Benedikt XVI Predigten 83

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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TÜRKEI

(28. NOVEMBER - 1. DEZEMBER 2006)

BEGEGNUNG MIT SEINER HEILIGKEIT BARTHOLOMAIOS I.,

ÖKUMENISCHER PATRIARCH VON KONSTANTINOPEL


Patriarchalkirche St. Georg im Phanar, Istanbul
Mittwoch, 29. November 2006




»Seht doch, wie gut und schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen!« (Ps 133,1)

Heiligkeit!

Für den brüderlichen Empfang, der mir von Ihnen persönlich sowie auch vom Heiligen Synod des Ökumenischen Patriarchats bereitet worden ist, bin ich zutiefst dankbar und werde die Erinnerung daran immer voll Wertschätzung in meinem Herzen bewahren. Ich danke dem Herrn für das Geschenk dieser Begegnung, die so sehr von aufrichtigem guten Willen und kirchlicher Bedeutung erfüllt ist.

Es ist für mich eine große Freude, unter Euch, Brüder in Christus, in dieser Kathedrale zu weilen, während wir gemeinsam zum Herrn beten und der bedeutsamen Ereignisse gedenken, die unser Bemühen unterstützt haben, für die volle Einheit von Katholiken und Orthodoxen zu wirken. Ich möchte vor allem an die mutige Entscheidung erinnern, den gegenseitigen Bannspruch von 1054 aus dem Gedächtnis der Kirche zu tilgen. Die Gemeinsame Erklärung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras, die im Geist einer wiederentdeckten Liebe verfaßt ist, wurde bei einer Zeremonie feierlich verlesen, die gleichzeitig in der Petersbasilika in Rom und in dieser Patriarchalkathedrale stattfand. Der Tomos des Patriarchen stützte sich auf das johanneische Glaubensbekenntnis: »Ho Theós agape estín (1Jn 4,8) – Deus caritas est!« In vollkommener Übereinstimmung entschied Papst Paul VI., seinen Brief mit der paulinischen Aufforderung zu beginnen: »Ambulate in dilectione (Ep 5,2) – Liebt einander!« Auf diesem Fundament gegenseitiger Liebe haben sich neue Beziehungen zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel entwickelt.

Zeichen dieser Liebe sind in zahlreichen Erklärungen des gemeinsamen Einsatzes und in vielen bedeutungsvollen Gesten offenkundig geworden. Sowohl Paul VI. als auch Johannes Paul II. sind als Besucher in dieser dem hl. Georg geweihten Kirche herzlich empfangen worden und haben vereint mit den Patriarchen Athenagoras I. beziehungsweise Dimitrios I. den Ansporn zum gegenseitigen Verständnis und zur Suche nach der vollen Einheit gestärkt. Ehre und Segen sei ihren Namen!

Ich freue mich darüber hinaus, in diesem Land zu weilen, das so eng mit dem christlichen Glauben verbunden ist und wo es in der Zeit der Antike viele blühende Gemeinden gab. Ich denke an die Ermahnungen des hl. Petrus an die christlichen Urgemeinden »in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien« (1P 1,1) und an die reiche Ernte der Märtyrer, Theologen, Bischöfe, Mönche, der heiligen Männer und Frauen, die diese Gemeinden im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht haben.

In gleicher Weise rufe ich die berühmten Heiligen und Hirten in Erinnerung, die über den Stuhl von Konstantinopel gewacht haben, darunter der hl. Gregor von Nazianz und der hl. Johannes Chrysostomos, die auch der Westen als Kirchenlehrer verehrt. Ihre Reliquien ruhen in der Petersbasilika im Vatikan; Eurer Heiligkeit wurde ein Teil von ihnen als Zeichen der Verbundenheit vom verstorbenen Papst Johannes Paul II. zum Geschenk gemacht, damit sie in dieser Kathedrale verehrt würden. Sie sind wahrlich würdige Fürsprecher für uns vor dem Herrn.

In diesem Teil der östlichen Welt sind die sieben Ökumenischen Konzilien abgehalten worden, die Orthodoxe und Katholiken als maßgeblich für den Glauben und die Disziplin der Kirche anerkennen. Sie stellen Wegweiser und bleibende Meilensteine auf dem Weg zur vollen Einheit dar.

Abschließend gebe ich noch einmal meiner Freude darüber Ausdruck, unter Euch zu sein. Möge diese Begegnung unsere gegenseitige Liebe stärken und unser gemeinsames Bemühen erneuern, den Weg fortzusetzen, der zur Versöhnung und zum Frieden der Kirchen führt. Ich grüße Euch in der Liebe Christi.

Der Herr sei stets mit Euch.
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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TÜRKEI

(28. NOVEMBER - 1. DEZEMBER 2006)

FEIER DER "GÖTTLICHEN LITURGIE" ZUM ANDREASFEST

Patriarchalkirche St. Georg im Phanar, Istanbul
Donnerstag, 30. November 2006




Diese Göttliche Liturgie, die am Fest des heiligen Apostels Andreas, des Schutzheiligen der Kirche von Konstantinopel, gefeiert wurde, führt uns zur Urkirche zurück, in die Zeit der Apostel. Das Markus- und das Matthäusevangelium berichten, wie Jesus die beiden Brüder Simon, dem Jesus den Beinamen Kephas oder Petrus gab, und Andreas berufen hat: »Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen« (Mt 4,19 Mc 1,17). Das vierte Evangelium zeigt darüber hinaus Andreas als den Erstberufenen, »ho protoklitos«, wie ihn die byzantinische Tradition nennt. Es ist Andreas, der seinen Bruder Simon zu Jesus führt (vgl. Joh 1,40ff.).

Heute können wir in dieser Patriarchalkirche des hl. Georg noch einmal die Gemeinschaft und die Berufung der beiden Brüder Simon Petrus und Andreas erfahren, in der Begegnung zwischen dem Nachfolger des Petrus und seinem Bruder im Bischofsamt, dem Oberhaupt dieser Kirche, die der Überlieferung nach vom Apostel Andreas gegründet wurde. Unsere brüderliche Begegnung unterstreicht die besondere Beziehung, welche die Kirchen Roms und Konstantinopels als Schwesterkirchen miteinander verbindet.

Mit herzlicher Freude danken wir Gott dafür, daß er der Beziehung, die sich seit dem denkwürdigen Treffen zwischen unseren Vorgängern, Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras, im Januar 1964 in Jerusalem entwickelt hat, neue Lebenskraft verleiht. Ihr Briefwechsel, der in einem Band mit dem Titel Tomos Agapis veröffentlicht wurde, gibt Zeugnis von der Tiefe der Verbundenheit, die zwischen ihnen wuchs, einer Verbundenheit, die sich in der Beziehung zwischen den Schwesterkirchen von Rom und Konstantinopel widerspiegelt.

Am 7. Dezember 1965, dem Vorabend der Abschlußsitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils, unternahmen unsere verehrten Vorgänger in der Patriarchalkirche St. Georg und in der Petersbasilika in Rom einen neuen, einzigartigen und unvergeßlichen Schritt: Sie tilgten aus dem Gedächtnis der Kirche die tragischen gegenseitigen Exkommunikationen des Jahres 1054. Auf diese Weise bestätigten sie eine entscheidende Veränderung unserer Beziehungen. Seither sind viele weitere bedeutende Schritte auf dem Weg der gegenseitigen Wiederannäherung unternommen worden. Ich erinnere insbesondere an den Besuch meines Vorgängers Papst Johannes Paul II. in Konstantinopel 1979 und an die Besuche des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. in Rom.

In demselben Geist soll meine heutige Anwesenheit hier das gemeinsame Bemühen erneuern, auf dem Weg zur Wiederherstellung der vollen Gemeinschaft zwischen der Kirche von Rom und der Kirche von Konstantinopel – mit der Gnade Gottes – voranzugehen. Ich kann Ihnen versichern, daß die katholische Kirche bereit ist, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um die Hindernisse zu überwinden und zu diesem Zweck gemeinsam mit unseren orthodoxen Brüdern und Schwestern nach immer wirksameren Mitteln der pastoralen Zusammenarbeit zu suchen.

Die beiden Brüder Simon, genannt Petrus, und Andreas waren Fischer, die Jesus dazu berufen hat, Menschenfischer zu werden. Der auferstandene Herr sandte sie vor seiner Himmelfahrt zusammen mit den anderen Aposteln mit dem Auftrag aus, alle Völker zu Jüngern zu machen, sie zu taufen und seine Lehren zu verkünden (vgl. Mt 28,19ff.; Lk Lc 24,47 Ac 1,8).

Dieser uns von den heiligen Brüdern Petrus und Andreas hinterlassene Auftrag ist bei weitem nicht vollendet. Im Gegenteil, er ist heute dringlicher und notwendiger denn je. Er betrifft nämlich nicht nur jene Kulturen, die von der Botschaft des Evangeliums nur am Rande berührt worden sind, sondern auch die europäischen Kulturen, die seit langem in der christlichen Tradition tief verwurzelt sind. Der Säkularisierungsprozeß hat den Halt jener Tradition geschwächt; ja, sie wird in Frage gestellt und sogar verworfen. Angesichts dieser Wirklichkeit sind wir zusammen mit allen anderen christlichen Gemeinschaften dazu gerufen, das Bewußtsein Europas hinsichtlich seiner christlichen Wurzeln, Traditionen und Werte zu erneuern, indem wir ihnen wieder neue Lebenskraft verleihen.

Unsere Anstrengungen für den Aufbau engerer Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen sind Teil dieser missionarischen Aufgabe. Die bestehenden Spaltungen zwischen den Christen sind ein Ärgernis für die Welt und ein Hindernis für die Verkündigung des Evangeliums. Am Vorabend seines Leidens und Sterbens betete der Herr, umgeben von den Jüngern, innig darum, daß sie eins sein mögen, damit die Welt glauben könne (vgl. Joh Jn 17,21). Nur durch die brüderliche Gemeinschaft unter den Christen und durch die gegenseitige Liebe wird die Botschaft von der Liebe Gottes für jeden Mann und jede Frau glaubwürdig werden. Jeder, der heute einen realistischen Blick auf die christliche Welt wirft, wird die Dringlichkeit dieses Zeugnisses entdecken.

Simon Petrus und Andreas wurden gemeinsam dazu berufen, Menschenfischer zu werden. Aber dieselbe Aufgabe nahm für jeden der beiden Brüder verschiedene Formen an. Simon wurde trotz seiner persönlichen Schwachheit »Petrus« genannt, der »Fels«, auf dem die Kirche errichtet werden sollte; ihm wurden in besonderer Weise die Schlüssel des Himmelreiches anvertraut (vgl. Mt Mt 16,18). Sein Lebensweg sollte ihn von Jerusalem nach Antiochia und von Antiochia nach Rom führen, so konnte er in jener Stadt eine universale Verantwortung ausüben. Das Thema des universalen Dienstes Petri und seiner Nachfolger hat unglücklicherweise unsere Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen, die wir zu überwinden hoffen, auch dank des theologischen Dialogs, der jüngst wieder aufgenommen wurde.

Mein verehrter Vorgänger, der Diener Gottes Papst Johannes Paul II., sprach von der Barmherzigkeit, die den Dienst des Petrus für die Einheit kennzeichnet, eine Barmherzigkeit, die Petrus selbst als erster erfuhr (vgl. Enzyklika Ut unum sint UUS 91). Auf dieser Grundlage lud Papst Johannes Paul dazu ein, in einen brüderlichen Dialog einzutreten, mit dem Ziel, Wege zu finden, wie das Petrusamt – unter Wahrung seiner Natur und seines Wesens – heute ausgeübt werden könnte, um »einen von den einen und anderen anerkannten Dienst der Liebe zu verwirklichen« (ebd., Nr. 95). Es ist heute mein Wunsch, an diese Einladung zu erinnern und sie zu erneuern. Andreas, der Bruder des Simon Petrus, hat vom Herrn einen anderen Auftrag erhalten, einen Auftrag, den schon sein Name nahelegte. Da er der griechischen Sprache mächtig war, wurde er – zusammen mit Philippus – der Apostel der Begegnung mit den Griechen, die zu Jesus gekommen waren (vgl. Joh Jn 12,20 ff.).

Die Tradition berichtet uns, daß er nicht nur in Kleinasien und in den Gebieten südlich des Schwarzen Meeres, das heißt also hier in dieser Gegend, missionierte, sondern auch in Griechenland, wo er das Martyrium erlitt. Der Apostel Andreas verkörpert daher die Begegnung zwischen dem Urchristentum und der griechischen Kultur. Diese Begegnung wurde vor allem in Kleinasien insbesondere dank der großen Kirchenväter Kappadokiens möglich, die die Liturgie, die Theologie und die Spiritualität sowohl der Kirchen des Ostens als auch jener des Westens bereicherten. Die christliche Botschaft ist wie das Weizenkorn (vgl. Joh Jn 12,24) in diese Erde gefallen und hat reiche Frucht gebracht. Wir müssen zutiefst dankbar sein für das Erbe, das aus der fruchtbaren Begegnung zwischen der christlichen Botschaft und der griechischen Kultur hervorgegangen ist. Das hatte eine bleibende Wirkung auf die Kirchen des Ostens und des Westens. Die griechischen Kirchenväter haben uns einen wertvollen Schatz hinterlassen, aus dem die Kirche weiterhin alte und neue Reichtümer schöpft (vgl. Mt Mt 13,2).

Die Lehre vom Weizenkorn, das stirbt, um Frucht zu bringen, bestätigt sich auch im Leben des hl. Andreas. Die Tradition erzählt uns, daß er dem Schicksal seines Herrn und Meisters folgte, als seine Tage in Patras in Griechenland ein Ende fanden. Wie Petrus erlitt er das Martyrium an einem Kreuz, dem Schrägkreuz, das wir heute als das Andreaskreuz verehren. Aus seinem Vorbild lernen wir, daß der Weg jedes einzelnen Christen wie der Weg der ganzen Kirche durch die Nachfolge Christi und die Erfahrung des Kreuzes zu neuem Leben führt, zum ewigen Leben.

Im Lauf der Geschichte haben die beiden Kirchen von Rom und Konstantinopel oft die Lehre vom Weizenkorn erlebt. Viele Märtyrer, deren Blut nach den berühmten Worten Tertullians zum Samen für neue Christen geworden ist (vgl. Apologeticum 50,13), verehren wir gemeinsam. Mit ihnen teilen wir dieselbe Hoffnung, die die Kirche dazu verpflichtet, »zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg« weiterzugehen (Lumen gentium LG 8 vgl. hl. Augustinus, De civitate Dei XVIII, LG 51,2). Das soeben vergangene Jahrhundert hat seinerseits mutige Glaubenszeugen sowohl im Osten wie im Westen gesehen und auch heute gibt es viele solcher Zeugen in verschiedenen Teilen der Welt. Wir gedenken ihrer im Gebet und unterstützen sie auf jede nur mögliche Weise, während wir alle Verantwortlichen der Welt nachdrücklich bitten, die Religionsfreiheit als menschliches Grundrecht zu achten.

Die Göttliche Liturgie, an der wir teilgenommen haben, ist nach dem Ritus des hl. Johannes Chrysostomos gefeiert worden. Das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi wurden auf mystische Weise vergegenwärtigt. Für uns Christen ist dies Quelle und Zeichen einer ständig erneuerten Hoffnung. In einem antiken, als »Passion des heiligen Andreas« bekannten Text finden wir diese Hoffnung auf wunderbare Weise zum Ausdruck gebracht: »Ich grüße dich, o Kreuz: du bist geheiligt durch den Leib Christi und mit seinen Gliedern wie mit Edelsteinen geschmückt … Mögen die Gläubigen deine Freude erkennen und die Gaben, die in dir verborgen sind…«

Diesen Glauben an den erlösenden Tod Jesu am Kreuz und diese Hoffnung, die der auferstandene Christus der ganzen Menschheitsfamilie schenkt, teilen wir alle, Orthodoxe und Katholiken. Mögen unser Gebet und unsere tägliche Arbeit von der brennenden Sehnsucht beseelt sein, nicht nur bei der Göttlichen Liturgie anwesend zu sein, sondern sie gemeinsam feiern zu können, um an dem einen Tisch des Herrn teilzunehmen und miteinander dasselbe Brot und denselben Kelch zu teilen. Möge unsere heutige Begegnung als Anstoß und Vorfreude auf das Geschenk der vollen Gemeinschaft dienen. Der Geist Gottes begleite uns auf unserem Weg!
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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TÜRKEI

(28. NOVEMBER - 1. DEZEMBER 2006)

GEMEINSAME ERKLÄRUNG VON PAPST BENEDIKT XVI.

UND PATRIARCH BARTHOLOMAIOS I.




»Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat; wir wollen jubeln und uns an ihm freuen« (Ps 118,24).

Die brüderliche Begegnung, die wir, Benedikt XVI., Papst von Rom, und Bartholomaios I., Ökumenischer Patriarch, miteinander hatten, ist das Werk Gottes und gewissermaßen ein Geschenk von ihm. Wir danken dem Urheber alles Guten, der uns noch einmal gewährt, im Gebet und im Austausch unsere Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, daß wir uns als Brüder fühlen, und unser Engagement im Hinblick auf die volle Gemeinschaft zu erneuern. Dieses Engagement ergibt sich für uns aus dem Willen unseres Herrn und aus unserer Verantwortung als Hirten in der Kirche Christi. Möge unsere Begegnung ein Zeichen und eine Ermutigung für uns sein, dieselben Empfindungen und dieselbe Haltung der Brüderlichkeit, der Zusammenarbeit und der Gemeinschaft in der Liebe und in der Wahrheit miteinander zu teilen. Der Heilige Geist wird uns helfen, den großen Tag der Wiederherstellung der vollen Einheit vorzubereiten, wann und wie Gott will. Dann werden wir uns wahrhaft freuen und frohlocken können.

1. Wir haben uns in Dankbarkeit die vom Herrn gesegneten Begegnungen unserer verehrten Vorgänger in Erinnerung gerufen, die der Welt die Dringlichkeit der Einheit gezeigt und sichere Wege vorgezeichnet haben, um im Dialog, im Gebet und im täglichen kirchlichen Leben dorthin zu gelangen. Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras I., die als Pilger in Jerusalem waren, an dem Ort, wo Jesus Christus für das Heil der Welt gestorben und auferstanden ist, hatten danach weitere Begegnungen hier im Phanar und in Rom. Sie haben uns eine gemeinsame Erklärung hinterlassen, die ihre volle Gültigkeit behält, wenn sie betont, daß der wahre Dialog der Liebe alle Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Kirchen stützen und inspirieren und »in der vollkommenen Treue zu dem einen Herrn Jesus Christus und in einem gegenseitigen Respekt der ihnen eigenen Traditionen verwurzelt sein muß« (Tomos Agapis, 195). Wir haben auch die gegenseitigen Besuche Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II. und Seiner Heiligkeit Dimitrios’ I. nicht vergessen. Eben während des Besuches von Papst Johannes Paul II., seinem ersten ökumenischen Besuch, wurde die Einsetzung der Gemischten Kommission für den theologischen Dialog zwischen der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche angekündigt. Sie hat unsere Kirchen in dem erklärten Ziel verbunden, die volle Einheit wiederherzustellen.

Was die Beziehungen zwischen der Kirche von Rom und der Kirche von Konstantinopel betrifft, dürfen wir den feierlichen kirchlichen Akt nicht vergessen, durch den die alten gegenseitigen Exkommunikationen, die jahrhundertelang die Beziehungen zwischen unseren Kirchen negativ beeinflußt haben, aus dem Gedächtnis getilgt wurden. Wir haben aus diesem Akt noch nicht alle positiven Konsequenzen gezogen, die daraus hervorgehen können für unseren Weg zur vollen Einheit, zu dem die Gemischte Kommission einen wichtigen Beitrag leisten soll. Wir rufen unsere Gläubigen auf, durch das Gebet und durch aussagekräftige Zeichen an diesem Prozeß aktiv teilzunehmen.

2. Anläßlich der Vollversammlung der Gemischten Kommission für den theologischen Dialog, die vor kurzem in Belgrad stattfand und der von der serbisch-orthodoxen Kirche großherzig Gastfreundschaft gewährt wurde, haben wir unsere tiefe Freude über die Wiederaufnahme des theologischen Dialogs zum Ausdruck gebracht. Nach mehrjähriger Unterbrechung aufgrund verschiedener Schwierigkeiten konnte die Kommission nun im Geiste der Freundschaft und der Zusammenarbeit wieder tätig werden. Mit der Behandlung des Themas »Konziliarität und Autorität in der Kirche« auf lokaler, regionaler und universaler Ebene hat sie eine Phase der Untersuchung über die ekklesiologischen und kirchenrechtlichen Folgen der sakramentalen Natur der Kirche eingeleitet. Dies wird erlauben, sich mit einigen der grundlegenden noch strittigen Fragen auseinanderzusetzen. Wir sind entschlossen, die dieser Kommission anvertraute Arbeit wie schon in der Vergangenheit unablässig zu unterstützen, und begleiten ihre Mitglieder mit unserem Gebet.

3. Als Hirten haben wir vor allem über unseren Sendungsauftrag nachgedacht, das Evangelium in der heutigen Welt zu verkünden. Diese Sendung – »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (Mt 28,19) – ist heute aktueller und notwendiger denn je, sogar in den traditionell christlichen Ländern. Zudem können wir die Zunahme der Säkularisierung, des Relativismus, ja sogar des Nihilismus vor allem in der westlichen Welt nicht ignorieren. All das erfordert eine erneuerte und machtvolle Verkündigung des Evangeliums, die geeignet ist für die Kulturen unserer Zeit. Unsere Traditionen stellen für uns ein Erbe dar, das beständig mit anderen geteilt, immer wieder vorgelegt und aktualisiert werden muß. Darum müssen wir die Zusammenarbeit und unser gemeinsames Zeugnis vor allen Völkern stärken.

4. Wir haben den Weg zur Bildung der Europäischen Union positiv bewertet. Die Protagonisten dieser großen Initiative werden es nicht versäumen, alle Aspekte zu berücksichtigen, die den Menschen und seine unveräußerlichen Rechte betreffen, vor allem die Religionsfreiheit, die Beweis und Garant für die Achtung jeder anderen Freiheit ist. Bei jeder Initiative zur Vereinigung müssen die Minderheiten mit ihren kulturellen Traditionen und ihren religiösen Besonderheiten geschützt werden. In Europa müssen wir – bei aller Offenheit gegenüber den anderen Religionen und ihrem Beitrag zur Kultur – unsere Bemühungen vereinen, die christlichen Wurzeln, Traditionen und Werte zu bewahren, die Achtung der Geschichte zu gewährleisten sowie zur Kultur des künftigen Europa, zur Qualität der menschlichen Beziehungen auf allen Ebenen, beizutragen. Wie könnten wir in diesem Zusammenhang die ältesten christlichen Zeugen und das hervorragende christliche Erbe des Landes, in dem unsere Begegnung stattfindet, unerwähnt lassen – angefangen bei dem, was uns die Apostelgeschichte mitteilt, wenn sie uns die Gestalt des hl. Paulus, des Völkerapostels, vor Augen führt. Auf diesem Boden sind die Botschaft des Evangeliums und die antike Kulturtradition miteinander verwachsen. Diese Verbindung, die soviel zu unserem gemeinsamen christlichen Erbe beigetragen hat, bleibt aktuell und wird auch in Zukunft noch Früchte tragen für die Evangelisierung und für unsere Einheit.

5. Wir haben unseren Blick auf die Gegenden der heutigen Welt gerichtet, wo die Christen leben, und auf die Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, insbesondere Armut, Kriege und Terrorismus, aber auch verschiedene Formen von Ausbeutung der Armen, der Emigranten, der Frauen und der Kinder. Wir sind aufgerufen, uns gemeinsam einzusetzen für die Achtung der Menschenrechte, der Rechte eines jeden Menschen, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist, sowie für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Unsere theologischen und ethischen Traditionen können eine solide Grundlage für eine gemeinsame Verkündigung und ein gemeinsames Handeln bieten. Wir möchten vor allem bekräftigen, daß die Ermordung Unschuldiger im Namen Gottes eine Beleidigung Gottes und der Würde des Menschen ist. Wir alle müssen uns für einen erneuerten Dienst am Menschen und für den Schutz des menschlichen Lebens, jedes menschlichen Lebens, einsetzen.

Der Friede im Nahen Osten, wo unser Herr gelebt und gelitten hat, gestorben und auferstanden ist und wo seit vielen Jahrhunderten eine große Schar unserer christlichen Brüder und Schwestern lebt, liegt uns zutiefst am Herzen. Wir wünschen uns sehnlichst, daß der Friede in diesem Land wiederhergestellt und das freundschaftliche Zusammenleben seiner verschiedenen Bevölkerungsgruppen sowie der dort befindlichen Kirchen und unterschiedlichen Religionen gestärkt werde. Darum ermutigen wir dazu, engere Beziehungen zwischen den Christen zu knüpfen und einen echten und aufrichtigen interreligiösen Dialog zu pflegen, um jede Form der Gewalt und der Diskriminierung zu bekämpfen.

6. In der gegenwärtigen Zeit wollen wir angesichts der großen Gefahren, denen die Natur und die Umwelt ausgesetzt sind, unserer Besorgnis Ausdruck geben im Hinblick auf die negativen Folgen für die Menschheit und für die gesamte Schöpfung, die sich aus einem wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt ergeben können, der seine Grenzen nicht erkennt. Als Religionsführer sehen wir es als eine unserer Pflichten an, alle Bemühungen zu ermutigen und zu unterstützen, die unternommen werden, um die Schöpfung Gottes zu schützen und den zukünftigen Generationen eine Erde zu hinterlassen, auf der sie leben können.

7. Schließlich wenden sich unsere Gedanken euch allen zu, den Gläubigen unserer Kirchen überall auf der Welt – den Bischöfen, Priestern, Diakonen, Ordensleuten, Männern und Frauen im Laienstand, die sich im kirchlichen Dienst engagieren, sowie allen Getauften. Wir grüßen in Christus die anderen Christen und versichern sie unseres Gebetes und unserer Bereitschaft zum Dialog und zur Zusammenarbeit. Wir grüßen euch alle mit den Worten des Völkerapostels: »Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« (2Co 1,2).

Im Phanar, am 30. November 2006.


Benedictus PP. XVI


Bartholomaios I.


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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TÜRKEI

(28. NOVEMBER - 1. DEZEMBER 2006)

GEMEINSAMES GEBET MIT SEINER SELIGKEIT MESROB II. MUTAFYAN, ARMENISCHER PATRIARCH VON ISTANBUL UND DER GANZEN TÜRKEI

GRUSSWORTE VON BENEDIKT XVI. Armenisch-Apostolische Kathedrale, Istanbul

Donnerstag, 30. November 2006




Lieber Bruder in Christus!

Ich freue mich über diese Gelegenheit, Eurer Seligkeit hier begegnen zu können, am selben Ort, an dem der Patriarch Shnork Kalustian meine Vorgänger Papst Paul VI. und Papst Johannes Paul II. empfangen hat. Mit großer Zuneigung grüße ich die ganze armenisch-apostolische Gemeinschaft, der Sie als Hirt und geistlicher Vater vorstehen. Mein brüderlicher Gruß richtet sich auch an Seine Heiligkeit Karekin II., Oberster Patriarch und Katholikos aller Armenier, sowie an die Hierarchie der armenisch-apostolischen Kirche. Ich danke Gott für den christlichen Glauben und das christliche Zeugnis des armenischen Volkes, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, oft unter wirklich tragischen Umständen wie denen, die es im vergangenen Jahrhundert erlebt hat.

Unser Treffen ist mehr als eine einfache ökumenische Höflichkeitsgeste und eine Geste der Freundschaft. Es ist ein Zeichen unserer gemeinsamen Hoffnung auf die Verheißungen Gottes sowie unseres Wunsches, das Gebet erfüllt zu sehen, das Jesus für seine Jünger am Vorabend seines Leidens und Sterbens erhob: »Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast« (Jn 17,21). Jesus gab am Kreuz sein Leben hin, um die Kinder Gottes aus der Zerstreuung wieder zur Einheit zu versammeln, um die Mauern der Trennung niederzureißen. Durch das Sakrament der Taufe sind wir dem Leib Christi, der Kirche, eingegliedert. Die tragischen Spaltungen, welche im Laufe der Zeit unter den Jüngern Christi aufgetreten sind, widersprechen ganz klar dem Willen des Herrn, sie sind ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen (vgl. Unitatis redintegratio UR 1). Gerade durch das Zeugnis ihres Glaubens und ihrer Liebe sind die Christen dazu berufen, dieser so sehr von Konflikten und Spannungen geprägten Welt ein leuchtendes Zeichen der Hoffnung und des Trostes zu schenken. Deshalb müssen wir auch weiterhin alles in unserer Macht Stehende tun, um die Wunden der Trennung zu heilen und das Werk der Wiederherstellung der Einheit der Christen zu beschleunigen. Ich wünsche, daß wir bei dieser dringenden Aufgabe vom Licht und von der Kraft des Heiligen Geistes geleitet sein mögen.

In dieser Hinsicht kann ich dem Herrn nur aus tiefstem Herzen Dank sagen für die immer tiefere brüderliche Beziehung, die sich zwischen der armenisch- apostolischen Kirche und der katholischen Kirche entwickelt hat. Im 13. Jahrhundert schrieb Nerses von Lambron, einer der großen Lehrer der armenischen Kirche, die folgenden ermutigenden Worte: »Da wir alle des Friedens mit Gott bedürfen, laßt uns jetzt dafür sorgen, daß die Eintracht unter Brüdern seine Grundlage sei. Wir haben zu Gott um den Frieden gebetet und tun dies auch weiterhin. Siehe, er reicht ihn uns als Gabe dar: Nehmen wir es an! Wir haben den Herrn gebeten, seine heilige Kirche zu festigen, und er hat unser Flehen erhört. Besteigen wir also den Berg des Glaubens an das Evangelium« (Synoden - Ansprache). Diese Worte des Nerses haben nichts von ihrer Kraft verloren. Fahren wir fort, gemeinsam für die Einheit aller Christen zu beten, damit wir diese Gabe des Himmels mit bereitem Herzen empfangen und immer glaubwürdigere Zeugen der Wahrheit des Evangeliums und bessere Diener der Sendung der Kirche sein können.

Dezember 2006



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EHRUNG DER MARIENSTATUE AUF DEM SPANISCHEN PLATZ

GEBET VON BENEDIKT XVI. Freitag, 8. Dezember 2006



O Maria, Unbefleckte Jungfrau,

auch in diesem Jahr finden wir uns voll kindlicher Liebe zu Füßen deines Bildes ein, um die Huldigung der christlichen Gemeinschaft und der Stadt Rom an dich zu erneuern. An diesem hohen Festtag, an dem die Liturgie deine Unbefleckte Empfängnis feiert – ein Geheimnis, das Quelle der Freude und der Hoffnung für alle Erlösten ist –, halten wir hier betend inne und folgen damit der von den vorangegangenen Päpsten eingeführten Tradition. Wir grüßen dich und rufen dich an mit den Worten des Engels: »Du Begnadete« (Lc 1,28), dem schönsten Namen, mit dem Gott selbst dich von Ewigkeit her gerufen hat.

»Voll der Gnade« bist du, Maria, erfüllt von der göttlichen Liebe vom ersten Augenblick deiner Existenz an, von der Vorsehung dazu bestimmt, die Mutter des Erlösers zu sein, und im Heilsgeheimnis tief mit ihm verbunden. In deiner Unbefleckten Empfängnis leuchtet die Berufung der Jünger Christi auf, die berufen sind, durch seine Gnade heilig und untadelig in der Liebe zu werden (vgl. Eph Ep 1,4). In dir erstrahlt die Würde jedes Menschen, der in den Augen des Schöpfers immer kostbar ist. Wer den Blick auf dich, o ganz heilige Mutter, richtet, verliert seine innere Ruhe nicht, wie hart auch immer die Prüfungen des Lebens sein mögen. So traurig auch die Erfahrung der Sünde ist, die die Würde der Kinder Gottes entstellt: Wer sich an dich wendet, entdeckt wieder die Schönheit der Wahrheit und der Liebe, und er findet den Weg wieder, der zum Haus des Vaters führt.

»Voll der Gnade« bist du, Maria, die du mit deinem »Ja« die Pläne des Schöpfers angenommen und uns damit den Weg zum Heil eröffnet hast. Lehre in deiner Schule auch uns, unser »Ja« zum Willen des Herrn zu sprechen. Ein »Ja«, das sich mit deinem ohne Vorbehalt und Zweifel gesprochenen »Ja« verbindet, auf das der himmlische Vater angewiesen sein wollte, um den neuen Menschen zu zeugen, Christus, den einzigen Retter der Welt und der Geschichte. Gib uns den Mut, »Nein« zu sagen zu den Täuschungen der Macht, des Geldes und der Vergnügungen, zum unehrlichen Profit, zu Korruption und Heuchelei, zu Egoismus und Gewalt. »Nein« zu sagen zum Bösen, dem lügnerischen Fürsten dieser Welt. »Ja« zu sagen zu Christus, der die Macht des Bösen durch die Allmacht der Liebe zerstört. Wir wissen, daß nur die Herzen, die sich zur Liebe, die Gott ist, bekehrt haben, eine bessere Zukunft für alle aufbauen können.

»Voll der Gnade« bist du, Maria! Dein Name ist für alle Generationen Unterpfand sicherer Hoffnung. Ja! Denn, wie der große Dichter Dante schrieb, bist du für uns Sterbliche »lebendiger Quell der Hoffnung« (Paradies, XXXIII,12). Zu diesem Quell, zur Quelle deines unbefleckten Herzens, kommen wir noch einmal als zuversichtliche Pilger, um Glaube und Trost, Freude und Liebe, Sicherheit und Frieden zu schöpfen.

Jungfrau »voll der Gnade«, zeige, daß du eine zärtliche und aufmerksame Mutter für die Bewohner dieser deiner Stadt bist, damit der echte Geist des Evangeliums ihr Verhalten beseele und lenke; zeige, daß du Mutter und wachsame Hüterin für Italien und für Europa bist, damit die Völker aus den alten christlichen Wurzeln neue Lebenskraft für den Aufbau ihrer Gegenwart und Zukunft schöpfen können; zeige, daß du die fürsorgliche und barmherzige Mutter für die ganze Welt bist, damit in der Achtung der menschlichen Würde und der Zurückweisung jeder Form von Gewalt und Ausbeutung sichere Grundlagen für die Zivilisation der Liebe geschaffen werden. Zeige, daß du eine Mutter insbesondere für diejenigen bist, die dessen am meisten bedürfen: die Schutzlosen, die Ausgegrenzten und Ausgeschlossenen, die Opfer einer Gesellschaft, die allzu oft den Menschen anderen Zielen und Interessen opfert.

Zeige, daß du, o Maria, die Mutter aller bist, und schenke uns Christus, die Hoffnung der Welt! »Monstra Te esse Matrem«, o ohne Erbsünde empfangene Jungfrau, voll der Gnade! Amen!



Benedikt XVI Predigten 83