Benedikt XVI Predigten 322

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APOSTOLISCHE REISE

VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TSCHECHISCHE REPUBLIK

(26.-28. SEPTEMBER 2009)

BESUCH BEIM "PRAGER JESULEIN"

GRUSSWORTE DES HEILIGEN VATERS Kirche St. Maria "vom Siege", Prag

Samstag, 26. September 2009




Meine Herren Kardinäle!
Herr Bürgermeister und geschätzte Amtsträger!
Liebe Brüder und Schwestern!
Liebe Kinder!

An euch alle richte ich meinen herzlichen Gruß und bringe meine Freude über den Besuch in dieser Kirche zum Ausdruck, die der seligen Jungfrau Maria „vom Siege“ geweiht ist und in der eine Darstellung des Jesuskindes verehrt wird, die überall als das „Prager Jesulein“ bekannt ist. Ich danke Herrn Erzbischof Jan Graubner, dem Präsidenten der Bischofskonferenz, für die Begrüßungsworte im Namen aller Bischöfe. Einen aufrichtigen Gruß richte ich an den Bürgermeister und alle anderen staatlichen und kirchlichen Amtsträger, die an dieser Begegnung teilnehmen. Ich grüße euch, liebe Familien, die ihr so zahlreich hierher gekommen seid, um mich zu treffen.

Das Standbild des Jesuskindes läßt uns sogleich an das Geheimnis der Menschwerdung denken, an den Allmächtigen Gott, der Mensch geworden ist und 30 Jahre in der einfachen Familie von Nazaret gelebt hat, wo ihn die Vorsehung der aufmerksamen Fürsorge von Maria und Josef anvertraut hat. Die Gedanken gehen auch zu euren Familien und zu allen Familien der Welt, zu ihren Freuden und ihren Schwierigkeiten. Mit diesem Gedanken verbinden wir das Gebet und erbitten vom Jesuskind für alle Familien die Gabe der Einheit und der Herzensnähe. Besonders denken wir an jene jungen Familien, die so große Anstrengungen unternehmen müssen, um ihren Kindern Sicherheit und eine würdige Zukunft zu geben. Beten wir für die Familien in Schwierigkeiten, die von Krankheit und Leid geprüft werden, für diejenigen, die durch eine Krise gehen, die aufgrund von Streit und Untreue uneinig oder zerrissen sind. Sie alle vertrauen wir dem Prager Jesulein an, wohlwissend, wie wichtig die Stabilität und die Einheit der Familien für den wahren Fortschritt der Gesellschaft und die Zukunft der Menschheit ist.

Die Figur des Jesuskindes läßt uns mit der Zartheit seiner Kindlichkeit auch die Nähe Gottes und seine Liebe verspüren. Wir verstehen, wie kostbar wir in seinen Augen sind, denn gerade durch Jesus sind wir unsererseits Kinder Gottes geworden. Jeder Mensch ist Kind Gottes und darum unser Bruder, und als solcher muß er angenommen und geachtet werden. Möge unsere Gesellschaft doch diese Wirklichkeit verstehen! Dann würde jeder Mensch nicht für das geachtet, was er hat, sondern für das, was er ist, denn im Antlitz eines jeden Menschen scheint ohne Unterschied der Rasse oder der Kultur das Bild Gottes auf.

Das gilt vor allem für die Kinder. Im Prager Jesulein betrachten wir die Schönheit der Kindheit und die Vorliebe, die Jesus Christus immer für die Kleinen gezeigt hat, wie wir im Evangelium lesen (vgl. Mk Mc 10,13-16). Wie viele Kinder werden hingegen nicht geliebt, nicht angenommen und nicht geachtet! Wie viele sind Opfer der Gewalt und jeder Art von Ausbeutung durch skrupellose Menschen! Den Kleinen möge jene Achtung und jene Aufmerksamkeit zukommen, die ihnen gebührt: Die Kinder sind die Zukunft und die Hoffnung der Menschheit.

Nun möchte ich ein besonderes Wort an euch, liebe Kinder, und an eure Familien richten. Ihr seid in großer Zahl gekommen, um mich zu treffen, und dafür danke ich euch von Herzen. Ihr seid die Lieblinge im Herzen des Jesuskindes, und darum sollt ihr es genauso lieben und nach seinem Beispiel gehorsam, höflich und hilfsbereit sein. Lernt, wie das Jesuskind eine Stütze für eure Eltern zu sein. Seid echte Freunde Jesu und geht immer voll Vertrauen zu ihm. Betet für euch selbst, für eure Eltern, Verwandten, Lehrer und Freunde, und betet auch für mich. Noch einmal vielen Dank für eure Gastfreundschaft. Ich segne euch von Herzen und erbitte für alle den Schutz des Jesuskindes, seiner unbefleckten Mutter und des heiligen Josefs.
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APOSTOLISCHE REISE

VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TSCHECHISCHE REPUBLIK

(26.-28. SEPTEMBER 2009)

BEGEGNUNG MIT DEN POLITISCHEN AUTORITÄTEN

UND DEM DIPLOMATISCHEN KORPS

ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS Prager Burg, Spanischer Saal,

Samstag, 26. September 2009




Exzellenzen!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bin dankbar für die Gelegenheit, an einem so bemerkenswerten Ort den Repräsentanten aus Politik und öffentlichem Leben der Tschechischen Republik und den Mitgliedern des diplomatischen Corps zu begegnen. Ich danke Präsident Klaus herzlich für seine freundlichen Begrüßungsworte in Ihrer aller Namen. Ebenso spreche ich der Tschechischen Philharmonie für die musikalische Darbietung zu Beginn dieser Zusammenkunft meine Anerkennung aus. Mit ihrer Aufführung haben die Philharmoniker sowohl die Wurzeln der tschechischen Kultur als auch den außerordentlichen Beitrag, den dieses Volk zur europäischen Kultur geleistet hat, vorzüglich zum Ausdruck gebracht hat.

Mein Pastoralbesuch in der Tschechischen Republik fällt mit dem zwanzigsten Jahrestag des Zusammenbruchs der totalitären Regime in Mittel- und Osteuropa sowie der „Samtenen Revolution“ zusammen, die dieser Nation die Demokratie zurückgegeben hat. Die Euphorie, die sich daraus ergab, äußerte sich in Form von Freiheit. Zwei Jahrzehnte nach den tiefgreifenden politischen Veränderungen, die über diesen Kontinent hinwegfegten, geht der Heilungs- und Wiederaufbauprozeß nun im größeren Zusammenhang der europäischen Einigung und einer zunehmend globalisierten Welt weiter. Die von den Bürgern angestrebten Ziele und die an die Regierungen gerichteten Erwartungen erfordern neue Modelle des gesellschaftlichen Lebens und der Solidarität zwischen Staaten und Völkern, ohne die eine lang ersehnte Zukunft in Gerechtigkeit, Frieden und Wohlstand unerreichbar bliebe. Diese Wünsche entwickeln sich weiter. Heute tritt besonders unter den jungen Menschen erneut die Frage nach dem Wesen der gewonnenen Freiheit auf. Mit welchem Ziel wird Freiheit ausgeübt? Was macht die Freiheit wirklich aus?

Jede Generation hat die Aufgabe, aufs neue die beschwerliche Suche nach der rechten Weise, die menschlichen Dinge zu ordnen, aufzunehmen und sich um das Verständnis des rechten Gebrauchs der menschlichen Freiheit zu bemühen (vgl. Spe salvi, 25). Die Pflicht, „Strukturen der Freiheit“ zu stärken, ist von größter Wichtigkeit. Doch sie reichen nicht aus: Die Sehnsüchte der Menschen übersteigen sie selbst und das, was jegliche politischen und wirtschaftlichen Mächte bieten können. Sie sind auf das Licht einer großen Hoffnung ausgerichtet (vgl. ebd., 35), deren Ursprung zwar über uns liegt, die wir aber als Wahrheit, Schönheit und das Gute in uns finden. Die Freiheit sucht ein Ziel: Sie verlangt nach Überzeugung. Wahre Freiheit setzt die Suche nach Wahrheit – nach dem wahren Gut – voraus, und deshalb findet sie ihre Erfüllung genau darin, zu erkennen und zu tun, was richtig und gerecht ist. Die Wahrheit ist – mit anderen Worten – die Leitnorm der Freiheit, und das Gute ist die Vollkommenheit der Freiheit. Aristoteles definiert das Gute als „das, wonach alles strebt“, und führt dann weiter aus, daß „man freilich schon sehr zufrieden sein darf, wenn man auch nur einem Menschen zum wahren Wohl verhilft, aber schöner und göttlicher ist es doch, wenn dies bei einem Volk oder einem Staat geschieht“ (Nikomachische Ethik, 1; vgl. Caritas in veritate, 2). Die hohe Verantwortung, Aufnahmebereitschaft für die Wahrheit und das Gute zu wecken, kommt in der Tat allen zu, die im Bereich der Religion, der Politik und der Kultur Leitungsaufgaben inne haben, jedem auf seine Weise. Gemeinsam müssen wir das Ringen um die Freiheit und die Suche nach der Wahrheit in Angriff nehmen, die entweder Hand in Hand voranschreiten oder gemeinsam elend zugrunde gehen (vgl. Fides et ratio, 90).

Für Christen hat die Wahrheit einen Namen: Gott. Und das Gute hat ein Gesicht: Jesus Christus. Der christliche Glaube hat seit den Zeiten der Heiligen Cyrill und Methodius und der ersten Missionare in der Tat eine entscheidende Rolle bei der Formung des geistigen und kulturellen Erbes dieses Landes gespielt. Er muß dies ebenso in der Gegenwart und in der Zukunft tun. Das reiche Erbe an geistigen und kulturellen Werten – wobei die geistigen Werte in den kulturellen zum Ausdruck kommen und umgekehrt – hat nicht nur der Identität der Nation Gestalt verliehen, sondern hat ihr auch die notwendige Vision geschenkt, im Herzen Europas eine Rolle einzunehmen, die den Zusammenhalt fördert. Über Jahrhunderte war dieses Gebiet ein Schnittpunkt zwischen verschiedenen Völkern, Traditionen und Kulturen. Wie wir alle wissen, hat es schmerzliche Zeiten erlebt und trägt die Narben tragischer Ereignisse, die eine Folge von Unverständnis, Krieg und Verfolgung waren. Aber es ist auch wahr, daß seine christlichen Wurzeln einen bemerkenswerten Geist der Vergebung, der Versöhnung und der Zusammenarbeit genährt haben, der die Menschen dieser Lande die Freiheit finden ließ und einen Neubeginn, eine neue Synthese, eine Erneuerung der Hoffnung in Gang brachte. Ist das nicht genau der Geist, den das heutige Europa braucht?

Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist ein Zuhause! Und die Freiheit findet ihren tiefsten Sinn in einer geistigen Heimat. Bei voller Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen dem politischen Bereich und dem Bereich der Religion – was ja die Freiheit der Bürger bewahrt, ihren Glauben zum Ausdruck zu bringen und danach zu leben –, möchte ich zugleich die unersetzliche Rolle des Christentums für die Bildung des Gewissens einer jeden Generation betonen, wie auch seine Rolle für die Förderung eines grundlegenden ethischen Konsenses, der allen Menschen zugute kommt, die diesen Kontinent ihr „Zuhause“ nennen! In diesem Geist weiß ich die Stimme all jener zu schätzen, die sich heute in diesem Land und auf diesem Kontinent darum bemühen, ihren Glauben respektvoll und dennoch entschieden ins öffentliche Leben einzubringen, in der Erwartung, daß die gesellschaftlichen Normen und die politischen Entscheidungen von dem Verlangen geprägt sein sollen, nach der Wahrheit zu leben, die jeden Menschen frei macht (vgl. Caritas in veritate, 9).

Die Treue gegenüber den Völkern, denen Sie dienen und die Sie vertreten, erfordert die Treue zur Wahrheit, die allein der Garant für die Freiheit und die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist (vgl. ebd., 9). Der Mut, die Wahrheit auszusprechen, kommt in der Tat allen Gliedern der Gesellschaft zugute, indem der Weg des menschlichen Fortschritts besser sichtbar gemacht wird, seine ethischen und moralischen Grundlagen aufgezeigt werden und sichergestellt wird, daß die staatliche Politik sich auf den Schatz der Weisheit der Menschen stützt. Die Empfänglichkeit für die universale Wahrheit sollte nie durch Einzelinteressen verdunkelt werden, so wichtig diese auch sein mögen, denn das würde nur zu neuen Formen von gesellschaftlicher Fragmentierung und Diskriminierung führen, die diese Interessen- und Lobbygruppen zu überwinden vorgeben. Weit davon entfernt, eine Bedrohung für die Toleranz der Vielfalt oder der kulturellen Pluralität zu sein, macht das Streben nach Wahrheit den Konsens möglich, bewahrt der öffentlichen Debatte die Logik, die Ehrlichkeit und die nachprüfbare Verantwortlichkeit und garantiert die Einheit, welche vage Vorstellungen von Integration einfach nicht erreichen können. Im Licht der kirchlichen Tradition von materieller, intellektueller und geistiger Nächstenliebe bin ich zuversichtlich, daß die Angehörigen der katholischen Glaubensgemeinschaft – zusammen mit den Angehörigen anderer Kirchen, kirchlicher Gemeinschaften und Religionen – in diesem Land und darüber hinaus weiterhin Entwicklungsziele verfolgen werden, die einen menschlichen und Menschlichkeit fördernden Wert besitzen (vgl. ebd., 9).

Liebe Freunde, wir befinden uns in einer wunderschönen Hauptstadt, die oft als Herz Europas bezeichnet wird. Das lädt uns ein, uns die Frage zu stellen, worin dieses „Herz“ besteht. Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage, doch können die architektonischen Meisterwerke, die diese Stadt schmücken, uns gewiß einen Anhaltspunkt liefern. Die faszinierende Schönheit ihrer Kirchen, der Burg, der Plätze und Brücken kann unseren Geist nur zu Gott führen. Ihre Schönheit bringt den Glauben zum Ausdruck; sie sind sichtbare Zeichen Gottes, die uns zurecht zum Nachdenken über die herrlichen Wunderwerke anregen, die wir Geschöpfe erstreben können, wenn wir die ästhetischen und denkerischen Aspekte unseres innersten Wesens zum Ausdruck bringen. Wie tragisch wäre es, wenn jemand solche Beispiele von Schönheit betrachtete, aber in Unkenntnis des transzendenten Geheimnisses verbliebe, auf das sie hindeuten. Die schöpferisch fruchtbare Begegnung der klassischen Tradition mit dem Evangelium brachte eine Vision von Mensch und Gesellschaft hervor, die auf Gottes Gegenwart unter uns achtet. Diese Vision prägte das kulturelle Erbe dieses Kontinents und hob dabei hervor, daß die Vernunft nicht mit dem endet, was die Augen sehen, sondern daß sie zu dem hingezogen wird, was jenseits liegt; zu dem, nach dem wir zutiefst verlangen: dem „Geist der Schöpfung“, wie wir ihn nennen könnten.

Am gegenwärtigen Scheideweg der Zivilisation, die so oft von einer beunruhigenden Spaltung der Einheit des Guten, der Wahrheit und der Schönheit gekennzeichnet ist – ebenso wie von der sich daraus ergebenden Schwierigkeit, eine Akzeptanz gemeinsamer Werte zu finden –, muß sich jedes Bemühen um den Fortschritt des Menschen vom lebendigen Erbe inspirieren lassen. Europa hat in Treue zu seinen christlichen Wurzeln eine besondere Berufung, diese transzendente Vision in seinen Initiativen im Dienst des Gemeinwohls der einzelnen Menschen, der Gruppen und der Länder zu bewahren. Besonders wichtig ist die dringende Aufgabe, junge Europäer durch eine Bildung, die ihre gottgegebene Fähigkeit achtet und stärkt, zu ermutigen, gerade jene Grenzen zu überschreiten, die sie manchmal anscheinend gefangen halten. Im Sport, in den kreativen Künsten und im Streben nach Wissen ergreifen junge Menschen gerne die Gelegenheit, herausragende Leistungen zu erbringen. Ist es nicht ebenso wahr, daß sie auch nach moralischen Tugenden und nach einem solidarischen und guten Leben streben werden, wenn sie mit hohen Idealen konfrontiert werden? Meine aufrichtige Ermutigung gilt den Eltern und den Leitern von Gruppen, die von den Verantwortungsträgern erwarten, daß sie Werte fördern, die die intellektuellen, menschlichen und geistigen Dimensionen einer soliden Erziehung umfassen, die den Zielen unserer jungen Menschen angemessen ist.

Veritas vincit“. Dieses Motto steht auf der Fahne des Präsidenten der Tschechischen Republik: Letztendlich erringt die Wahrheit ihren Sieg nicht durch Gewalt, sondern durch Überzeugung, durch das heroische Zeugnis von Männern und Frauen mit starken Prinzipien, durch den aufrichtigen Dialog, der über die Eigeninteressen hinweg auf die Erfordernisse des Gemeinwohls schaut. Das Verlangen nach dem Wahren, Schönen und Guten, das der Schöpfer allen Menschen ins Herz gelegt hat, soll die Menschen auf der Suche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden zusammenführen. Die Geschichte hat reichlich gezeigt, daß die Wahrheit im Dienste von falschen Ideologien, Unterdrückung und Ungerechtigkeit hintergangen und manipuliert werden kann. Aber rufen uns die Herausforderungen, denen sich die Menschheitsfamilie gegenübersieht, nicht dazu auf, über diese Gefahren hinauszusehen? Denn was ist letztendlich unmenschlicher und destruktiver als der Zynismus, der die Größe unserer Suche nach Wahrheit leugnen würde, und der Relativismus, der gerade die Werte aushöhlt, die den Aufbau einer vereinten und brüderlichen Welt inspirieren? Statt dessen müssen wir aufs neue Vertrauen in die edle Gesinnung und in die Weite des menschlichen Geistes hinsichtlich seiner Fähigkeit, die Wahrheit zu erfassen, gewinnen und uns von diesem Vertrauen in der geduldigen Arbeit der Politik und der Diplomatie leiten lassen.

Sehr geehrte Damen und Herren, mit diesen Gedanken verbinde ich mein Gebet und meine guten Wünsche, daß Ihr Dienst vom Licht jener Wahrheit inspiriert und getragen wird, die ein Widerschein der ewigen Weisheit des Schöpfergottes ist. Ihnen und Ihren Familien erbitte ich von Herzen Gottes reichen Segen.


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APOSTOLISCHE REISE

VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TSCHECHISCHE REPUBLIK

(26.-28. SEPTEMBER 2009)

FEIER DER VESPER MIT DEN PRIESTERN, ORDENSLEUTEN,

SEMINARISTEN UND GEISTLICHEN BEWEGUNGEN

ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS Veitsdom auf der Prager Burg

Samstag, 26. September 2009




Liebe Brüder und Schwestern!

An euch alle richte ich den Gruß des heiligen Paulus, den wir in der Kurzlesung gehört haben: Gnade und Friede von Gott, unserem Vater! An erster Stelle gilt der Gruß dem Herrn Kardinal Erzbischof, dem ich für seine freundlichen Worte danke. Weiters grüße ich die anderen anwesenden Kardinäle und Bischöfe, die Priester und Diakone, die Seminaristen, die Ordensleute, die Katecheten und pastoralen Mitarbeiter, die Jugendlichen und die Familien, die Vereinigungen und kirchlichen Bewegungen.

Heute abend sind wir an einem Ort versammelt, den ihr liebt und der ein sichtbares Zeichen dafür ist, wie stark die göttliche Gnade ist, die im Herzen der Gläubigen wirkt. Die Schönheit dieses tausendjährigen Gotteshauses ist in der Tat ein lebendiges Zeugnis für die reiche Geschichte des Glaubens und der christlichen Tradition eures Volkes – eine Geschichte, die insbesondere von der Treue derjenigen erhellt wird, die ihre Zugehörigkeit zu Christus und zur Kirche mit dem Martyrium besiegelt haben. Ich denke an die Gestalten der Heiligen Wenzel, Adalbert und Johannes Nepomuk, Meilensteine des Weges eurer Kirche. Zu ihnen gesellen sich die Beispiele des jungen heiligen Vitus, der lieber das Martyrium auf sich nahm, als Christus zu verraten, des heiligen Mönches Prokop und der heiligen Ludmilla. Ich denke an die Geschichte von zwei Erzbischöfen dieser Ortskirche im vorigen Jahrhundert, der Kardinäle Josef Beran und František Tomášek, wie auch von vielen Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Gläubigen, die mit heroischer Standhaftigkeit die kommunistische Verfolgung ertrugen und sogar schließlich ihr Leben hingaben. Woher haben diese mutigen Freunde Christi die Kraft genommen, wenn nicht aus dem Evangelium? Ja! Sie haben sich von Jesus faszinieren lassen, der gesagt hat: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24). In der Stunde der Bedrängnis haben sie in ihrem Herzen ein weiteres Wort von ihm gehört: „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Jn 15,20).

Der Heldenmut der Glaubenszeugen erinnert daran, daß nur aus der persönlichen Kenntnis Christi und der tiefen Verbindung zu ihm die geistliche Kraft bezogen werden kann, um die christliche Berufung voll zu verwirklichen. Nur die Liebe Christi macht das apostolische Handeln wirksam, vor allem in den Augenblicken der Bedrängnis und der Prüfung. Christus wie auch die Brüder und Schwestern zu lieben muß das Merkmal eines jeden Getauften und einer jeden Gemeinschaft sein. In der Apostelgeschichte lesen wir: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“ (Ac 4,32). Und Tertullian, ein Kirchenschriftsteller der ersten Jahrhunderte, schrieb, daß die Heiden beeindruckt waren von der Liebe, die die Christen miteinander verband (vgl. Apologeticum XXXIX). Liebe Brüder und Schwestern, ahmt den göttlichen Meister nach, der „nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“ (Mc 10,45). Die Liebe erstrahle in jeder eurer Pfarreien und Gemeinschaften, in den verschiedenen Vereinigungen und Bewegungen. Eure Kirche sei, gemäß dem Bild des heiligen Paulus, ein wohl aufgebauter Leib, der Christus zum Haupt hat und in dem jedes Glied einträchtig mit dem Ganzen handelt. Speist die Liebe zu Christus mit dem Gebet und das Hinhören auf sein Wort; nährt euch von ihm in der Eucharistie, und werdet mit seiner Gnade zu Stiftern von Einheit und Frieden in allen Bereichen.

Nach dem langen Winter der kommunistischen Diktatur haben eure christlichen Gemeinden vor 20 Jahren wieder begonnen, sich frei zu entfalten, als euer Volk mit den Ereignissen, die in der Studentendemonstration am 17. November 1989 ihren Anfang nahmen, die eigene Freiheit wieder erlangt hat. Ihr merkt aber, daß es auch heute nicht leicht ist, das Evangelium zu leben und dafür Zeugnis zu geben. Die Gesellschaft trägt noch die Wunden, die von der atheistischen Ideologie verursacht wurden, und sie ist oft von der modernen Mentalität des hedonistischen Konsums fasziniert, die eine gefährliche Krise der menschlichen und religiösen Werte und das Abtriften in einen grassierenden ethischen und kulturellen Relativismus mit sich bringt. In diesem Zusammenhang ist ein neuer Einsatz seitens aller kirchlichen Glieder dringlich, um die geistlichen und moralischen Werte im Leben der heutigen Gesellschaft zu stärken. Ich weiß, daß eure Gemeinschaften sich schon auf vielen Gebieten einsetzen, vor allem im karitativen Bereich mit den Caritas-Verbänden. Eure pastorale Tätigkeit umfasse mit besonderem Eifer das Gebiet der Erziehung der jungen Generationen. Die katholischen Schulen mögen die Achtung des Menschen fördern; auch außerhalb des schulischen Bereichs möge man der Jugendpastoral Aufmerksamkeit widmen, ohne die anderen Kategorien von Gläubigen zu vernachlässigen. Christus gehört allen! Von Herzen wünsche ich ein stets wachsendes Einverständnis mit den anderen Institutionen, sowohl öffentlichen wie privaten. Die Kirche – es ist immer nützlich, es zu wiederholen – verlangt keine Privilegien, sondern bittet nur darum, frei im Dienst aller und im Geist des Evangeliums wirken zu können.

Liebe Brüder und Schwestern, der Herr lasse euch wie das Salz sein, von dem das Evangelium spricht, das dem Leben Geschmack verleiht. Seid so treue Arbeiter im Weinberg des Herrn. An erster Stelle geht es euch an, liebe Bischöfe und Priester, unermüdlich für das Wohl derer zu arbeiten, die eurer Sorge anvertraut sind. Laßt euch stets vom Bild des Guten Hirten im Evangelium inspirieren, der seine Schafe kennt, sie beim Namen ruft, sie auf sichere Weide führt und der bereit ist, sich selbst für sie hinzugeben (vgl. Joh Jn 10,1-19). Liebe Gottgeweihte, mit dem Gelübde der evangelischen Räte erinnert ihr an den Vorrang, den Gott im Leben eines jeden Menschen haben muß. Und durch das Leben in Gemeinschaft gebt ihr Zeugnis dafür, wie bereichernd es ist, das Liebesgebot umzusetzen (vgl. Joh Jn 13,34). In Treue zu dieser Berufung werdet ihr den Männern und Frauen unserer Zeit helfen, den Blick nach oben zu richten, sich von Gott und vom Evangelium seines Sohnes anziehen zu lassen (vgl. Vita consecrata VC 104). Und ihr, liebe junge Freunde in den Seminaren oder Ausbildungshäusern, bemüht euch darum, eine solide kulturelle, geistliche und pastorale Vorbereitung zu erwerben. In diesem Priesterjahr, das ich zum Gedenken an den 150. Todestag des heiligen Pfarrers von Ars ausgerufen habe, sei euch die Gestalt dieses Hirten ein Beispiel, der ganz Gott und den Seelen ergeben war und sich voll bewußt war, daß gerade sein – vom Gebet beseelter – Dienst sein Weg der Heiligung war.

Liebe Brüder und Schwestern, dankbar dem Herrn gedenken wir in diesem Jahr verschiedener Anlässe: der 280 Jahre seit der Heiligsprechung des heiligen Johannes Nepomuk, des 80. Weihetags dieser Kathedrale zu Ehren des heiligen Vitus und des 20. Jahrestags der Heiligsprechung der heiligen Agnes von Böhmen, eines Ereignisses, das die Befreiung eures Landes von der atheistischen Unterdrückung ankündigte. Es sind viele Gründe, um mit Freude und Begeisterung den Weg der Kirche fortzusetzen im Vertrauen auf die mütterliche Fürsprache Marias, der Mutter Gottes, und der Fürsprache aller eurer heiligen Patrone. Amen!
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APOSTOLISCHE REISE

VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TSCHECHISCHE REPUBLIK

(26.-28. SEPTEMBER 2009)

ÖKUMENISCHES TREFFEN

ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS Erzbischöfliches Palais, Prag

Sonntag, 27. September 2009

(Video)

Meine sehr verehrten Herren Kardinäle und Mitbrüder im Bischofsamt!

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich danke dem allmächtigen Gott für die Gelegenheit, mit Ihnen, den Vertretern der verschiedenen christlichen Gemeinschaften dieses Landes, zusammenzukommen. Ich danke Herrn Doktor Cerný, dem Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen in der Tschechischen Republik, für die freundlichen Begrüßungsworte, die er in Ihrer aller Namen an mich gerichtet hat.

Meine lieben Freunde, Europa durchlebt weiterhin viele Veränderungen. Es ist kaum zu glauben, daß erst zwei Jahrzehnte vergangen sind, seitdem der Zusammenbruch der damaligen Regime den Weg für einen schwierigen, aber fruchtbaren Übergang zu einer demokratischen politischen Struktur geebnet hat. Während dieser Zeit haben sich Christen mit anderen Menschen guten Willens zusammengeschlossen, um zum Aufbau eines gerechten politischen Gefüges beizutragen, und sie stehen weiterhin im Dialog miteinander, um neue Wege für gegenseitiges Verständnis, Mitwirkung am Frieden und Förderung des Gemeinwohls zu bahnen.

Nichtsdestoweniger wurden neue Versuche unternommen, den Einfluß des Christentums auf das öffentliche Leben zurückzudrängen – zuweilen unter dem Vorwand, daß seine Lehre schädlich sei für das Wohl der Gesellschaft. Dieses Phänomen gibt uns zu denken. Wie ich in meiner Enzyklika über die christliche Hoffnung dargelegt habe, soll uns die künstliche Trennung des Evangeliums vom intellektuellen und öffentlichen Leben veranlassen, sowohl eine „Selbstkritik der Neuzeit“ als auch eine „Selbstkritik des neuzeitlichen Christentums“ vorzunehmen, vor allem in Bezug auf die Hoffnung, die das Denken der Neuzeit und das Christentum der Menschheit anbieten können (vgl. Spe salvi, 22). Fragen wir uns, was das Evangelium der Tschechischen Republik und ebenso auch ganz Europa heute zu sagen hat – in einer Zeitepoche, die durch ein Anwachsen verschiedenster Weltanschauungen geprägt ist?

Das Christentum hat auf der sozialen und ethischen Ebene viel zu bieten; denn das Evangelium hört nie auf, Menschen anzuregen, sich selbst in den Dienst ihrer Brüder und Schwestern zu stellen. Nur wenige würden dies bestreiten. Außerdem wissen jene, die mit den Augen des Glaubens ihren Blick auf Jesus von Nazaret gerichtet haben, daß Gott uns eine tiefere Wirklichkeit zeigt, die jedoch untrennbar mit der „Ökonomie“ der Liebe verbunden ist, die in dieser Welt erfahrbar wird (vgl. Caritas in veritate, 2): Er schenkt Heil.

Der Begriff des Heils hat verschiedene Bedeutungen, und doch drückt er etwas Grundlegendes und Universales über die Sehnsucht des Menschen nach Wohlergehen und Ganzheit aus. Das Heil bezieht sich auf das sehnliche Verlangen nach Versöhnung und Gemeinschaft, das wie von selbst in der Tiefe des menschlichen Geistes erwacht. Es ist die zentrale Wahrheit des Evangeliums und das Ziel, auf das jegliche Evangelisierung und pastorale Tätigkeit hingeordnet sind. Und es ist der Maßstab, an dem die Christen immer wieder neu ihren Blick orientieren, wenn sie sich bemühen, die Wunden vergangener Spaltungen zu heilen.

In dem Zusammenhang hat der Heilige Stuhl – wie Herr Dr. Cerný erwähnte – im Jahre 1999 zu einem Internationalen Symposium über Jan Hus eingeladen, welches die Erörterung der komplexen und turbulenten Religionsgeschichte dieses Landes und Europas im allgemeinen weiterführt (vgl. Johannes Paul II., Grußwort an die Teilnehmer eines internationalen Hus-Symposiums an der Lateran-Universität, 17. 12.1999). Ich bete dafür, daß solche ökumenischen Initiativen Frucht tragen nicht nur im Bemühen um die Einheit der Christen sondern auch um das Wohl aller Europäer.

Es erfüllt uns mit Zuversicht zu wissen, daß die kirchliche Verkündigung des Heils in Christus Jesus immer alt und immer neu ist; sie gründet in der Weisheit der Vergangenheit und ist überreich gefüllt mit Hoffnung für die Zukunft. Wenn Europa die Geschichte des Christentums vernimmt, hört es seine eigene Geschichte. Sein Verständnis von Gerechtigkeit, Freiheit und sozialer Verantwortung wie auch die kulturellen und rechtlichen Institutionen, die dazu geschaffen wurden, dieses Gedankengut zu bewahren und den zukünftigen Generationen zu übermitteln, sind vom christlichen Erbe geprägt. Tatsächlich belebt seine Rückbesinnung auf die Vergangenheit seine Erwartungen für die Zukunft.

Daher stützen sich die Christen auf das Beispiel bedeutender Persönlichkeiten, wie die des heiligen Adalberts und der heiligen Agnes von Böhmen. Ihr Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums war von der Überzeugung getragen, daß Christen nicht ängstlich vor der Welt zurückzuschrecken brauchen, sondern daß sie furchtlos den Schatz der ihnen anvertrauten Wahrheit mit anderen teilen sollen. Ebenso müssen die Christen heute, wenn sie den gegenwärtigen Gegebenheiten offen begegnen und all das anerkennen, was in der Gesellschaft gut ist, auch den Mut haben, die Menschen zu einer radikalen Umkehr einzuladen, die sich aus einer Begegnung mit Christus ergibt und in ein neues Leben der Gnade führt.

Aus dieser Sicht verstehen wir besser, warum Christen verpflichtet sind, sich mit anderen zu vereinen, um Europa seine Wurzeln in Erinnerung zu rufen. Das ist nicht deshalb nötig, weil diese Wurzeln schon längst vertrocknet wären. Ganz im Gegenteil! Es ist nötig, weil diese Wurzeln weiterhin – auf unscheinbare, aber doch fruchtbare Weise – die geistige und moralische Grundlage des Kontinents liefern, damit dieser in einen sinnvollen Dialog mit Menschen anderer Kulturen und Religionen treten kann. Gerade weil das Evangelium keine Ideologie ist, beabsichtigt es nicht, die entstehenden sozial-politischen Gegebenheiten in ein starres Schema zu pressen. Vielmehr steht es über den Veränderungen dieser Welt und wirft in jeder Zeitepoche neues Licht auf die Würde der menschlichen Person. Liebe Freunde, bitten wir den Herrn, er möge uns den Geist der Stärke eingießen, damit wir die unvergängliche Wahrheit des Heils verkünden, die den sozialen und kulturellen Fortschritt des Kontinents geprägt hat und ihn weiterhin prägen wird.

Durch das Heil, das uns durch Jesu Leiden, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt geschenkt ist, werden wir, die wir an ihn glauben, nicht nur erneuert, sondern es drängt uns auch, die Frohe Botschaft mit anderen zu teilen. Die Geistesgaben der Erkenntnis, der Weisheit und der Einsicht (vgl. Is 11,1-2 Ex 35,31), die uns erleuchten und befähigen, die von Jesus Christus gelehrte Wahrheit zu verstehen, mögen uns anregen, uns unermüdlich für die Einheit einzusetzen, die er für all seine in der Taufe wiedergeborenen Kinder wie auch für die ganze Menschheit ersehnt.

Mit diesen Wünschen und in brüderlicher Zuneigung Ihnen und allen Mitgliedern Ihrer jeweiligen Gemeinschaften gegenüber möchte ich Ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen und empfehle Sie dem Allmächtigen Gott, der unsere Burg, unsere Festung und unser Retter ist (vgl. Ps Ps 144,2). Amen.
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APOSTOLISCHE REISE

VON PAPST BENEDIKT XVI.

IN DIE TSCHECHISCHE REPUBLIK

(26.-28. SEPTEMBER 2009)

BEGEGNUNG MIT DEN AKADEMIKERN

ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS Wladislawsaal auf der Prager Burg

Sonntag, 27. September 2009

(Video)




Herr Präsident,
sehr geehrte Rektoren und Professoren,
liebe Studenten und Freunde!

Unsere Begegnung an diesem Abend bietet mir eine willkommene Gelegenheit, meine Wertschätzung für die unersetzliche Rolle der Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen in der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Ich danke dem Studenten, der mich so freundlich in Ihrer aller Namen begrüßt hat, den Mitgliedern des Universitätschores für ihre schöne Darbietung und dem geschätzten Rektor der Karlsuniversität, Herrn Professor Václav Hampl, für seine gehaltvollen Ausführungen. Der Dienst der akademischen Einrichtungen, die die kulturellen und geistigen Werte der Gesellschaft pflegen und vermehren, bereichert das intellektuelle Erbe eines Landes und festigt die Fundamente seiner künftigen Entwicklung. Die großen Veränderungen, die die tschechische Gesellschaft vor zwanzig Jahren erlebt hat, wurden nicht zuletzt durch Reformbewegungen ausgelöst, die ihren Ursprung an der Universität und in Studentenkreisen hatten. Dieses Streben nach Freiheit hat auch weiter das Wirken von Gelehrten geleitet, deren diakonia der Wahrheit für das Wohlbefinden jeder Nation unerläßlich ist.

Ich spreche zu Ihnen als jemand, der selber Professor war und sich als solcher für das Recht auf akademische Freiheit und die Verantwortung für einen authentischen Umgang mit der Vernunft eingesetzt hat – und der jetzt Papst ist, der in seinem Hirtenamt als eine Stimme der ethischen Reflexion der Menschheit Anerkennung erfährt. Auch wenn manche behaupten, daß die Fragestellungen der Religion, des Glaubens und der Ethik keinen Platz im Bereich der Vernunft der Allgemeinheit haben, ist diese Ansicht keineswegs eine Grundsatzaussage. Die Freiheit, die der Tätigkeit der Vernunft zugrunde liegt – sei es in einer Universität oder in der Kirche –, hat ein Ziel: Sie ist auf das Streben nach Wahrheit ausgerichtet und verkörpert als solches einen Grundsatz des Christentums, das ja die Universität hervorgebracht hat. In der Tat regt der Wissensdurst des Menschen jede Generation an, den Vernunftbegriff auszuweiten und aus den Quellen des Glaubens zu trinken. Es war gerade das reiche Erbe der klassischen Weisheit, das assimiliert und in den Dienst des Evangeliums gestellt worden war, welches die ersten christlichen Missionare in diese Regionen gebracht haben. Damit wurde die Grundlage für eine geistige und kulturelle Einheit gelegt, die bis heute fortbesteht. Derselbe Geist bewegte meinen Vorgänger Papst Clemens VI. zur Gründung der berühmten Karlsuniversität im Jahr 1347, die bis heute einen wichtigen Beitrag zu größeren akademischen, religiösen und kulturellen Kreisen in Europa leistet.

Die Autonomie einer Universität – genau wie die einer jeden Bildungseinrichtung – hat einen Sinn, wenn sie der Autorität der Wahrheit Rechenschaft gibt. Diese Autonomie kann jedoch auf vielerlei Weise durchkreuzt werden. Die große, für das Transzendente offene Bildungstradition, auf der die Universitäten in ganz Europa basieren, wurde in diesem und in anderen Ländern durch die reduktive Ideologie des Materialismus, die Verfolgung der Religion und die Unterdrückung des menschlichen Geistes systematisch untergraben. Im Jahr 1989 wurde die Welt jedoch auf dramatische Weise Zeuge des Sturzes einer gescheiterten totalitären Ideologie und des Sieges des menschlichen Geistes. Die Sehnsucht nach Freiheit und Wahrheit ist unveräußerlich Teil unseres gemeinsamen Menschseins. Sie kann nie ausgelöscht werden; und wenn sie geleugnet wird, dann gerät, wie es die Geschichte gezeigt hat, das Menschsein selbst in Gefahr. Auf diese Sehnsucht versuchen der religiöse Glaube, die verschiedenen Künste, die Philosophie, die Theologie und andere Wissenschaften – jeweils mit ihrer eigenen Methode – zu antworten, sowohl auf der Ebene der systematischen Reflexion als auch auf der Ebene des korrekten Handelns.

Sehr geehrte Rektoren und Professoren, neben Ihrer Forschung gibt es einen weiteren wesentlichen Aspekt der Mission der Universität, an der Sie mitarbeiten, nämlich die Verantwortung, den Verstand und das Herz der jungen Menschen von heute auszubilden. Diese ernste Pflicht ist natürlich nicht neu. Seit der Zeit Platos ist die Erziehung nicht bloß die Ansammlung von Wissen und Fähigkeiten, sondern paideia, menschliche Bildung in den Schätzen der intellektuellen Tradition, die auf ein tugendhaftes Leben ausgerichtet ist. Wenn die großen Universitäten, die im Mittelalter in ganz Europa entstanden sind, mit Zuversicht auf das Ideal einer Synthese des gesamten Wissens abzielten, so taten sie dies stets im Dienst einer authentischen humanitas, der Vollkommenheit des Einzelnen in der Einheit einer wohlgeordneten Gesellschaft. Dasselbe gilt auch heute: Sobald in den jungen Menschen das Verständnis für die Fülle und die Einheit der Wahrheit geweckt ist, erfreuen sie sich der Entdeckung, daß die Frage nach dem, was sie wissen können, das große Abenteuer dessen eröffnet, wie sie sein und was sie tun sollen.

Das Konzept einer integralen Bildung, die auf der Einheit des auf der Wahrheit gegründeten Wissens basiert, muß wiedergewonnen werden. Es dient als Gegengewicht zu der in der heutigen Gesellschaft so augenscheinlichen Tendenz zur Fragmentierung des Wissens. Die massive Zunahme von Information und Technologie bringt die Versuchung mit sich, die Vernunft vom Streben nach Wahrheit loszulösen. Abgetrennt von der grundlegenden menschlichen Ausrichtung auf die Wahrheit, beginnt die Vernunft jedoch, die Richtung zu verlieren: Sie verkümmert entweder unter dem Schein der Bescheidenheit, wenn sie sich mit dem bloß Unvollständigen und Vorläufigen begnügt, oder unter dem Schein der Gewißheit, wenn sie glaubt, vor den Anforderungen jener kapitulieren zu müssen, die fast alles unterschiedslos als gleichwertig ansehen. Der daraus folgende Relativismus stellt ein dichtes Gestrüpp dar, hinter dem neue Bedrohungen für die Autonomie der akademischen Einrichtungen lauern können. Die Zeit der Eingriffe von Seiten des politischen Totalitarismus mag vorbei sein, doch ist es nicht weiterhin so, daß auf der ganzen Welt der Vernunftgebrauch und die akademische Forschung oft auf subtile und weniger subtile Weise dazu gezwungen werden, sich dem Druck ideologischer Interessensgruppen und der Verlockung kurzzeitiger utilitaristischer und pragmatischer Ziele zu beugen? Was wird passieren, wenn unsere Kultur nur auf Modethemen mit geringem Bezug zu einer echten historischen intellektuellen Tradition beziehungsweise auf den am lautesten beworbenen oder am besten finanzierten Ansichten gründet? Was wird passieren, wenn sie sich in ihrer Angst, einen radikalen Säkularismus zu bewahren, von ihren lebensspendenden Wurzeln abschneidet? Unsere Gesellschaften werden nicht vernünftiger, toleranter oder flexibler werden, sondern brüchiger und weniger aufnahmefähig, und es wird ihnen immer schwerer fallen zu erkennen, was wahr, edel und gut ist.

Liebe Freunde, ich möchte Sie ermutigen, in allem, was Sie tun, dem Idealismus und der Großzügigkeit der jungen Menschen heute nicht nur mit Studienprogrammen zu begegnen, die ihnen helfen, erfolgreich zu sein, sondern auch mit der Erfahrung gemeinsamer Ideale und gegenseitiger Unterstützung bei der großen Aufgabe des Lernens. Die Fähigkeiten zur Analyse und jene, die zum Aufstellen einer Hypothese nötig sind, bieten gemeinsam mit einer klugen Kunst der Unterscheidung ein wirksames Gegenmittel gegen die Haltungen der In-sich-Gekehrtheit, der Teilnahmslosigkeit und sogar der Isolation, die in unseren wohlhabenden Gesellschaften mitunter auftreten und von denen die jungen Menschen besonders betroffen sind.

In diesem Zusammenhang einer eminent humanistischen Sicht der Aufgabe der Universität möchte ich kurz die Überwindung des Bruches zwischen Wissenschaft und Religion ansprechen, die ein zentrales Anliegen meines Vorgängers Papst Johannes Pauls II. war.

Er hat, wie Sie wissen, ein tieferes Verständnis der Beziehung von Glaube und Vernunft angeregt. Er deutete Glaube und Vernunft als die beiden Flügel, durch die sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt (vgl. Fides et ratio, Vorwort). Sie unterstützen einander und haben ihr je eigenes Tätigkeitsfeld (vgl. ebd., 17), doch wollen einige sie voneinander trennen. Die Vertreter dieses positivistischen Ausschlusses des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft widersprechen damit nicht nur einer der tiefsten Überzeugungen gläubiger Menschen, sondern sie durchkreuzen auch genau jenen Dialog der Kulturen, den sie selber vorschlagen. Eine Vorstellung von Vernunft, die für das Göttliche taub ist und die Religionen in die Welt der Subkulturen verweist, ist unfähig, in den Dialog der Kulturen einzutreten, den unsere Welt so dringend braucht. Letztendlich „erfordert die Treue zum Menschen die Treue zur Wahrheit, die allein Garant der Freiheit ist“ (Caritas in veritate, 9). Dieses Vertrauen in das menschliche Vermögen, Wahrheit zu suchen, Wahrheit zu finden und nach der Wahrheit zu leben, führte zur Gründung der großen europäischen Universitäten. Gewiß müssen wir dies heute neu betonen, damit wir den intellektuellen Kräften den nötigen Mut für die Entwicklung einer Zukunft wahrer menschlicher Blüte geben, einer Zukunft, die des Menschen wirklich würdig ist.

Mit diesen Gedanken, liebe Freunde, verbinde ich meine vom Gebet getragenen guten Wünsche für Ihre anspruchsvolle Arbeit. Ich bete, daß sie immer von einer menschlichen Weisheit inspiriert und geleitet werden, die wirklich die Wahrheit sucht, die uns frei macht (vgl. Joh Jn 8,32). Ihnen und Ihren Familien erbitte ich Freude, Frieden und den Segen Gottes.
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Benedikt XVI Predigten 322