Kommentar zum Evangelium Mt 64

Vierundsechzigste Homilie. Kap V. 27 Kap XX, V.1-6

64 Mt 19,27-20,6
1.

V.27: "Alsdann entgegnete Petrus und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind Dir gefolgt; was wird also unser Lohn sein?" 

   Was "alles" hast du verlassen, hl. Petrus? Das Fischerrohr? das Netz? den Nachen? dein Handwerk. Das nennst du "alles"? Freilich, erwiderst du, so nenne ich es, aber nicht aus Großsprecherei, sondern um mit dieser Frage auf die Schar der Armen hinzuweisen. Der Herr hatte erklärt: "Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben" (Mt 19,21). Da könnte nun mancher Arme denken: Wie, wenn ich nicht einmal das Notwendige zum Leben habe, kann ich da nicht vollkommen sein? Petrus fragt also, damit du, der Arme, wissest, dass du ob deiner Armut nicht schlechter daran bist; Petrus fragt, damit du vom Meister des Petrus die Unterweisung erhaltest und beruhigt seiest; denn wenn du es bloß von Petrus erführest, könntest du noch Bedenken tragen[585] . Wie wir im Gespräch über andere deren Angelegenheiten zu den unsrigen machen, so tat auch der Apostel, als er diese Frage im Namen der ganzen Welt an Christus richtete. Für seine eigene Person war er bereits im klaren, wie wir aus dem Vorausgehenden ersahen; denn da er bereits die Schüssel des Himmelreiches besaß, mußte er um so eher über das, was er dort zu erwarten hatte, Gewißheit haben. Beachte auch, wie genau Petrus den Anforderungen Christi entspricht. Zwei Dinge hatte der Herr von einem Reichen verlangt: dass er sein Vermögen den Armen gebe, und dass er Christo nachfolge. Dem entsprechend hebt auch Petrus diese beiden Punkte hervor: das Verlassen und das Nachfolgen: "Siehe, wir haben alles verlassen und sind Dir nachgefolgt." Das Verlassen war zum Zwecke der Nachfolge geschehen, die Nachfolge war durch das Verlassen leichter geworden, und weil sie alles verlassen hatten, sollten sie froh und getrost werden. Was antwortete also Christus? 

   V.28: "Jesus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, ihr, die ihr mir gefolgt seid, bei der Wiedergestaltung, wenn der Menschensohn auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, dann werdet auch ihr auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten." 

   Wie? Wird auch Judas mit dort sitzen? Keineswegs. Wie kann er also sagen: "Ihr werdet auf zwölf Thronen sitzen"? Wie soll diese Verheißung in Erfüllung gehen? Höre, wie und in welchem Sinne. Gott hat den Juden ein Gesetz gegeben und von Jeremias verkünden lassen, folgenden Inhalts: "Zuletzt werde ich wider Volk und Reich reden, dass ich es zerstören und verderben wolle. Wenn sich aber jenes Volk von seinen Sünden abwendet, so gereut auch mich des Bösen, das ich gesonnen war, ihm zu tun. Und dann spreche ich aus über Volk und Reich, dass ich es bauen und pflanzen wolle. Tat aber dasselbe, was böse ist in meinen Augen, so dass es nicht höret meine Stimme, dann gereute mich des Guten, das ich verheißen, an ihm zu tun" (Jr 18,198). Christus will sagen, ein ähnliches Vorgehen beobachte ich auch in Bezug auf das Gute. Wenn ich auch sage, ich werde bauen, so werde ich es doch nicht tun, wenn man sich der Verheißung unwürdig erweist. So handelte er z.B. mit dem Menschen im Paradiese. Er hatte gesagt:"Furcht und Schrecken vor euch sei über alle Tiere der Erde" (Gn 9,2), und doch kam es anders, weil der Mensch sich der Herrschaft unwert gezeigt hatte. Dasselbe gilt nun auch von Judas. Infolge der Strafandrohung könnten nämlich einige zur Verzweiflung und Verhärtung getrieben werden, andere infolge der Verheißung von Lohn in Leichtsinn verfallen, um also beiden Übelständen vorzubeugen, hat Jesus obige Worte gesprochen, womit er sagen will: Wenn ich auch drohe, du brauchst doch nicht zu verzagen; denn du kannst ja durch Gesinnungsänderung die Drohung gegenstandslos machen, wie es bei den Niniviten der Fall war. Und wenn ich auch etwas Gutes verheiße, so darfst du darum doch nicht träge werden; denn wenn du dich unwürdig machst, wird dir meine Verheißung nichts nützen; du wirst vielmehr gestraft werden. Meine Versprechungen beziehen sich nur auf solche, die sich ihrer Wert zeigen. 

   So hat er nun auch in dem gegenwärtigen Falle den Jüngern nicht ein unbedingtes Versprechen gegeben. Er sagte nicht einfach: "ihr", sondern setzte hinzu: "die ihr mir gefolgt seid", um damit einerseits den Judas davon auszuschließen, und anderseits solche, die später kommen, aufzumuntern. Seine Worte bezogen sich nämlich weder bloß auf die Jünger, noch auf Judas, der später unwürdig geworden ist. Den Jüngern stellt er deshalb einen Lohn im Jenseits in Aussicht: "Ihr werdet sitzen auf zwölf Thronen"; sie hatten ja bereits einen höheren Grad der Vollkommenheit erstiegen und suchten nichts Irdisches mehr. Den übrigen Menschen macht er dagegen eine Verheißung für das Diesseits durch die Worte: 

   V.29: "Jeder, welcher verlassen hat Haus oder Bruder oder Schwester oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, wird Hundertfaches empfangen und ewiges Leben erwerben." 

   Damit man nämlich wegen des Wortes "ihr" die Verheißung über den Besitz der größten und ersten Stellen im Jenseits nicht ausschließlich auf die Jünger beziehe, gibt er seinen Worten einen weiteren Sinn, in dem er sie über die ganze Welt ausdehnt, und durch die Verheißung für das Diesseits die Aussicht auf das Jenseits bekräftigt und bestärkt. Als die Jünger im Anfang noch unvollkommen waren, hatte er zu ihnen auch von irdischen Gütern geredet; so z.B., als er sie am Meere aufforderte, ihr Handwerk aufzugeben, und ihre Fahrzeuge zu verlassen, sagte er kein Wort vom Himmel oder von den Thronen, sondern stellte ihnen nur Erfolge auf Erden in Aussicht: "Ich werde euch zu Menschenfischern machen" (Mt 4,19). Nachdem er aber ihre Herzen auf Höheres hingerichtet hatte, konnte er füglich auch die Dinge im Jenseits erwähnen.



2.

Was soll nun das heißen: "die zwölf Stämme Israels richten"? Das bedeutet "verurteilen". Nicht, dass die Apostel wirklich zu Gericht sitzen werden, sondern "richten" hat den Sinn wie in jenen Worten, da er sprach, die Königin von Osten und die Einwohner von Ninive werden jenes Geschlecht verurteilen (Mt 12,41-42). Ebendarum sagte er auch nicht: die Völker der ganzen Welt, sondern: "die Stämme Israels". Denn, wenn die Juden geltend machen sollten, sie hätten nicht an Christus glauben können, weil das Gesetz die Annahme seiner Lehre verboten habe, dann sollten die Apostel, welche an ihn geglaubt hatten, trotzdem sie unter demselben Gesetze standen und in den gleichen bürgerlichen und staatlichen Verhältnissen aufgewachsen waren, auftreten und sie alle verurteilen, wie er früher schon einmal gesagt hatte:"Deshalb werden sie eure Richter sein" (Mt 12,27). Was ist denn aber Großes dabei, fragst du, wenn sie dasselbe tun dürfen, wie die Niniviten und die Königin des Ostens? Darin besteht aber auch gar nicht ihr alleiniger Lohn; schon früher hatte ihnen der Herr große Verheißungen gemacht und in der Folge fügt er weitere hinzu. Allein auch in dieser Verheißung verspricht er den Jüngern mehr als den Genannten, von welchen er einfach sagt: "Die Einwohner von Ninive werden sich erheben und dieses Geschlecht verdammen" und "die Königin des Ostens wird es verurteilen", zu den Aposteln spricht er nicht so unbestimmt, sondern: "Wenn der Menschensohn auf dem Throne seiner Herrlichkeit sitzen wird, dann werdet auch ihr auf zwölf Thronen sitzen", womit er darauf hinweist, dass sie Teil haben werden an seiner Herrschaft und Herrlichkeit. Lesen wir doch:"Wenn wir dulden werden, werden wir auch mitherrschen" (2Tm 2,12). Unter den Thronen sind hier keine Richterstühle zu verstehen, denn auf einem Richterstuhle wird nur Christus allein sitzen und Gericht halten; durch die Throne will er vielmehr eine unaussprechliche Ehre und Herrlichkeit andeuten. 

   Das war also der Inhalt seiner Worte an die Jünger. Für die übrigen stellte er das ewige Leben und im Diesseits eine hundertfältige Vergeltung in Aussicht. Wenn das für die anderen gilt, dann um so mehr auch für die Jünger, und zwar schon hier in diesem Leben. Dies traf denn auch wirklich so ein. Fischerrohre und Netze hatten sie aufgegeben und dafür den unbeschränkten Besitz aller erlangt, den Wert der Häuser und Grundstücke, ja sogar die Leiber der Gläubigen selbst. Denn letztere waren bereit, sich für sie hinschlachten zu lassen, wie ja Paulus von vielen bezeugt mit den Worten: "Hätte es geschehen können, ihr hättet eure Augen ausgerissen und mir gegeben" (Ga 4,15). Mit dem Satze: "Wer immer sein Weib verläßt", will Christus nicht sagen. man solle die Ehe auflösen, ebensowenig als er in dem Ausspruche:"Wer seine Seele um meinetwillen verliert, wird sie finden" (Mt 16,25)verlangt, wir sollten uns selbst das Leben nehmen oder die Seele vom Leibe trennen; wie er hier bloß ausdrückt, dass man die Religion allem anderen vorziehen müsse, so ist es auch zu verstehen, wenn er vom Verlassen des Weibes und der Brüder spricht. Ich vermute, dass er hierbei auf die Verfolgungen anspielte. Gab es doch sogar viele Väter, welche ihre Kinder, und Weiber, welche ihre Männer zur Gottlosigkeit verführen wollten. Für solche Fälle sagt er:"Wenn sie euch etwas Derartiges zumuten, so sollen sie euch nicht als Weiber oder Väter gelten." In diesem Sinne schreibt auch Paulus: "Wenn aber der Ungläubige sich trennt, trenne er sich" (1Co 7,15). 

   Nachdem also der göttliche Heiland ihren Mut aufgerichtet und ihnen zugeredet hatte, in Bezug auf ihre Person und auf die Welt unverzagt zu sein, fuhr er fort: 

   V .30: "Viele aber von den Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten die Ersten." 

   In ihrer Unbestimmtheit beziehen sich diese Worte nicht bloß auf viele andere, sondern auf die Anwesenden, sowie auf die ungläubigen Pharisäer. Ähnlich hatte der Herr früher schon gesprochen: "Viele werden vom Aufgange und Untergange kommen und sich zu Tische setzen mit Abraham, Isaak und Jakob: die Kinder des Reiches aber werden hinausgeworfen werden" (Mt 8,11-12). Hieran schließt er nun ein Gleichnis, um die zuletzt Gekommenen zu freudigem Eifer anzuspornen: 

   Kapitel XX. V.1: "Das Himmelreich gleicht einem Hausvater, welcher hinausging am frühen Morgen, um Arbeiter zu dingen für seinen Weinberg. 

   V.2: Und nachdem er sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag geeint hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. 

   V.3: Und als er ausging um die dritte Stunde, sah er noch andere müßig auf dem Markte stehen. 

   V.4: Und er sprach zu ihnen: Gehet auch ihr in meinen Weinberg, und was recht ist, werde ich euch geben. 

   V.5: Und um die sechste und neunte Stunde tat er ebenso. 

   V.6: Da er nun um die elfte Stunde ausging, fand er nochmals andere müßig stehen und sagte zu ihnen: Warum steht ihr hier den ganzen Tag müßig? 

   V.7: Sie sagten zu ihm: Weil niemand uns gedungen hat. Da sagte er ihnen: Gehet auch ihr in meinen Weinberg, und was recht ist, werdet ihr erhalten. 

   V.8: Als es ab er Abend geworden, sagte der Herr des Weinberges zu seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn, angefangen von den Letzten bis zu den Ersten. 

   V.9: Da nun die kamen, welche um die elfte Stunde ein getreten waren, empfingen sie jeder einen Denar. 

   V.10: Da glaubten die Ersten, sie würden mehr erhalten, aber auch von ihnen empfing jeder einen Denar. 

   V.11: Und als sie ihn erhielten, murrten sie wider den Hausvater. 

   V.12: und sie sagten: Diese Letzten haben eine einzige Stunde gearbeitet, und Du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last des Tages und der Hitze getragen! 

   V.13: Er aber antwortete und sprach zu einem aus ihnen: Freund! ich tue dir kein Unrecht. Bist du nicht auf einen Denar mit mir übereingekommen? 

   V.14: Nimm, was dein ist, und gehe! Ich will aber auch diesem Letzten soviel geben wir dir. 

   V.15: Oder ist es mir nicht erlaubt, in m einem, Bereich zu tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin? 

   V.16: So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten; denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt."



3.

Was soll dieses Gleichnis uns sagen? Das Ende steht nicht im Einklang mit dem Anfange, sondern spricht das gerade Gegenteil aus. Dort deutet der Herr an, dass alle den gleichen Lohn zu gewärtigen haben, nicht, dass die einen ausgeschlossen, die anderen zugelassen werden. Dagegen sagen seine Worte vor dem Gleichnisse und darnach umgekehrt: "Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein", mit anderen Worten, sie werden noch vor den ersten stehen, weil diese gar nicht mehr die ersten bleiben, sondern die letzten werden. Und um es näher zu erklären, setzte er hinzu: "Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt", worin für die einen ein doppelter Grund zur Furcht, für die anderen Trost und Ansporn liegt. Im Gleichnis selbst ist das freilich nicht ausgesprochen, sondern nur, dass sie mit den bewährten Arbeitern, die viel geleistet haben, auf gleiche Stufe gestellt würden; sie sagen ja selbst: "Du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last und die Hitze des Tages getragen haben." 

   Welches ist also der Sinn des Gleichnisses? Darüber müssen wir uns zuerst klar werden, dann können wir auch jene andere Frage lösen. Unter dem Weinberge versteht Jesus die Gebote und Satzungen Gottes; die Arbeitszeit ist das irdische Leben; die Arbeiter sind die Menschen, welche zu verschiedenen Zeiten zur Beobachtung der Gebote berufen werden, in der Frühe, zur dritten, sechsten, neunten und elften Stunde, d.h. die in die verschiedenen Altersstufen eingetreten sind und zur Zufriedenheit gearbeitet haben. Was jedoch vor allem in Frage kommt, ist der Umstand, ob diejenigen, welche die ersten waren, sich bewährt haben und gottgefällig gewesen sind, wenn sie trotz der Arbeit, die sie den ganzen Tag hindurch geleistet, doch der schnödesten Leidenschaft, dem Neide und der Eifersucht, verfielen. Denn als sie wahrnahmen, dass die letzten denselben Lohn wie sie empfingen, sprachen sie: "Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet und Du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last und Hitze des Tages getragen haben ." Sie sind aufgebracht und unmutig über das Glück der anderen, obgleich sie dabei keinerlei Nachteil erlitten oder in ihrem Lohne geschmälert wurden; das ist doch ein Beweis, dass sie scheelsüchtig und mißgünstig waren. Hierzu kommt ferner noch, dass sich der Hausvater ihnen gegenüber rechtfertigt und in seiner Antwort an den Wortführer ihm die schändlichste Bosheit und Scheelsucht zum Vorwurfe macht: Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? Nimm, was dein ist und gehe! Ich will aber diesem letzten auch geben wie dir. Ist dein Auge böse, weil ich gut bin?" Welche Lehre ist also hierin enthalten? 

   Auch in anderen Gleichnissen kann man dieselbe Beobachtung machen; so z.B. wird uns vom braven Sohne berichtet, dass auch er eifersüchtig wurde, als er bemerkte, wie sein liederlicher Bruder mehr ausgezeichnet wurde als er selbst. Denn wie die letzten mehr ausgezeichnet wurden, weil sie zuerst den Lohn empfingen, so auch jener durch die reichlichen Gaben, wie es uns der brave Sohn selbst bezeugt. Was ist nun dazu zu sagen? Im Himmelreich gibt es niemand, der rechtet oder sich beklagt, Gott bewahre! Jenes Land kennt weder Neid noch Scheelsucht. Wenn schon hier auf Erden die Heiligen ihr Leben für die Sünder hingeben, um wieviel größer wird dann dort ihre Wonne sein, wenn sie dieselbe im Genusse der ewigen Güter finden und die Seligkeit der anderen für ihre eigene ansehen. Weshalb hat also der Herr diese Form der Rede gewählt? Es handelt sich um ein Gleichnis. Im Gleichnisse darf man aber nicht alles im wörtlichen Sinne erklären wollen man muß vielmehr den Zweck der Rede zu ergründen trachten, ohne viel über das deshalb nachzugrübeln. Warum hat er also ein Gleichnis dieser Art gewählt; was will er damit lehren? Er will jenen, die sich in späteren Jahren erst bekehren, Mut einflößen und sie davon überzeugen, dass sie nicht schlechter daran sind[586] . Darum ist auch die Rede davon, dass die anderen über den Lohn derselben aufgebracht gewesen seien, nicht, als hätten sie sich wirklich gegrämt und geärgert, beileibe nicht, sondern es soll damit nur angedeutet werden, dass sie so ausgezeichnet wurden, dass es den Neid der anderen erregen konnte. Ähnlich machen auch wir es zuweilen, wenn wir sagen: Der oder jener hat mir Vorwürfe gemacht, dass ich dich so sehr geehrt habe, ohne etwa die Betreffenden tadeln oder verleumden zu wollen, sondern nur um hervorzuheben, wie groß die Ehrenbezeigung war. 

   Aber warum hat der Hausvater nicht alle zu gleicher Zeit gedungen? Soweit es auf ihn an kam, hätte er es wohl getan; allein, wenn nicht alle auf einmal folgten, so lag der Grund zu diesem Unterschiede im Willen der Berufenen. Deshalb wurden die einen schon in der Frühe, andere erst um die dritte, andere um die sechste, neunte oder elfte Stunde berufen, weil sie erst dann bereit waren, dem Rufe zu folgen. So lautet auch die Lehre des hl. Paulus: "Als es aber dem gefiel, der mich auserwählt hat vom Schoße meiner Mutter an" (Ga 1,15). Wann gefiel es ihm denn? Als er voraussah, dass Paulus gehorchen würde. Gott hatte den Willen von jeher gehabt, da er aber vorher nicht entsprochen hätte, so gefiel es dem Herrn, ihn zu berufen, als er sah, dass auch er folgen würde. In gleicher Weise berief er auch den Schächer; er hätte ihn auch schon früher berufen können, aber da würde er nicht Folge geleistet haben; denn, wenn selbst Paulus anfänglich nicht gefolgt hätte, dann um so weniger der Schächer. Wenn die Leute im Gleichnisse sprechen: "Es hat uns niemand gedungen", so darf man, wie schon gesagt, in den Gleichnissen die Worte nicht in jeder Beziehung auf die Spitze treiben. In unserem Falle ist es übrigens nicht der Hausvater, der diese Worte spricht, sondern die Arbeiter; und sein Vorhalt hat nicht den Zweck, sie abzustoßen, sondern zu versöhnen. Dass er aber, soviel an ihm lag, alle zu Anfang berufen wollte, macht uns das Gleichnis kund in den Worten: "Er ging am frühen Morgen aus, um Arbeiter zu dingen."



4.

Somit ist in jeder Hinsicht klar, dass das Gleichnis erzählt wurde, sowohl für jene, welche in früher Jugend, als auch für jene, welche im hohen Alter und spät erst sich der Tugend zuwenden; für jene, damit sie nicht etwa voll Hochmut die verachten, welche um die elfte Stunde kommen, für diese, um sie zu lehren, dass man auch in kurzer Zeit alles erreichen könne. Da nämlich der Herr von Dingen redete, die großen Eifer erfordern, vom Hingeben des Vermögens und der Verachtung alles Besitzes und dazu gehört viel Hochherzigkeit und jugendliches Feuer , so suchte er in ihnen die Flamme der Liebe zu entfachen und ihre Bereitwilligkeit zu wecken durch den Hinweis, dass auch die spät Ankommenden den Lohn des ganzen Tages verdienen können. Indes sprach er das nicht so offen aus, damit sie sich nicht etwas einbildeten, sondern führt vielmehr alles auf seine freie Güte zurück und zeigt, dass sie es ihr zu danken haben, wenn sie nicht vom Lohne ausgeschlossen, sondern im Gegenteil eine unbeschreibliche Seligkeit genießen werden. Das ist der Hauptzweck dieses Gleichnisses. Es darf auch nicht befremden, wenn es fortfährt: "Die Letzten werden die Ersten und die Ersten die Letzten sein, denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt." Damit zieht er durchaus keine Folgerung aus dem Gleichnisse; er will damit nur sagen, das eine könne ebenso geschehen, wie das andere geschehen ist. Denn in unserem Falle wurden ja die ersten auch nicht die letzten, alle empfingen vielmehr wider Erwarten denselben Lohn. Gleichwie nun hier die späteren den früheren wider Erwarten gleichgehalten wurden, so kann es noch viel mehr wider Erwarten geschehen, dass die letzten noch vor den ersten und diese erst nach jenen kommen. Es ist somit eine zweifache Anwendung möglich. Meiner Ansicht nach spielt der Herr mit seinen Worten zuerst auf die Juden und auf jene Gläubigen an, die sich anfangs in der Tugend hervortaten, später aber nachließen und deshalb zurückgestellt wurden; dann aber auch auf jene, die sich aus ihrer Lasterhaftigkeit empor rafften und viele überflügelten. Solche Umwandlungen im Glauben und im Leben kann man häufig sehen. 

   Darum bitte ich euch, lasset uns eifrig bestrebt sein, im wahren Glauben standhaft zu bleiben und ein recht tugendhaftes Leben zu führen. Entspricht unser Leben nicht den Grundsätzen des Glaubens, werden wir der schärfsten Strafe verfallen. So zeigt es der hl. Paulus für die Vergangenheit, wenn er schreibt: "Alle haben dieselbe geistige Speise gegessen und alle denselben geistigen Trank getrunken", und fortfährt, dass sie nicht alle gerettet wurden, "denn sie wurden niedergestreckt in der Wüste" (1Co 10,35). Eben so zeigt es Christus für die Zeit der Evangelisten, wenn er erklärt, dass manche, trotzdem sie Teufel austrieben und weissagten, verdammt würden. Und in allen seinen Gleichnissen, z.B. von den Jungfrauen, vom Netze, von den Dornen, von unfruchtbaren Bäumen, verlangt er ein tugendhaftes Leben. Von Glaubenssätzen spricht er nur selten, denn zum Glauben braucht es nicht viel Mühe; vom Leben hingegen spricht er oft, ja eigentlich immer, denn ein tugendhaftes Leben erfordert einen beständigen Kampf, also auch Mühe. Doch was rede ich vom christlichen Leben in seiner Gesamtheit? Wenn man auch einen Teil davon vernachlässigt, so hat das viel Unheil zur Folge. Wenn jemand z.B. nur das Almosengeben vernachlässigt, wird er für solche Lauheit in die Hölle gestoßen, obwohl darin nicht die gesamte Tugendhaftigkeit, sondern nur ein Teil derselben besteht. Gleichwohl wurden die Jungfrauen, weil sie diese Tugend nicht besaßen, der Pein überantwortet; der Reiche wurde aus demselben Grunde ins Feuer geworfen; und wer die Armen nicht speist, wird ebendeshalb mit dem Teufel verdammt. Ferner macht es nur einen sehr geringen Teil der Tugendhaftigkeit aus, wenn man nicht schmäht; trotzdem wird man, wenn man dies nicht übt, aus dem Himmel ausgeschlossen, denn: "Der, welcher zu seinem Bruder gesagt hat: Tor! wird verfallen sein der Gehenna des Feuers" (Mt 5,22). Desgleichen ist auch die Enthaltsamkeit nur ein Teil der Tugendhaftigkeit, und doch wird ohne sie niemand den Herrn schauen, denn: "Frieden erstrebt in allem und die Heiligung, ohne welche keiner Gott sehen wird" (He 12,14). Auch die Demut ist nur ein Teil der Tugendhaftigkeit, und dennoch ist vor Gott unrein, wer die Demut nicht übt, mag er sonst auch andere gute Werke verrichten. Das sieht man deutlich an dem Pharisäer, dem die unzähligen guten Werke, die er aufweisen konnte, nichts nützten, weil ihm die Demut fehlte. 

   Aber noch mehr! Nicht nur dann bleibt uns der Himmel verschlossen, wenn wir eine solche Tugend vernachlässigen, sondern auch, wenn wir es bei der Tugendübung am gebührenden Eifer und Fleiße fehlen lassen, denn der Herr sagt: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nimmer eingehen in das Himmelreich" (Mt 5,20).Wenn du daher auch Almosen gibst, aber nicht mehr als jene, wirst du nicht[587] eingehen. Aber, wieviel Almosen gaben denn jene? fragst du. Das will ich gerade jetzt sagen, damit die, welche nichts geben, sich zum Guten aufraffen, und jene, welche Almosen geben, sich nichts darauf einbilden, sondern vielmehr zu reichlicheren Gaben angeeifert werden. Also wieviel gaben die Pharisäer? Den Zehnten von allem, was sie hatten, dann noch einmal den Zehnten und noch einmal, so dass sie beinahe ein Drittel ihres Besitzes gaben; drei Zehntel ergaben nämlich zusammen soviel. Ferner noch die Erstlingsfrüchte und Erstgeburten und n och manches andere, wie die Sühneund Reinigungsopfer, die Gaben an Festen, in den Jubeljahren, bei Nachlaß der Schulden, Freilassung von Sklaven und zinsfreien Darlehen. Alles das, zu dem Vorhergehenden gezählt, macht die Hälfte des Vermögens aus. Wenn also jemand ein Drittel, ja die Hälfte von seinem Besitze gibt, ohne damit etwas Großes zu leisten, was soll dann einer, der nicht einmal ein Zehntel gibt, für einen Lohn erwarten? Der Herr hat wahrlich recht, wenn er sagt: "Wenige sind es, die gerettet werden."



5.

Wir dürfen darum die Sorge um ein tugendhaftes Leben nicht beiseite setzen. Wenn es schon so großen Schaden bringt, wenn man nur einen Teil der Tugendhaftigkeit außer acht läßt, wie soll man dann der Strafe entgehen, wenn man beim Gerichte nach allen Seiten hin verdammenswert erscheint? Welche Strafe wird uns das nicht zuziehen! Du wendest ein: Wie kann man aber da noch hoffen, gerettet zu werden, wenn jeder der angeführten Punkte uns die Hölle in Aussicht stellt? Ich erwidere: Wenn wir uns in acht nehmen, können wir gerettet werden ; nur müssen wir aus Almosen eine Arznei bereiten, um unsere Wunden zu heilen. Kein Öl kräftigt den Leib in dem Maße, in dem die Nächstenliebe die Seele stärkt, so zwar, dass sie von niemanden überwunden und auch vom Teufel nicht bezwungen werden kann; denn wo er auch anfassen will, muß er abgleiten, weil dieses Öl uns glatt macht, so dass er auf unserem Rücken keinen Anhalt findet. Mit diesem Öle müssen wir uns demnach unablässig salben; es ist die Grundlage unserer Gesundheit, unserer Ausrüstung mit Licht, die Quelle unseres Glanzes. Aber, entgegnest du, der und jener hat so und soviel Talente Gold und gibt doch nichts. Ja, geht denn das dich etwas an? Du wirst nur um so mehr die Bewunderung auf dich ziehen, wenn du trotz deiner Armut freigebiger bist als er. So bewunderte Paulus die Mazedonier, nicht weil sie Almosen gegeben, sondern weil sie trotz ihrer eigenen Armut gegeben hatten. Sieh also nicht auf solche Leute, sondern auf den, der unser aller Lehrmeister ist, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legen konnte. Aber warum tut es der oder jener nicht, fragst du? Wirf dich nicht zum Richter über andere auf; halte lieber dich selbst frei von Schuld. Deine Strafe würde ja nur um so größer ausfallen, wenn du selbst nicht tätest, wessen du andere beschuldigst, wenn du desselben Unrechtes schuldig wärest, wegen dessen du andere richtest. Nicht einmal ein Rechtschaffener darf über andere urteilen, wieviel weniger einer, der selbst fehlt. Darum wollen wir nicht über andere urteilen, nicht auf andere schauen, die leichtsinnig sind, sondern auf Jesum; ihn allein wollen wir uns zum Vorbild nehmen. Oder habe denn ich dir Wohltaten erzeigt? Habe ich dich erlöst, dass du auf mich siehst? Ein ganz anderer ist es, der dir das alles erwiesen hat. Wie kannst du den Herrn beiseite setzen, um auf deinen Mitknecht zu sehen? Hast du nicht gehört, wie er spricht: "Lernet von mir, weil ich sanft bin und demütig von Herzen" (Mt 11,29), und ein andermal: "Wer unter euch erster sein will, soll euer Diener sein, so wie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um zu dienen" (Mt 29,27-28). Dann wieder will er dich von dem Beispiele deiner trägen Mitknechte abziehen, damit du nicht an ihnen Anstoß nehmest und in deiner Launigkeit verharrest, und sagt: "Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr tut, wie ich getan habe" (Jn 13,15). 

   Soll es aber unter den Menschen, die mit dir leben, keinen geben, der dein Tugendlehrer sein kann, keinen, der dich anleiten könnte? Nun gut, dann ist das Lob um so größer, der Ruhm desto hervorragender, wenn du so Bewundernswertes leistest, ohne einen Lehrer gehabt zu haben. Und das ist wohl möglich, ja sogar ganz leicht, wenn wir nur guten Willen haben. Das finden wir bestätigt von jenen Männern, die in der Vorzeit die Vollkommenheit übten, an Noe, Abraham, Melchisedeck, Job und allen anderen, die ihnen glichen. Auf sie mußt du deshalb Tag für Tag hinblicken, nicht auf diejenigen, die ihr in Wirklichkeit beständig nachahmt und in euren Reden im Munde führt. Überall höre ich nämlich nur Reden von euch wie: Der hat so und soviele Morgen Land gekauft; jener ist reich; der dort baut. Was richtest du dein Begehren nach auswärts, o Mensch, was schaust du auf andere? Willst du schon deinen Blick auf andere kehren, so sieh doch auf jene hin, die tugendhaft, die gottesfürchtig sind, die gewissenhaft die Gebote beobachten, nicht auf Leute, die sie übertreten und unwürdig leben. Wenn du auf diese blickst, wird es dir sehr schlimm ergehen, du wirst in Launigkeit und Hochmut verfallen und schließlich über andere richten. Nimmst du dir hingegen die Tugendhaften zum Vorbild, so wirst du infolgedessen zur Demut, zum Eifer und vielen anderen Tugenden dich angespornt fühlen. Höre, wie es dem Pharisäer erging, da er die Tugendhaften geringschätzte und auf die Sünder hinsah. Höre es mit Zittern. Siehe auch, wie bewunderungswürdig David war, weil er seine tugendhaften Ahnen vor Augen hatte: "Ein Pilger und Fremdling bin ich wie alle meine Väter" sagt er (Ps 38,13). So wie er, halten es auch alle, die derselben Gesinnung waren; nicht an die Sünder kehrten sie sich, sondern merkten nur auf die Rechtschaffenen. Mache es auch so! Wirf dich nicht zum Richter über die Fehler anderer auf, noch zum Späher nach den Sünden des Nebenmenschen. Über dich selbst sollst du zu Gericht sitzen, nicht über andere; so ist es befohlen, denn wir lesen: "Wenn wir uns selber richteten, würden wir nicht gerichtet werden. Wenn wir aber gerichtet werden von dem Herrn, werden wir gezüchtigt" (1Co 11,31-32).Du aber kehrst die Ordnung um; von dir selbst forderst du keine Rechenschaft, weder über große noch über kleine Vergehen; bei anderen kannst du es nicht genau genug nehmen. 

   Wohlan, wir wollen nicht mehr so handeln, wir wollen solcher Verkehrtheit ein Ende machen; über unsere eigenen Fehler wollen wir in uns einen Richterstuhl aufstellen und wollen unsere eigenen Vergehungen anklagen, richten und züchtigen. Und willst du dich schon mit anderen Leuten beschäftigen, so kümmere dich um ihre Tugenden, nicht um ihre Fehler. Dann werden wir durch die Erinnerung an unsere eigenen Sünden, durch den Eifer, den andere in guten Werken zeigen und durch die Vergegenwärtigung des unbestechlichen Gerichtes täglich wie mit einem Stachel von unserem Gewissen angetrieben, uns selbst zur Demut und immer größerem Eifer anspornen, und so die ewigen Güter erlangen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem zugleich mit dem Vater und dem Hl. Geiste Ruhm, Macht und Ehre sei jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!





Fünfundsechzigste Homilie. Kap. XX, V.17-28.

65 Mt 20,17-28
1.

V.17: "Und während Jesus hinaufging nach Jerusalem, versammelte er die zwölf Jünger unterwegs allein um sich und sprach zu ihnen: 

   V.18; Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden, und sie werden ihn zum Tode verurteilen, 

   V.19: und sie werden ihn den Heiden überliefern zur Verspottung und Geißelung und Kreuzigung, und am dritten Tage wird er auferstehen." 

   Der Herr begibt sich nicht unmittelbar aus Galiläa nach Jerusalem. Er wirkte erst noch Wunder, brachte die Pharisäer zum Schweigen und gab den Jüngern gute Lehren. Über die Armut sagte er:"Willst du vollkommen sein, so verkaufe, was du hast" (Mt 19,21); über die Jungfräulichkeit: "Wer es fassen kann, der fasse es" (Mt 19,12), über die Demut: "Wenn ihr euch nicht bekehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen" (Mt 18,3); ferner über den Lohn im Diesseits:"Jeder, der verläßt Haus, Bruder und Schwestern, wird Hundertfaches erhalten in diesem Leben", und über die Vergeltung im Jenseits: "und das ewige Leben erlangen" (Mt 19,29). Erst nachdem er alles dieses vollendet hatte, näherte er sich der Stadt. Und nun, da er im Begriffe ist, sie zu betreten, kommt er wieder auf sein Leiden zu sprechen. Die Jünger wünschten, es möchte dies nicht eintreten, und hätten darum leicht darauf vergessen können. Darum erinnert er sie immer wieder daran, um durch häufige Erwähnung ihr Herz mit diesem Gedanken vertraut zu machen und zugleich ihre Niedergeschlagenheit darüber zu beseitigen. Er mußte aber ganz allein mit ihnen davon reden, weil es nachteilig gewesen wäre, wenn diese Kunde unter die Leute gedrungen und offen davon gesprochen worden wäre. Wurden schon die Jünger bei der Mitteilung darüber bestürzt, wieviel mehr hätte das bei dem gewöhnlichen Volke der Fall sein müssen. Wie aber, fragst du, wurde das Volk nicht auch damit bekannt gemacht? Allerdings, auch dem Volke wurde es mitgeteilt. Aber nicht so deutlich. So z.B. sagte der Herr: "Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten" (Jn 2,19); "Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht begehrt ein Zeichen, und ein Zeichen wird ihm nicht gegeben werden, "außer dem Zeichen des Jonas, des Propheten" (Mt 12,39); "Noch eine kurze Zeit bin ich bei euch, und ihr werdet mich suchen und nicht finden" (Jn 7,33-34). Mit den Jüngern redete er nicht so geheimnisvoll von seinem Leiden, sondern offen, wie ja auch über andere Dinge. Wozu redete er aber zum Volke hierüber, wenn es den Sinn seiner Worte doch nicht verstand? Weil sie es in der Folge erkennen sollten, dass er mit Wissen und Willen, nicht ahnungslos oder genötigt seinem Leiden entgegenging. Bei den Jüngern war aber nicht bloß dieser Grund maßgebend, sondern, sie sollten, wie schon erwähnt, durch das Vorherwissen mit seinem Leiden vertraut werden, um sich seinerzeit leichter dareinzufinden; nicht unvorbereitet sollten sie davon überrascht werden, damit sie nicht die Fassung verlören. Deshalb sprach er anfangs bloß von seinem Tode; nachdem sie sich aber an diesen Gedanken gewöhnt hatten und damit vertraut waren, fügte er auch die näheren Umstände hinzu. z.B., dass man ihn den Heiden überliefere, dass man ihn verspotten und geißeln werde. Noch ein weiterer Grund bewog ihn dazu, nämlich, dass sie auch seine Auferstehung mit Zuversicht erwarteten, wenn sie sähen, wie all das Entsetzliche in Erfüllung gegangen war. Billigerweise verdient doch derjenige auch in Bezug auf Freudiges Glauben und Vertrauen, wer Schmerzliches und scheinbar Schmachvolles nicht verschwiegen hat. Beachte auch, wie passend der göttliche Heiland die rechte Zeit für seine Zwecke wählt. Hätte er gleich im Anfange seines Auftretens von seinem Leiden gesprochen, so wären die Jünger wohl irre geworden; auch im Verlaufe seiner Wirksamkeit wären sie durch solche Eröffnungen außer Fassung geraten. Jetzt erst, nachdem sie hinreichende Beweise seiner Macht gesehen, nachdem sie die großen Verheißungen über das ewige Leben erhalten hatten, lenkt er seine Rede auf sein Leiden; nun aber nicht bloß ein oder zweimal, sondern häufig, indem er dabei auch mit Wundern und Lehren abwechselt. Ein anderer Evangelist berichtet, der Herr habe sich auch auf das Zeugnis der Propheten berufen, und wieder ein anderer erzählt, seine Jünger hätten seine Worte nicht verstanden; der Sinn sei ihnen verborgen geblieben und sie seien ihm voll Staunen gefolgt (Lc 18,31 Mc 10,32). 

   Also wendest du ein, war der Zweck seiner Weissagung vereitelt? Denn wenn sie nicht verstanden, was sie hörten, so konnten sie[588] auch nicht erwarten und somit auch nicht in der Hoffnung gestärkt werden. Und ich will noch eine schwierigere Frage hinzufügen: Wenn sie ihn nicht verstanden, woher dann ihre Traurigkeit? Ein anderer Evangelist sagt nämlich, sie seien betrübt geworden. Wenn sie ihn nun nicht verstanden, wie konnten sie traurig werden? Wie konnte Petrus sagen: "Das sei ferne von Dir, das darf nicht eintreten"? (Mt 16,22). Wie soll man diese Widersprüche erklären? Die Apostel wußten zwar, dass Jesus sterben werde, wenn sie auch das Geheimnis der Erlösung nicht ganz klar erfaßten, ebensowenig als sie seine Auferstehung ganz begriffen und was er damit bezweckte; das alles waren für sie Rätsel. Daher ihre Betrübnis. Sie waren zwar Augenzeugen gewesen, dass Tote von anderen Menschen auferweckt wurden, allein, sie wußten noch nicht, dass jemand von selbst auferstehen kann, und zwar, um gar nie mehr zu sterben. So etwas überstieg ihr Fassungsvermögen, mochte es ihnen auch wiederholt gesagt werden, wie sie auch nicht recht begriffen, was es mit seinem Tode für eine Bewandtnis habe, und unter welchen Umständen er eintreten solle. Deshalb heißt es, dass sie ihm voll Staunen folgten. Mir will scheinen, auch deshalb, weil sie sich entsetzten, dass er überhaupt von seinem Leiden redete.



2.

Alle seine Bemühungen, auch die wiederholten Hinweise auf seine Auferstehung, waren aber nicht imstande, sie mit Zuversicht zu erfüllen; denn nicht bloß die Erwähnung seines Todes setzte sie in Bestürzung, sondern vor allem auch die näheren Umstände, dass er werde mißhandelt, gegeißelt werden und dergleichen. Nachdem sie gesehen hatten, welche Wunder er gewirkt hatte, wie er Besessene befreite, Tote erweckte und viele andere Zeichen tat, und nun solche Dinge hören mußten, da mochte es sie freilich bestürzen, dass einen solchen Wundertäter dergleichen Leiden treffen sollten. Daraus erklärt sich ihr schwankendes Verhalten, dass sie bald glaubten, bald ungläubig waren und seine Reden nicht begriffen. So wenig war ihnen der Sinn seiner Worte klar, dass unmittelbar darauf die Söhne des Zebedäus vor ihn hintraten, und über ihren Vorrang mit ihm zu reden. "Meister", sagten sie nach dem Berichte des Markus, "wir möchten, dass der eine zu Deiner Rechten, der andere zu Deiner Linken sitze" (Mc 10,35 Mc 10,37). Wie kommt es nun, dass unser Evangelist erzählt, ihre Mutter sei hinzugetreten? Es wird eben beides geschehen sein. Sie werden ihre Mutter zugezogen haben, um ihrer Bitte mehr Nachdruck zu geben, um so bei Christus leichter Erhörung zu finden. Dass dem wirklich so ist, dass die Bitte eigentlich von ihnen ausging, und dass sie die Mutter nur aus Verschämtheit vorschoben, kannst du daraus entnehmen, dass Christus sich in seiner Antwort an die beiden wendet. 

   Zuerst wollen wir aber untersuchen, um was sie zunächst bitten, in welcher Absicht und wie sie dazu kamen? Wie sie dazu kamen? Sie hatten beobachtet, dass sie mehr als die übrigen in Ansehen standen, und erwarteten infolgedessen auch, mit ihrem Anliegen sicherer erhört zu werden. Welches ist aber der Inhalt ihrer Bitte? Hören wir, wie ein anderer Evangelist dies klar darlegt. Darum, erzählt er, hätten sie dieses Ansinnen gestellt, weil sie in der Nähe von Jerusalem sich befanden und meinten, das Reich Gottes stehe unmittelbar bevor (Mc 10,33). Sie waren der An sicht, sein Reich sei ein sichtbares und werde bald eröffnet, und dann würden sie keine Widerwärtigkeiten mehr zu ertragen haben, wenn sie einmal erreicht hätten, worum sie baten. Zu dem ersten Grunde ihrer Bitte gesellte sich also noch ein anderer: sie wollten aller Trübsale überhoben sein. Darum wendet sich Christus in seiner Antwort zunächst gegen diese Anschauung, indem er ihnen einen gewaltsamen Tod, Gefahren aller Art und sonstige fürchterliche Dinge in Aussicht stellt. 

   V.22: "Könnt ihr den Kelch trinken, welchen ich trinken werde?" 

   fragt er. Verwundere dich aber nicht, dass die Apostel so unvollkommen waren. Noch war ja der Herr nicht am Kreuz gestorben, noch war der Hl. Geist nicht über sie gekommen. Willst du sehen, wie tugendhaft sie waren, so mußt du sie nachher betrachten, und du wirst finden, dass sie dann über jede Seelenschwäche erhaben sind. Drum eben deckt der Herr auch ihre Unvollkommenheit auf, damit du erkennest, was sie durch die Gnade geworden sind. Das eine geht also aus dem Vorausgehenden klar hervor, dass sie um nichts Geistliches baten und von einem übernatürlichen Reiche keine Ahnung hatten. 

   Nun aber wollen wir auch sehen, wie sie zum Herrn hintraten und was sie sagen. "Wir wünschen", lauten ihre Worte. "dass Du uns gewährest, um was wir Dich bitten möchten." Er aber sprach zu ihnen: " Was wollt ihr?" obgleich er weiß, was sie begehren. Er will sie nur nötigen, durch eine Antwort ihre Wunden zu enthüllen, um dann seine Heilmittel aufzulegen. Da erröteten sie aus Scham darüber, dass sie sich von menschlicher Schwäche soweit hatten verleiten lassen; deshalb führten sie den Herrn abseits von den Jüngern und trugen ihm, so ihre Bitte vor. Sie schritten ihm voraus, heißt es; es sollte eben den anderen nicht bekannt werden, was sie wünschten; und so brachten sie denn ihren Wunsch vor. Meiner Ansicht nach baten sie um den Vorsitz, weil sie gehört hatten: "Ihr werdet auf zwölf Thronen sitzen" (Mt 19,28). Sie waren sich wohl bewusst, vor den übrigen etwas voraus zu haben; nur den Petrus fürchteten sie noch; daher ihre Bitte: "Sprich, dass einer zu Deiner Rechten und einer zu Deiner Linken sitze"; mit einer gewissen Zudringlichkeit äußern sie ihr:"Sprich." Und Christus? Um ihnen zu zeigen, dass ihr Verlangen auf nichts Geistliches gerichtet sei, und dass sie es nicht gewagt hätten, eine solche Bitte zu stellen, wenn sie eingesehen hätten, worum sie baten, spricht er: "Ihr wisset nicht, um was ihr bittet", wie groß, wie wunderbar es ist, wie sehr es auch die himmlischen Kräfte übersteigt. Dann fährt er fort: "Könnt ihr den Kelch trinken, welchen ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit welcher ich mich taufen lasse?" (Mc 10,38) Siehst du, wie rasch er sie von ihrem Begehren abbringt und von etwas ganz Entgegengesetztem mit ihnen spricht? Er will sagen: Ihr redet mit mir von Rang und Ehrenstellen, ich rede mit euch von Kampf und Mühen. Jetzt ist noch nicht die Zeit für Belohnungen, meine Herrlichkeit wird jetzt noch nicht offenbar; jetzt handelt es sich vielmehr um Tod und Kampf und Gefahren. 

   Beachte ferner, wie er sie auch durch die Art und Weise der Frage aufmuntert und anspornt. Er sagte nicht: Könnt ihr es ertragen, hingemordet zu werden? Seid ihr imstande, euer Blut zu vergießen? Sondern wie? "Könnt ihr den Kelch trinken?" und dann zu ihrer Ermutigung: "welchen ich trinken werde, um sie bereitwilliger zu machen durch den Hinweis darauf, dass er es mit ihnen tun werde. Auch nennt er es eine Taufe, und deutet damit an, dass durch sein Leiden die ganze Welt gereinigt werden sollte. Sie erwiderten: "Wir können es."In ihrem Eifer machen sie sich sofort anheischig, ohne eigentlich zu wissen, was sie sagten; sie waren nur voll Erwartung, die Erhörung ihrer Bitte zu erlangen. Was antwortet nun Christus? Er sagte zu ihnen: "Meinen Kelch allerdings werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich mich taufen lasse, werdet ihr getauft werden" (Mc 10,39). Wahrlich, große Gnaden weissagte er ihnen, nämlich: Ihr werdet des Martyriums gewürdigt werden, ihr dürft dasselbe leiden wie ich, das Leben durch Gewalt verlieren und hierin meine Gefährten sein. 

   V.23: "Das Sitzen aber zu meiner Rechten oder Linken euch zu geben steht nicht bei mir, sondern es kommt denjenigen zu, welchen es bereitet worden ist von meinem Vater."



3.

Zuerst also erhebt er ihre Herzen, richtet sie empor und macht sie unüberwindlich gegenüber dem Leiden; dann stellt er erst ihre Bitte richtig. Was bedeuten nun aber seine letzten Worte? Zwei Fragen werden oft gestellt: Erstens, ob es jemanden bestimmt ist, zu seiner Rechten zu sitzen; zweitens, ob derjenige, der Herr ist über alles, nicht auch die Macht habe, es denen zu gewähren, welchen es bestimmt ist? Welches ist also der Sinn seiner Worte? Wenn wir die erste Frage beantworten, wird auch die zweite von selbst klar. Wie heißt also die erste Antwort? Niemand wird zu seiner Rechten oder Linken sitzen, denn sein Thron ist niemand unzugänglich; keinem Menschen, sage ich, weder Heiligen noch Aposteln, auch nicht den Engeln oder Erzengeln oder sonst einer der himmlischen Mächte. Der hl. Paulus bezeichnet es ausdrücklich als einen Vorzug des Eingeborenen: "Zu welchem der Engel hat er je gesprochen: Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich mische deine Feinde zum Schemel deiner Füße?" Und zu den Engeln sagt er: "Der seine Engel zu Winden macht"; zu dem Sohne aber: "Dein Thron, o Gott, ist in Ewigkeit der Ewigkeiten" (He 1,13 He 1,7 He 1,8). Wie kann er also sagen: "Das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken zu geben steht nicht bei mir",als ob es doch solche gäbe, die diesen Platz einnehmen? Es gibt aber keine, durchaus nicht. Die Antwort ist vielmehr im Sinne der Fragestelle gehalten und ihrer Anschauungsweise angepaßt. Die beiden hatten keine Ahnung von der Erhabenheit jenes Thrones und von dem Sitze zur Rechten des Vaters; sie verstanden ja selbst viel Einfacheres nicht, was der Herr ihnen doch tagtäglich vortrug. Nur auf ein Ziel war ihr Verlangen gerichtet, die ersten Platze einzunehmen und an der Spitze der übrigen zu stehen, so dass an seiner Seite niemand vor ihnen käme. Sie hatten, wie ich schon erwähnte, von zwölf Thronsitzen gehört, ohne zu verstehen, was darunter gemeint sei, und darum baten sie ihn um den Vorrang. 

   Christus will demnach folgendes sagen: Ihr werdet meinetwegen sterben müssen, man wird euch wegen eurer Predigt hinschlachten, so werdet ihr im Leiden mir nachfolgen; allein das ist bei weitem noch nicht genug, um euch den ersten Platz zu verschaffen und den Vorsitzt zu erwerben. Denn wenn ein anderer käme, der zu dem Martyrium auch noch alle anderen Tugenden in weit höherem Maße als ihr besäße, so könnte meine jetzige Liebe zu euch, und der Vorzug, den ich euch einräume, mich nicht bestimmen, jenen mit all seinen guten Werken zurückzusetzen, um euch den Vorrang zu geben. Doch sagt Jesus nicht ausdrücklich so, um sie nicht zu kränken, sondern läßt es bloß wie ein Rätsel durchblicken in den Worten: "Meinen Kelch werdet ihr freilich trinken, und mit der Taufe, womit ich mich taufen lasse, getauft werden; das Sitzen aber zu meiner Rechten oder Linken steht nicht bei mir euch zu geben, sondern denen es bereitet ist von meinem Vater." Wem ist es nun aber bereitet? Denjenigen, die sich durch ihre Werke empfehlen. Deshalb lauten seine Worte auch nicht etwa: Das zu geben ist nicht meine Sache, sondern die des Vaters; dadurch hätte man auf die Meinung verfallen können, er habe nicht die Macht oder Fähigkeit zu vergelten; vielmehr sagt er: "Das hängt nicht von mir ab, sondern von denjenigen, welchen es bereitet ist." 

   Um mich deutlicher auszudrücken, will ich ein Beispiel anführen. Denken wir beide, es finde ein Wettkampf statt. Viele vorzügliche Ringer treten auf den Plan, unter ihnen auch Athleten, die mit dem Kampfrichter besonders gut bekannt sind. Im Vertrauen auf sein Wohlwollen und seine Freundschaft sagen sie zu ihm: Richte es so ein, dass wir den Kranz gewinnen und als Sieger ausgerufen werden. Der Kampfrichter entgegnet: Das hängt nicht von mir ab, sondern von denen, welchen es auf Grund ihrer Mühen und Anstrengungen bereitet ist. Würden wir ihn nun der Schwäche zeihen? Gewiss nicht, sondern im Gegenteil seinem Gerechtigkeitssinn und seiner Unparteilichkeit unseren Beifall zollen. Wir würden also nicht behaupten, dieser Mann habe es nicht in seiner Gewalt gehabt, den Kranz zu erteilen, sondern sagen, er habe es nicht getan, um die Gesetze des Wettkampfes nicht zu verletzen und die Ordnung der Gerechtigkeit nicht zu durchbrechen; dasselbe möchte ich auch hier von Christus annehmen. Seine Worte zielten darauf hin, die Jünger auf alle mögliche Weise dahin zu bringen, dass sie nächst der Gnade Gottes ihre Hoffnung auf das Heil und die ewige Seligkeit nur in die Übung guter Werke setzten. Das bedeuten die Worte: "Denen es bereitet ist." Damit will er sagen: Wie, wenn andere sich besser bewähren als ihr? wenn sie Größeres leisten? Ihr wollt nicht etwa, weil ihr meine Jünger seid, den Vorrang vor anderen haben, auch in dem Falle, dass ihr euch eurer Erwählung nicht würdig erweiset? Denn dass er der Herr über alles ist, geht daraus hervor, dass er das Richteramt über alles hat. So sagte er zu Petrus: "Dir will ich die Schlüssel des Himmelreiches geben" (Mt 16,19), und Paulus lehrt ein Gleiches: "Im übrigen ist mir hinterlegt der Kranz der Gerechtigkeit, welchen mir an jenem Tage geben wird der Herr, der gerechte Richter, aber allein mir, sondern auch all denen, welche seine Ankunft liebgewonnen haben" (2Tm 4,8). Christus aber ist schon erschienen, und dass niemand vor Paulus zu stehen kommen wird, leuchtet wohl jedem ein. 

   Es darf aber nicht befremden, dass sich der Herr nicht deutlich ausgesprochen hat. Dadurch erreicht er eben einen doppelten Zweck; erstens schlägt er ihr Ansinnen[589] schonend ab, so dass sie ihn nicht mehr wegen des Vorranges ganz nutzund zwecklos belästigen, und zweitens brauchte er sie so nicht zu betrüben. 

   V.24: "Da wurden die Zehn unwillig über die zwei Brüder." 

   Wann: damals? Nachdem der Herr sie zurechtgewiesen hatte. Solange es sich nur um die Auszeichnung seitens Christi handelte, waren sie nicht unwillig geworden, und obwohl sie die Bevorzugung der beiden wahrgenommen hatten, nahmen sie es schweigend hin aus Ehrfurcht und Hochachtung vor dem Meister, und wenn es sie auch in der Seele schmerzte, sie wagten doch nicht, es zu zeigen. Und selbst als sie Petrus gegenüber wegen der Doppeldrachme dasselbe Gefühl empfunden hatten, waren sie nicht ärgerlich geworden, sondern hatten nur gefragt: "Wer ist etwa der größte?" (Mt 18,1). Jetzt hingegen, da die beiden selbst eine solche Bitte gestellt hatten, wurden sie unwillig, und zwar auch noch nicht sogleich, als das Ansinnen gestellt wurde, sondern erst, nachdem Christus es ihnen abgeschlagen mit der Erklärung, sie würden die ersten Plätze keineswegs einnehmen, wenn sie sich derselben nicht würdig zeigten.



4.

Fällt es dir nicht auf, dass alle Apostel noch recht unvollkommen sind, indem die einen sich über die zehn anderen erheben, und diese auf die beiden eifersüchtig sind? Aber, wie schon erwähnt, mußt du sie später anschauen und du wirst finden, dass sie alle Verkehrtheiten abgelegt haben. Höre z.B.,wie eben dieser Johannes, der jetzt ein solches Anliegen vorgebracht hatte, in der Apostelgeschichte überall dem Petrus den Vortritt läßt, so oft dieser predigt oder Wunder wirkt. Weit entfernt, dessen Tugenden zu verschweigen, berichtet er vielmehr, dass derselbe die Gottheit Christi bekante, während alle anderen kein Wort hervorbrachten, und dass er[590] in das Grab eintrat. Immer setzt er sich dem Petrus nach. Leider hatten sie bei dem Gekreuzigten ausgeharrt; dennoch sagt er bloß, um sein eigenes Lob zu meiden: "Jener Jünger war dem Hohenpriester bekannt" (Jn 18,15). Jakobus lebte nicht mehr gar lange. Gleich von allem Anfange war er so voll Eifer, dass er alle menschlichen Schwächen ablegte, und erreichte eine so große Tugendhaftigkeit, dass man ihn bald umbrachte. So hoch stiegen sie also später in allen Tugenden. Damals aber gaben sie dem Unwillen nach. Was antwortet also der Herr? 

   V.25: "Jesus aber rief sie zu sich und sprach: Ihr wisset, dass die Fürsten der Heiden Gewaltherrscher sind über dieselben. 

   Um ihre Aufregung und Entrüstung zu beschwichtigen, ruft er sie zu sich und zieht sie in seine Nähe. Die beiden hatten sich nämlich von den andere zehn getrennt und standen näher bei ihm, um mit ihm allein reden zu können. Er ruft nun auch die anderen zu sich und teilt ihnen das Zwiegespräch offen mit, um auf diese Weise beide Parteien von ihrer Untugend zu heilen. Hierbei schlägt er jedoch einen anderen Weg ein als kurz zuvor, wo er ein Kind vor sie hingestellt hatte mit der Aufforderung, dessen Einfalt und Demut nachzuahmen. Jetzt bedient er sich eines eindringlicheren Mittels, indem er auf das gerade Gegenteil hinweist. Er sagt: "Die Fürsten der Heiden sind Gewaltherrscher über dieselben und die Großen üben Macht an ihnen aus. 

   V.26: "Nicht so wird es sein unter euch; sondern wer immer unter euch groß werden will, sei der Diener aller. 

   V.27: Und wer unter euch der erste sein will, soll unter allen der letzte sein." 

   Hiermit gibt er zu verstehen, dass es heidnische Gesinnung verrät, wenn man nach den ersten Stellen trachtet. Denn diese Leidenschaft ist gar gewalttätig und lastet oft auch auf großen Männern. Man muss ihr deshalb auch schärfer zu Leibe gehen. Daher der Vergleich mit den Heiden, um den Jüngern tiefer in die Seele zu greifen und sowohl die Eifersucht der einen, als die Überhebung der anderen auszurotten. Er will gleichsam sagen: Grollet nicht, als wäre euch eine Schmach angetan worden. Wer so sehr auf die ersten Plätze erpicht ist, schadet und beschämt sich ja selbst am meisten, denn er wird den letzten Platz erhalten. Bei uns ist es nicht so, wie bei den Heiden, deren Fürsten eine Gewaltherrschaft über sie ausüben; bei mir ist derjenige der erste, welcher der letzte ist. Dass es mir damit wirklich ernst ist, mag dir mein Leben und Leiden beweisen. Ich habe ja noch weit mehr getan. Trotzdem ich König der himmlischen Gewalten bin, wollte ich doch Mensch werden und habe mich vielfacher Verachtung und Mißhandlung unterworfen. Ja selbst das genügte mir noch nicht; ich habe sogar den Tod auf mich genommen. Deshalb fuhr er auch fort: 

   V.28: "Der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." 

   Er will sagen: Auch der Tod war mir noch nicht genug, sondern ich gab mein Leben als Lösegeld hin für wen? Für meine Feinde. Wenn du gedemütigt wirst, so ist es zu deinem eigenen Vorteile, ich aber bin gedemütigt worden für dich. Fürchte also nicht, du könntest die Achtung einbüßen. Magst du auch noch so tief gedemütigt werden, du kannst nicht so weit hinuntersteigen wie dein Herr. Und doch ist diese Erniedrigung zur Erhöhung für alle geworden, und hat seine Herrlichkeit ans Licht gebracht. Ehe er Mensch wurde, kannten ihn bloß die Engel; durch seine Menschwerdung und seinen Kreuzestod ist er auch der Menschheit bekant geworden und hat damit eine neue Herrlichkeit gewonnen, ohne die anfängliche zu schmälern. Fürchte sonach auch du nicht, du könntest an Ehre verlieren, wenn du dich verdemütigst; im Gegenteil, du wirst an Ansehen nur noch gewinnen und wachsen. Dies ist das Tor, durch das man in den Himmel eingeht. Schlagen wir also nicht den entgegengesetzten Weg ein, und führen wir nicht gegen uns Krieg. Wenn wir groß erscheinen wollen, werden wir nicht groß sein, sondern weniger geachtet werden als die andere. Hast du gemerkt, wie der Herr bei jeder Gelegenheit die Apostel anregt, durch das Gegenteil von dem, was sie wollten, die Erfüllung ihrer Wünsche zu erreichen? Schon früher haben wir auf dieses Vorgehen zu wiederholten Malen hingewiesen, so bei seiner Rede über die Habsucht und über den Ehrgeiz. Da sagte er einmal: Warum übest du Barmherzigkeit in den Augen der Menschen? Um gelobt zu werden? Gut, tue es nicht aus diesem Grunde und du wirst bei allen Lob ernten. Warum sammelst du Schätze? Um reich zu werden? Gut, sammle dir keine und du wirst wirklich reich werden. Ähnlich macht er es auch in unserem Falle. Warum strebst du nach dem ersten Platze? Um über den anderen zu stehen? Gut, suche dir den letzten Platz aus und du wirst den ersten erhalten. Willst du also groß werden, so trachte nicht nach Größe und du wirst in Wahrheit groß sein. Das andere wäre in Wahrheit klein.



5.

Siehst du, so heilt Jesus die Apostel von dieser Krankheit. Er zeigt ihnen, wie es kommt, dass die einen ihr Ziel verfehlen, die anderen es erreichen; damit will er sie antreiben, dass sie das eine meiden, das andere suchen. Die Heiden erwähnte er, um anzudeuten, wie schimpflich und abscheulich ein solches Streben sei. Ein Hochmütiger muss ja notwendigerweise erniedrigt, ein Demütiger hinwieder erhöht werden. Darin eben liegt die wahre und echte Hoheit, nicht jene, die hiervon nur den äußeren Namen hat. Äußerliche Größe beruht nur auf Furcht oder Zwang, die wahre Größe bleibt erhaben, auch wenn niemand sie bewundert, während der Hochmut trotz allseitiger Huldigung doch niedrig ist. Diese Huldigung geht eben nur aus Zwang hervor und hat darum keinen Bestand; der wahren Größe huldigt man aus Überzeugung und darum auch immer. Warum bewundern wir denn die Heiligen? Eben weil sie sich mehr als alle verdemütigten, obschon sie hoch über allen standen, und diese Größe ist ihnen bis auf den heutigen Tag geblieben; auch der Tod konnte sie ihnen nicht nehmen. Das läßt sich aber auch, wenn ihr wollt, aus der Vernunft dartun. Groß nennt man einen Menschen, wenn er entweder hochgewachsen oder gerade an einem hohen Orte steht; im umgekehrten Falle heißt er klein. Sehen wir nun, wer groß ist, ein Hochmütiger oder ein Bescheidener? Du wirst finden, dass es nichts Größeres gibt als die Demut, nichts Niedrigeres als den Hochmut. Ein Eitler will größer sein als die anderen, bildet sich ein, niemand sei ihm ebenbürtig; mag man ihm noch so viel Ehre antun, er meint, es sei immer noch zu wenig und trachtet gierig nach immer mehr; er verachtet die Menschen und will doch von ihnen geehrt werden. Kann es etwas Widersinnigeres geben? Es ist ein reines Rätsel: er will bei Leuten in Ansehen stehen, auf die er gar nichts gibt. Siehst du, wie er bei seinem Jagen nach Erhöhung fällt und am Boden liegt? Dass er alle Menschen im Vergleich zu seiner Person für nichts hält, zeigt er selber klar: darin besteht ja der Hochmut. Was kann dir also an einem liegen, der nichts ist? Warum strebst du darnach, von ihm geehrt zu werden? Wozu läßt du dich von ganzen Scharen begleiten? Siehst du also ein, wie klein ein solcher ist und wie er auf Kleinen steht? 

   Fassen wir jetzt einen wahrhaft Großen ins Auge! Ein solcher ist sich bewusst, was es Großes ist um einen Menschen; er weiß, dass jeder Mensch etwas Großes ist, erachtet sich für den letzten unter allen und sieht deshalb jede Ehre, die man ihm erweist, für etwas Großes an. Er bleibt sich selbst treu, bleibt wirklich erhaben und wechselt seine Meinung nicht. Weil er alle Menschen für groß hält, so erachtet er auch ihre Ehrenbezeigungen für groß, wenn sie auch an sich nur unbedeutend sind, eben weil er jene für groß hält. Der Hochmütige hingegen sieht die Ehrerweise für groß an, indes die Menschen, die ihm Ehre erweisen, ihm nichts gelten. Der Demütige liegt ferner nicht in den Fesseln irgendeiner Leidenschaft gefangen; weder der Zorn noch Ehrgeiz, weder Neid noch Eifersucht beherrschen ihn. Kann es aber wohl etwas Erhabeneres geben, als eine Seele, die aller dieser Leidenschaften ledig ist? Der Hochmütige ist ganz in ihnen verstrickt, wie ein Wurm, der sich im Schmutze wälzt; Eifersucht, Neid, Zorn haben immer die Oberhand in seiner Seele. Wer ist nun der größere? Der über die Leidenschaften erhaben oder der ihr Knecht ist? Wer sich ihnen zitternd und bebend ergibt, oder wer sich ihnen nicht unterwirft, nicht in ihren Fesseln schmachtet? Wann sagt man, ein Vogel fliege hoch? Wenn er so hoch fliegt, dass ihn die Hand und das Rohr des Jägers nicht erreichen kann, oder wenn er am Boden herumflattert, ohne sich in die Luft erheben zu können, so dass der Jäger gar keines Rohres bedarf, um ihn zu erbeuten? Zu letzterer Art gehört auch der Hochmütige, er kriecht gleichsam am Boden dahin und kann mit jeder Schlinge leicht gefangen werden.



6.

Ein gleiches ergibt sich, wenn man einen Vergleich mit dem bösen Feinde zieht. Gibt es etwas Gemeineres als den Teufel, der sich selbst überhoben hat? Gibt es etwas Erhabeneres als einen Menschen, der sich selbst verdemütigen will? Der Teufel kriecht auf der Erde hin und liegt unter unseren Füßen, darum heißt es: "Wandelt auf Schlangen und Skorpionen" (Lc 10,19); der Demütige dagegen steht mitten unter den Engeln. Auch an aufgeblasenen Menschen kann man diese Beobachtung machen. Sieh nur auf jenen Heiden[591] ,der an der Spitze eines gewaltigen Heeres stand, dabei aber nicht wußte, was alle wissen, dass ein Stein nur Stein, ein Bild nur ein Bild ist; somit stand er noch tiefer als diese Dinge. Die Gottesfürchtigen und Gläubigen hingegen erheben sich sogar über die Sonne empor. Kann es also etwas Größeres geben als sie? Selbst über die Gewölbe des Himmels steigen sie hinaus und schreiten an den Engeln vorüber, um vor den Thron des Königs selbst hinzutreten. 

   Um dir die Nichtigkeit der Hoffart noch von einer anderen Seite zu zeigen, frage ich: Wer wird erniedrigt werden, einer, dem Gott beisteht oder dem er feind ist? Offenbar der letztere. Vernimm nur, was die Schrift von beiden sagt: "Gott widersetzt sich den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade" (Jc 4,6). Noch eine andere Frage richte ich an dich. Wer ist größer, einer, der Gott als Priester dient und ihm Opfer darbringt, oder der ihm ferne steht und zu ihm keine näheren Beziehungen hat? Ja, was für ein Opfer bringt denn der Demütige? fragt du. Höre, was David singt: "Ein Opfer vor Gott ist ein betrübter Geist; ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, o Gott, nicht verschmähen" (Ps 50,19). Siehst du, das ist seine Reinheit. Nun siehe auch auf die Unreinheit des anderen: "Unrein vor dem Herrn ist jeder Hoffärtige" (Pr 16,5). Zudem ruht der Blick des Herrn mit Wohlgefallen auf dem Demütigen:"Auf wen werde ich schauen, wenn nicht auf den Armen und im Geiste Gebeugten, und auf den, der zittert vor meinen Worten" (Is 66,2) Der Aufgeblasene läßt sich vom Teufel umherschleppen, es wird ihm gerade so gehen wie dem Teufel. Daher die Worte Pauli: "Dass er nicht, zum Stolze erhoben, in das Gericht des Teufels verfalle" (1Tm 3,6). Alle seine Pläne schlagen ihm immer ins Gegenteil um; er ist aufgeblasen, weil er nach Ehre hascht und ist doch gerade der Allerverachtetste. Er ist meist von allen verlacht, allen verhaßt und zuwider, von seinen Feinden leicht zu fassen, zum Zorne geneigt und unrein vor Gott. Was gibt es also Nichtigeres als eine solche Seele? Weiter kann das Elend gar nicht mehr gehen. Gibt es andererseits etwas Lieblicheres als die Demütigen? Sie sind die glücklichsten, denn vor Gott sind sie angenehm und wohlgefällig und stehen auch bei den Menschen in Ansehen, werden von allen wie Väter geehrt, wie Brüder geliebt, wie Familienglieder behandelt. 

   Lasset uns also die Demut üben, damit wir groß werden. Denn die Hoffart erniedrigt über die Maßen. Sie erniedrigte den Pharao, der sprach: "Ich kenne keinen Herrn" (Ex 5,2), und er wurde erniedrigt unter die Fliegen, Frösche und Heuschrecken, und ertrank obendrein mitsamt seinen Waffen und Rossen im Meere. Wie ganz anders Abraham, der da sagte: "Ich bin Staub und Asche" (Gn 18,27), und der über Tausende von Barbaren siegte und einen noch glänzenderen Siegespreis davontrug, als er mitten unter die Ägypter geraten war! Weil er diese Tugend nie ablegte, stieg er immer höher, und wird überall besungen, verherrlicht und gepriesen, während Pharao Staub und Asche geworden, oder was es sonst noch dergleichen wertlose Dinge gibt. Nichts verabscheut Gott so sehr wie die Hoffart. Deshalb hat er gleich von vornherein alles aufgeboten, um dieses Laster auszumerzen. Deshalb müssen wir sterben, deshalb ward Trübsal und Elend über uns verhängt, deshalb müssen wir in fortgesetzter und erniedrigender Arbeit, Mühsal und Plage leben. Aus Hoffart sündigte der erste Mensch, weil er Gott gleich zu werden strebte. Darum behielt er aber auch nicht, was er besaß, sondern büßte alles ein. Das ist eben das Verderbliche an der Hoffart. Weit entfernt, uns irgendeinen Vorteil für das Leben zu verschaffen, bringt sie uns vielmehr noch um das, was wir haben. Die Demut dagegen entzieht uns nicht von unserem Besitze, im Gegenteil, sie setzt noch in den Besitz von Gütern, die wir nicht hatten. Nach Demut wollen wir also streben, ihr gleichsam nachjagen, damit wir im diesseitigen Leben Ehren genießen und im Jenseits die Herrlichkeit gewinnen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater und dem Hl. Geiste Ehre und Macht sei jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 64