Kommentar zum Evangelium Mt 74

Vierundsiebzigste Homilie. Kap. XXIII, V. 29-39.

74 Mt 23,29-39
1.

V.29: "Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Propheten Gräber bauet und die Denkmäler der Gerechten schmücket, 

   V.30: und saget: Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wir wären nicht ihre Mitschuldigen geworden an dem Blute der Propheten." 

   Das "Wehe" sprach der Herr über die Pharisäer, nicht weil sie diese Grabbauten aufführten, oder weil sie die Handlungsweise ihrer Väter verurteilten, sondern weil sie sich den Anschein gaben, durch diese Taten und durch ihre Worte die Väter zu verurteilen, während sie selbst noch Schlimmeres taten. Daß aber ihre Verurteilung nur Verstellung war, sagt Lukas mit den Worten: "Wehe euch, die ihr den Propheten Denkmäler bauet, während eure Väter sie getötet haben. Somit bezeuget ihr, daß ihr zustimmt zu den Taten eurer Väter, weil jene sie zwar gemordet haben, ihr aber deren Gräber erbauet" (Lc 11,47-48). Er tadelt also die Gesinnung, in der sie bauten; nicht um die Gemordeten zu ehren, sondern um die Ermordung zu feiern, errichteten sie diese Bauten. Sie fürchteten, die Gräber könnten im Laufe der Zeit verschwinden und damit zugleich die Erinnerung und das Gedächtnis an diese Untat; denn sie bauten diese Gräber, als gelte es, ein Denkmal glänzender Siege aufzustellen und mit den Heldentaten ihrer Ahnen zu prahlen und zu prunken. Der Herr will sagen: Euer jetziges Verhalten zeigt, daß diese Absicht euch bei diesen Bauten leitet. Möget ihr auch reden, als verurteiltet ihr eure Väter, z. B.: "Wenn wir in ihren Tagen gelebt hätten, so hätten wir an ihren Taten nicht teilgenommen", es Hegt doch auf der Hand, in welcher Gesinnung ihr so redet. Deshalb enthüllt auch Jesus diese Gesinnung zwar nur andeutungsweise, aber immerhin tut er es. Nach den Worten: "Wären wir gewesen in den Tagen unserer Väter, wir würden nicht ihre Mitschuldigen geworden sein an dem Blute der Propheten", fährt er fort: 

   V. 31: "Somit bezeuget ihr von euch selber, daß ihr Söhne der Prophetenmörder seid." 

   Liegt wohl ein Tadel darin, Sohn eines Mörders zu sein, wenn man nicht teilnimmt an der Gesinnung des Vaters? Gewiß nicht. Wenn er also damit einen Vorwurf ausspricht, so folgt daraus, er wolle andeuten, sie seien ebenso schlecht. - Dasselbe ergibt sich aus seinen folgenden Worten: "Schlangen, Natternbrut" Wie nämlich diese Tiere schädliches Gift besitzen gleich denen, die sie gezeugt, ebenso seid ihr wie eure Väter voll von Mordlust. 

   Da indes ihre Gesinnung dem Volke nicht so bekannt war, weist Jesus zur Bekräftigung seiner Vorwürfe auf die Taten hin, die sie in der Zukunft vor aller Welt verüben würden. Durch die Worte: "Ihr bezeuget euch selber, daß ihr Söhne der Prophetenmörder seid" hatte er offen kundgetan, daß sie in der Bosheit mit ihren Ahnen verwandt waren und daher nur flunkerten, wenn sie sagten: "Wir hätten nicht daran teilgenommen"; darum fährt er fort: 

   V.32: "Und ihr machet das Maß eurer Väter voll." 

   Damit trieb er sie nicht zu dem, was kommen würde, sondern sagte nur vorher, daß sie ihn selbst hinschlachten würden. Deshalb also fügte er diesen Tadel hinzu, und zeig, daß sie nur etwas vorspiegelten, um sich rein zu waschen, wenn sie sagten: "Wir hätten nicht daran teilgenommen"; wie hätten sie auch die Knechte schonen sollen, da sie den Herrn nicht schonten? Daher bedient er sich auch schärferer Ausdrücke wie: 

   V.33: "Schlangen und Natterngezücht, wie wollet ihr entfliehen vor der Verdammnis zur Hölle", 

   da ihr nämlich solche Mordtaten begehet und dabei noch eure Gesinnung in Abrede stellet und zu verdecken suchet? Zum Überfluß hält er ihnen dann noch einen anderen Frevel vor und spricht: 

   V.34: "Siehe, ich sende an euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; auch aus ihnen werdet ihr einige töten und kreuzigen und in euren Synagogen geißeln." 

   Damit sie nicht einwenden könnten: Wenn wir auch den Herrn gekreuzigt haben, seine Knechte hätten wir geschont, wenn wir damals gelebt hätten, so sagte Jesus: "Siehe, auch ich sende zu euch Knechte und selbst Propheten, und ihr vergreifet euch auch an ihnen." Hiermit will er dartun, daß es gar nicht befremdlich sei, wenn er von den Söhnen ermordet werde, da sie blutgierig, heimtückisch und voll Hinterlist waren, wie ihre Väter, und' sie an Schandtaten noch überboten. Nebstdem hebt der Herr noch ihren Hochmut hervor; denn Leute, die sagen: "Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wir hätten an ihren Werken nicht teilgenommen", tatsächlich aber das Gegenteil tun, sind hochmütig und nur mit dem Munde tugendhaft. "Schlangen, Natternbrut", d. h. nichtswürdige Söhne, Kinder nichtswürdiger Eltern und noch schlechter als ihre Väter. Er zeigt, daß die Untaten, die sie begingen, noch mehr Bosheit verraten; denn sie' begingen ihre Missetaten später als ihre Väter, begingen schlimmere als sie, und rühmten sich dabei aber doch, sie wären nicht in dieselben Frevel verfallen. So treiben sie die Bosheit auf die äußerste Spitze. Jene hatten nur die Boten, die in den Weinberg gekommen waren, getötet; sie mordeten sogar den Sohn und die Boten, welche die Leute zur Hochzeit einluden. 

   Das alles sagt der Herr, um die Juden davon abzubringen, sich auf die Abstammung von Abraham etwas einzubilden. Er will sie belehren, nicht auf dieselbe zu bauen, wenn sie nicht auch seine Werke nachahmten. Darum setzte er hinzu: "Wie sollet ihr entfliehen vor der Verdammnis zur Hölle", wenn ihr diejenigen nachahmt, die solche Untaten begangen' haben? Es ist dies zugleich eine Erinnerung an die Strafpredigt des Johannes. Auch er hatte sie ja so genannt und vor dem bevorstehenden Gerichte gewarnt. Weil sie indessen seinen Worten nicht glaubten, da die Strafe noch nicht unmittelbar bevorstand, so wurden sie auch durch das Gericht und die Hölle nicht in Schrecken versetzt. Deshalb demütigt sie der Herr durch den Hinweis auf die Gegenwart und sagt: "Siehe darum, ich sende zu euch Propheten und Schriftgelehrte; auch aus ihnen werdet ihr einige töten und kreuzigen und geißeln, 

   V.35: damit über euch alles gerechte Blut komme, welches vergossen ist auf der Erde, von dem Blute Abels des Gerechten bis auf das Blut des Zacharias, des Sohnes des Barachias, den ihr gemordet habt zwischen dem Tempel und dem Altare. 

   V.36: Wahrlich, ich sage euch: All das wird kommen über dieses Geschlecht."



2.

Siehe, wieviel der göttliche Heiland tut, um die Pharisäer zu retten! Er hatte gesagt: "Ihr verurteilet eure Väter, denn ihr sprechet: Wir hätten uns nicht mitbeteiligt"; schon das mußte für sie Grund genug sein, in sich zu gehen. Er hatte gesagt: "Trotzdem ihr sie verurteilet, tut ihr doch noch Schlimmeres"; das war wieder geeignet, sie zu beschämen. Er hatte gesagt: "Es wird nicht ungerächt bleiben"; damit erinnert er sie an die Hölle, um ihnen recht große Furcht einzuflößen. Da die Hölle aber erst im Jenseits droht, stellt er ihnen auch die Strafen des Diesseits vor Augen: "All das wird über dieses Geschlecht kommen." Dabei hob er die unsägliche Schrecklichkeit der Strafe hervor, indem er erklärte, sie würden Grauenhafteres zu leiden haben, als sonst jemand. Aber alles war umsonst; sie blieben unverbesserlich. Wenn jemand fragte, warum sie strenger als andere gezüchtigt werden sollen, so möchte ich erwidern: weil sie schlechter als andere gehandelt haben und durch kein Beispiel der Vergangenheit zur Einsicht gebracht werden konnten. Hast du nicht gehört, wie Lamech sprach: "Wenn Kain siebenmal gestraft wird, dann Lamech siebzigmal siebenmal" (Gn 4,24), d. h. ich habe eine härtere Strafe als Kain verdient. Und warum? Er hatte zwar nicht seinen Bruder erschlagen, aber er hatte aus dem Beispiele Kains keine Lehre gezogen. Ähnlich hat sich Gott an einer anderen Stelle geäußert: "Ich ahnde die Frevel der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Geschlecht bei denen, die mich hassen" (Ex 20,5), nicht als würden sie für fremde Missetaten gestraft, sondern weil sie sich nicht bessern und dieselben Schandtaten begehen, trotzdem sie sahen, wie in der Vorzeit Sünder bestraft wurden. Daher ist es auch billig, daß sie wie jene bestraft werden. 

   Beachte auch, wie passend der Herr bei dieser Gelegenheit Abel erwähnt, um zu zeigen, daß es auch bei ihnen der Neid ist, der sie zu Mordtaten treibt. Was könntet ihr also noch entgegnen? sagt er gleichsam. Wisset ihr nicht, was Kain widerfahren ist? Sah etwa Gott ruhig zu, als der Mord geschehen war? Zog er ihn nicht vielmehr aufs strengste zur Rechenschaft? Habt ihr nicht gehört, wie es euren Vätern ergangen ist, als sie die Propheten umbrachten? Hat er sie nicht auf alle mögliche Weise gestraft und gezüchtigt? Allein, wozu spreche ich nur von euren Vätern und ihren Schicksalen? Du, der du deine Väter verurteilst, wie kannst du selbst noch schlechter handeln? Ihr habt es ja selbst ausgesprochen, daß er die Bösen böse verderben wird. Womit könnt ihr euch entschuldigen, wenn ihr also urteilet und dann doch solche Frevel verübet? Indes, um was für einen Zacharias handelt es sich hier'? Einige halten ihn für den Vater des Johannes, andere für den Propheten, andere für einen Priester, der zwei Namen hatte und in der Schrift Jodae heißt. Beachte dann auch den Umstand, daß ihre Tat doppelt böse war; sie hatten nicht nur Heilige gemordet, sondern auch an heiliger Stätte- Suchte der Herr durch seine Worte die Juden zu erschüttern, so wollte er auch seine Jünger trösten durch den Hinweis darauf, daß schon vor ihnen auch die Gerechten leiden mußten. Auf jene wirkte er durch die schreckliche Weissagung, sie würden gleich ihren Vätern der strengsten Strafe verfallen. Er nennt seine Boten Propheten, Weise und Schriftgelehrte, um den Juden jede Ausflucht vorwegzunehmen. Sonst hätten sie ja die Ausrede gebrauchen können, er habe Leute aus dem Heidenvolke zu ihnen gesandt, und daran hätten sie Anstoß genommen. Nein, kann er sagen, ihre Mordlust und Blutgier hat sie dazu getrieben. Darum sagte er zuerst: Deshalb sandte ich Propheten und Schriftgelehrte, und nannte er sie Blutmenschen. Den gleichen Vorwurf hatten schon die Propheten gegen die Juden erhoben: "Eine Blutschuld reiht sich an die andere" (Os 4,2). Hierin ist auch der Grund zu suchen, weshalb ihnen Gott befohlen hatte, ihm das Blut zu opfern; er wollte zeigen, daß das Blut eines Menschen umso wertvoller sei, wenn es schon bei den Tieren so bedeutungsvoll ist. So sagte er auch zu Noe: "Alles vergossene Blut werde ich rächen" (Gn 9,6). Noch tausend andere Stellen kann man finden, wo der Herr ihnen verbietet zu töten. So erklärt sich auch das Verbot, nichts Ersticktes zu essen. 

   O wie gut ist Gott! Obwohl er voraus sieht, daß es nichts nützen werde, tut er dennoch, was an ihm liegt. Ich sende meine Boten, sagt er, obschon ich weiß, daß ihr sie umbringen werdet. Hieraus folgt wieder der Vorwurf, daß sie ohne Grund sagten: Wir hätten nicht mit unseren Vätern mitgetan. Auch sie haben ja Propheten ermordet, und zwar in ihren Synagogen, ohne weder den Ort noch die Würde der Person zu scheuen. Nicht einfache Leute waren es, die von ihnen getötet wurden, sondern Propheten und Weise, denen sie nichts vorwerfen konnten. Damit meinte der Herr seine Apostel und ihre Nachfolger, von denen ja auch viele geweissagt haben. Um aber den Eindruck der Furcht zu erhöhen, fügte er hinzu: "Wahrlich, ich sage euch, all das wird über dieses Geschlecht kommen", d. h. alles Unheil werde ich über euer Haupt senden und fürchterliche Rache nehmen. Wenn jemand sich nicht bekehrt, obschon er das Schicksal vieler Sünder kennt, ja sogar die gleichen Sünden wie sie begeht, und noch viel ärgere, so ist es ganz berechtigt, daß er auch schwerer als jene bestraft werde. Wie er nämlich großen Nutzen davon hatte, wenn er sich durch die fremden Beispiele belehren ließe, so zieht er sich eine um so größere Strafe zu, da er sich nicht bessert, obgleich er ja durch die Züchtigung, welche die Sünder vor ihm getroffen hatte, mehr als genug sich hätte' warnen lassen. können, aber dennoch keine Furcht daraus zog.



3.

Sodann richtet der göttliche Heiland seine Worte an die Stadt, um auch auf diese Weise seine Zuhörer zu belehren. Er sagt: 

   V. 37: "Jerusalem, Jerusalem!" 

   Was soll die Wiederholung? Das ist ein Zeichen des Mitleides, ein Ausdruck der Klage und seiner großen Liebe. Wie zu einer Heißgeliebten, die den Liebhaber verschmäht und deshalb Rache zu fürchten hat, so redet er zur Stadt, um sich zu rechtfertigen, daß er mit Strafe gegen sie vorgehen muß. So tut er es auch in den Propheten, wo er sagt: "Ich sprach: Kehre zurück zu mir, und sie kehrte nicht zurück" (Jr 3,7). Nachdem also der Herr die Stadt in dieser Weise angeredet, zählt er ihre Schandtaten auf: 

   V. 37: "Du tötest die Propheten und steinigest diejenigen, welche an dich gesandt worden; wie oll wollte ich deine Kinder versammeln und ihr habt nicht gewollt." 

   Auch in diesen Worten rechtfertigt er seine Handlungsweise. Trotz deiner Untaten habe ich mein Wohlwollen dir nicht entzogen oder mich von dir gewandt; ich wollte dich dennoch, und nicht bloß ein oder zweimal, sondern oft an mich ziehen. "Wie oft wollte ich eure Kinder versammeln, wie eine Henne ihre Jungen sammelt, und ihr habt nicht gewollt.“ In diesen Worten legt er dar, daß sie sich infolge ihrer Sünden immer wieder zerstreuten. Das Bild aber kennzeichnet trefflich sein Liebeswerben. Die Henne hat nämlich eine äußerst zärtliche Liebe zu den Jungen. Darum befindet sich dasselbe Bild bei allen Propheten, z. B. im Gesange des Moses und in den Psalmen; es eignet sich aber wie kein zweites zum Ausdruck besonderer Pflege und Fürsorge. - "Aber ihr habt nicht gewollt", sagt er. 

   V.38: "Siehe, euer Haus wird euch verödet gelassen", 

   d. h. meines Schutzes entblößt. Er ist es also gewesen, der sie zuvor regierte, einigte und schützte, er ist es also auch, der sie jedesmal straft. Damit wird Ihnen eine Strafe in Aussicht gestellt, die sie immer außerordentlich fürchteten, nämlich, daß ihr ganzer Staat untergehen werde. 

   V.39: "Denn ich sage euch: Nimmer werdet ihr mich sehen von nun an, bis ihr sprechet: Hochgelobt, der da kommt im Namen des Herrn." 

   In diesen Worten drückt sich ebenfalls eine innige Liebe aus die sie durch Hinweis auf die Zukunft an sich fesseln, nicht bloß durch die Vergangenheit ermahnen will. Er spricht hier nämlich von dem bevorstehenden Tage seiner zweiten Ankunft. Wie also? Sollen sie ihn von jetzt an nicht mehr sehen? - Nicht doch; die Worte: "von nun an" bezeichnen nicht allein den Augenblick, in dem er gerade sprach, sondern die ganze Zeit bis zu seinem Kreuzestode. 

   Weil sie ihm immer vorwarfen, er sei ein Gegner und Feind Gottes, sucht er sie dadurch zu bewegen, ihn zu lieben, daß er zeigt, wie er mit dem Vater eins ist, daß er derjenige sei, den die Propheten vorherverkündigten. Daher bedient er sich auch derselben Worte wie der Prophet. In diesem Worten nun spielt er auf seine Auferstehung und seine zweite Ankunft an; zugleich aber enthüllt er denen, die durchaus nicht an ihn glauben wollten, daß sie ihn dann gewiß anbeten würden. Inwiefern offenbart er dies? Durch zahlreiche Weissagungen: daß er Propheten senden wird; daß man dieselben umbringen wird, und zwar in den Synagogen; daß man sie fürchterlich mißhandeln wird; daß ihr Haus verödet stehen wird; daß das entsetzlichste Elend, wie es zuvor nie dagewesen, über sie hereinbrechen wird. Alle diese Weissagungen mußten auch einen ganz Verbohrten und Hartnäckigen überzeugen, daß Jesus wiederkommen werde. Ich brauche bloß einen Juden zu fragen: Hat er Propheten und Weise gesandt? Hat man sie in den Synagogen ermordet? Steht ihr Haus nicht verödet? Sind nicht alle diese Strafgerichte über sie gekommen? Ganz gewiß wird es niemand in Abrede stellen. Wie nun alles das eingetreten ist, so wird auch das andere in Erfüllung gehen, und sie werden sich dann unbedingt vor ihm beugen. Nur wird es ihnen dann nicht mehr zur Rechtfertigung dienen, wie es denen auch nichts nützte, die erst ob der Zerstörung des Reiches in sich gingen. 

   Lasset uns darum das Gute tun, solange es noch Zeit ist. Gleichwie die späte Erkenntnis den Juden nichts nützte, so wird es auch uns nichts nützen, wenn wir zu spät unsere Schlechtigkeit bereuen. Der Steuermann kann nicht mehr helfen, wenn das Schiff durch seine Nachlässigkeit bereits unter den Wogen versinkt, noch der Arzt, wenn der Kranke schon stirbt; beide müssen vielmehr, bevor es zu spät ist, alles aufbieten, um nicht in Gefahr zu geraten und sich Schande zuzuziehen; später hat alles keinen Wert mehr. So sollen auch wir, solange wir krank liegen, Ärzte rufen, Geld aufwenden und allseits Sorge tragen, um uns von dem Übel zu befreien. und wieder zu gesunden. Dieselbe Sorgfalt, die wir unseren kranken Sklaven zukommen lassen, wollen wir auch uns zuwenden, wenn unsere Seele krank ist. Stehen wir uns doch selbst näher als unsere Diener, unsere Seele gehört uns weit mehr als der Leib eines Knechtes. Trotzdem bin ich aber schon zufrieden, wenn wir der Seele wenigstens die gleiche Fürsorge angedeihen lassen. Wenn wir das aber jetzt vernachlässigen, werden wir nach dem Tode nichts zu unserer Entschuldigung vorbringen können.



4.

Gibt es denn jemanden, fragst du, der so erbärmlich wäre, daß er für seine Seele nicht einmal so viel Sorge aufbrächte? - Das ist eben gerade das Befremdliche, daß wir in unseren eigenen Augen so wenig wert sind, daß wir uns geringer anschlagen als unsere Sklaven. Wenn ein Sklave das Fieber hat, so rufen wir einen Arzt, stellen dem Kranken einen eigenen Raum zur Verfügung und nötigen ihn, den Vorschriften der Reitkunst zu folgen. Und wenn er dieselben außer acht läßt, werden wir gegen ihn aufgebracht und stellen Wärter an seine Seite, und zwingen ihn, seinen eigenen Gelüsten zu entsagen. Und wenn die Ärzte teure Heilmittel verschreiben, so willigen wir ein, fügen uns in alle ihre Anordnungen und zahlen ihnen noch Geld für ihre Weisungen. Wenn aber wir selbst krank sind - eigentlich sind wir immer krank -, wollen wir nichts von einem Arzt wissen und kein Geld ausgeben; wir vernachlässigen vielmehr unsere Seele, als wäre es ein Henker, ein Feind und Widersacher, der darniederliegt. Damit will ich jedoch die Sorge um die Dienerschaft keineswegs tadeln, im Gegenteil; nur wünsche ich, daß man die gleiche Sorgfalt auch seiner Seele zuwende. 

   Wie soll ich das aber machen, fragst du? - Zeige deine kranke Seele dem hl. Paulus, führe sie zu Matthäus, wende dich an Johannes; von ihnen laß dir sagen, was 'man in einer solchen Krankheit zu tun hat, sie werden' es dir offen und ohne Fehl mitteilen. Sie sind ja nicht tot, sie leben noch in ihren Evangelien fort. Aber die Seele merkt nicht auf sie, sie ist vom Fieber befallen. Nun, so tue ihr Zwang an, rüttle ihren vernünftigen Teil auf. Führe die Propheten zu ihr. Für solche Ärzte braucht man kein Geld auszugeben, sie verlangen keinen Lohn, weder für ihre Mühewaltung noch für die Heilmittel, die sie verschreiben; sie machen dir keine anderen Auslagen als Almosen, im übrigen erhältst du noch etwas von ihnen; z. B. wenn sie dir Mäßigkeit verordnen, bewahren sie dich vor unpassenden und unstatthaften Ausgaben; wenn sie dich vor der Trunkenheit abhalten, vermehren sie dein Vermögen. Siehst du also, wie groß die Kunst dieser Ärzte ist, da sie dir nicht nur zur Gesundheit, sondern auch noch zu Geld verhelfen? Ziehe sie also zu Rate und erkundige dich bei ihnen nach der Art deiner Krankheit. Du trachtest z. B. nach Geld und dürstest nach Besitz wie ein Fiebernder nach kaltem Wasser? Höre, was sie dir raten. Wie ein Arzt, der zu dir spricht: Wenn du dein Gelüste befriedigst, mußt du zugrunde gehen und wirst das und jenes zu leiden haben, so spricht auch Paulus: "Die, welche reich werden wollen, fallen in Versuchung und in des Teufels Schlinge und in viele unnütze und schädliche Begierden, welche die Menschen hinabstürzen in Untergang und Verderben" (1Tm 6,9). Allein du bist ungeduldig? Höre wieder, was er schreibt: "Noch eine kleine Weile, und der da kommen soll, wird kommen und wird nicht säumen" (He 10,37); "Der Herr ist nahe; in nichts seid bekümmert" (Ph 4,5-6), und: "Es geht vorüber die Gestalt dieser Welt" (1Co 7,31). Nicht bloß Weisungen gibt er, er spendet auch Trost. Wie ein Arzt, der anstatt eines kalten Trunkes anderes ersinnt, so sucht er deine Begierde auf etwas anderes zu lenken. Du willst reich werden? sagt er; gut, werde es an guten Werken. Du trachtest nach Schätzen? Es steht dir nichts im Wege, nur suche Schätze für den Himmel. Und wie ein Arzt erklärt, das kalte Trinken schade den Zähnen, den Nerven, den Knochen, so spricht auch er, zwar bündig, da er die Kürze liebt, aber noch viel deutlicher und eindringlicher: "Eine Wurzel aller übel ist die Habsucht" (1Tm 6,10). Welches Mittel soll man nun anwenden? Auch das gibt er an. So gegen die Habsucht die Genügsamkeit: "Es ist ein großer Gewinn, die Frömmigkeit mit Genügsamkeit" (1Tm 6,10). 

   Und wenn dir dies schwer fällt, wenn du noch mehr verlangst und es nicht über dich bringst, alles Überflüssige aufzugeben, so weiß er auch für eine solche Krankheit Mittel: "Die sich am Besitztum freuen, seien, als freuten sie sich nicht, die, so etwas haben, als besäßen sie nicht, und die sich dieser Welt bedienen, als bedienten sie sich nicht" (1Co 7,30-31). Siehst du, das sind die Vorschriften, die er gibt. Soll ich dir noch einen anderen Arzt nennen? Ich halte es für gut. Diese Ärzte sind ja nicht wie die Ärzte für den Leib, welche oft aus Eifersucht gegeneinander den Kranken zugrunde richten; nein, sie haben nur die Genesung des Kranken, nicht ihren eigenen Ehrgeiz im Auge. Fürchte dich also nicht vor der großen Zahl derselben, durch sie alle spricht ja nur ein einziger Meister, nämlich Christus.



5.

Siehe also, da tritt schon ein anderer herein, der sehr ernst über diese Krankheit spricht; oder vielmehr der Meister spricht durch seinen Mund: "Nicht könnet ihr Gott dienen und dem Mammon" (Mt 6,24). Ja, sagst du, wie soll aber das möglich sein, wie sollen wir die Begierde zum Schweigen bringen? Auch darüber kann man Belehrung finden. Und wie? Höre nur, wie er auch das erklärt: "Häufet euch nicht Schätze an auf Erden, wo Rost und Motten zehren und wo Diebe einbrechen und stehlen" (Mt 6,19). Siehst du, wie er durch Hinweis auf den Ort und die Schädlinge deine Begierden vom Irdischen abkehren und auf den Himmel hinlenken will, wo alles sicher geborgen ist? Wenn ihr euren Reichtum dort hinterlegt, wo weder Rost noch Motten zehren, wo keine Diebe einbrechen und stehlen, so werdet ihr diese Krankheit heilen und eure Seele in den größten Wohl stand versetzen. Seine Worte erläutert er noch durch ein Beispiel, um dich zu überzeugen. Wie nämlich ein Arzt den Kranken vom kalten Trinken abzuschrecken sucht, indem er erzählt, der oder jener sei daran gestorben, so erzählt auch er von dem Reichen, der zwar sehnsüchtig nach Leben und Gesundheit verlangt, es aber infolge seiner Habsucht nicht erlangen konnte, sondern leer ausging. Ein anderer Evangelist zeigt dir noch einen, der in der Hölle um einen Tropfen Wasser bittet, ohne ihn erhalten zu können. Dann zeigt er, dass seine Gebote leicht zu beobachten seien, indem er sagt: "Schauet an die Vögel des Himmels" (Mt 6,26). Und um auch die Reichen nicht in Verzweiflung zu stürzen, spricht er mit Rücksicht auf die menschliche Schwachheit: "Was unmöglich ist bei Menschen, ist möglich bei Gott" (Lc 18,27). Magst du auch reich sein, unser Arzt kann dich dennoch heilen, denn nicht den Reichtum wollte er abschaffen, sondern nur die Knechtschaft des Geldes und die Habsucht. 

   Wie kann nun aber ein Reicher gerettet werden? Der Besitzende muss sein Vermögen mit den Bedürftigen teilen, wie es Job tat, die Habsucht aus der Seele ausmerzen und niemals die Grenze des Notwendigen überschrei ten. Überdies zeigt er dir auch, dass selbst der Zöllner rasch vom Fieber der Habsucht, das ihn so gewaltig ergriffen hatte, geheilt wurde. Oder gibt es noch geldsüchtigere Menschen als einen Zöllner? Und doch wurde er alsbald ein Mann, der vom Besitze losgeschält war, weil er den Vorschriften unseres Arztes folgte. Er hatte ja auch Jünger, die an denselben Krankheiten litten wie wir, und sie genasen rasch. Darum stellt er sie uns allen vor Augen, damit wir nicht verzagen. Sieh also auf diesen Zöllner. Schaue auch auf den Oberzöllner: er verspricht, von den unrechtmäßigen Erwerbe das Vierfache zu erstatten und die Hälfte seines ganzen Vermögens hinzugeben, nur um Jesus zu beherbergen. Allein du hast ein glühendes Verlangen nach Besitz. So tausche mit deinem Besitze die ganze Welt ein, sagt Christus. Ich gebe dir mehr, als du begehrst, ich öffne dir die Häuser aller Reichen auf der ganzen Welt. Denn "jeglicher, der verlassen hat Vater oder Mutter oder Haus oder Äcker, wird Hundertfaches empfangen" (Mt 19,29). Auf diese Weise wirst du nicht bloß mehr besitzen, sondern auch den bösen Durst[609] gründlich löschen und alles leicht ertragen, damit du nicht nach größerem Besitz verlangst, sondern oft nicht einmal nach dem Notwendigen. So litt Paulus Hunger und war glücklicher, als wenn er gegessen hätte. Ein Ringkämpfer, der im Kampfe steht und nach dem Siegeskranze strebt, wird nicht an Erholung und Müßiggang denken, und ein Kaufmann, der einen überseeischen Handel eröffnet hat, wird gewiß nicht nach Ruhe verlangen. Also werden auch wir, wenn wir die geistlichen Früchte verkosten, wie von einem wunderschönen Rausche ergriffen nach den ewigen Gütern verlangen und das Zeitliche nicht mehr so hoch anschlagen. Kosten wir also davon, um die Unruhe, welche die zeitlichen Güter bereiten, abzustreifen und die ewigen zu gewinnen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht gebührt jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!





Fünfundsiebtigste Homilie. Kap. XXIV,V.1-15.

75 Mt 24,1-15
1.

V.1; "Und Jesus ging hinaus und entfernte sich von dem Tempel. Und seine Jünger traten hinzu, um ihm die Bauwerke des Tempels zu zeigen. V.2: Er aber entgegnete und sprach zu ihnen. Sehet ihr all das? Wahrlich, ich sage euch: Nicht ein Stein wird auf dem andern gelassen werden, der nicht herabgebrochen würde." 

   Weil der Herr gesagt: "Euer Haus wird euch verödet gelassen werden" und unzählige Übel vorausgesagt hatte, so traten die Jünger, welche alles mitangehört hatten, voll Staunen zu ihm und zeigten ihm den herrlichen Tempel; sie waren eben im Zweifel, ob all die Schönheit, der gewaltige Bau und die unbeschreiblichen Kunstwerke wirklich vernichtet werden sollten. Er redet aber jetzt nicht mehr bloß von einer Verödung, sondern weissagt eine vollkommene Zerstörung."Sehet ihr nicht dieses alles", sagt er, und ihr wundert euch und staunet? "Es wird kein Stein auf dem anderen gelassen werden." Wie kommt es aber, dass doch Rest geblieben sind, fragst du? Was verschlägt das? Deswegen ist die Weissagung keineswegs falsch gewesen. Entweder wollte der Herr nur die gänzliche Verödung andeuten oder er redete bloß von der Stelle, wo er stand. Einige Teile des Tempels sind auch tatsächlich bis auf den Grund zerstört. Übrigens könnte man noch hinzufügen, dass sich nach dem, was bereits geschehen ist, auch die Hartnäckigsten überzeugen müssen, dass auch die Reste vollends zugrunde gehen werden. 

   V.3: "Nachdem er sich aber auf dem Ölberg niedergesetzt hatte, traten seine Jünger allein zu ihm und sagten: Sage uns, wann wird dieses alles geschehen, und welches ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung der Weltzeit?" 

   Darum also kamen sie "allein" zu ihm, weil sie ihn darüber fragen wollten. Sie sehnten sich, den Tag seiner Ankunft zu erfahren, weil es sie gar sehr verlangte, jene Herrlichkeit zu schauen, die so viel Glück für sie im Gefolge haben sollte. Zwei Fragen sind es, die sie hierbei an ihn richten: Wann wird das sein?", nämlich die Zerstörung des Tempels, und: "Welches ist das Zeichen deiner Ankunft?" Lukas (Lc 21,7) erwähnt nur die eine Frage betreffs Jerusalems, da sie meinten, dann werde auch seine Ankunft sofort erfolgen. Markus (Mc 13,3) wieder erzählt, nicht alle hätten ihn über die Zerstörung Jerusalems gefragt, sondern nur Petrus und Johannes, die mit ihm vertraulicher verkehren durften als die anderen. Was erwidert nun der Herr? 

   V.4: "Seid auf der Hut, dass niemand euch irreführe! 

   V.5: Viele nämlich werden kommen unter meinem Namen, die da sagen: Ich bin Christus, und viele werden sie irreführen. 

   V.6: Ihr werdet aber hören von Kriegen und Kriegsgerüchten. Sehet zu, dass ihr nicht verwirrt werdet, denn es muß dieses alles geschehen, aber noch ist es nicht das Ende." 

   Die Jünger schienen zu glauben, die Strafe, die der Herr Jerusalem angedroht hatte, gehe sie nichts an, sie seien aller Bedrängnis überhoben und träumten nur von dem Lohne, der ihnen gar bald, wie sie meinten, zuteil werden sollte. Deshalb sagt ihnen denn der Herr von neuem Drangsal vorher, damit sie sich auf den Kampf gefaßt machten, und heißt sie doppelt wachsam sein, um sie nicht durch die Vorspiegelungen von Betrügern umgarnen und durch die Wucht des hereinbrechenden Unglückes niederschlagen zu lassen. Man wird es nämlich mit zwei Gegnern zu tun haben, sagt er, mit den Verführern und mit den äußeren Feinden. Der Kampf gegen jene wird um so heftiger sein, als er mitten in der Zerstörung und Verwirrung des Reiches und unter der Furcht und Bestürzung des Menschen entbrennen wird. Und in der Tat, es war eine gewaltige Aufregung, da das römische Reich auf dem Gipfel seiner Blüte stand, Staaten eroberte, Heere und Waffen in Bewegung standen und da viele Leute leichtgläubig waren. Der Krieg, von dem der Herr redet, ist nicht ein Krieg im Auslande oder sonst irgendwo auf der Welt, sondern der Krieg in Jerusalem. Was hätte ihnen auch an den anderen Kriegen liegen sollen? Auch wäre es gar nichts Besonderes gewesen, wenn er nur die Drangsale gemeint hätte, die auf der Erde jederzeit vorkommen; denn Kriege, Aufruhr und Schlachten gab es von jeher. Die Kriege, von denen er redet, sind die jüdischen, die kurz nachher ausbrechen sollten; die römische Macht war ihnen ja ohnedies ein Dorn im Auge. Weil aber auch die Jünger hierdurch in Unruhe versetzt werden konnten, sagt er ihnen das alles voraus. Um ihnen aber auch zu zeigen, dass er selbst gegen die Juden vorgehen und sie bekriegen werde, spricht er nicht bloß von Schlachten, sondern auch von Gottesgeißeln, von Hunger, Pest und Erd beben. Damit deutet er zugleich an, dass er selbst es ist, der auch die Kriege über die Juden kommen ließ, dass das alles nicht einfachhin nach dem gewöhnlichen Laufe der Weltgeschichte geschehe, sondern eine Folge der Rache des Himmels sein werde. Deshalb sagte er auch, dass es nicht unvorbereitet kommen würde, sondern dass erst Anzeichen vorhergehen sollten. Die Juden hätten die Schuld an ihrem Unglück leicht den damaligen Christen zuschieben können; deshalb erklärte der Herr auch, warum es hereinbrechen werde. Früher hatte er gesagt: "Wahrlich, ich sage euch, alles dieses wird über dieses Geschlecht kommen" (Mt 23,36), um sie an ihre Mordtaten zu erinnern. Damit indessen die Jünger, wenn sie von dem gewaltigen Unheil hörten, nicht meinten, die Predigt des Evangeliums werde da durch beeinträchtigt werden, fuhr er fort: "Sehet zu, dass ihr nicht verwirrt werdet, denn dieses alles muss geschehen", d.h. alles, was ich vorhergesagt habe, sowie der Beginn der Prüfungen wird meine Worte nicht unwirksam machen, mag auch Verwirrung und Unruhe herrschen, meine Weissagungen werden dadurch keineswegs beeinträchtigt werden. Da er ferner zu den Juden gesagt hatte: "Von jetzt an werdet ihr mich nicht mehr sehen, bis dass ihr saget: Gepriesen sei, er da kommt im Namen des Herrn" (Mt 23,39), so hätten die Jünger gedacht, mit der Zerstörung Jerusalems werde zugleich das Ende der Welt eintreten. Diese Meinung stellt er nun richtig und erklärt: "Aber noch ist es nicht das Ende." Dass die Jünger so dachten, wie ich sagte, ergibt sich aus ihrer Frage: Sie fragten nämlich: "Wann wird das sein?", d.h. wann wird Jerusalem zugrunde gehen? "Und was wird das Zeichen Deiner Ankunft und der Vollendung der Weltzeit sein?" 

   Allein der Herr gab nicht sofort Antwort auf diese Frage; er redet erst von dem, was das Dringendste war, was man vor allem erfahren mußte. Er spricht also nicht sogleich über Jerusalem oder von seiner zweiten Ankunft, sondern von den Heimsuchungen, die unmittelbar bevorstanden. Auf diese bereitet er die Jünger vor, wenn er spricht: " Sehet zu, dass niemand euch irreführe. Viele werden nämlich kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin Christus." Nachdem er so ihre Aufmerksamkeit geweckt hat[610] , sie auf den Kampf aufmerksam gemacht und zur Wachsamkeit aufgefordert hat, spricht er von den falschen Messiassen, um dann erst auf die Zerstörung Jerusalems überzugehen. Auf diese Weise zwingt er auch die Beschränktesten und Streitsüchtigsten durch den Hinweis auf die Ereignisse, die vorher eintraten, zum Glauben an die noch folgenden.



2.

Wie schon erwähnt, versteht Jesus unter Kriegen und Kriegsgerüchten die den Jüngern bevorstehenden Bedrängnisse. Da sie indes, wie auch schon erwähnt, meinten, nach jenen Kriegen werde das Ende der Welt eintreten, so belehrte er sie eines anderen, indem er sagt: "Aber noch ist es nicht das Ende. V7: Denn aufstehen wird Volk wider Volk und Reich gegen Reich." Damit spricht er von den Vorspielen des Unterganges der Juden. V.8: "Alles dieses aber ist der Anfang der Wehen", d.h. derer, die sie befallen werden. V.9: "Dann werden sie euch der Bedrängnis überantworten und werden euch töten." Ganz gelegen flicht er ihre eigenen Leiden ein, denn es gewährt immer einige Trost, wenn man Genossen im Leiden hat, und er steigert den Trost durch den Zusatz: "um meines Namens willen", denn er sagt: "Ihr werdet gehaßt sein von allen Völkern um meines Namens willen. V.10: Und dann werden viele geärgert werden und werden einander überantworten. V.11: Und viele falsche Christusse und falsche Propheten werden aufstehen und werden viele irreführen. V.12: Und weil die Ruchlosigkeit wird überhandgenommen haben, wird die Liebe der meisten erkalten. V.13: Wer aber ausharrt bis an das Ende, der wird gerettet werden." 

   Das ist das schlimmste Unheil, wenn ein Bürgerkrieg entsteht, weil sich da viele als falsche Brüder zeigen. Siehe also, der Krieg ist dreifach, nämlich von seiten der Verführer, von seiten der Feinde, von seiten der falschen Brüder und dazu beachte, dass Paulus dieselbe Klage erhebt, wenn er schreibt: "Von außen Kämpfe, von innen Befürchtungen und Gefahren von falschen Brüdern"; ebenso: "Derartige Menschen sind falsche Apostel, trügerische Arbeiter, die sich verkleidet haben in Apostel Christi" (2Co 7,5 2Co 11,26 2Co 13). Das allerschlimmste besteht jedoch darin, dass ihnen der Trost, den die Liebe gewährt, versagt sein wird. Sodann zeigt er, dass, wer wacker und beharrlich ist, dabei ohne Schaden davonkommt. Fürchtet euch nicht, sagt er, lasset euch nicht davon bestürzen, wenn ihr die gehörige Ausdauer bewähret, werdet ihr der Gefahr nicht unterliegen. Der klare Beweis dafür liegt in der Tatsache, dass das Evangelium auf der ganzen Welt gepredigt wird; also werdet ihr alle Gefahren überstehen. Damit sie nämlich nicht entgegneten: Wie werden wir denn am Leben bleiben? fährt er fort: Ihr werdet am Leben bleiben und sogar überall predigen. Daher seine Worte: V.14: "Und es wird dieses Evangelium gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis zum Zeugnisse allen Völkern; und dann wird das Ende kommen", der Untergang Jerusalems. Zum Beweis, dass er das meinte und dass das Evangelium wirklich vor der Eroberung Jerusalems gepredigt worden, höre, was Paulus sagt: "Über die ganze Erde ging aus ihr Schall" (Rm 10,13), und: "des Evangeliums, das gepredigt worden der ganzen Schöpfung unter dem Himmel" (Col 1,23). 

   Siehe auch, wie er von Jerusalem nach Spanien eilt. Wenn ein einziger Mann einen so großen Teil der Erde übernahm, kannst du bemessen, wieviel die anderen geleistet haben. Und in einen anderen Briefe schreibt Paulus wiederum über das Evangelium: "Es trägt Früchte und breitet sich aus in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel" (Col 1,6). Was bedeuten aber die Worte: "Zum Zeugnis für alle Völker"? Da das Evangelium nicht überall, wo es gepredigt wurde, Glauben fand, sagt er "zum Zeugnisse",d.h. zum Tadel, zum Vorwurf, zum Zeugenbeweis, insofern die gläubig Gewordenen gegen die ungläubig Gebliebenen Zeugnis ablegen und dieselben verurteilen werden. Jerusalem geht aber erst zugrunde, nachdem das Evangelium auf der ganzen Welt verkündet worden, damit den Undankbaren auch nicht der Schatten einer Entschuldigung gelassen würde. Womit wollten sie sich auch entschuldigen, wenn sie in ihrer Undankbarkeit verharren, obschon sie es erlebt hatten, dass sich die Macht Christi allenthalben ausbreitete und in kurzer Frist die ganze Welt in Besitz nahm? Dass das Evangelium damals überall gepredigt worden war, kannst du aus den Worten entnehmen: "Des Evangeliums, welches gepredigt worden ist der ganzen Schöpfung unter dem Himmel". Hierin eben liegt der stärkste Beweis für Christi Macht, dass in etwa zwanzig bis dreißig Jahren seine Lehre über den ganzen Erdkreis verbreitet worden war. Dann aber, sagt Christus, wird das Ende Jerusalems kommen. Dass seine Worte in diesem Sinne zu verstehen sind, zeigt das Folgende, wo er eine Prophetenstelle anführt, um die Verwüstung der Stadt zu beglaubigen; er sprach: V.15: "Wenn ihr dann den Greuel der Verwüstung, welcher von dem Propheten Daniel geweissagt worden ist, am hl. Orte stehen sehet wer das liest, der fasse es wohl!" Er beruft sich also auf Daniel (Da 9,27). Mit "Greuel" meint er die Bildsäule des Eroberers der Stadt, die derselbe nach der Verwüstung der Stadt und des Tempels darin aufstellen ließ. Daher heißt er sie einen "Greuel der Verwüstung". Durch die Worte:"Wenn ihr den Greuel der Verwüstung sehet" gibt er ihnen zu verstehen, dass einzelne aus ihnen das alles noch mit erleben würden.



3.

Gerade hierin muss man namentlich die Macht Christi und den Mut seiner Jünger bewundern, dass sie zu einer Zeit predigten, da man alles Jüdische bekämpfte, da man in den Juden insbesondere Aufrührer sah, da der Kaiser alle miteinander zu vernichten befohlen hatte. Man könnte die Lage der Jünger vergleichen mit einem Sturme zur See. Gewaltig tobt das Meer, Finsternis bedeckt den Gesichtskreis, Schiffbruch folgt auf Schiffbruch, alle die Fahrtgenossen oben bekämpfen sich, aus der Tiefe steigen Untiere empor, um im Verein mit den Wogen die Leute zu verschlingen, Blitze fahren nieder, Seeräuber tauchen auf, und selbst die Menschen im Schiffe feinden einander an. Da sollen nun Leute, die nichts von der Schiffahrt verstehen und das Meer nicht einmal gesehen haben, das Ruder ergreifen, steuern, Seekrieg führen, und mit einem einzigen Boote, auf dem noch, wie gesagt, alles in Verwirrung ist, eine zahllose Flotte, die mit gewaltiger Ausrüstung anrückt, überwinden und in den Grund bohren. Von den Heiden wurden nämlich die Apostel als Juden gehaßt, von den Juden als Feinde des Gesetzes gesteinigt, nirgends konnten sie Fuß fassen, Über all stießen sie auf Klippen, Abgründe, Anfeindungen, in den Städten, auf dem Lande, in den Häusern; alles führte Krieg gegen sie: Feldherren, Beamte, einfache Bürger, ganze Völker und Gemeinden; es war ein Wirrwarr, der jeder Darstellung spottet. Die Römer, welche die Herrschaft führten, haßten die Juden gar sehr, weil sie ihnen allerlei Schwierigkeiten bereitet hatten. Aber selbst dieser Umstand schadete der Predigt nicht; im Gegenteil, während Jerusalem erstürmt und verbrannt wurde und unsägliches Elend über die Einwohner kam, gaben die Apostel, die aus derselben Stadt stammten, ganz neue Lebenssatzungen und überwanden sogar die Römer. Welch neue und unerhörte Erscheinung! Ungezählte Tausende von Juden wurden damals von den Römern gefangen genommen, und zwölf Männer, die ohne Waffen und Rüstung gegen sie kämpften, konnten von ihnen nicht besiegt werden. Welche Zunge vermöchte ein solches Wunder zu schildern? 

   Zwei Erfordernisse müssen einem Lehrer zur Seite stehen, die eigene Glaubwürdigkeit und die Liebe der Schüler. Außerdem muss aber auch die Lehre leicht annehmbar sein und zu einer Zeit vorgetragen werden, in der keine Verwirrung und Unruhe herrscht. Damals war das gerade Gegenteil der Fall. Die Apostel schienen keine Glaubwürdigkeit für sich zu haben und hatten die Leute gegen sich, weil die Lehrer, welche anscheinend glaubwürdig gewesen waren, sie hintergangen hatten. Auch fanden sie keine Liebe, sondern Hass, denn sie bemühten sich, liebgewordene Gewohnheiten, Überlieferungen und Satzungen abzuschaffen. Ihre Gebote waren ferner sehr schwer, während die anderen, die sie abschafften, sehr angenehm waren. Die Apostel und ihre Anhänger liefen viele Gefahren und fanden oft sogar einen gewaltsamen Tod. Endlich brachte auch die Zeitlage viele Schwierigkeiten mit sich, überall tobten Krieg, Aufruhr, Unruhen, so dass auch ohne die erwähnten Übelstände alles hätte darüber und darunter geraten müssen. Soll man da nicht ausrufen: "Wer vermag die Großtaten des Herrn zu erzählen, wer zu verkünden seinen Ruhm"? (Ps 105,2). Wenn schon die eigenen Stammesgenossen dem Moses trotz seiner Wundertaten kein Gehör schenkten, bloß weil sie Lehm und Ziegel brennen mußten, wer hat dann die Leute, die sich täglich schlagen, hinschlachten lassen und unerhörte Leiden ertragen mußten, wer, frage ich, hat sie bewogen, ihr ruhiges Dasein aufzugeben und dieses Leben mit all seinen Gefahren, dem Blutvergießen und den Todesnöten zu wählen, und zwar auf die Predigt von Männern hin, die einem anderen Volke und sogar ihren bitteren Feinden angehörten? Man soll nur einmal, ich sage nicht in ein Volk oder eine Stadt oder eine Gemeinde, sondern in eine kleine Familie jemanden hinein bringen, den alle Familienglieder hassen, und der sie von ihren Lieben, von Vater, Weib und Kindern abwendig machen wollte; würde er nicht alsbald zerrissen werden, ehe er noch den Mund aufgetan? Und wenn nun gar in dieser Familie Zwist und Zank zwischen Mann und Weib herrscht, wird man ihn nicht mit Steinen totwerfen, ehe er noch die Schwelle betreten hat? Wenn er nun auch noch verachtet ist, lästige Anforderungen stellt, die Üppigen zur Tugend ermahnt und überdies gegen eine Mehrzahl überlegener Gegner zu kämpfen hat, liegt es da nicht auf der Hand, dass er unbedingt unterliegen wird? Was indes in einer Familie unmöglich ist, das hat gleichwohl Christus in der ganzen Welt zustande gebracht, indem er trotz Abgründen, Feueröfen, Schluchten und Klippen, trotz Bekämpfung zu Land und zu Meer seine Ärzte in die Welt einführte. 

   Willst du eine noch eingehendere Belehrung, ich meine über die Seuchen, die Hungersnot, die Erdbeben, die übrigen Schrecknisse, so lies die Geschichte des Josephus hierüber, da wirst du alles genau erfahren. Der Herr sagte deshalb auch zu ihnen: "Werdet nicht verwirrt, denn es muss dieses geschehen", "Wer ausgeharrt haben wird bis ans Ende, der wird gerettet werden", " Und es wird dieses Evangelium sicher gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreise". Da nämlich die Apostel aus Furcht vor den erwähnten Schrecknissen ganz niedergeschmettert und verzagt waren, richtet er sie auf durch die Verheißung, dass trotz aller möglichen Ereignisse doch das Evangelium überall auf Erden gepredigt werden müsse, ehe das Ende kommen werde.



4.

Siehst du also, wie ungünstig damals bei den häufigen Kriegen die Lage war, wo doch jedes große Werk im Anfange der Ruhe bedarf? Wie lagen nun damals die Dinge? Es steht nichts im Wege, noch einmal darauf zurückzukommen. Es galt zuerst, gegen die Betrüger zu kämpfen; "es werden", sagt Christus, "falsche Christusse und falsche Propheten auftreten"; sodann gegen die Römer, "ihr werdet von Schlachten hören, drittens werden Seuchen darauf folgen, viertens Hungersnot und Erdbeben, fünftens "sie werden euch in Trübsal stürzen", sechstens "ihr werdet von allen gehaßt werden", siebtens "sie werden einander verraten und hassen", womit er den Bürgerkrieg andeutet; dann werden falsche Christusse und falsche Propheten kommen, schließlich "wird die Liebe er kalten", und das ist die Ursache alles Unheiles. Siehst du, wie zahllos, wie neu und unerhört diese Kämpfe sind? Trotz all dieser und noch anderer Widerwärtigkeiten[611] drang doch das Evangelium, siegreich über die ganze Erde vor. "Das Evangelium wird auf der ganzen Welt gepredigt werden." Wo bleiben da die Leute, die das unabwendbare Schicksal der "Geburtsstunde" und den "Kreislauf der Zeiten" gegen die Lehrsätze der Kirche ins Feld führen? Wer erinnert sich, dass Christus je wieder erschienen ist, oder dass etwas Derartiges vor sich gegangen ist? So et was hat man doch noch nicht gefaselt, wenn man auch andere Lügen auftischt, z.B. dass schon Hunderttausende von Jahren dahingegangen seien. Wo ist also der Kreislauf, den ihr aufweisen könnt? Weder Sodoma und Gomorrha noch die Sündflut ist ein zweites Mal aufgetreten. Wie weit wollt ihr mit eurer Spielerei, mit dem Geschwätz von "Kreislauf" und "Geburtsdeuterei" gehen? 

   Wie kommt es aber, wendet man ein, dass viele Deutungen dieser Art in Erfüllung gehen? Nachdem du dich selber der Hilfe Gottes beraubt, dich verraten und der Vorsehung entzogen hast, lenkt der Teufel deine Angelegenheiten und gestaltet sie, wie er will; bei den Heiligen konnte er das nicht, ja nicht einmal bei uns armen Sündern vermag er es, obschon wir die Vorsehung gar sehr mißachten. Mag auch unser Leben verwerflich sein, so sind wir doch, da wir mit Gottes Gnade fest an den Wahrheiten des Glaubens halten, über die Anfechtungen des Teufels erhaben. Was ist denn im Grunde genommen die ganze Geburtsdeuterei? Die reine Bosheit und Verrücktheit, der Glaube, dass alles nur durch Zufall geschehe, nein, nicht bloß durch Zufall, sondern in einer Weise, die geradezu der gesunden Vernunft zuwider ist. Wenn es nun mit der Geburtsdeuterei nichts ist, entgegnest du, wie kommt es dann aber, dass der eine reich, der andere arm, ist? Ich weiß es nicht. Diese Antwort gebe ich dir, um dich zu belehren, dass man nicht alles ergründen kann, aber auch, dass man deshalb noch nicht alles auf den Zufall zurückführen muss. Wenn du nämlich etwas nicht weißt, so darfst du darum doch nicht erdichten, was nicht wahr ist. Bewußtes Nichtwissen ist immerhin besser als falsches Wissen. Wer über eine Ursache bloß im unklaren ist, wird rasch auf die richtige Fährte kommen; wer hingegen in Unkenntnis der wahren Ursache eine falsche annimmt, wird nur schwer imstande sein, die richtige zu finden; es wird viel Mühe und Anstrengung kosten, die verkehrte Ansicht zu beseitigen. Es ist da wie bei einer Schreibtafel. Wenn sie geglättet ist, lässt sich leicht darauf schreiben; ist sie aber bekritzelt, dann ist es nicht mehr so leicht, man muss zuerst die Schrift, die nicht hingehört, ausstreichen. Dasselbe gilt auch sonst. So ist es besser, wenn ein Arzt gar nicht behandelt, als wenn er Schädliches verordnet; es ist schlimmer, schadhaft zu bauen, als überhaupt nicht zu bauen; wie es auch besser ist, ein Stück Land liegt brach, als dass es Disteln trägt. Wir sollen demnach nicht alles ergründen wollen, sondern uns zufrieden geben, wenn wir auch einiges nicht verstehen, damit jemand, der uns etwas belehren will, nicht doppelte Mühe mit uns hat. Mancher ist schon unheilbar geblieben, weil er einmal verkehrte Ansichten angenommen hatte. Es ist eben nicht die gleiche Arbeit, ob man unbebautes Land bepflanzt oder ob man erst böses Wurzelwerk ausreuten muss, um säen zu können. Dort ist das Ohr schon willig zum Hören, hier muss man erst jäten, ehe man neu säen kann. 

   Woher kommt es also, dass dieser oder jener reich ist? Ich will es euch jetzt sagen. Einige kommen zu Reichtum, weil Gott es so fügt, viele auch, weil Gott es zuläßt. Das ist die kurze und einfache Erklärung. Wie? fragst du, dem Buhler, dem Ehebrecher, dem Kuppler, dem Verschwender verleiht Gott selbst Reichtum? Nein, Gott fügt das nicht, aber er läßt es zu, dass ein solcher reich wird. Es ist ein gar gewaltiger und grenzenloser Unterschied zwischen Fügen und Zulassen. Aber warum läßt er es überhaupt zu? Weil die Zeit des Gerichtes noch nicht da ist, wo ein jeder nach Verdienst empfängt. Gibt es wohl etwas Häßlicheres, als dass jener Reiche dem Lazarus nicht einmal die Brosamen gab? Nun, es ging ihm aber auch nachher am allerelendesten, denn er konnte nicht einmal einen Tropfen Wasser erhalten, und der Grund davon lag hauptsächlich darin, dass er trotz seines Reichtums so hartherzig war. Sind zwei Menschen gottlos gewesen, wovon der eine auf Erden reich, der andere arm war, so richtet sich auch die Strafe nach ihren verschiedenen Verhältnissen im Leben; der Bessergestellte wird strenger gestraft, als der andere.



5.

Verstehst du nun, dass dieser Mann so fürchterliche Qualen leiden muß, da er seinen Lohn schon auf Erden empfangen hat? Wenn du also siehst, dass jemand trotz seiner Gottlosigkeit reich und glücklich ist, so beweine und beklage ihn, denn sein Reichtum erschwert ihm nur seine Strafe. Wer sündigt und sich nicht bekehren will, fordert nur den Zorn Gottes um so heftiger heraus, und so ziehen sich diejenigen, die hier von der Zuchtrute verschont bleiben und es sich wohl gehen lassen, um so härtere Strafe zu. Wenn ihr wollt, kann ich diese Tatsache nicht bloß durch Hinweis auf die Ewigkeit erhärten, sondern auch durch ein Beispiel aus dem irdischen Leben belegen. Als der hl. König David jene bekannte Sünde mit Bersabee begangen hatte, wies ihn der Prophet dafür zurecht, wobei er namentlich den Umstand besonders hervorhob, dass der König eine solche Freveltat verübt hatte, obschon er einen so großen Wohlstand besaß. Höre nur, wie ihn Gott gerade diesen Umstand vorhält: "Habe ich dich nicht zum König gesalbt, und habe ich dich nicht gerettet aus des Sauls Hand, gab ich dir nicht das gesamte Besitztum deines Gebieters und das ganze Haus Israel und Juda? Und wenn dir das zu wenig war, so wollte ich dir noch viel mehr dazu geben. Warum hast du nun getan, was Sünde ist in meinen Augen?" (2R 12,79). Es sind eben nicht für jede Sünde die gleichen Strafen festgesetzt, sondern verschiedene, entsprechend den Zeitumständen, der Person, der Würde, dem Gewissen und anderen Gesichtspunkten. Um meine Ausführungen noch einleuchtender zu machen, hebe ich eine Sünde heraus, die Unzucht. Wie mannigfaltig sind die Strafen, die ich dafür finde, nicht etwa aus mir selbst, sondern in der Hl. Schrift! Wer Unzucht getrieben hat, bevor noch das Gesetz gegeben wurde, wird anders gestraft als ein späterer; so spricht sich Paulus aus: "Alle, die ohne das Gesetz gesündigt haben, werden ohne das Gesetz zugrunde gehen. Wer aber nach der Gesetzgebung Unzucht treibt, verfällt einer schwereren Strafe, denn alle, die innerhalb des Gesetzes Unzucht getrieben haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden" (Rm 2,12). Wenn ein Priester buhlte, so wurde seine Strafe infolge seiner Würde bedeutend verschärft. Daher erklärt es sich auch, dass gewöhnliche Weiber im Falle der Unzucht einfach getötet, Töchter eines Priesters für das gleiche Vergehen verbrannt wurden; der Gesetzgeber wollte darin deutlich zeigen, welche Strafe ein Priester für eine derartige Sünde zu gewärtigen hätte. Denn wenn schon die Tochter eines Priesters bloß wegen dieses Umstandes strenger gestraft wurde, wieviel mehr mußte dies bei einem Priester selbst der Fall sein? Wurde ein Weib vergewaltigt, so ging sie straflos aus. Ebenso war die Strafe verschieden, je nach dem eine Reiche oder eine Arme Unzucht getrieben hatte, wie wir es in der eben berichtete Geschichte Davids gesehen haben. Noch schwerer als alle bereits erwähnte wird die Strafe nach Christi Ankunft sein, wenn ein Ungetaufter Unzucht treibt und so stirbt. Wie aber, wenn jemand nach Empfang der Taufe Unzucht treibt? Für einen solchen Sünder gibt es gar keinen Milderungsgrund mehr, wie es ebenfalls Paulus zu verstehen gibt, wenn er schreibt: "Hat jemand das Gesetz des Moses übertreten, stirbt er ohne Erbarmen auf zwei oder drei Zeugen hin, um wieviel schlimmerer Strafen, meint ihr, wird schuldig erachtet werden, wer den Sohn Gottes mit Füßen getreten und das Blut des Bundes für unrein geachtet hat, in welchem er geheiligt worden ist, und die Gnade des Geistes gehöhnt hat?" (He 10,28-29). Und wenn sich gar ein gottgeweihter Priester etwas Unzüchtiges zuschulden kommen läßt? Dann ist es das Übermaß aller Schlechtigkeit. 

   Siehst du also, wie verschiedene Grade derselben Sünde es gibt? Anders ist die Sünde vor dem Gesetze als nach demselben, anders beim Priester als bei einem Laien, anders bei einem Reichen als bei einem Armen, anders bei einem Katechumenen als bei einem Getauften, und wieder anders bei der Tochter eines Priesters. Ebenso bedingt auch das Gewissen einen großen Unterschied, denn "jener Knecht, welcher den Willen seines Herrn gekannt und nicht getan hat, wird viel Schläge erhalten" (Lc 12,47). Wer viele Beispiele vor Augen hat und dennoch sündigt, zieht sich ebenfalls eine größere Strafe zu. So lesen wir: "Wiewohl ihr es sahet, wurdet ihr auch später nicht reuigen Sinnes" (Mt 21,32), trotzdem ich euch so viel Fürsorge zugewandt habe. Daher macht er Jerusalem diesen Vorwurf: "Wie oft wollte ich eure Kinder versammeln, und ihr habt nicht gewollt" (Mt 23,37). Für jene, die ein üppiges Leben führen, bietet uns die Geschichte des Lazarus ein Beisspiel. Auch der Ort kann von Einfluß auf die Bosheit einer Sünde sein, wie dies der Herr andeutet durch die Worte: "zwischen Tempel und Altar". Dann die Beschaffenheit der Sünde selbst, denn es heißt: "Man darf sich nicht wundern, dass einer beim Stehlen ertappt wird, wenn er nämlich stiehlt, um seine hungernde Seele zu sättigen" (Pr 6,30), und anderswo: "Du hast durch deine Unzucht und Niedertracht deine Söhne und Töchter geopfert" (Ez 16,20). Ferner die Umstände der Person: "Versündigt sich ein Mensch gegen den anderen, so werden sie für ihn beten; wenn aber ein Mensch sündigt gegen den Herrn, wer soll da für ihn bitten?" (1R 2,25). 

   Ein weiterer Unterschied ergibt sich dann, wenn jemand schlechte Menschen an Schlechtigkeit noch überbietet, weshalb Ezechiel spricht: "Ihr seid ärger geworden als die Heiden" (Ez 5,7); dann, wenn sich einer durch anderer Beispiel nicht bessern läßt: "Jerusalem sah seine Schwester und hat sie gerechtfertigt" (Ez 16,51); oder wenn jemandem eine ganz besondere Fürsorge zuteil geworden, da es heißt: "Wenn in Tyrus und Sidon die Wunder geschehen wären, längst schon hätten sie Buße getan; Tyrus und Sidon wird es erträglicher sein als euch" (Mt 11,21-22). Siehst du also, wie sorgfältig alles abgewogen ist, wie nicht alle für die gleiche Sünde auch gleich bestraft werden? Wenn nun Gott seine Langmut an uns offenbart, ohne dass wir Nutzen daraus ziehen, wird es uns um so schlimmer ergehen. Das geht klar aus den Worten Pauli hervor, wo er schreibt: "Gemäß deiner Härte und deinem reuelosen Herzen häufest du dir Zorn an" (Rm 2,5) Nachdem wir also das alles jetzt wissen, sollen wir an keinem Ereignisse Anstoß nehmen, uns durch nichts irre machen lassen, sollen in unserer Gesinnung nicht hin und her schwanken, sondern uns vielmehr an die unerforschliche Vorsehung Gottes klammern, auf die Tugend bedacht sein und das Böse fliehen. Dann werden wir auch den ewigen Lohn erlangen durch die Gnade und die Güte unseres Herrn Jesus Christus, durch den und mit dem Vater und dem Hl. Geiste Ehre sei jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 74