziehung. Was könnte man auch wohl mit der harmonischen Entwicklung der Seele und der Bildung des Herzens eines jungen Menschen vergleichen? Wem diese Kunst eigen ist, der muß ein weit vollkommenerer Künstler sein, als alle Maler und Bildhauer. Gewöhnlich werden aber diese Gesichtspunkte gar nicht in Rechnung gezogen, man legt nur darauf Gewicht, dass das Kind in der Sprache ordentlich ausgebildet werde, und selbst das nur um des Erwebes willen. Denn nicht um ein Redner, sondern um ein Geschäftsmann zu werden, wird das Kind in der Sprache unterrichtet. Könnte man reich werden, auch ohne reden zu können, so läge uns selbst daran nichts. Siehst du also, welche Tyrannei das Geld ausübt? Aller Verhältnisse hat es sich bemächtigt und hält die Menschen wie Sklaven oder Tiere gefesselt und schleppt sie, wohin es will. Aber welchen Nutzen haben wir von all diesen Vorwürfen? Wir wenden uns gegen diese Herrschaft nur mit Worten, sie hält uns dagegen durch die Tat in ihrer Gewalt. Trotzdem wollen wir doch nicht aufhören, die Waffen des Wortes gegen sie zu kehren. Erreichen wir etwas, so kommt der Nutzen uns und euch zustatten; bleibt ihr so wie vorher, so haben wir wenigstens unsere Pflicht getan, Gott möge aber auch euch von dieser Krankheit heilen und uns verleihen, dass wir uns in euch rühmen können: denn ihm gebührt der Ruhm und die Macht in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 59