Kommentar zum Evangelium Mt 80

Achtzigste Homilie. Kap.XXVI,V.6-16.

80 Mt 26,6-16
1.

V.6: "Während aber Jesus in Bethanien war, im Hause Simons, des Aussätzigen, V.7: trat zu ihm ein Weib, welches ein Alabastergefäß mit kostbarem Salböle hatte und sie goß dasselbe nieder auf sein Haupt, während er zu Tische war." 

   Es scheint sich zwar hier bei allen Evangelisten um ein und dasselbe Weib zu handeln; dem ist aber in Wirklichkeit nicht so. Ich glaube, bei den drei ersten ist es ein und dieselbe, bei Johannes jedoch nicht, sondern ein anderes, das unsere Bewunderung herausfordert, nämlich des Lazarus Schwester.[627] Auch den Aussatz Simons erwähnt der Evangelist nicht ohne Ab sicht, er will vielmehr damit das Vertrauen des Weibes erklären. Obschon nämlich der Aussatz als eine unreine und ekelhafte Krankheit bekannt war, hatte sie doch beobachtet, dass Jesus den Mann geheilt und die Krankheit Dan ihm genommen hatte, er würde sich sonst kaum bei dem Aussätzigen auf aufgehalten haben; sie faßte daher das Vertrauen, er werde vielleicht auch die Unreinheit von ihrer Seele wegnehmen. Ebenso erwähnt der Evangelist nicht ohne Zweck den Ort Bethanien; er will damit beweisen, dass der Herr freiwillig seinem Leiden entgegengeht. Hatte er früher, als die Eifersucht der Juden aufs höchste gestiegen war, diese gemieden, jetzt nähert er sich Jerusalem bis auf fünfzehn Stadien; er hatte sich also bisher mit bewußter Absicht ferngehalten. Da also das Weib ihn bemerkte, faßte sie Mut und trat zu ihm hin. Wenn nämlich schon die Blutflüssige zitternd und furchtsam dem Herrn genaht war, obwohl sie kein böses Gewissen hatte und ihre Unreinigkeit offenbar nur ganz natürlichen Ursachen entsprang, wieviel mehr mußte dann dieses Weib, das sich vieler Sünden bewußt war, zagen und bangen? Deshalb wendet sie sich erst dann an ihn, nachdem ihr viele andere Weiber, die Samariterin, die Chananiterin, die Blutflüssige und noch mehrere andere vorangegangen waren, weil sie eben viele Wollustsünden begangen hatte, und zwar tut sie es nicht öffentlich, sondern in einem Hause. Während alle anderen bloß kamen, um leibliche Heilung zu finden, tritt sie zu ihm, nur um ihn zu ehren und Besserung der Seele zu suchen. Sie hatte ja kein leibliches Gebrechen an sich, aber eben darum muß man sie besonders bewundern. 

   Auch naht sie sich ihm nicht, als wäre er nur ein bloßer Mensch, sonst hätte sie nicht das Haar zum Trocknen genommen; sie sieht in ihm etwas Größeres, Übermenschliches. Deshalb neigt sie den ausgezeichnetsten Teil ihres Leibes, ihr Haupt, zu Christi Füßen nieder. V.8: "Als es aber die Jünger sahen, zürnten sie und sagten: Wozu diese Verschwendung? V.9: Man hätte ja dieses Salböl teuer verkaufen und[628] den Armen geben können. V.10: Jesus aber wußte es und sprach: Was behelliget ihr dieses Weib? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. V.11: Denn die Armen habt ihr immerdar um euch, mich aber habt ihr nicht immer. V.12: Indem diese da dieses Salböl auf meinen Leib ausgegossen hat, hat sie es zu meinem Begräbnisse getan. V.13: Wahrlich, ich sage euch, wo immer in der ganzen Welt dieses Evangelium verkündigt wird, da wird auch das, was sie getan hat, erwähnt werden zu ihrem Gedächtnisse." 

   Woher rührt denn diese Gesinnung bei den Aposteln? Sie hatten doch vom Meister gehört: "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer" (Mt 6,13 u. Os 6,6), und den Vorwurf vernommen, den er den Juden machte, dass sie das Wichtige re beiseite ließen, die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und den Glauben, und viele Lehren, die er auf dem Berge über das Almosen vorgetragen hatte, hatten sie gehört. Aus all dem folgerten sie bei sich und meinten, wenn er Brandopfer und den Gottesdienst des Alten Bundes nicht gutheißt, so wird er um so weniger die Salbung mit Öl billigen. Das waren ihre Gedanken; obwohl aber der Herr in ihr Herz blickte, ließ er es doch zu. Es handelte sich ja um eine Tat großer Frömmigkeit und unbeschreiblichen Eifers. Deshalb erlaubte er auch in liebevoller Herablassung, dass sie das Öl über sein Haupt gieße. Wenn er nicht anstand, Mensch zu werden, von der Mutter getragen und genährt zu werden, warum wunderst du dich, dass er sich salben ließ? Wie der Vater Opferdampf und Opferrauch nicht zurückwies, so gewährt er der Buhlerin Zutritt, da er, wie schon bemerkt, ihre gute Absicht billigte. Auch Jakob hatte Gott einen Steinblock durch Salböl geweiht, bei den Opfern wurde Öl dargebracht und die Priester wurden mit Chrisam gesalbt. Die Jünger aber, die nicht in ihr Herz blickten, tadelten sie in ungeschickter Weise, stellen aber gerade durch ihre Vorwürfe die Großmut des Weibes recht ins Licht. Denn wenn die Apostel sagten, man hätte die Salbe um dreihundert Denare verkaufen können, so zeigt das nur, wieviel sie darauf verwendet und welche Hochherzigkeit sie an den Tag legte. Deshalb wies auch der Herr die Apostel zurecht mit den Worten: "Was behelliget ihr dieses Weib?" Dann erinnert er sie wieder an sein Leiden, indem er als Grund anführt: "sie hat es zu meinem Begräbnis getan", und als weiteren Grund: "Die Armen habt ihr immerdar unter euch, mich aber habt ihr nicht allezeit", und: "Wo immer dieses Evangelium verkündigt wird, da wird auch berichtet werden, was sie getan hat." Siehst du, wieder sagt er vorher, dass sie zu den Heiden gehen werden, und tröstet sie über seinen Tod durch den Hinweis, dass sich nach seiner Kreuzigung seine Macht besonders in der Verbreitung des Evangeliums über die ganze Erde zeigen wird. Wer ist also noch so erbärmlich, dass er einer so klaren Wahrheit widerstreitet? Wie er gesagt, so ist es eingetroffen. Wohin du auf der Welt kommen magst, überall findest du, dass auch die Tat dieses Weibes verkündet wird. Und doch war die Person nicht berühmt; es waren nicht viele Zeugen zugegen und die Sache ging nicht in einem öffentlichen Theater vor sich, sondern in einem Hause, in der Wohnung eines Aussätzigen, bloß im Beisein der Jünger.



2.

Wer hat also diese Geschichte verbreitet und bekannt gemacht? Die Macht desjenigen, der diese Worte gesprochen hatte. Mit Schweigen bedeckt sind die Heldentaten zahlreicher Könige und Feldherrn, selbst wenn ihre Denkmale noch bestehen; von den Männern, die Städte gegründet und mit Mauern umschlossen, die Schlachten gewannen, Siegeszeichen errichtet und viele Völker unterworfen haben, kennt man weder Geschichte noch Namen, obschon sie Standbilder aufgestellt und Gesetze gegeben hatten. Dass aber eine Buhlerin im Hause eines Aussätzigen, im Beisein von zehn Männern Öl ausgegossen, das feiert die ganze Welt, und trotzdem so lange Zeit schon seitdem verstrichen, ist das Andenken an die Tat noch nicht verblaßt, sondern bei Persern und Indern, Skythen und Thrakern, Sarmaten und Mauren und auf den Britischen Inseln wird gepriesen, was in der Stille in Judäa in einem Hause eine Buhlerin getan hat.Groß ist die Güte des Herrn. Er scheut sich nicht vor einer Buhlerin, die seine Füße küßt, mit Öl benetzt und mit ihren Haaren trocknet; er gestattet es und rügt sogar die Tadler. Sie hätten auch das Weib nicht in Verlegenheit setzen sollen, das einen so großen Eifer bekundete. Beachte indes auch den Umstand, dass die Jünger hochherzig und bereit zum Almosen waren. Daher sagte der Herr auch nicht unmittelbar, das Weib habe ein gutes Werk verrichtet, sondern spricht vorher: "Was behelliget ihr dieses Weib?" Sie sollten lernen, dass man von Leuten, die noch schwach sind, nicht sofort das Höchste verlangen dürfe. Darum faßt er auch die Handlung nicht an und für sich ins Auge, sondern in Anbetracht der Person des Weibes. Hätte er eine allgemeine Verhaltungsmaßregel geben wollen, so hätte er nicht auf das Weib Bezug genommen; weil er jedoch zeigen wollte, er rede um ihretwillen, damit sie nämlich ihren aufkeimenden Glauben nicht zerstörten, sondern vielmehr pflegten, deshalb spricht er diese Worte. Er will uns damit die Lehre geben, dass man jeden, der irgendein gutes Werk tut, mag es auch nicht sehr vollkommen sein, loben und ermuntern, zu Besserem anleiten und nicht im Anfang alles ganz vollkommen fordern soll. Dass das seine Absicht war, folgt aus der Tatsache, dass er, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legen konnte,doch erlaubte, dass seine Jünger einen Geldbeutel mit sich führen. Die Verhältnisse erforderten aber jetzt nicht, das gute Werk[629] zu verbessern, sondern nur, es anzunehmen. Hätte man ihn gefragt, ehe das Weib es getan hatte, so würde er vielleicht nicht so geurteilt haben; aber nachdem sie es getan hatte, so hat er nur eines im Auge, dass sie nicht durch den Tadel der Jünger beschämt würde, sondern dass sie durch sein Wohlwollen ermutigt im Guten fortschreite. Nachdem einmal das Öl ausgegossen war, war der Tadel der Jünger nicht mehr am Platze. 

   Wenn also du siehst, dass jemand hl. Geräte anschafft und darbringt, oder sonst etwas zum Schmuck der Wände oder des Bodens in der Kirche spendet, sage nicht, das Gespendete solle verkauft oder zerstört werden, damit du nicht den guten Willen des Spenders lähmest. Fragt aber jemand vorher, dann lege ihm nahe, es den Armen zu geben. Auch der Herr handelt so, um nicht die Absicht des Weibes zu verletzen und spricht nur Worte, die geeignet sind,ihr Mut zu machen. Und wenn er darauf sagte: "Sie hat es zu meinem Begräbnis getan", so hätte die Erwähnung dieses Umstandes, nämlich seines Todes und Begräbnisses, das Weib bestürzen können; aber siehe, wie er sie wieder durch das Folgende aufrichtet und spricht: "In der ganzen Welt wird verkündet werden, was sie getan hat." In diesen Worten lag aber auch ein Trost für seine Jünger und dazu eine Aufmunterung und Belobung des Weibes. Alle, will der Herr sagen, werden sie in der Folgezeit preisen; jetzt aber hat sie mein Leiden angekündigt, indem sie die Erfordernisse zur Leichenbesorgung brachte. Es soll sie niemand deshalb tadeln. Ich selbst bin so weit entfernt, sie darob zu verdammen, als hätte sie etwas Böses getan, oder sie zu schelten, als hätte sie verkehrt gehandelt, dass ich vielmehr die Tat nicht verborgen lassen werde; die ganze Welt soll vielmehr erfahren, was sie in einem Hau se und in der Stille getan hat. Ihre Tat verriet ja auch eine fromme Gesinnung, einen lebendigen Glauben und ein zerknirschtes Gemüt. Warum aber verhieß er dem Weibe keinen geistigen Lohn, sondern das inmmerwährende Andenken an ihre Tat? Er suchte sie durch das eine zum Vertrauen auf das andere zu führen. Denn wenn sie ein gutes Werk getan hatte, so war es klar, dass sie auch einen gebührenden Lohn dafür empfangen würde. V.14: "Zu der Zeit ging einer von den Zwölfen, welcher genannt wird Judas Iskariot, zu den Hohenpriestern V.15: und sprach: Was wollt ihr mir geben, und ich werde ihn euch überliefern?" 

   Zu welcher Zeit war das? Als der Herr die erwähnten Worte gesprochen, als er gesagt hatte: "zu meinem Begräbnisse". Aber auch das hatte ihn nicht erschüttert oder mit Furcht erfüllt, dass das Evangelium überall werde gepredigt werden; diese Tatsache zeugte doch von einer unbeschreib lichen Macht[630] . Weiber, Buhlerinnen erwiesen dem Herrn eine so große Ehre, und er begeht nur zur selben Stunde eine teufliche Tat! Weshalb erwähnen denn die Evangelisten auch des Judas Zunamen? Weil es noch einen anderen Judas gab. Sie nehmen aber keinen Anstand, zu berichten, dass er zu den Zwölfen gehörte; so wenig verhehlen sie, was schmachvoll für sie schien. Sie hätten einfach sagen können, er sei ein Jünger gewesen; Jünger waren ja auch andere. Nichtsdestoweniger fügen sie hinzu: "einer von den Zwölfen" (Jn 6,72), sozusagen einer aus der zuerst und vor allen anderen auserlesenen Schar, ein Genosse des Petrus und Johannes. Sie waren eben nur darauf bedacht, die Wahrheit zu berichten, nicht aber, was geschehen war, zu verschweigen. Daher übergehen sie zwar viele Wunder; wo es sich dagegen um etwas offenbar Schimpfliches handelte, da verheimlichen sie es nicht, sondern berichten es ungescheut, mag es nun eine Rede, eine Handlung oder sonst etwas sein.



3.

Nicht nur die anderen folgen diesem Grundsatze, sondern auch Johannes, der sonst immer nur das Erhabenere berichtet. Er erzählt auch besonders ausführlich die Schmähungen und Beschimpfungen, die man dem Herrn antat. Nun siehe, wie groß die Schlechtigkeit des Judas ist, da er aus freien Stücken ans Werk ging, da er es um Geld und zar um so wenig tut. Lukas erwähnt, er habe mit den Hauptleuten ein Übereinkommen getroffen. Da sich die Juden öfters empört hatten, stellten die Römer Männer auf, denen die Aufrechterhaltung der Ordnung oblag. Die Selbständigkeit der Juden sollte ja schließlich nach den Propheten verloren gehen. Zu diesen Hauptleuten also begab sich Judas und sagte: V.15: "Was wollt ihr mir geben und ich werde ihn euch überantworten? Sie aber setzten ihm dreißig Silberlinge aus. V.16: Und von da an suchte er eine günstige Gelegenheit, um ihn zu über liefern." Aus Furcht vor dem Volke trachtete Judas, den Herrn zu ergreifen, wenn er irgendwo allein wäre. Welch eine Torheit! Wie hatte ihn doch die Geldgier so ganz verblendet! Er hatte oft gesehen, wie Christus durch die Menge hindurchschritt, ohne dass man ihn ergreifen konnte. So viele Beweise seiner Gottheit und Macht hatte Jesus gegeben, und Judas hofft ihn zu fangen, und zwar trotz der vielen drohenden und doch milden Worte, die er zu ihm gesprochen, um ihn von seinen bösen Plänen abzubringen. Ja, selbst beim Abendmahle hatte der Herr diese Sorge nicht vergessen; bis zum letzten Tage redete er mit ihm darüber. Aber es fruchtete nichts bei ihm. Trotzdem ließ sich der Herr nicht abhalten. 

   Diese Handlungsweise des Herrn wollen auch wir beherzigen und wollen nichts unversucht lassen, um die Sünder und Nachlässigen zu ermahnen, zu belehren, zu ermuntern, anzuspornen, ihnen zu raten, selbst wenn wir nichts ausrichten sollten. Auch Christus wußte ja voraus, dass der Ver räter unverbesserlich war; aber gleichwohl hört er nicht auf, das Seinige zu tun; er mahnt, droht, spricht Wehe über ihn, aber niemals offen und vor anderen, sondern im geheimen. Ja, im Augenblicke des Verrates läßt er sich von ihm sogar küssen;allein auch das macht keinen Eindruck auf Judas. Ein so großes Laster ist die Geldgier. Sie machte Judas zum Verräter und Gottesräuber. Höret es alle, ihr Habsüchtigen, die ihr an derselben Krank heit wie Judas leidet; höret es und hütet euch vor dieser Leidenschaft. Wenn der Gefährte Christi, der Wunder gewirkt und eine so ausgezeichnete Schule durchgemacht hatte, in einen so fürchterlichen Abgrund stürzte, weil er diese Seuche nicht mied, um wieviel mehr werdet ihr, wenn ihr nicht auf die Schrift höret, wenn ihr nicht fortwährend auf der Hut seid, Knechte dieser Leidenschaft werden, da ihr mit Leib und Seele am Irdischen klebet? Täglich war Judas in der Gesellschaft dessen, der nicht hatte, wohin er sein Haupt legen konnte, täglich erhielt er in Wort und Bei spiel die Lehre, man solle weder Gold noch Silber, noch zwei Kleider be sitzen, und dennoch nahm er es sich nicht zu Herzen. Wie magst da du er warten, diesem Laster zu entrinnen, da du keine so sorgfältige Behandlung findest und keinen besonderen Eifer entfaltest? Fürchterlich, ja fürch terlich ist dieses wilde Tier. Und doch kannst du, wofern du nur willst, leicht darüber Herr werden. Diese Begierde liegt ja nicht in der Natur begründet. Beweis dafür sind alle jene, die sich davon frei gehalten haben. Was aber in der Natur liegt, haben alle gemeinsam. Diese Leiden schaft hat einzig darin ihren Ursprung, dass man sie vernachlässigt, daraus entsteht sie, darin wächst sie. Hat sie einmal jemanden erfaßt, der Neigung dazu hat, so bringt sie es dahin, dass er gegen die Gesetze seiner Natur lebt. Wenn solche Leute ihre Stammesgenossen, ihre Freunde, ihre Brüder, ihre Verwandten, kurz niemand mehr kennen und dazu sich selbst nicht, so heißt das doch gegen die Natur leben. Es ist also klar, dass die Schlechtigkeit überhaupt und besonders das Laster der Habsucht, in deren Schlingen Judas zum Verräter wurde, etwas Naturwidriges ist. 

   Wie konnte er aber so weit sinken, fragst du, da er doch von Christus zum Apostel berufen worden war? Die Berufung Gottes zwingt und nötigt keinen, wider Willen die Tugend zu wählen, sondern mahnt und rät nur, läßt nichts unversucht und tut alles, um dem Menschen die Tugendhaftigkeit nahe zu legen; wenn sich ein oder der andere nicht daran kehrt, so wird er nicht gezwungen. Willst du aber die Gründe kennen lernen, warum Judas gefallen ist, so wirst du finden, dass es die Geldgier war, die ihn ins Verderben geführt hat. Und wie geriet er denn in die Fesseln dieser Lei denschaft? Weil er nachlässig wurde. Aus dieser Quelle erklären sich alle Wandlungen dieser Art, gleichwie aus dem Eifer die umgekehrten. Wie viele Gewalttätige sind jetzt sanfter als Schafe! wie viele Wollüstige sind spä ter enthaltsam geworden! wie viele, die vordem habsüchtig waren, geben jetzt sogar ihren eigenen Besitz hin! Und aus der Nachlässgkeit ist hin wiederum das Gegenteil hervorgegangen. So z.B. lebte Giezi in der Nähe eines hl. Mannes und dennoch stürzte ihn eben diese Seuche ins Verderben. Diese Leidenschaft ist eben die allerschlimmste; sie macht die Menschen zu Grabschändern und Mördern, sie facht Kriege und Streit an, überhaupt jegliches Unheil hat in ihr seinen Ursprung. Ein Habgieriger ist ganz unbrauchbar, sei es im Kriegsdienste, sei es im bürgerlichen Leben, ja nicht allein in der Öffentlichkeit, sondern auch in seinem Privatleben. Wenn er heiratet, nimmt er sich nicht etwa ein tüchtiges Weib, sondern das allernichtsnutzigste; wenn er ein Haus kauft, wählt er nicht ein solches, das einem Freien geziemt, sondern das am meisten Ertrag abwerfen kann; wenn er Sklaven oder sonst etwas erwerben will, greift er nach dem Schlechtesten. Doch was rede ich von Kriegsdienst, von Staatsgeschäften und Familienangelegenheiten? Wäre er selbst ein König, er wäre doch der allerelendeste Wicht, ein Schandfleck der Welt, der allerärmste Mensch. Er wird gesinnt sein, wie einer aus dem niederen Volke, und nicht etwa das Eigentum aller anderen wie das seinige betrachten, sondern sich nur für einen aus der Gesamtheit halten und wähnen, er besitze weniger als alle anderen, selbst wenn er sich deren Eigentum aneignet. Der Maßstab für sein Vermögen ist nur seine Begierde nach dem, was er nicht besitzt, und so erachtet er das Seinige im Vergleich mit dem der übrigen für nichts.



4.

Daher sagt auch jemand:"Es gibt nichts Gottloseres als einen Geldgierigen" (Si 10,9). Denn ein solcher verkauft sich selbst und wandelt als Feind aller Welt umher, er ist unzufrieden, weil die Erde anstatt der Ähren, die Quellen anstatt des Wassers, die Gebirge anstatt der Steine kein Gold liefern, er ist unglücklich über ein fruchtbares Jahr, und niedergeschlagen, wenn es den Mitmenschen gut geht; er weicht allen Gelegenheiten aus, wo es kein Geld zu gewinnen gibt, erträgt aber alle Mühen, wo auch nur zwei Pfennige zu holen sind; er haßt alle Leute, Reiche wie Arme, die Armen, weil sie zu ihm betteln kommen könnten, die Reichen, weil er ihr Vermögen nicht selbst besitzt. Er denkt, das Vermögen aller anderen gehöre eigentlich ihm und ist daher gegen alle voll Unwillen, als ob alle ihm Unrecht täten. Er weiß nicht, was Genughaben und Sattsein heißt, und ist so der allerelendeste Wicht, wie anderseits der allerbeneidenswerteste Mensch der ist, der von all dem frei ist und tugendhaft lebt. 

   Der Tugendhafte genießt das allergrößte Glück, mag er auch ein Sklave oder ein Gefangener sein. Niemand kann ihm Böses zufügen, auch wenn man sich aus aller Welt gegen ihn zusammenscharte, um mit Waffen und Heeresgewalt ihn zu befehden. Der Schlechte und Böse hingegen, wie wir ihn geschildert haben, mag er ein König sein und tausend Kronen tragen, er muß sich doch vom ersten besten das Allerärgste gefallen lassen. So macht los ist das Laster, so stark ist die Tugend. Warum kränkst du sich also, wenn du arm bist? warum weinst du, da du doch ein Fest feierst? Denn es ist eine Festzeit, wenn man arm ist. Warum jammerst du? Die Armut ist ein Hochfest, wofern du nur vernünftig bist. Warum klagst du, Kind? So muß man dich ja nennen, wenn du dich so beträgst. Hat dich einer geschlagen? Ja, was hat denn das zu sagen: er hat dich damit nur abgehärteter gemacht. Er hat dir das Geld weggenommen? Er hat dich nur vom Übermaß deiner Bürde erlöst. Er hat deine Ehre untergraben? Damit berührst du nur wieder eine andere Art von Freiheit. Vernimm doch, wie weise die Heiden darüber denken, wenn sie sagen: Man kann nichts Schlimmeres erdulden, wenn man sich nichts daraus macht. Aber er hat dich um dein großes, umfriedetes Haus gebracht? Wohlan, siehe die ganze Erde, die öffentlichen Gebäude, liegen vor dir, du kannst dich daran ergötzen oder sie benützen, so viel du willst. Gibt es etwas Erfreulicheres oder Reizenderes als das Himmelsgewölbe? Wie lange gibt es noch Bettler und Arme? Reich kann nur der genannt werden, der in der Seele reich ist, und nur der ist arm, der es in der Gesinnung ist. Da die Seele den Leib überwiegt, so ist dieser als das Mindere nicht imstande, die Seele nach seinem Wesen zu gestalten, vielmehr zieht sie, weil sie Herrin ist, das minder Vornehme zu sich empor und gestaltet es um. Das können wir am Herzen beobachten. Wenn es Schaden nimmt, so leidet der ganze Leib darunter; ist es krank, so trifft der Nachteil den ganzen Menschen; ist es gesund, so kommt es dem ganzen Leibe zustatten. Mag auch sonst ein Teil angegriffen werden, so wird doch das Übel leicht abgewendet, wenn das Herz heil bleibt. 

   Um meine Ausführungen noch mehr ins Licht zu stellen, frage ich, was nützt es, wenn die Zweige grünen, während die Wurzel fault? und wenn sie gesund ist, was schadet es, dass die Blätter oben verdorren? Ebenso ist es auch in unserem Falle; wenn die Seele arm ist, nützt es nichts, dass man Geld hat, und wenn die Seele reich ist, kann die Armut nicht schaden. Wie fragst du, kann die Seele reich werden, wenn das Geld fehlt? Gerade dann kann sie am ehesten reich werden, ja gerade dann ist sie gewöhnlich am reichsten. Ist es, wie wir schon oft bewiesen haben, ein Zeichen von Reichtum, wenn man das Geld verachtet und nichts braucht, dann auch ein Zeichen der Armut, wenn man etwas braucht; auch ist es leichter, in der Armut als im Reichtum das Geld geringzuschätzen. Es ist also offenbar die Armut am meisten geeignet den Menschen reich zu machen. Jedermann weiß ja, dass ein Reicher mehr nach Geld geizt als ein Armer, gleichwie ein Trunkenbold heftigeren Durst leidet als einer, der nur nach Bedürfnis trinkt. Das ist eben das Eigentümliche an der Leidenschaft, dass sie durch Befriedigung nicht erstickt, sondern im Gegenteil nur um so heftiger entfacht wird. Das Feuer wütet um so ärger, je mehr Nahrung es findet; so wächst auch die Geldgier dann am stärksten, wenn man sie mit Gold sättigen will. Wenn demnach das Verlangen nach größerem Besitz Armut offenbart, dann ist der Reiche arm, weil er dieses Verlangen hat. Siehst du, dass die Seele dann besonders arm ist, wenn sie reich, und reich, wenn sie arm ist? Diesen Beweis können wir ferner auch an Personen führen. Gesetzt, zwei Leute werden ihres Geldes beraubt, von denen der eine zehntausend Talente, der andere zehn hat; wer von beiden wird nun schmerzlicher betroffen werden? Doch wohl der, welcher zehntausend eingebüßt hat. Es würde ihm aber nicht mehr leid tun, wenn er nicht mehr daran gehangen hätte; da er aber mehr daran hängt, ist auch sein Verlangen heftiger; da er mehr darnach verlangt, so ist er auch ärmer. Man verlangt ja nur nach dem, was einem besonders mangelt, aus dem Mangel erwächst die Begierde. Wo Sättigung vorhanden ist, kann keine Begierde entstehen; dürstet man doch nur dann so sehr, wenn man nicht genug zu trinken hat. Alles das habe ich gesagt, um zu zeigen, dass uns, wofern wir vernünftig sind, niemand schädigen kann, und dass das Übel nicht in der Armut, sondern in uns selbst liegt. Darum bitte ich, mit allem Eifer die Sucht der Habgier auszurotten; dann werden wir hienieden reich werden und dazu noch den ewigen Lohn erhalten, der uns allen zuteil werden möge durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dessen Ehre währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!





Einundachtzigste Homilie. Kap. XXVI,V.17-25.

81 Mt 26,17-25
1.

V.17: "An dem ersten Tage aber der ungesäuerten Brote traten die Jünger zu Jesus und sagten: Wo willst du, dass wir für Dich Vorbereitung treffen, das Ostermahl zu essen? V.18: Er aber sprach: Gehet hin in die Stadt zu jenem Bekannten und sprechet zu ihm: Es sagt der Meister: Meine Zeit ist nahe, bei dir halte ich Ostermahl mit meinen Jüngern." 

   Mit dem ersten Tage der ungesäuerten Brote meint der Herr den Tag, der diesen vorherging, weil man den Tag vom Vorabende an zu rechnen pflegt. Er spricht also von dem Tage, an dem abends das Osterlamm geopfert werden sollte; es war also der fünfte Tag der Woche, da sie zu ihm traten. Der eine Evangelist nennt diesen Tag den Tag vor den ungesäuerten Broten, indem er die Zeit bezeichnet, da sie zu ihm traten; ein anderer sagt: "Es kam aber der Tag der ungesäuerten Brote, an welchem geschlachtet werden mußte das Osterlamm" (Lc 22,7). Mit dem Ausdrucke "es kam" will er sagen: er war nahe, er war vor der Tür; offenbar meint er den betreffenden Abend. Mit dem Abende begannen sie nämlich das Fest, weshalb ein jeder auch beifügte:"Da man das Osterlamm schlachtete" (Mc 14,12). Die Jünger sagen also: "Wo willst Du, dass wir für Dich Vorbereitung treffen, das Ostermahl zu essen?" Daraus ist wieder ersichtlich, dass Jesus kein eigenes Haus besaß, keine Unterkunft; und ich glaube, auch die Jünger nicht, sonst hätten sie ihn doch dahin eingeladen. Sie besaßen aber deshalb keines, weil sie auf alles verzichtet hatten. Warum feierte er dann aber das Ostermahl? Um durchwegs bis zum letzten Tage zu zeigen, dass er kein Gegner des Gesetzes sei. Und warum sendet er die Jünger zu einem unbekannten Manne? Damit will er kundgeben, dass es in seiner Macht lag, nicht zu leiden. Denn wenn er diesen Mann bewog, sie aufzunehmen, und zwar durch bloße Worte, wie hätte er erst mit seinen Kreuzigern verfahren können, wenn es sein Wille gewesen wäre, nicht zu leiden? Er geht hier so vor wie seinerzeit, als es sich um die Eselin handelte. Damals hatte er gesagt: "Wenn euch jemand etwas sagt, so spreche nur, der Herr bedarf ihrer"; ähnlich drückt er sich auch hier aus: "Der Meister sagt: bei dir halte ich das Ostermahl." Mich wundert es nicht so sehr, dass ihn ein Unbekannter aufnahm, als vielmehr, dass sich derselbe aus der Feindschaft der Menge nichts machte, da er doch gewärtigen mußte, er werde sich dadurch heftigen Haß und unversöhnliche Feindschaft zuziehen. Da sie also den Mann nicht kannten, gab er ihnen ein Kennzeichen. Ähnlich wie[631] der Prophet zu Saul gesagt hatte: "Du wirst einen Mann mit einem Schlauche hinaufgehen sehen" (1S 10,3), so spricht er: "einen Mann mit einem Kruge" (Mc 14,13 u. Lc 22,10). Beachte, wie er da wieder einen Beweis seiner Macht gibt. Er sagte nicht bloß: "Ich halte das Ostermahl" sondern fügt auch bei: "Meine Zeit ist na he." Das tat er, teils um die Jünger immer wieder an sein Leiden zu gemahnen, damit sie durch die häufigen Vorherverkündigungen auf die Zukunft gefaßt würden, teils um den Jüngern, dem Wirte und allen Juden zu zeigen, dass er sich nicht unfreiwillig dem Leiden unterzieht. Er setzt noch bei: "Mit meinen Jüngern", damit man hinreichend Vorbereitungen treffe und der Mann nicht glaube, der Herr wolle sich verbergen. V.20: "Als es aber Abend geworden, ließ er sich zu Tische nieder mit seinen zwölf Jüngern." 

   Da seht! Welche Unverschämtheit von seiten des Judas! Auch er war dabei und kam, um an den Geheimnissen und an der Mahlzeit teilzunehmen; er wird sogar bei Tische beschuldigt, so dass es ihm hätte zu Herzen gehen sollen, auch wenn er ein wildes Tier gewesen wäre. Deshalb deutet auch der Evangelist an, dass Christus während der Mahlzeit von dem Verrate spricht, um durch diese Umstände der Zeit und des Mahles zu zeigen, wie groß die Bosheit des Verräters war. Als nämlich die Jünger gemäß dem Auftrage Jesu gehandelt hatten, ließ er sich, als es Abend geworden, mit den zwölf Jüngern zu Tische nieder. V.21: "Und während sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch, einer aus euch wird mich verraten." Vor der Mahlzeit hatte er ihnen auch noch die Füße gewaschen. Beachte da, wie schonend er mit dem Verräter verfährt. Er sagte nicht: der und der wird mich verraten, sondern: "einer aus euch", um ihm noch einmal durch die Geheimhaltung einen Anstoß zur Umkehr zu geben. Ja, um ihn zu retten, versetzt er lieber alle in Schrecken. Einer aus euch zwölfen, sagt er, die ihr immer um mich gewesen seid, denen ich die Füße gewaschen habe, denen ich so große Verheißungen gemacht habe. Da erfaßte diese heilige Gesell schaft ein unsägliches Leid. Johannes erzählt: "Sie wurden beunruhigt und sahen einander an" (Jn 13,22), und ein jeder fragte voll Angst, ob er es sei, wiewohl ihnen ihr Inneres nichts so Abscheuliches vorzuwerfen hatte, und Matthäus berichtet: V.22: "Und tief betrübt begannen sie, jeder einzelne zu sagen: Bin etwa ich es, Herr! V.23: Er aber antwortete und sprach: Jener ist es, welchem ich den Bissen Brot eintunken und darreichen werde" (vgl. Jn 13,26) Beachte, wann er den Verräter entlarvte, nämlich erst, als er die anderen von der Bestürzung befreien wollte, denn sie waren vor Furcht fast tot, weshalb sie ihn auch mit Fragen bestürmten. Indessen nicht allein, um ihnen die Angst zu benehmen, tat er es, sondern auch um den Verräter selbst zu bessern. Da er sich nämlich trotz öfterer Anspielung darauf ob seiner Gefühllosigkeit doch nicht gebessert hatte, so riß ihm der Herr, um ihn fester zu fassen, die Maske herab. Da die Apostel vor Kummer zu fragen begannen: "Bin etwa ich es, Herr?" entgegnete er: V.23: "Der mit mir in die Schüssel tunkt, der wird mich überantworten. V.24; Der Menschensohn geht zwar von hinnen, wie geschrieben ist von ihm; wehe aber den Menschen, durch welchen der Menschensohn überantwortet wird. Gut wäre es für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre." Einige sind der Meinung, Judas sei so frech gewesen, dass er ohne Achtung vor dem Meister zugleich mit ihm eintunkte; ich meine jedoch, Christus hat so gehandelt, um ihn zur Umkehr und Sinnesänderung zu bewegen; auch dem lag also eine höhere Absicht zugrunde.



2.

Man darf aber über all das nicht einfach hinwegeilen, sondern muß es tief in sein Herz einprägen, dann wird der Zorn nicht leicht Raum finden. Wenn man an jenes Abendmahl denkt, wie der Verräter mit dem Welterlöser zu Tische saß, wie gelassen er mit dem redet, der schon daran war, ihn zu verraten, muß man da nicht das ganze Gift des Zornes und der Rachsucht aus dem eigenen Innern hinauswerfen? Siehe, wie sanft der Herr äußert: "Der Menschensohn geht dahin, wie von ihm geschrieben steht." Diese Worte bezweckten einerseits, die Jünger aufzurichten, damit sie nicht meinten, er handle aus Schwäche so, anderseits den Verräter zu bessern. "Wehe jenem, Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird; es wäre besser für jenen Menschen, wenn er nicht geboren wäre." Beachte wieder, welch unaussprechliche Sanftmut in seinen Tadelworten liegt. Er spricht die Worte nicht mit Heftigkeit, sondern voll Erbarmen und zugleich verblümt, nicht bloß die vorausgehende Härte, sondern auch die nachherige Unverschämtheit des Judas die größte Entrüstung hervorrufen mußte. Nach dem Tadel sagt nämlich auch Judas: V.25: "Bin etwa ich es, Rabbi?" O welch eine Verstocktheit! Obschon er sich des Verrates bewußt ist, fragt er noch! Sogar der Evangelist kann bei dem Berichte sein Staunen über diese Frechheit nicht verbergen. Wie verhält sich nun Jesus in seiner Sanftmut und Milde? "Du hast es gesagt", erwidert er. Hätte er nicht antworten sollen: Nichtswürdiger, Ausbund von Nichtswürdigkeit, Verfluchter und Niederträchtiger, schon lange brühtest du über deiner Schandtat, bist schon hingegangen, um den teuflichen Vertrag zu schließen, hast schon die Summe vereinbart, und da ich dich beschuldige, wagst du noch eine solche Frage? Allein kein solches Wort kommt über seine Lippen, er sagt bloß: "Du hast es gesagt." Damit gibt er uns die Weisung, Böses gelassen zu ertragen. 

   Aber könnte mich jemand fragen: Wenn es nun geschrieben steht, dass er das leiden soll, weshalb macht er dem Judas Vorwürfe? Der tat doch nur, was geschrieben stand. Freilich, aber ihn leitete nicht diese Absicht, sondern seine Bosheit. Wenn man die Absicht aus dem Auge läßt, wird man sogar den Teufel von der Schuld freisprechen müssen. Indessen steht die Sache nicht so, durchaus nicht. Der eine wie der andere hat jede erdenkliche Strafe verdient, obwohl die Welt erlöst wurde. Denn nicht der Verrat des Judas hat die Erlösung bewirkt, sondern Christi Weisheit und die Kunst seiner Vorsehung, indem er sich der Bosheit der Menschen bediente, um uns zu retten. Wie aber, sagst du, hätte ihn nicht Judas verraten, würde es dann nicht ein anderer getan haben? Was hat das aber mit unserer Frage zu schaffen? Ja, entgegnest du, wenn Christus gekreuzigt werden sollte, so mußte es doch durch jemanden geschehen; und wenn schon durch jemand, dann nur durch einen so ruchlosen Menschen. Wären alle gut gewesen, dann wären die Veranstaltungen zu unserer Erlösung vereitelt worden, Keineswegs. Der Allweise hätte schon unser Heil zu bewerkstelligen gewußt, auch wenn dem so gewesen wäre; seine Weisheit ist reich und unerschöpflich an Mitteln. Eben deshalb spricht er "Wehe" über den Menschen, damit ja niemand meine, er habe dem Erlösungswerk einen Dienst geleistet, Indessen, wieder wendet jemand ein: Wenn es gut gewesen wäre, dass er nicht geboren würde, weshalb ließ es dann Gott zu, dass er und die anderen Bösen auf die Welt kamen? Du solltest die Bösen tadeln, dass sie böse geworden sind, trotzdem es in ihrer Macht lag, es nicht zu werden; indessen kümmerst und sorgst du dich um das, was Gott gefällt. Du mußt doch wissen, dass niemand genötigt wird, schlecht zu werden. 

   Aber es hätten nur Gute geboren werden sollen, erwiderst du, und die Hölle wäre nicht notwendig noch auch Strafe und Qualen, und es gäbe keine Spur von Schlechtigkeit, Böse sollten gar keine geboren werden, oder sie sollten wenigstens augenblicklich wieder sterben. Zunächst muß ich dir das Wort des Apostels entgegenhalten: "O Mensch, wer bist du. dass du haderst mit Gott? Wird wohl das Gebilde sagen zu seinem Bildner: Warum hast du mich so gemacht?" (Rm 9,20). Verlangst du aber eine Erklärung, so möchte ich sagen, dass man die Guten mehr bewundert, wenn sie mitten unter Bösen leben, und dass ihre Geduld und Tugendgröße gerade dadurch besonders ans Licht tritt. Du aber sprichst, als ob es keines Ringens und Kämpfens bedürfte. Wie, sagst du, damit die einen gut erscheinen, werden die anderen gestraft? Gott bewahre! Das geschieht nur infolge ihrer Schlechtigkeit. Nicht weil sie auf dem Schauplatze des Lebens auftreten, sind sie böse, sondern weil sie nachlässig sind: deshalb verfallen sie aber auch der Strafe. Wie sollten sie auch keine Strafe verdienen, wenn sie so treffliche Lehrer in der Tugend besitzen, ohne daraus Vorteil zu ziehen? Wie die Guten und Braven doppelten Lohnes wert sind, weil sie ordentlich gewesen sind, ohne sich von den Bösen verderben zu lassen, so verdienen die Schlechten doppelte Strafe, weil sie böse gewesen sind, da sie doch gut zu sein vermochten[632] , und weil sie sich nicht nach den Guten richteten. Allein, lasset uns sehen, was dieser Elende auf die Beschuldigung des Meisters entgegnet. Was sagt er? "Ich bin es doch nicht etwa, Meistert?" Warum hatte er nicht gleich anfangs so gefragt? Er hatte sich eingeredet, verborgen bleiben zu können, als der Herr sagte: "Einer aus euch"; als er ihn jedoch bekannt gemacht hatte, wagte er im Vertrauen auf die Nachsicht des Meisters wieder zu fragen, als ginge ihn die Beschuldigung gar nichts an. Daher redete er ihn auch mit "Meister" an.



3.

Welche Verblendung! Wie weit hat sie ihn geführt? Das ist eben der Geldgier eigen, sie macht die Menschen töricht und unvernünftig, frech und hündisch; ja noch schlimmer als Hunde, sie macht sie aus Hunden zu Teufeln. Judas schloß sich dem Teufel an, der ihn fangen wollte, und verriet Jesus, der ihm wohl wollte; damit war er aus freiem Willen schon zum Teufel geworden. So, wie Judas war, macht die unersättliche Gier nach Geld auch andere toll, wahnsinnig, ganz versessen auf Gewinn. Wie kann aber Matthäus mit den anderen (Lc 22,3) berichten, dass der Teufel damals in ihn fuhr, als er über den Verrat verhandelte, Johannes hingegen, dass "nach dem Bissen der Satan in ihn fuhr"? (Jn 13,27), und er mußte es doch wissen, da er früher erzählt: "Während das Abendmahl gehalten wurde, nachdem der Teufel es bereits in das Herz des Judas eingegeben hatte, dass er ihn verrate" (Jn 13,2). Wie kommt es, dass er nun sagt: "Nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn"? Weil der Teufel nicht unvermittelt und plötzlich in einen fährt, sondern zuerst viele Versuche macht. So geschah es auch hier. Anfangs forschte er ihn aus und machte sich unvermerkt an ihn, und als er ihn zur Aufnahme bereit fand, fuhr er schließlich in ihn und beherrschte ihn völlig. Wie kam es aber, dass sie beim Genusse des Osterlammes gegen das Gesetz verstießen? Es war ja nicht gestattet, sich dabei niederzulassen (Ex 12,11). Was ist hierauf zu erwidern? Dass sie sich erst nach dem Genusse des Osterlammes zum Abendmahle niederließen. Ein anderer Evangelist erzählt, dass der Herr an jenem Abende nicht bloß das Osterlamm aß, sondern auch sprach: "Sehnlichst habe ich verlangt, dieses Osterlamm mit euch zu essen" (Lc 22,15), nämlich das Osterlamm dieses Jahres. Was heißt das? Es verlangt ihn nach dem Kreuzestode, weil durch seinen Tod die Welt erlöst, die Geheimnisse eingesetzt und das Elend hinweggenommen werden sollte. 

   Allein nichts erweichte, nichts rührte, nicht besserte jenes gefühllose Tier. Der Herr wehklagte über ihn: "Wehe jenem Menschen"; er flößte ihm Furcht ein: "Gut wäre es gewesen, wenn er nicht geboren wäre?; er beschämte ihn: "Wem ich den Bissen eintauche und reichen werde." Nichts von all dem vermochte ihn zurückzuhalten; wie eine Art Tollwut, ja wie eine noch gefährlichere Krankheit, hatte ihn die Geldgier erfaßt. Sie ist ja noch schlimmer als die Tollwut. Würde wohl ein Tollwütender so etwas getan haben? Nicht Schaum geifert aus des Judas Mund, wohl aber der Tod des Herrn; er ballte nicht die Hände zur Faust, aber er streckte sie aus zum Verkaufe des kostbaren Blutes. Sein Wahnsinn war um so ärger, weil er dabei seinen gesunden Verstand besaß. Aber er redet doch kein unvernünftiges Zeug? Gibt es noch etwas Unvernünftigeres als die Rede: "Was wollt ihr mir geben und ich werde ihn euch verraten"? "Ich werde ihn verraten", so spricht der Teufel durch seinen Mund. Aber er stampfte doch nicht mit den Füßen auf den Boden? Ist es nicht viel besser, auf den Boden mit den Füßen zu stampfen, als in dieser Weise aufrecht zu stehen? Aber er schlug sich auch nicht an Steine an? Das wäre viel besser gewesen, als das Entsetzliche, das er tat. Soll ich vielleicht einen Vergleich anstellen zwischen den Besessenen und den Geldgierigen? Doch es darf sich dadurch niemand persönlich verletzt erachten. Wir spotten nicht über ein natürliches Leiden, sondern brandmarken die verkehrte Handlungsweise. Ein Besessener zieht nie Kleider an, schlägt sich selbst gegen Steine, läuft auf ungangbaren und rauhen Wegen dahin und wird mit aller Gewalt vom Teufel getrieben. Bietet das nicht einen schauderhaften Anblick? Wie aber, wenn ich zeige, dass die Geldgierigen ihrer Seele noch weit Schlimmeres antun, und zwar um so viel Schlimmeres, dass jenes im Vergleich damit nur eine Spielerei ist? Werdet ihr euch also vor einer solchen Krankheit hüten? Wohlan denn, lasset uns sehen, ob etwa die Habsüchtigen erträglicher sind. Keineswegs; sie sind noch unausstehlicher, und schändlicher als tausend Nackte. Es ist weit besser, der Kleider entblößt zu sein, als in Kleidern, die die Habsucht erworben hat, wie die Bacchanten des Dionysos[633] . herumzugehen. Wie nämlich diese in Maske und Tracht den Rasenden gleichen, so auch die Geldgierigen. Und wie bei den Besessenen der Wahnsinn schuld ist, dass sie nackt gehen, ebenso ist auch der Wahnsinn an dieser Kleidung schuld, und sie ist erbarmungswürdiger als die Nacktheit. Das will ich jetzt zu beweisen versuchen. 

   Welchen Wahnsinnigen halten wir wohl für ärger vom Wahnsinn befallen? Den, der nur auf sich selbst, oder den, der auf sich und alle anderen, die ihm in den Weg kommen, losschlägt? Offenbar den letzteren. So entblößen die Wahnsinnigen nur sich selbst, die Geldgierigen aber alle, mit denen sie zu tun haben. Aber, sagt man, jene zerreißen einem die Kleider. Nun, würde es jeder der Geschädigten sich nicht weit lieber gefallen lassen, dass ihm das Kleid zerfetzt, als dass ihm das ganze Vermögen genommen wird? Allein, versetzen die Wahnsinnigen einem nicht Schläge ins Gesicht? Dasselbe tun ja auch die Habsüchtigen ganz gehörig; und wenn schon nicht alle, so fügen doch alle dem Magen durch den Hunger heftigeres Wehe zu, als selbst die Armut. Aber sie beißen nicht mit den Zähnen. Ja, wenn sie doch nur mit den Zähnen verletzen wollten, nicht mit den Pfeilen der Habsucht, die noch schlimmer sind als Zähne. Denn: Ihre Zähne sind Waffen und Pfeile" (Ps 56,5). Wer wird mehr zu leiden haben, wer einmal gebissen und dann sofort geheilt wurde, oder wer von den Zähnen der Armut gänzlich zerfleischt wird? Unfreiwillige Armut ist ja schlimmer als ein Glutofen oder ein wildes Tier. Aber sie jagen nicht in den Einöden herum wie die Besessenen. O dass sie sich doch in den Einöden und nicht in den Städten herumtrieben, dann könnten doch die Bürger in Sicherheit leben. Nun aber macht sie der Umstand zu einer noch ärgeren Plage als alle Besessenen, dass sie in den Städten ihr Wesen treiben, wie jene in den Einöden; sie machen sogar die Städte zu Einöden und rauben all ihr Eigentum, weil ebenso wie in der Einöde niemand da ist, der sie daran hinderte. Aber sie werfen die Begegnenden nicht mit Steinen? Was macht das? Vor Steinen kann man sich leicht in acht nehmen; wer aber kann sich leicht hüten vor den Wunden, die den unglücklichen Armen mit Papier und Tinte geschlagen werden, vor den Schuldverschreibungen, die unzählige Schläge austeilen?



4.

Betrachten wir nun, was die Habsüchtigen sich selbst antun? Nackt wandeln sie durch die Stadt, denn es fehlt ihnen das Gewand der Tugend. Und wenn sie darin nichts Unschickliches finden, so rührt auch das von ihrem Wahnsinn her, der so weit geht, dass ihnen ihre Schändlichkeit gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt; ja, während sie sich schämen, am Leibe nackt zu sein, prahlen sie noch damit, dass sie eine nackte Seele mit sich herumtragen. Ich kann euch auch erklären, wie es kommt, dass sie so un empfindlich sind. Woher kommt es? Sie sind nackt unter vielen, die ebenso nackt sind; deshalb schämen sie sich nicht, wie man sich auch in den Bädern nicht schämt. Gäbe es doch viele, die mit der Tugend angetan wären, dann würde ihre Schande deutlicher zutage treten. Nun ist aber gerade das so beweinenswert, dass das Böse kein Schamgefühl weckt, weil es ebenso viele Böse gibt. Zu allem anderen Unheil hat es der Teufel auch dahin gebracht, dass man das Böse gar nicht mehr merkt, da durch die Menge der Schlechten die Schande der Sünde verschleiert wird. Müßte ein Bösewicht unter vielen Tugendhaften leben, so würde er alsbald seiner Nacktheit inne werden. Es ist mithin klar, dass die Habsüchtigen nackter sind als die Besessenen. Es wird aber auch niemand in Abrede stellen, dass sie in Einöden umherziehen. Ist doch die Straße und das weite Stadtgebiet öder als jede Einöde. Wenn auch eine große Anzahl Leute darin herumgehen, so sind es doch keine Menschen, sondern Schlangen, Skorpionen, Wölfe, Nattern und Vipern. Solcher Art sind nämlich die Bösewichter. Eine solche Gegend ist nicht bloß eine Einöde, sondern auch weit unwirtlicher, wie sich aus folgendem ergibt. Steine, Schluchten, Bergeshöhen bringen den Wanderern keinen solchen Schaden, wie Raub und Habsucht den Seelen, die solche Dinge betreiben. Ebenso klar ist es, dass sie wie die Besessenen in Grüften wohnen, ja eigentlich selbst Gräber sind. Was ist denn ein Grab? Ein Stein, unter dem ein Leichnam liegt. Inwiefern unterscheidet sich nun ihr Leib von solchen Grabsteinen? er ist nur noch viel jämmerlicher. Es ist nicht ein Stein, der eine Leiche birgt, sondern ein Leib, der unempfindlicher ist als Steine, da er eine tote Seele in sich trägt. Da her geht man auch nicht fehl, wenn man sie Grüfte heißt. Gab doch auch unser Herr hauptsächlich aus diesem Grunde den Juden diesen Namen, denn er sagte: "Inwendig sind sie voll Raub und Habsucht" (Mt 23,25). 

   Soll ich euch auch noch zeigen, wie die Habsüchtigen ihre Köpfe an Steinen zerschlagen? Sage mir, woran willst du es zuerst sehen? Am Diesseits oder am Jenseits? Aber aus dem Jenseits machen sie sich nicht arg viel; wir müssen also beim Diesseits bleiben. Sind die Sorgen, die zwar nicht den Kopf verletzen, wohl aber die Seele aufreiben, nicht schlimmer als noch so viele Steine? Sie leben in der Furcht, es könnte das unrecht Erworbene auf gerechtem Wege wieder aus ihrem Hause gehen; sie fürchten immer das Schlimmste, sind zornig und erbittert gegen Angehörige und Fremde; Kummer, Angst, Zorn wechseln miteinander ab, und wie von Abgrund zu Abgrund schreitend lauern sie täglich auf neuen Gewinn. Deshalb bringt ihnen ihr Besitz auch keine Freude, weil sie über die Sicherheit desselben in Unruhe sind und all ihr Trachten nur auf das ausgeht, was sie noch nicht besitzen. Wie einer, der an fortwährendem Durst leidet, keinen Genuß findet, wenn er auch viele Brunnen austränke, weil er sich eben nicht satttrinken kann, so geht es auch dem Habsüchtigen; anstatt sich zu freuen, sind sie voll Qual, je mehr sie auch erwerben; denn diese Leidenschaft kennt keine Grenzen. So steht es schon hienieden um sie: Sprechen wir nun auch vom Tage des Gerichte. Wenn sie selbst sich auch nicht daran kehren, so ist es doch notwendig, dass ich darüber rede. Am Tage des Gerichtes wird man nun sehen, dass es immer die Habsüchtigen sind, die gestraft werden. Denn wenn der Herr sagen wird: "Ich war hungrig, und ihr habt mich nicht gespeist, ich war durstig, und ihr habt mich nicht getränkt" (Mt 25,42), so gilt diese Strafe ihnen; und wenn er spricht: "Weichet von mir in das ewige Feuer, das dem Teufel bereitet ist" (Mt 25,41), so sind es wieder die ungerechten Reichen, die er dahin überweist. Zu dieser Klasse gehört auch der böse Knecht, der seinen Mitknechten die Habe des Herrn nicht austeilte: eben der Knecht, der das Talent vergraben hatte, sowie die fünf törichten Jungfrauen. Wohin du dich auch wendest, überall findest du, dass gerade die Habsüchtigen gestraft werden. Das eine Mal müssen sie hören: "Eine Kluft ist zwischen uns und euch" (Lc 16,26), ein andermal: "Weichet von mir in das Feuer, das bereit steht"; dann wieder sind sie es, die abgesondert werden und an den Ort gehen müssen, wo Zähneknirschen ist. Überall sieht man, wie sie vertrieben werden, wie sie nirgends einen Platz finden, als allein in der Hölle, wohin sie verstoßen werden.



5.

Was wird uns also der wahre Glaube nützen, wenn diese Worte uns gelten? Im Jenseits Zähneknirschen, äußerste Finsternis, das Feuer, das dem Teufel bereitet ist, Trennung und Verstoßung. In Diesseits Feindschaft, Schmähungen, Verleumdungen, Gefahren, Sorgen, Nachstellungen, Haß und Verachtung von seiten aller, selbst der scheinbaren Schmeichler. Wie nämlich die Guten nicht nur von den Guten, sondern auch von den Schlechten bewundert werden, so werden die Schlechten nicht allein von den Guten, sondern auch von den Bösen gehaßt. Zum Beweise, dass das wahr ist, möchte ich die Geldgierigen gerne fragen, ob sie einander etwa leiden können, ob sie sich nicht gegenseitig für die größten Feinde und Schädiger halten, ob sie einander nicht schmähen, ob sie es nicht als Schimpf bezeichnen, wenn man ihnen diese Schmach vorhält. Denn es ist dies wirklich die ärgste Schmach, und ein Zeichen großer Schlechtigkeit. Wenn du es schon nicht über dich bringst, das Geld zu verachten, worüber willst du da Herr werden? über Begierlichkeit, Ehrsucht, Zorn, Rachsucht? Wie könnte man sich das einreden lassen? Was Begierlichkeit des Fleisches, Zorn Rachsucht angeht, so stellen sie viele auf Rechnung körperlicher Eigenheit und die Jünger der Heilkunde leiten die Ausschreitungen von ihr her. Sie behaupten, eine hitzige und feuchte Natur neige mehr zu Wollust, während eine trockene Beschaffenheit der Säfte mehr zur Heftigkeit, zum Jähzorn und zur Wildheit veranlagt mache. Was aber die Habsucht betrifft, so hat man noch nie gehört, dass auch nur einer eine ähnliche Anschauung geäußert hätte. So sehr ist man überzeugt, dass diese Leidenschaft nur auf der Nachlässigkeit und Unempfindlichkeit der Seele beruhe. 

   Daher bitte ich, lasset uns doch ernstlich alle diese Verkehrtheiten bessern und die Leidenschaften, die sich je nach dem Alter in uns regen, ins Gegenteil verwandeln. Wenn wir aber auf jeder Stufe unseres Lebens den Mühen, welche die Tugend fordert, ausweichen, dann werden wir überall Schiffbruch leiden, werden ohne geistliche Schätze in den Hafen einlaufen und den fürchterlichen Qualen verfallen. Es verhält sich mit unserem Leben hienieden wie mit der weiten See, wo es verschiedene Meere mit verschiedenen Gefahren gibt. Das ägäische ist gefährlich wegen der Winde, die Tyrrhenische Straße wegen der Enge, die Charybdis gegen Libyen wegen der Untiefen, die Propontis draußen am Schwarzen Meer wegen der reißenden und tosenden Strömungen, die See hinter Cadix, weil sie öde und wenig befahren und an den einzelnen Stellen noch nicht erforscht ist; andere Meere wieder aus anderen Gründen. In unserem Leben ist das erste Meer unsere Kindheit, die heftige Stürme bringt, weil wir noch unverständig, flatterhaft und ohne Festigkeit sind. Daher stellt man auch Erzieher und Lehrer auf, um das, was der Natur fehlt, durch besondere Sorgfalt zu ersetzen, wie es auf dem Meere durch die Kunst des Steuermannes geschieht. Nach diesem folgt dann das Jünglingsalter, ein Meer, wo heftige Winde wehen, wie auf dem ägäischen Busen, indem die Begierlichkeit in uns wächst. Und gerade diese Altersstufe zeigt am wenigsten Tugend, nicht nur, weil sie mehr angefochten wird, sondern auch, weil die Verfehlungen nicht mehr gerügt werden, da Lehrer und Erzieher bereits ihrer Stellung enthoben sind. Wenn nun die Stürme heftiger wehen, der Steuermann so schwach ist und ein Schützer fehlt, so ist es leicht zu ermessen, wie groß die Gefahr ist. Auf diese Lebensstufe folgt eine andere, das Mannesalter; da treten die Pflichten der Hausverwaltung heran, wenn man heiratet, Kinder hat, eine Familie leitet und Sorgen wie Schneegestöber daherwirbeln. Das ist der Tumultplatz für Habsucht und Neid. Wenn wir also beim Durchfahren jeder einzelnen Lebensstufe Schiffbruch leiden, wie werden wir im Leben hienieden bestehen? wie werden wir der Strafe im Jenseits entrinnen? Denn wenn wir in den ersten Jahren nichts Ordentliches lernen, in der Jugend nicht vernünftig werden und als Männer über die Habsucht nicht Herr geworden sind, so werden wir ins Alter wie in einen Sumpf einlaufen, und zuletzt, wenn durch alle diese Stöße das Fahrzeug unserer Seele erschüttert und die Rippen aus den Fugen gegangen sind, in dem Hafen dort drüben landen mit einer Ladung von Unrat anstatt von geistlichen Gütern, dem Teufel zum Hohngelächter, uns zum Schmerze, weil wir jetzt der unausstehlichen Strafe anheimfallen. Um also diesem Los zu entgehen, müssen wir durchaus Maß halten, gegen jede Leidenschaft Stellung nehmen und die Sucht nach Reichtum ausrotten. Dann werden wir den ewigen Lohn erlangen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dessen Ehre währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 80