Benedikt XVI Predigten 333

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PASTORALBESUCH IN BRESCIA UND CONCESIO

BESUCH IN DER PFARREI VON BOTTICINO SERA


GRUSSWORTE VON BENEDIKT XVI.

Brescia

Sonntag, 8. November 2009




Liebe Brüder und Schwestern!

Ich bin sehr glücklich, in der Pfarrei des hl. Arcangelo Tadini zu sein. Ich habe ihn vor kurzem heiliggesprochen, und mich hat diese Gestalt des geistlichen Lebens sehr erbaut, die zugleich eine große Persönlichkeit im sozialen Leben des 19. und 20. Jahrhunderts war. Mit seinem Werk hat er der Menschheit ein Geschenk gemacht, und er lädt uns alle ein, Gott zu lieben, Christus zu lieben, die Gottesmutter zu lieben und diese Liebe den anderen zu schenken – daran zu arbeiten, daß eine brüderliche Welt entsteht, in der ein jeder nicht für sich selbst lebt, sondern für die anderen. Ich danke euch also für diesen herzlichen Empfang. Es ist mir eine große Freude zu sehen, daß die Kirche hier lebendig und froh ist. Ich wünsche euch einen schönen Sonntag und alles Gute. Beste Wünsche, danke…

PASTORALBESUCH IN BRESCIA UND CONCESIO

EINWEIHUNG DES NEUEN SITZES DES INSTITUTS "PAUL VI." UND FEIERLICHE VERLEIHUNG DES "INTERNATIONALEN PREISES PAUL VI."


Auditorium "Vittorio Montini" des Institutes "Paul VI" - Concesio

Sonntag, 8. November 2009




Herr Kardinal,
verehrte Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
liebe Freunde!

Ich danke euch herzlich, daß ihr mich eingeladen habt, den neuen Sitz des Instituts »Paul VI.« einzuweihen, der neben seinem Geburtshaus errichtet wurde. Ich begrüße jeden von euch herzlich, angefangen bei den hier anwesenden Herren Kardinälen, Bischöfen, Autoritäten und Persönlichkeiten. Einen besonderen Gruß richte ich an den Präsidenten Giuseppe Camadini und danke ihm für die freundlichen Worte, die er an mich gerichtet hat und mit denen er die Ursprünge, den Zweck und die Aktivitäten des Instituts erläuterte. Gern nehme ich an der feierlichen Zeremonie zur Verleihung des »Internationalen Preises Paul VI.« teil, der dieses Jahr an die französische Editionsreihe »Sources Chrétiennes« geht. Eine dem Bildungswesen gewidmete Entscheidung, die – wie treffend unterstrichen wurde – das von dieser im Jahr 1942 unter anderen von Henri De Lubac und Jean Daniélou gegründeten historischen Editionsreihe verbreitete Engagement für eine Wieder- bzw. Neuentdeckung der antiken und mittelalterlichen christlichen Quellen hervorheben will. Ich danke dem Direktor Bernard Meunier für das an mich gerichtete Grußwort. Ich nehme diese günstige Gelegenheit wahr, um euch, liebe Freunde, zu ermuntern, die Persönlichkeit und die Lehre dieses großen Papstes immer mehr ins Licht zu rücken und das nicht so sehr von einem hagiographisch überhöhten Standpunkt aus, sondern vielmehr – und das ist zu Recht betont worden – im Zeichen der wissenschaftlichen Forschung, um einen Beitrag zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Verständnis der Geschichte der Kirche und der Päpste des 20. Jahrhunderts anzubieten. In dem Maße, in dem der Diener Gottes Paul VI. besser bekannt ist, wird er immer mehr geschätzt und geliebt. Seit den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils hat mich mit ihm ein Band tiefer Freundschaft und Verehrung verbunden. Wie sollte ich mich nicht daran erinnern, daß es Paul VI. gewesen ist, der mir 1977 die Hirtensorge für die Diözese München anvertraut und mich auch zum Kardinal ernannt hat? Ich fühle mich diesem großen Papst gegenüber zu großer Dankbarkeit für die Wertschätzung verpflichtet, die er mir gegenüber bei verschiedenen Gelegenheiten erwiesen hat.

Ich würde an diesem Ort hier gern die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit vertiefen; ich werde meine Betrachtungen jedoch auf ein einziges Merkmal seines Lehramtes beschränken, das, wie mir scheint, von großer Aktualität ist und im Einklang mit der Begründung der diesjährigen Preisverleihung steht, nämlich seine erzieherische Fähigkeit. Wir leben in einer Zeit, in der sich geradezu ein »Bildungsnotstand« abzeichnet. Die jungen Generationen, von denen die Zukunft abhängt, zu formen und zu bilden, ist nie einfach gewesen, aber heutzutage scheint es noch komplizierter geworden zu sein. Das wissen die Eltern, die Lehrer, die Priester und alle jene, die unmittelbare Erziehungsverantwortung haben, nur zu gut. Überall breiten sich eine Atmosphäre, eine Mentalität und eine Form der Kultur aus, die dazu führen, daß am Wert der menschlichen Person, an der Bedeutung der Wahrheit und des Guten und letzten Ende an der Güte des Lebens gezweifelt wird. Und dennoch: Ganz deutlich ist ein starker Durst nach Sicherheiten und Werten zu bemerken. Da ist es notwendig, an die künftigen Generationen etwas Gültiges, solide Verhaltensregeln weiterzugeben, sie auf erhabene Ziele hinzuweisen, auf die sie ihr Leben entschlossen ausrichten sollen. Immer öfter stellt sich die Nachfrage nach einer Erziehung, die imstande ist, auf die Erwartungen der Jugend einzugehen; eine Erziehung, die vor allem Zeugnis und für den christlichen Erzieher Glaubenszeugnis sein soll.

In diesem Zusammenhang fällt mir jener programmatische Satz von Giovanni Battista Montini ein, den er 1931 niedergeschrieben hat: »Ich will, daß mein Leben ein Zeugnis für die Wahrheit sei … Ich strebe den Schutz, die Suche, das Bekenntnis der Wahrheit durch das Zeugnis an« (Spiritus veritatis, in Colloqui religiosi, Brescia 1981, S. 81). Dieses Zeugnis – so vermerkte Montini im Jahr 1933 – wird zu einer dringlichen Forderung durch die Feststellung, daß »im weltlichen Bereich die denkenden Menschen – auch und vielleicht besonders in Italien – überhaupt nicht an Christus denken. Er ist im Großteil der heutigen Kultur ein Unbekannter, ein Vergessener, ein Abwesender« (Introduzione allo studio di Cristo , Rom Rm 1933, S. 23). Der Erzieher Montini, Student und Priester, Bischof und Papst, hat stets auf die Notwendigkeit einer qualifizierten christlichen Präsenz in der Welt der Kultur, der Kunst und in der Gesellschaft hingewiesen, eine Präsenz, die in der Wahrheit Christi verwurzelt und gleichzeitig voller Aufmerksamkeit für den Menschen und seine Lebensbedürfnisse ist.

Deshalb bildet die Aufmerksamkeit für das Erziehungsproblem, für die Bildung der Jugendlichen, eine konstante Größe im Denken und Wirken Montinis; eine Aufmerksamkeit, die für ihn auch aus seinem familiären Milieu herrührt. Er wird in einer Familie geboren, die dem engagierten und leidenschaftlichen Katholizismus im damaligen Brescia angehörte, und ist in der Schule von Pater Giorgio herangewachsen, einem Protagonisten im wichtigen Kampf für die Durchsetzung der Freiheit der Katholiken in der Erziehung. In einer der ersten Schriften, die der italienischen Schule gewidmet ist, bemerkte Giovanni Battista Montini: »Wir fordern nichts anderes als ein wenig Freiheit, um jene Jugend, die zum Christentum von der Schönheit seines Glaubens und seiner Traditionen hingezogen wird, zu erziehen, wie wir wollen« (Per la nostra scuola: un libro del prof. Gentile, in Scritti giovanili, Brescia 1979, S. 73). Montini war ein Priester von großem Glauben und umfassender Kultur, ein Seelenführer, ein scharfsinniger Erforscher des »Dramas der menschlichen Existenz«. Generationen von jungen Menschen an den Universitäten haben in ihm als Assistenten des Katholischen Studentenverbandes Italiens (FUCI) eine Bezugsperson, einen Gewissensbildner gefunden, der die Fähigkeit besaß, für die Aufgabe zu begeistern und aufzurufen, in jedem Augenblick des Lebens Zeugen zu sein, indem sie die Schönheit der christlichen Erfahrung durchscheinen lassen. Wenn man ihn sprechen hörte – so bezeugen seine damaligen Studenten –, spürte man das innere Feuer, das im Kontrast zu seinem zerbrechlich erscheinenden Körper seinen Worten Inbrunst verlieh.

Eine der Grundlagen des Bildungsangebots der von ihm geführten Studentengruppen der FUCI bestand darin, sich um die geistig-geistliche Einheit der Persönlichkeit der jungen Menschen zu bemühen: »Keine voneinander abgegrenzten Bereiche in der Seele«, sagt er, »Kultur auf der einen und Glaube auf der anderen Seite, einerseits Schule und andererseits Kirche. Die Lehre ist wie das Leben eine einzige« (Idee = Forze, in: Studium 24 [1928], S. 343). Mit anderen Worten gesagt: Wesentlich waren für Montini die volle Harmonie und Integration zwischen der kulturellen und der religiösen Dimension der Bildung – mit besonderem Akzent auf der Kenntnis der christlichen Lehre, und den Aspekten des Lebens. Eben aus diesem Grund hat er von Anbeginn seiner Tätigkeit im römischen Verband der FUCI, verbunden mit einem ernsthaften spirituellen und intellektuellen Engagement, für die Studenten karitative Initiativen im Dienst an den Armen durch die St. Vinzenz-Konferenz gefördert. Niemals trennte er das, was er später »intellektuelle Liebe« nennen wird, von der sozialen Präsenz, vom Einsatz für die Bedürfnisse der Geringsten. Auf diese Weise wurden die Studenten dazu erzogen, die Kontinuität zwischen der strengen Verpflichtung zum Studium und dem konkreten Engagement unter den Barackenbewohnern zu entdecken. »Wir glauben«, schrieb er, »daß der Katholik nicht derjenige ist, der von hunderttausend Problemen – und seien sie auch geistlicher Art – gequält wird… Nein! Der Katholik ist derjenige, der die Fruchtbarkeit der Sicherheit besitzt. Und so kann er seinem Glauben getreu auf die Welt nicht wie auf einen Abgrund des Verderbens, sondern wie auf ein reifes Feld blicken« (La distanza dal mondo, in Azione Fucina, 10. Februar 1929, S. 1).

Giovanni Battista Montini bestand auf der Ausbildung der jungen Leute, um sie zu befähigen, in Beziehung zur Moderne zu treten, eine Beziehung, die schwierig und oft kritisch, aber immer konstruktiv und dialogbereit ist. Er hob einige negative Wesenszüge der modernen Kultur, sowohl im Bereich der Erkenntnis wie des Handelns, hervor, wie den Subjektivismus, den Individualismus und die grenzenlose Selbstbehauptung. Gleichzeitig hielt er jedoch den Dialog für notwendig, immer ausgehend von einer soliden theoretischen Ausbildung, deren einigendes Prinzip der Glaube an Christus war; also ein reifes christliches »Bewußtsein«, das zur Auseinandersetzung mit allen fähig ist, ohne vor den Modeerscheinungen der Zeit zurückzuweichen. Als Papst sagte er den Rektoren und Präsidenten der Universitäten der Gesellschaft Jesu: »Die übertriebene Anpassungsfähigkeit in Lehre und Moral entspricht gewiß nicht dem Geist des Evangeliums.« Und er fügte hinzu: »Im übrigen verlangen diejenigen, die die Überzeugungen der Kirche nicht teilen, von uns äußerste Klarheit unserer Positionen, um einen konstruktiven und aufrichtigen Dialog aufnehmen zu können.« Und deshalb dürfen der kulturelle Pluralismus und seine Respektierung »den Christen nicht dazu verleiten, seine Pflicht – nämlich der Wahrheit in der Liebe zu dienen, jener Wahrheit Christi zu folgen, die allein die wahre Freiheit schenkt – aus dem Blick zu verlieren« (vgl. Insegnamenti XIII, 1975, 817).

Für Papst Montini muß der Jugendliche dazu erzogen werden, die Umgebung, in der er lebt und tätig ist, zu beurteilen, sich als Person und nicht als Nummer in der Masse zu sehen, mit einem Wort: es muß ihm geholfen werden, eine »feste Überzeugung« zu haben, die zu einem »überzeugten Handeln« fähig ist, und dabei die manchmal auftauchende Gefahr zu vermeiden, das Handeln vor das Denken zu setzen und die Erfahrung zur Quelle der Wahrheit zu machen: In diesem Zusammenhang bekräftigte er: »Das Handeln kann nicht für sich selbst Licht sein. Will man den Menschen nicht dahin biegen, so zu denken, wie er handelt, muß man ihn dazu erziehen, so zu handeln, wie er denkt. Auch in der christlichen Welt, wo die Liebe, die Nächstenliebe oberste, entscheidende Bedeutung haben, kann man nicht vom Licht der Wahrheit absehen, die der Liebe ihre Ziele und Beweggründe vorgibt« (Insegnamenti II, 1964, 194).

Liebe Freunde, die Jahre der FUCI, die wegen des politischen Umfeldes in Italien zwar schwierig waren, aber für jene Jugendlichen, die im Diener Gottes ein Leitbild und einen Erzieher anerkannten, mitreißend waren, haben sich in die Persönlichkeit Pauls VI. eingeprägt. Auch als Erzbischof von Mailand und dann als Nachfolger des Apostels Petrus haben bei ihm der brennende Wunsch und die Sorge um das Thema Bildung nie nachgelassen. Davon zeugen seine zahlreichen Ansprachen, die in stürmischen Umbruchszeiten wie den Achtundsechzigern den jungen Generationen gewidmet waren. Mutig wies er auf den Weg der Begegnung mit Christus als befreiende erzieherische Erfahrung und einzige wahre Antwort auf die Wünsche und Sehnsüchte der jungen Menschen hin, die zu Opfern der Ideologie geworden waren. »Ihr, Jugendliche von heute«, sagte er, »laßt euch manchmal von einem Konformismus anstecken, der zur Gewohnheit werden kann, ein Konformismus, der eure Freiheit unbewußt der Vorherrschaft fremder Denk-, Meinungs- und Gefühlsströmungen, Handlungsweisen und Moden unterwirft: Und wenn ihr dann von einem Herdentrieb erfaßt werdet, der euch die Illusion vorgaukelt, daß ihr stark seid, werdet ihr manchmal zu Rebellen in der Gruppe, in der Masse, oft ohne zu wissen, warum.« »Aber«, so fügte er noch hinzu, »wenn ihr euch dann das Wissen um Christus aneignet und ihm folgt…, dann werdet ihr innerlich frei…, und ihr werdet wissen, wozu und für wen ihr lebt… Und gleichzeitig – und das ist wunderbar – werdet ihr spüren, wie in euch das Wissen um Freundschaft, Gemeinschaftlichkeit, Liebe entsteht. Ihr werdet keine Einzelgänger mehr sein« (Insegnamenti VI, 1968, 117–118).

Paul VI. bezeichnete sich selbst als »alten Freund der jungen Leute«: Er verstand es, ihre Sorgen anzuerkennen und zu teilen, wenn sie hin- und herschwanken zwischen der Lebenslust, dem Bedürfnis nach Sicherheit, der Sehnsucht nach Liebe und dem Gefühl der Ohnmacht, der Versuchung des Skeptizismus, der Erfahrung der Enttäuschung. Er hatte ihren Geist begreifen gelernt und erinnerte sie daran, daß die agnostische Gleichgültigkeit des modernen Denkens, der kritische Pessimismus, die materialistische Ideologie des sozialen Fortschritts dem Geist, der für ganz andere Wahrheits- und Lebenshorizonte offen ist, nicht genügen (vgl. Insegnamenti XII,1974, 642). Wie damals taucht auch heute bei den jungen Generationen ein unausweichliches Fragen nach Sinn, ein Suchen nach glaubwürdigen menschlichen Beziehungen auf. Paul VI. sagte dazu: »Der heutige Mensch hört lieber den Zeugen zu als den Lehrern, und wenn er die Lehrer anhört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind« (Insegnamenti XIII, 1975, 1458–1459). Ein Lehrmeister des Lebens und mutiger Zeuge der Hoffnung ist dieser mein verehrter Vorgänger gewesen; er wurde nicht immer verstanden, ja mehr als einmal wurde er von Kulturbewegungen, die damals das Sagen hatten, angefeindet und isoliert. Doch er hat, obwohl von schwacher physischer Konstitution, die Kirche fest und ohne Schwankungen geführt; er hat nie das Vertrauen in die Jugendlichen verloren und erneuerte an sie – aber nicht nur an sie – immer wieder die Einladung, sich Christus anzuvertrauen und ihm auf dem Weg des Evangeliums zu folgen.

Liebe Freunde, noch einmal danke ich euch, daß ihr mir Gelegenheit gegeben habt, hier, an seinem Geburtsort und an diesen Stätten, die voller Erinnerungen an seine Familie und seine Kindheit sind, die Atmosphäre zu atmen, in der sich der Diener Gottes Paul VI., der Papst des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Nachkonzilszeit, entwickelte. Hier spricht alles vom Reichtum seiner Persönlichkeit und seiner umfassenden Lehre. Hier gibt es bedeutsame Erinnerungen auch an andere Hirten und Protagonisten der Kirchengeschichte des vergangenen Jahrhunderts, wie zum Beispiel an Kardinal Bevilacqua, Bischof Carlo Manziana, Msgr. Pasquale Macchi, seinen treuen Sondersekretär, Pater Paolo Caresana. Ich wünsche mir von Herzen, daß die Liebe dieses Papstes für die Jugendlichen, die ständige ermunternde Aufforderung, sich Jesus Christus anzuvertrauen – eine Aufforderung, die dann von Johannes Paul II. aufgegriffen wurde und die auch ich zu Beginn meines Pontifikats erneuert habe –, von den neuen Generationen wahrgenommen wird. Dafür sichere ich mein Gebet zu, während ich euch alle, die ihr hier anwesend seid, eure Familien, eure Arbeit und die Initiativen des Instituts »Paolo VI« segne.



AN DIE TEILNEHMER DES VI. WELTKONGRESSES

FÜR DIE MIGRANTEN- UND FLÜCHTLINGSSEELSORGE


Montag, 9. November 2009




Meine Herren Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im Bischofs- und im Priesteramt,
liebe Brüder und Schwestern!

Ich freue mich, euch zu Beginn des Weltkongresses für die Migranten- und Flüchtlingsseelsorge zu empfangen. An erster Stelle begrüße ich den Präsidenten eures Päpstlichen Rates, Erzbischof Antonio Maria Vegliò, und danke ihm für die herzlichen Worte, mit denen er diese Begegnung eingeleitet hat. Ich begrüße den Sekretär, die Mitglieder, die Konsultoren und Beamten des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs. Einen achtungsvollen Gruß richte ich an den Abgeordneten Renato Schifani, Senatspräsident der Republik. Ich begrüße euch alle, die ihr hier anwesend seid. Einem jeden gilt meine Wertschätzung für den Einsatz und die Sorge, mit der ihr in einem heute so komplexen und delikaten sozialen Bereich tätig seid und jenen Unterstützung anbietet, die aus freier Entscheidung oder gezwungenermaßen ihr Herkunftsland verlassen und in andere Nationen emigrieren.

Das Thema des Kongresses – »Pastorale Antworten auf das Migrationsphänomen im Zeitalter der Globalisierung« – rückt das jeweilige Umfeld, in dem die Migrationsbewegungen in unserer Zeit stattfinden, in den Vordergrund. Denn obwohl das Phänomen der Migration so alt ist wie die Geschichte der Menschheit, hat es doch hinsichtlich der Größenordnung und Vielschichtigkeit der Probleme niemals zuvor eine so große Bedeutung angenommen wie heutzutage. Es betrifft nun nahezu alle Länder der Welt und ist Teil des gewaltigen Globalisierungsprozesses. Frauen, Männer, Kinder, Junge und Alte nehmen millionenfach das Drama der Emigration auf sich – manchmal, um zu überleben, öfter jedoch, um bessere Lebensbedingungen für sich und für ihre Angehörigen zu suchen. Denn das Wirtschaftsgefälle zwischen den armen Ländern und den Industrieländern weitet sich ständig aus. Die Weltwirtschaftskrise mit dem enormen Ansteigen der Arbeitslosigkeit verringert die Beschäftigungsmöglichkeiten und erhöht die Zahl derjenigen, denen es nicht einmal gelingt, einen zeitlich befristeten Arbeitsplatz zu finden. So sehen sich viele dazu gezwungen, ihre Länder und ihre Herkunftsgemeinschaften zu verlassen; sie sind bereit, Tätigkeiten anzunehmen, die in keiner Weise mit der Menschenwürde vereinbar sind; dazu kommt die Eingliederung in die Gesellschaften der Aufnahmeländer, die wegen der Verschiedenheit der Sprache, der Kultur und der Gesellschaftsordnung sehr mühsam ist.

Die Situation der Migranten und noch mehr jene der Flüchtlinge erinnert in gewisser Weise an das Schicksal des jüdischen Volkes im Alten Testament, das auf der Flucht aus der ägyptischen Sklaverei, mit dem Traum vom verheißenen Land im Herzen, das Rote Meer durchquerte und, anstatt sogleich das ersehnte Ziel zu erreichen, mit den Widrigkeiten der Wüste zurechtkommen mußte. Heute verlassen viele Migranten ihr Land, um menschlich unannehmbaren Lebensbedingungen zu entkommen, ohne jedoch anderswo die erhoffte Aufnahme zu finden. Wie sollte man angesichts derart komplexer Situationen nicht innehalten und über die Folgen einer Gesellschaft nachdenken, die sich grundsätzlich allein auf die materielle Entwicklung stützt? In der Enzyklika Caritas in veritate habe ich geschrieben, daß wahre Entwicklung nur die ganzheitliche Entwicklung ist, das heißt jene Entwicklung, die jeden Menschen und den ganzen Menschen betrifft.

Die echte Entwicklung hat immer solidarischen Charakter. Tatsächlich müssen – wie ich gleichfalls in Caritas in veritate ausgeführt habe – »in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung das Gemeinwohl und der Einsatz dafür unweigerlich die Dimensionen der gesamten Menschheitsfamilie, also der Gemeinschaft der Völker und der Nationen annehmen« (vgl. Nr. 7). Ja, der Prozeß der Globalisierung kann – wie der Diener Gottes Johannes Paul II. auf treffende Weise unterstrichen hat – ein passender Anlaß sein, die Gesamtentwicklung zu fördern, allerdings nur, »wenn die kulturellen Verschiedenheiten als Gelegenheit zur Begegnung und zum Dialog angenommen werden und wenn die ungleiche Verteilung der in der Welt vorhandenen Ressourcen ein neues Bewußtsein der notwendigen Solidarität hervorruft, die die Menschheitsfamilie einen muß« (Botschaft zum Welttag der Migranten 2000, in: O.R.dt., Nr. 52/53, 24.12.2000, S. 15). Daraus folgt, daß es auf die im Gang befindlichen großen sozialen Veränderungen entsprechende Antworten geben muß, wobei man sich vor Augen halten sollte, daß es nur dann eine tatsächliche Entwicklung geben kann, wenn man die Begegnung zwischen den Völkern, den Dialog zwischen den Kulturen und die Respektierung der legitimen Unterschiede fördert.

Warum sollte man von diesem Gesichtspunkt aus das gegenwärtige weltweite Phänomen der Migration nicht als günstige Voraussetzung für die Völkerverständigung und für den Aufbau des Friedens und einer Entwicklung, die jede Nation betrifft, betrachten? Genau daran wollte ich in der Botschaft zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge in dem dem hl. Paulus gewidmeten Jubiläumsjahr erinnern: Die Migrationsphänomene laden uns dazu ein, die Einheit der Menschheitsfamilie, den Wert der Annahme, der Gastfreundschaft und der Nächstenliebe ins Licht zu rücken. Das muß jedoch in tagtägliche Gesten des Teilens, der Anteilnahme und der Sorge um die anderen, besonders die Armen, umgesetzt werden. Um einander annehmen zu können – so lehrt uns der hl. Paulus –, müssen die Christen bereit sein zum Hören des Wortes Gottes, das sie aufruft, Christus nachzuahmen und mit ihm vereint zu bleiben. Nur auf diese Weise werden sie bereit sein, sich der Sorgen des Nächsten anzunehmen, und werden nie der Versuchung nachgeben, den, der anders ist, zu verachten und abzulehnen. Jeder Mann und jede Frau, die Christus gleichförmig geworden sind, werden als Brüder und Schwestern, als Kinder desselben Vaters angesehen. Eine so kostbare Brüderlichkeit macht sie »bereit, jederzeit Gastfreundschaft zu gewähren, welche die Erstlingsfrucht der Agape ist« (vgl. O.R. dt., Nr. 43, 24.10.2008, S. 10).

Liebe Brüder und Schwestern, getreu der Lehre Jesu muß jede christliche Gemeinde Achtung und Aufmerksamkeit für alle nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffenen und durch das Blut Christi erlösten Menschen fördern, und das um so mehr, wenn sie sich in Schwierigkeiten befinden. Deshalb lädt die Kirche die Gläubigen ein, ihr Herz den Migranten und ihren Familien zu öffnen, im Wissen, daß sie nicht nur ein »Problem« darstellen, sondern eine »Ressource«, die für den Weg der Menschheit und ihre echte Entwicklung in geeigneter Weise genützt werden sollte. Noch einmal sage ich jedem von euch Dank für den Dienst, den ihr für die Kirche und die Gesellschaft leistet, und rufe auf jede eurer Tätigkeiten zugunsten der Migranten und Flüchtlinge den mütterlichen Schutz Mariens herab. Ich versichere euch meinerseits des Gebets, während ich euch und alle, die der großen Familie der Migranten und Flüchtlinge angehören, segne.

AN DIE DOZENTEN UND STUDENTEN DER

FREIEN UNIVERSITÄT "MARIA SANTISSIMA ASSUNTA" (LUMSA)


Audienzenhalle

Donnerstag, 12. November 2009




Meine Herren Kardinäle,
Herr Senatspräsident und geehrte Obrigkeiten,
sehr geehrter Herr Rektor und geschätzte Professoren,
liebe Schulschwestern,
liebe Studenten und Freunde!

Ich freue mich, anläßlich des 70. Jahrestages der Gründung der Freien Universität »Maria Santissima Assunta« mit euch zusammenzutreffen. Ich begrüße herzlich den Rektor eurer Universität, Prof. Giuseppe Dalla Torre, und danke ihm für die höflichen Worte, die er an mich gerichtet hat. Gern begrüße ich den Senatspräsidenten, Herrn Abgeordneten Renato Schifani, alle weiteren italienischen zivilen und militärischen Obrigkeiten, die zahlreichen Persönlichkeiten sowie die hier anwesenden Rektoren und Verwaltungsbeamten. An euch alle, die ihr die große Familie der LUMSA bildet, richte ich meinen herzlichen Willkommensgruß.

Eure Universität, die 1939 auf Initiative der Dienerin Gottes Mutter Luigia Tincani, Gründerin der Vereinigung der Schulschwestern der hl. Katharina von Siena, und des damaligen Präfekten der Kongregation für die Seminare und Studieneinrichtungen, Kardinal Giuseppe Pizzardi, zu dem Zweck gegründet wurde, für Ordensfrauen, die für den Unterricht an katholischen Schulen bestimmt sind, eine angemessene Universitätsausbildung zu fördern, begann ihre Tätigkeit in dem Klima eines Bildungsengagements der katholischen Welt, das von der Enzyklika Divini illius Magistri Pius’ XI. geweckt worden war. Eure Universität ist also – auch auf Initiative des Heiligen Stuhls, mit dem sie eng verbunden bleibt – mit einer klaren katholischen Identität entstanden. In den vergangenen siebzig Jahren hat die LUMSA Scharen von Lehrern und Lehrerinnen ausgebildet, und sie hat sich in beachtlicher Weise entwickelt, besonders nach der Umgestaltung in eine Freie Universität im Jahr 1989 und die darauf folgende Einrichtung neuer Fakultäten mit der Erweiterung des Einzugsbereiches. Ich weiß, daß sie heute ungefähr 9000 Studenten an den vier Standorten auf italienischem Staatsgebiet zählt und einen wichtigen Bezugspunkt im Bildungsbereich darstellt. Während die kulturelle und gesetzliche Situation in Italien und in Europa eine tiefgreifende Entwicklung erfuhr, konnte die LUMSA einen Weg des Wachstums zurücklegen und dabei zweierlei berücksichtigen: der ursprünglichen Intuition von Mutter Tincani treu zu bleiben und gleichzeitig auf die neuen Herausforderungen der Gesellschaft zu antworten.

Tatsächlich ist das heutige Umfeld von einem besorgniserregenden Erziehungs- bzw. Bildungsnotstand gekennzeichnet, wozu ich mich schon bei verschiedenen Anlässen äußern konnte; eine ganz besondere Bedeutung kommt dabei der Aufgabe derjenigen zu, die den Lehrberuf ergreifen. Es handelt sich zuallererst um die Rolle der Universitätsdozenten, aber auch um den Ausbildungsgang der Studenten selbst, die sich auf die Ausübung des Lehrberufs an den verschiedenen Schultypen und Schulstufen vorbereiten, oder um Berufstätige in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. In der Tat bietet nämlich jeder Beruf die Gelegenheit, die während des akademischen Ausbildungsweges persönlich verinnerlichten Werte in die Praxis umzusetzen. Die in der ganzen Welt um sich greifende Wirtschaftskrise mit den ihr zugrunde liegenden Ursachen haben die dringende Notwendigkeit einer entschlosseneren und mutigeren Investition im Wissens- und Erziehungsbereich als den Weg offenbar gemacht, um auf die zahlreichen offenen Herausforderungen zu antworten und die jungen Generationen auf den Aufbau einer besseren Zukunft vorzubereiten (vgl. Enzyklika Caritas in veritate, 30–31;61). Und da entdeckt man nun die Notwendigkeit, im Erziehungsbereich ein fächerübergreifendes Denken zu wecken, das Zusammenarbeiten zwischen verschiedenen Disziplinen zu lehren und voneinander zu lernen. Angesichts der sich abzeichnenden tiefgreifenden Veränderungen besteht die immer dringendere die Notwendigkeit, an die grundlegenden Werte zu appellieren, die als unverzichtbares Erbe an die jungen Generationen weitergegeben werden sollen, und sich daher zu fragen, wie diese Werte beschaffen sind. An die akademischen Einrichtungen stellen sich also dringliche Fragen ethischen Charakters.

In diesem Rahmen ist den katholischen Universitäten in der Treue zu ihrer besonderen Identität und in dem Bemühen um die Ausübung eines qualifizierten Dienstes in Kirche und Gesellschaft eine wichtige Rolle anvertraut. Als aktueller denn je erweisen sich in diesem Sinn die von meinem verehrten Vorgänger Johannes Paul II. in der Konstitution Ex corde Ecclesiae gegebenen Hinweise, als er die katholische Universität aufforderte, eine christliche Präsenz in der akademischen Welt institutionell zu gewährleisten. In der komplexen Wirklichkeit in Gesellschaft und Kultur ist die katholische Universität dazu aufgerufen, durch die christliche Inspiration der einzelnen und der Universitätsgemeinschaft als solcher tätig zu sein; durch die ständige, von Weisheit getragene und vom Glauben erleuchtete Reflexion; durch die Treue zur christlichen Botschaft, wie sie von der Kirche ausgelegt wird; durch die institutionalisierte Verpflichtung zum Dienst am Volk Gottes und an der Menschheitsfamilie auf ihrem Weg zum letzten Ziel (vgl. Nr. 13).

Liebe Freunde, die LUMSA ist eine katholische Universität, das heißt, das spezifische Element ihrer Identität ist eben diese christliche Inspiration. Wie man in ihrer Magna Charta lesen kann, setzt sie sich eine wissenschaftliche Arbeit zum Ziel, die – im Dialog zwischen Glaube und Vernunft in einem idealen, auf die Einbindung der Erkenntnisse und Werte gerichteten Streben – auf die Suche nach der Wahrheit ausgerichtet ist. Gleichzeitig setzt man sich eine Ausbildungsarbeit zum Ziel, die mit ständiger ethischer Aufmerksamkeit durchgeführt werden soll, durch die Erarbeitung positiver Synthesen zwischen Glaube und Kultur und zwischen Wissen und Weisheit zum vollen und harmonischen Wachstum der menschlichen Person. Diese Ausgangsposition ist für euch, liebe Dozenten, anspornend und fordernd. Denn während ihr euch darum bemüht, in Lehre und Forschung immer bessere Qualifizierung zu erlangen, nehmt ihr euch auch vor, den Erziehungsauftrag auszuüben. Heute wie in der Vergangenheit braucht die Universität echte Lehrer, die zusammen mit wissenschaftlichen Wissensinhalten eine strenge Forschungsmethode und tiefgründige Werte und Motivationen vermitteln. Ihr, liebe Studierende, die ihr in eine zerrissene und relativistische Gesellschaft hineingeworfen seid, haltet den Geist und das Herz stets offen für die Wahrheit. Widmet euch intensiv der Aneignung der Kenntnisse, die zur vollständigen Formung eurer Persönlichkeit, zur Schärfung der Fähigkeit, während des ganzen Lebens nach dem Wahren und Guten zu suchen, und zu eurer beruflichen Vorbereitung beitragen, um Baumeister einer gerechteren und solidarischen Gesellschaft zu werden. Möge das Vorbild von Mutter Tincani bei allen das Engagement fördern, die strenge akademische Arbeit mit einem intensiven, vom Gebet getragenen Innenleben zu begleiten. Die Jungfrau Maria, Sedes Sapientiae (Sitz der Weisheit), geleite diesen Weg mit ihrer wahren Weisheit, die von Gott kommt. Ich danke euch für diese willkommene Begegnung und segne von Herzen einen jeden von euch und eure Arbeit.

AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DES

PÄPSTLICHEN RATES "COR UNUM"


Freitag, 13. November 2009




Meine Herren Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
liebe Brüder und Schwestern!

Ich freue mich, jeden einzelnen von euch, die Mitglieder, Konsultoren und Beamten des Päpstlichen Rats »Cor Unum«, hier zu begrüßen, die ihr zur Vollversammlung zusammengekommen seid, bei der das Thema »Bildungsangebote für Mitarbeiter der kirchlichen Hilfswerke« behandelt wird. Ich begrüße Kardinal Paul Josef Cordes, Präsident des Dikasteriums, und danke ihm für die freundlichen Worte, die er auch in euer aller Namen an mich gerichtet hat. Allen bringe ich meine Anerkennung für den wertvollen Dienst zum Ausdruck, den ihr im Bereich der karitativen Tätigkeit der Kirche leistet. Ich denke insbesondere an die zahlreichen Gläubigen, die in verschiedenen Funktionen und in jedem Teil der Welt großherzig und hingebungsvoll ihre Zeit und ihre Energien zur Verfügung stellen, um Zeugnis zu geben von der Liebe Christi, des Barmherzigen Samariters, der sich über die an Leib und Seele Not Leidenden beugt. Denn wie ich in der Enzyklika Deus caritas est betont habe, »drückt sich das Wesen der Kirche in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia)« (vgl. Nr. 25), die Liebe gehört zum Wesen der Kirche.

Durch euer Wirken in diesem Bereich des kirchlichen Lebens erfüllt ihr eine Sendung, die in einer beständigen Spannung zwischen zwei Polen steht: der Verkündigung des Evangeliums auf der einen und die Aufmerksamkeit für das Herz des Menschen und das Umfeld, in dem er lebt, auf der anderen Seite. In diesem Jahr haben zwei besondere kirchliche Ereignisse diesen Aspekt unterstrichen: die Veröffentlichung der Enzyklika Caritas in veritate und die Abhaltung der Sonderversammlung der Bischofssynode für Afrika zum Thema »Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden«. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln haben sie übereinstimmend hervorgehoben, daß die Kirche bei ihrer Heilsverkündigung nicht von den konkreten Lebensbedingungen der Menschen, zu denen sie gesandt ist, absehen kann. Der Einsatz zur Verbesserung der Lebensbedingungen betrifft das Leben und die Sendung der Kirche selbst, denn das Heil Christi ist ganzheitlich und betrifft den Menschen in allen seinen Dimensionen: körperliche, geistige, soziale und kulturelle, irdische und himmlische Dimension. Gerade aus diesem Bewußtsein heraus sind im Lauf der Jahrhunderte viele kirchliche Werke und Strukturen entstanden, die die Förderung der Menschen und Völker zum Ziel haben. Sie haben einen unersetzlichen Beitrag zum Wachstum sowie zur harmonischen und ganzheitlichen Entwicklung der menschlichen Person geleistet und tun dies auch weiterhin. So habe ich in der Enzyklika Caritas in veritate betont: »Das Zeugnis für die Liebe Christi durch Werke der Gerechtigkeit, des Friedens und der Entwicklung gehört zur Evangelisierung, denn dem uns in Liebe zugewandten Jesus Christus liegt der ganze Mensch am Herzen« (Nr. 15).

Aus dieser Perspektive muß der Einsatz der Kirche für die Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft gesehen werden, in der alle Rechte des einzelnen und der Völker anerkannt und geachtet werden (vgl. ebd., Nr. 6). Viele gläubige Laien üben in dieser Beziehung eine fruchtbare Tätigkeit im wirtschaftlichen, sozialen, gesetzgebenden und kulturellen Bereich aus und tragen zur Förderung des Gemeinwohls bei. Sie bezeugen das Evangelium, indem sie zum Aufbau einer gerechten Ordnung in der Gesellschaft beitragen und persönlich am öffentlichen Leben teilnehmen (vgl. Deus caritas Est 29). Es ist sicherlich nicht Auftrag der Kirche, sich direkt an der Politik der Staaten oder der Schaffung von angemessenen politischen Strukturen zu beteiligen (vgl. ebd., 28). Durch die Verkündigung des Evangeliums öffnet die Kirche das Herz für Gott und den Nächsten, und sie weckt die Gewissen. Mit der Kraft ihrer Verkündigung verteidigt sie die wahren Menschenrechte und setzt sich für Gerechtigkeit ein. Der Glaube ist eine geistliche Kraft, die bei der Suche nach einer gerechten Ordnung die Vernunft reinigt und sie von der stets vorhandenen Gefahr befreit, von Egoismus, Eigeninteresse oder Macht »geblendet« zu werden. In der Tat lehrt die Erfahrung, daß auch in den sozial am weitesten entwickelten Gesellschaften die »caritas« notwendig bleibt: der Dienst der Liebe wird nie überflüssig sein, nicht nur weil die menschliche Seele über die materiellen Dinge hinaus immer Liebe braucht, sondern auch weil es immer Situationen des Leids, der Einsamkeit, der materiellen Not geben wird, die persönliche Hingabe und konkrete Hilfe erfordern. Wenn die Kirche dem Menschen ihre liebevolle Aufmerksamkeit zuwendet, spürt sie in sich selbst das Strömen der Fülle der durch den Heiligen Geist erweckten Liebe. Der Heilige Geist hilft dem Menschen, sich von den materiellen Zwängen zu befreien und gewährt der Seele Trost und Halt, indem er sie von den Übeln befreit, die sie bedrängen. Die Quelle dieser Liebe ist Gott selbst, der grenzenlose Barmherzigkeit und ewige Liebe ist. Darum muß jeder, der in den karitativen Organisationen der Kirche tätig ist nur dieses eine Hauptziel vor Augen haben: Kenntnis und Erfahrung des barmherzigen Antlitzes des himmlischen Vaters zu vermitteln, denn im Herzen Gottes, der Liebe ist, liegt die wahre Antwort auf die tiefste Sehnsucht jedes menschlichen Herzens.

Den Blick auf das Antlitz Christi zu richten ist für die Christen höchste Notwendigkeit! Nur in ihm, dem vollkommenen Menschen und vollkommenen Gott, können wir den Vater sehen (vgl. Joh Jn 14,9) und seine unendliche Barmherzigkeit erfahren! Die Christen wissen, daß sie berufen sind, der Welt zu dienen und sie zu lieben, ohne »von der Welt« zu sein (vgl. Joh Jn 15,19); ein Wort des ganzheitlichen Heils des Menschen zu verkünden, der sich nicht auf den irdischen Horizont beschränken kann; wie Christus dem Willen des Vaters vollkommen treu bleiben bis hin zur äußersten Selbsthingabe, um leichter jenen Wunsch nach wahrer Liebe wahrzunehmen, den es in jedem Herzen gibt. Das ist der Weg, den jeder, der Zeugnis von der Liebe Christi geben will, gehen muß, wenn er der Logik des Evangeliums folgen will.

Liebe Freunde, es ist wichtig, daß die Kirche, einbezogen in die Ereignisse der Geschichte und des Lebens der Menschen, zu einem Kanal der Güte und der Liebe Gottes wird. So möge es für euch und für alle sein, die auf jenem weiten Feld tätig sind, für das euer Päpstlicher Rat zuständig ist! Mit diesem Wunsch bitte ich die Gottesmutter Maria um ihre mütterliche Fürsprache für eure Arbeiten. Während ich euch erneut für eure Anwesenheit und die von euch geleistete Arbeit danke, erteile ich jedem von euch und euren Familien meinen Apostolischen Segen.



ANSPRACHE VON BENEDICT XVI.

AN DIE VIERTE GRUPPE DER BISCHÖFE BRASILIENS

(REGION SUL 1)

ANLÄSSLICH IHRES «AD-LIMINA»-BESUCHES


Samstag, 14. November 2009




Herr Kardinal,
liebe Erzbischöfe und
Bischöfe Brasiliens!

Im Mittelpunkt eures Besuches »ad limina Apostolorum« seid ihr heute im Haus des Nachfolgers Petri zusammengekommen, der euch alle, liebe Bischöfe der Region Sul 1 im Staat São Paulo, mit offenen Armen empfängt.

Dort befindet sich jenes bedeutende Aufnahme- und Evangelisierungszentrum, das Heiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida, wo ich mich zu meiner Freude im Mai 2007 zur Eröffnung der V. Generalkonferenz des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik aufgehalten habe. Ich spreche den Wunsch aus, daß der damals gesäte Same wirksame Früchte für das geistliche und auch soziale Wohl der Bevölkerung dieses hoffnungsvollen Kontinents, der geliebten brasilianischen Nation und eures Bundesstaates bringen möge. Sie »haben das Recht auf ein erfülltes Leben unter menschlicheren Verhältnissen, wie es den Kindern Gottes zukommt: frei von den Bedrohungen durch Hunger und jeglicher Form von Gewalt« (Eröffnungsansprache, 13. Mai 2007, 4). Noch einmal möchte ich für all das danken, was mit so großer Freigebigkeit verwirklicht wurde, und meinen herzlichen Gruß an euch und an eure Diözesen erneuern, wobei ich in besonderer Weise an die Priester, die Ordensmänner, Ordensfrauen und die gläubigen Laien denke, die euch bei der Arbeit der Evangelisierung und christlichen Belebung der Gesellschaft helfen.

Euer Volk hegt in seinem Herzen ein starkes religiöses Gefühl und edle, im Christentum verwurzelte Traditionen, die in tiefempfundenen und unverkennbaren religiösen und zivilen Bekundungen Ausdruck finden. Es handelt sich um ein an Werten reiches Erbe, das ihr – wie eure Berichte beweisen und worauf Bischof Nelson Westrupp in seinem soeben in eurem Namen an mich gerichteten Grußwort hingewiesen hat – zu bewahren, zu verteidigen, zu verbreiten, zu vertiefen und zu beleben trachtet. Während ich mich über all das herzlich freue, fordere ich euch auf, mit dieser beständigen und methodischen Evangelisierungsarbeit in dem Bewußtsein fortzufahren, daß die echte christliche Gewissensbildung für ein tiefes Glaubensleben und auch für das soziale Reifen und das wahre und gerechte Wohlergehen der menschlichen Gemeinschaft entscheidend ist.

Tatsächlich muß eine menschliche Gruppe, um die Bezeichnung Gemeinschaft zu verdienen, in ihrer Organisation und in ihren Zielsetzungen den grundlegenden Bestrebungen des Menschen entsprechen. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, daß ein glaubwürdiges soziales Leben im Gewissen jedes einzelnen beginnt. Da das gut gebildete Gewissen zur Verwirklichung des wahren Wohls des Menschen führt, erleuchtet die Kirche durch die Klarstellung, was dieses Wohl eigentlich ist, den Menschen und versucht durch das ganze christliche Leben sein Gewissen zu erziehen. Die Lehre der Kirche findet durch ihren Ursprung – Gott –, ihren Inhalt – die Wahrheit – und ihren Stützpunkt – das Gewissen – einen tiefen und überzeugenden Widerhall im Herzen jedes Menschen, des gläubigen und selbst des nicht glaubenden. Konkret, »das Evangelium vom Leben ist nicht ausschließlich für die Gläubigen da: es ist für alle da. Die Frage des Lebens und seiner Verteidigung und Förderung ist nicht alleiniges Vorrecht der Christen. Auch wenn es vom Glauben außerordentliches Licht und Kraft empfängt, gehört es jedem menschlichen Gewissen, das sich nach der Wahrheit sehnt und um das Schicksal der Menschheit bedacht und besorgt ist… Das ›Volk für das Leben‹ wird immer zahlreicher und die neue Kultur der Liebe und Solidarität kann zum wahren Wohl der Gesellschaft der Menschen wachsen« (Enzyklika Evangelium vitae EV 25 März 1995, 101).

Verehrte Brüder, sprecht zum Herzen eures Volkes, weckt die Gewissen, vereint die Willensäußerungen in einer gemeinsamen Aktion gegen die zunehmende Welle der Gewalt und die Mißachtung des Menschen. Dieser ist von einem in der liebevollen Vertraulichkeit der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau empfangenen Geschenk Gottes zu etwas geworden, das als ein rein menschliches Produkt angesehen wird. »Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel steht. Es handelt sich um einen äußerst heiklen und entscheidenden Bereich, in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat, oder ob er von Gott abhängt. Die wissenschaftlichen Entdeckungen auf diesem Gebiet und die Möglichkeiten technischer Eingriffe scheinen so weit vorangekommen zu sein, daß sie uns vor die Wahl zwischen den zwei Arten der Rationalität stellen: die auf Transzendenz hin offene Vernunft oder die in der Immanenz eingeschlossene Vernunft« (Enzyklika Caritas in veritate, 29. Juni 2009, 74). In provokatorischer Weise fordert Ijob die unvernünftigen Wesen auf, ihr Zeugnis abzugeben: »Doch frag nur die Tiere, sie lehren es dich, die Vögel des Himmels, sie künden es dir. Rede zur Erde, sie wird dich lehren, die Fische des Meeres erzählen es dir. Wer wüßte nicht bei alledem, daß die Hand des Herrn dies gemacht hat? In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist« (Ijob 12,7–10). Die Überzeugung der rechten Vernunft und die Gewißheit des Glaubens, für den das Leben des Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod Gott und nicht dem Menschen gehört, verleiht ihm jenen heiligmäßigen Charakter und jene persönliche Würde, die die einzige zulässige und moralisch korrekte Haltung hervorruft, nämlich die Haltung der tiefen Achtung. Denn der Herr des Lebens hat gesagt: »… für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder… Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht« (Gen 9,–6).

Meine lieben und verehrten Brüder, wir dürfen uns bei unserem Appell an das Gewissen niemals entmutigen lassen. Wir wären keine getreuen Jünger unseres göttlichen Meisters, wenn wir es nicht fertigbrächten, in allen, auch in den schwierigsten Situationen, »an unserer Hoffnung gegen alle Hoffnung« festzuhalten (vgl. Röm Rm 4,18). Arbeitet weiter für den Sieg der Sache Gottes, nicht mit dem traurigen Gemüt dessen, der nur Mängel und Gefahren sieht, sondern mit dem festen Vertrauen dessen, der weiß, daß er auf den Sieg Christi zählen kann. Mit dem Herrn auf unaussprechliche Weise verbunden ist Maria, die ihrem Sohn, dem Sieger über Sünde und Tod, ganz gleichgestaltet ist. Durch die Fürsprache Unserer Lieben Frau von Aparecida erflehe ich von Gott für euch und für eure unmittelbaren Mitarbeiter Licht, Trost, Kraft, Eindringlichkeit bei den Vorsätzen und ihren Umsetzungen und erteile euch gleichzeitig von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen, den ich auf alle Gläubigen jeder Gemeinde der Diözese ausweite.



Benedikt XVI Predigten 333