Caritas in veritate DE 28


28 Einer der augenscheinlichsten Aspekte der heutigen Entwicklung ist die Wichtigkeit des Themas der Achtung vor dem Leben, das in keiner Weise von den Fragen bezüglich der Entwicklung der Völker getrennt werden kann. Es handelt sich um einen Aspekt, der in letzter Zeit eine immer größere Bedeutung gewinnt und uns verpflichtet, die Begriffe von Armut[66] und Unterentwicklung auf die Fragen auszudehnen, die mit der Annahme des Lebens verbunden sind, vor allem dort, wo dieses in verschiedener Weise behindert wird.

Nicht nur die Situation der Armut verursacht noch in vielen Regionen hohe Quoten der Kindersterblichkeit, sondern in verschiedenen Teilen der Welt gibt es weiterhin Praktiken der Bevölkerungskontrolle durch die Regierungen, die oft die Empfängnisverhütung verbreiten und sogar so weit gehen, die Abtreibung anzuordnen. In den wirtschaftlich mehr entwickelten Ländern sind die lebensfeindlichen Gesetzgebungen sehr verbreitet und haben bereits die Gewohnheit und die Praxis entscheidend beeinflußt; sie tragen dazu bei, eine geburtenfeindliche Mentalität zu lancieren, die man häufig auch auf andere Staaten zu übertragen sucht, als stelle sie einen kulturellen Fortschritt dar.

Einige Nichtregierungsorganisationen arbeiten aktiv für die Verbreitung der Abtreibung und fördern manchmal in den armen Ländern die Entscheidung für die Praxis der Sterilisierung, auch bei Frauen, die sich der Bedeutung des Eingriffs nicht bewußt sind. Außerdem besteht der begründete Verdacht, daß gelegentlich die Entwicklungshilfe selbst an bestimmte Formen der Gesundheitspolitik geknüpft wird, die de facto die Auferlegung starker Geburtenkontrollen einschließen. Besorgniserregend sind ferner Gesetzgebungen, welche die Euthanasie vorsehen, und ebenso beunruhigend auch der Druck von nationalen und internationalen Gruppen, die deren rechtliche Anerkennung fordern.

Die Offenheit für das Leben steht im Zentrum der wahren Entwicklung. Wenn eine Gesellschaft den Weg der Lebensverweigerung oder -unterdrückung einschlägt, wird sie schließlich nicht mehr die nötigen Motivationen und Energien finden, um sich für das wahre Wohl des Menschen einzusetzen. Wenn der persönliche und gesellschaftliche Sinn für die Annahme eines neuen Lebens verlorengeht, verdorren auch andere, für das gesellschaftliche Leben hilfreiche Formen der Annahme.[67] Die Annahme des Lebens stärkt die moralischen Kräfte und befähigt zu gegenseitiger Hilfe. Wenn die reichen Völker die Offenheit für das Leben pflegen, können sie die Bedürfnisse der armen Völker besser verstehen, die Verwendung ungeheurer wirtschaftlicher und intellektueller Ressourcen zur Befriedigung egoistischer Wünsche bei den eigenen Bürgern vermeiden und statt dessen gute Aktionen im Hinblick auf eine moralisch gesunde und solidarische Produktion fördern, in der Achtung des Grundrechtes jedes Volkes und jedes Menschen auf das Leben.

[66] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae,
EV 18 EV 59 EV 63 EV 64: a.a.O., 419-421.467-468.472-475.
[67] Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 5: Insegnamenti II, 2 (2006), 778.


29 Es gibt noch einen anderen Aspekt des heutigen Lebens, der mit der Entwicklung sehr eng verbunden ist: die Verweigerung des Rechtes auf Religionsfreiheit.Ich beziehe mich nicht nur auf die Kämpfe und Konflikte, die in der Welt noch aus religiösen Gründen ausgefochten werden, auch wenn das Religiöse manchmal nur der Deckmantel für andersartige Gründe ist wie die Gier nach Herrschaft und Reichtum. Tatsächlich wird heute oft im heiligen Namen Gottes getötet, wie mein Vorgänger Papst Johannes Paul II. und ich selbst wiederholt öffentlich betont und mißbilligt haben.[68] Gewalt aller Art bremst die authentische Entwicklung und behindert den Übergang der Völker zu größerem sozioökonomischen und geistigen Wohlbefinden. Das gilt speziell für den Terrorismus mit fundamentalistischem Hintergrund,[69] der Leid, Verwüstung und Tod verursacht, den Dialog zwischen den Nationen blockiert und große Geldmittel von ihrem friedlichen und zivilen Einsatz abzieht. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß außer dem religiösen Fanatismus, der in einigen Bereichen die Ausübung des Rechtes auf Religionsfreiheit verhindert, auch die planmäßige Förderung der religiösen Indifferenz oder des praktischen Atheismus durch viele Länder den Bedürfnissen der Entwicklung der Völker widerspricht, indem sie ihnen spirituelle und humane Reichtümer entzieht. Gott ist der Garant der wahren Entwicklung des Menschen, denn da er ihn nach seinem Bild geschaffen hat, begründet er auch seine transzendente Würde und nährt sein Grundverlangen, »mehr zu sein«. Der Mensch ist nicht etwa ein verlorenes Atom in einem Zufalls-Universum,[70] sondern ein Geschöpf Gottes, das von ihm eine unsterbliche Seele empfangen hat und von Ewigkeit her geliebt worden ist. Wenn der Mensch nur das Ergebnis des Zufalls bzw. der Notwendigkeit wäre oder wenn er seine Bestrebungen auf den begrenzten Horizont der Situationen reduzieren müßte, in denen er lebt, wenn alles allein Geschichte und Kultur wäre und der Mensch nicht eine Natur besäße, die dazu bestimmt ist, sich in einem übernatürlichen Leben selbst zu überschreiten, könnte man von Wachstum oder Evolution sprechen, aber nicht von Entwicklung. Wenn der Staat Formen eines praktischen Atheismus fördert, lehrt oder sogar durchsetzt, entzieht er seinen Bürgern die moralische und geistige Kraft, die für den Einsatz in der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung unentbehrlich ist, und hindert sie, mit neuer Lebendigkeit im eigenen Engagement für eine großherzigere menschliche Antwort auf die göttliche Liebe voranzuschreiten.[71] Es kommt auch vor, daß die wirtschaftlich entwickelten Länder oder die Schwellenländer im Rahmen ihrer kulturellen, kommerziellen und politischen Beziehungen diese herabwürdigende Sicht des Menschen und seiner Bestimmung in die armen Länder exportieren. Das ist der Schaden, den die »Überentwicklung«[72] der echten Entwicklung zufügt, wenn sie von der »moralischen Unterentwicklung«[73] begleitet ist.

[68] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2002, 4-7.12-15: AAS 94 (2002), 134-136.138-140; ders., Botschaft zum Weltfriedenstag 2004, 8: AAS 96 (2004), 119; ders., Botschaft zum Weltfriedenstag 2005, 4: AAS 97 (2005), 177-178; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2006, 9-10: AAS 98 (2006), 60-61; ders., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 5.14: a.a.O., 778.782-783.
[69] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2002, 6: a.a.O., 135; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2006, 9-10: a.a.O., 60-61.
[70] Vgl. Benedikt XVI., Homilie bei der Meßfeier auf dem »Islinger Feld« in Regensburg (12. September 2006): Insegnamenti II, 2 (2006), 252-256.
[71] Vgl. ders., Enzyklika Deus caritas est, : a.a.O., 217-218.
[72] Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis,
SRS 28: a.a.O., 548-550.
[73] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, PP 19: a.a.O., 266-267.


30 In dieser Richtung bekommt das Thema der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen eine noch umfassendere Tragweite: Die Wechselbeziehung zwischen ihren vielfältigen Elementen erfordert, daß man sich darum bemüht, die verschiedenen Ebenen des menschlichen Wissens im Hinblick auf die Förderung einer wahren Entwicklung der Völker interagieren zu lassen. Oft wird die Meinung vertreten, die Entwicklung bzw. die entsprechenden sozioökonomischen Maßnahmen verlangten nur ihre Realisierung als Frucht eines gemeinsamen Handelns. Dieses gemeinsame Handeln muß aber orientiert werden, denn »alles soziale Handeln setzt eine Lehre voraus«.[74] Angesichts der Komplexität der Probleme ist es klar, daß die verschiedenen Disziplinen mittels einer geordneten Interdisziplinarität zusammenarbeiten müssen. Die Liebe schließt das Wissen nicht aus, ja, sie verlangt, fördert und belebt es von innen her. Das Wissen ist niemals allein das Werk der Intelligenz. Es kann zwar auf ein Kalkül oder Experiment reduziert werden, wenn es aber Weisheit sein will, die imstande ist, den Menschen im Licht der Grundprinzipien und seiner letzten Ziele zu orientieren, dann muß sie mit dem »Salz« der Liebe »gewürzt« sein. Das Tun ist blind ohne das Wissen, und das Wissen ist steril ohne die Liebe. Denn »der wahre Liebende [ist] erfinderisch im Entdecken von Ursachen des Elends, im Finden der Mittel, es zu überwinden und zu beseitigen«.[75] Gegenüber den vor uns liegenden Phänomenen verlangt die Liebe in der Wahrheit vor allem ein Erkennen und ein Verstehen im Bewußtsein und in der Achtung der spezifischen Kompetenz jeder Ebene des Wissens. Die Liebe ist keine nachträgliche Hinzufügung, gleichsam ein Anhängsel an die von den verschiedenen Disziplinen bereits getane Arbeit, sondern sie steht mit diesen von Anfang an im Dialog. Die Ansprüche der Liebe stehen zu denen der Vernunft nicht im Widerspruch. Das menschliche Wissen ist ungenügend, und die Schlußfolgerungen der Wissenschaften können allein den Weg zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen nicht weisen. Es ist immer nötig, darüber hinaus weiter vorzustoßen – das verlangt die Liebe in der Wahrheit.[76] Darüber hinaus zu gehen bedeutet jedoch niemals, von den Schlüssen der Vernunft abzusehen, noch ihren Ergebnissen zu widersprechen. Intelligenz und Liebe stehen nicht einfach nebeneinander: Es gibt die an Intelligenz reiche Liebe und die von Liebe erfüllte Intelligenz.

[74] Ebd.,
PP 39: a.a.O., 276-277.
[75] Ebd., PP 75: a.a.O., 293-294.
[76] Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, : a.a.O., 238-240.


31 Das bedeutet, daß die moralischen Bewertungen und die wissenschaftliche Forschung gemeinsam wachsen müssen und daß die Liebe sie in einer harmonischen interdisziplinären Ganzheit, die aus Einheit und Unterschiedenheit besteht, beseelen muß. Die Soziallehre der Kirche, die »eine wichtige interdisziplinäre Dimension«[77] hat, kann aus dieser Perspektive eine Funktion von außerordentlicher Wirksamkeit erfüllen. Sie gestattet dem Glauben, der Theologie, der Metaphysik und den Wissenschaften, ihren Platz innerhalb einer Zusammenarbeit im Dienst des Menschen zu finden. Vor allem hier realisiert die Soziallehre der Kirche ihre auf der Weisheit beruhende Dimension. Papst Paul VI. hatte deutlich gesehen, wie die Unterentwicklung unter anderem auch dadurch verursacht wird, daß es an Weisheit, an Reflexion, an einem Denken fehlt, das imstande ist, eine richtungweisende Synthese aufzustellen;[78] für sie bedarf es »einer klaren Konzeption auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und geistigem Gebiet«.[79] Die übertriebene Aufteilung des Wissens in Fachbereiche,[80] das Sich-Verschließen der Humanwissenschaften gegenüber der Metaphysik,[81] die Schwierigkeiten im Dialog der Wissenschaften mit der Theologie schaden nicht nur der Entwicklung des Wissens, sondern auch der Entwicklung der Völker, denn in diesen Fällen wird der Blick auf das ganze Wohl des Menschen in den verschiedenen Dimensionen, die es charakterisieren, verstellt. Die »Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs«[82] ist unerläßlich, um alle Elemente der Frage nach der Entwicklung und der Lösung der sozioökonomischen Probleme angemessen abwägen zu können.

[77] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus,
CA 59: a.a.O., 864.
[78] Vgl. Enzyklika Populorum progressio, PP 40 PP 85: a.a.O., 277.298-299.
[79] Ebd., PP 13: a.a.O., 263-264.
[80] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), FR 85: AAS 91 (1999), 72-73.
[81] Vgl. ebd., FR 83: a.a.O., 70-71.
[82] Benedikt XVI., Vorlesung in der Universität Regensburg (12. September 2006): Insegnamenti II, 2 (2006), 265.


32 Die großen Neuheiten, die das Gesamtbild der Entwicklung der Völker heute aufweist, machen in vielen Fällen neue Lösungen erforderlich. Sie müssen unter Beachtung der Eigengesetze jeder Realität und zugleich im Licht einer ganzheitlichen Sicht des Menschen gesucht werden – einer Sicht, welche die verschiedenen Aspekte des Menschen widerspiegelt, wie sie sich dem von der Liebe geläuterten Blick darstellen. Dann wird man einzigartige Übereinstimmungen und konkrete Lösungsmöglichkeiten entdecken, ohne auf irgendeinen fundamentalen Bestandteil des menschlichen Lebens zu verzichten.

Die Würde der Person und die Erfordernisse der Gerechtigkeit verlangen, daß – vor allem heute – die wirtschaftlichen Entscheidungen die Unterschiede im Besitztum nicht in übertriebener und moralisch unhaltbarer Weise vergrößern[83] und daß als Priorität weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen und für den Erhalt ihrer Arbeitsmöglichkeit zu sorgen. Recht besehen erfordert das auch die »wirtschaftliche Vernunft«. Die systembedingte Zunahme der Ungleichheit unter Gesellschaftsgruppen innerhalb eines Landes und unter den Bevölkerungen verschiedener Länder bzw. das massive Anwachsen der relativen Armut neigt nicht nur dazu, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu untergraben, und bringt auf diese Weise die Demokratie in Gefahr. Auch auf wirtschaftlicher Ebene wirkt sie sich negativ aus: durch fortschreitende Abtragung des »Gesellschaftskapitals« bzw. durch Untergrabung jener Gesamtheit von Beziehungen, die auf Vertrauen, Zuverlässigkeit und Einhaltung der Regeln gründen und die unverzichtbar sind für jedes bürgerliche Zusammenleben.

Zudem sagt uns die Wirtschaftswissenschaft, daß eine strukturelle Situation der Unsicherheit Verhaltensweisen erzeugt, welche die Produktion hemmen und menschliche Ressourcen verschwenden, insofern der Arbeitnehmer dazu neigt, sich passiv den automatischen Mechanismen zu fügen, anstatt Kreativität zu entwickeln. Auch in diesem Punkt gibt es eine Übereinstimmung zwischen Wirtschaftswissenschaft und moralischer Bewertung. Der menschliche Preis ist immer auch ein wirtschaftlicher Preis, und die wirtschaftlichen Mißstände fordern immer auch einen menschlichen Preis.

Ferner muß daran erinnert werden, daß die Reduzierung der Kulturen auf die technologische Dimension, selbst wenn sie kurzfristig die Erlangung eines Gewinns fördern mag, auf lange Sicht die gegenseitige Bereicherung und die Dynamiken der Zusammenarbeit behindert. Es ist wichtig, zwischen kurzfristigen und langfristigen wirtschaftlichen oder soziologischen Überlegungen zu unterscheiden. Die Senkung des Rechtsschutzniveaus für die Arbeiter oder der Verzicht auf Mechanismen der Umverteilung des Gewinns, damit das Land eine größere internationale Wettbewerbsfähigkeit erlangt, verhindern, daß sich eine langfristige Entwicklung durchsetzen kann. So sollten die Konsequenzen, welche die aktuellen Tendenzen zu einer kurzfristig, bisweilen extrem kurzfristig angelegten Wirtschaft für die Menschen haben, aufmerksam abgewogen werden. Das verlangt »eine neue und vertiefte Reflexion über den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele«[84] sowie eine tiefgreifende und weitblickende Revision des Entwicklungsmodells, um seine Mißstände und Verzerrungen zu korrigieren. Tatsächlich ist dies ein Erfordernis der ökologischen Gesundheit des Planeten; und vor allem ist es eine Notwendigkeit, die sich aus der kulturellen und moralischen Krise des Menschen ergibt, deren Symptome seit langem in allen Teilen der Welt sichtbar sind.

[83] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio,
PP 33: a.a.O., 273-274.
[84] Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2000, 15: AAS 92 (2000), 366.


33 Über vierzig Jahre nach der Enzyklika Populorum progressio ist ihr Grundthema, eben der Fortschritt, nach wie vor ein noch offenes Problem, das sich durch die augenblickliche Wirtschafts- und Finanzkrise verschärft hat und noch dringender geworden ist. Wenn einige Regionen der Erde, die einst durch die Armut belastet waren, bemerkenswerte Änderungen im Sinn eines wirtschaftlichen Wachstums und einer Beteiligung an der Weltproduktion erfahren haben, so leben andere Zonen noch in einer Situation des Elends, die jener zur Zeit Papst Pauls VI. vergleichbar ist, ja, in einigen Fällen kann man sogar von einer Verschlechterung sprechen. Es ist bezeichnend, daß einige Ursachen dieser Situation bereits in Populorum progressio ausgemacht worden waren, wie zum Beispiel die von den wirtschaftlich entwickelten Ländern festgesetzten hohen Grenzzölle, welche die Produkte aus den armen Ländern immer noch daran hindern, auf die Märkte der reichen Länder zu gelangen. Andere Ursachen hingegen, welche die Enzyklika nur angedeutet hatte, sind in der Folge deutlicher hervorgetreten. Das trifft auf die Bewertung des Entkolonisierungsprozesses zu, der damals in vollem Gange war. Papst Paul VI. wünschte sich einen autonomen Verlauf, der sich in Freiheit und Frieden vollziehen sollte. Nach über vierzig Jahren müssen wir eingestehen, wie schwierig dieser Verlauf gewesen ist, sei es aufgrund neuer Formen von Kolonialismus und Abhängigkeit von alten und neuen Hegemonialländern, sei es durch schwerwiegende Verantwortungslosigkeiten innerhalb der Länder selbst, die sich unabhängig gemacht haben.

Die hauptsächliche Neuheit war die Explosion der weltweiten wechselseitigen Abhängigkeit, die inzwischen unter der Bezeichnung »Globalisierung« allgemein bekannt ist. Papst Paul VI. hatte sie teilweise vorausgesehen, doch das Ausmaß und die Heftigkeit, mit der sie sich entwickelt hat, sind erstaunlich. In den wirtschaftlich entwickelten Ländern entstanden, hat dieser Prozeß seiner Natur entsprechend eine Einbeziehung sämtlicher Ökonomien verursacht. Er war der Hauptantrieb für das Heraustreten ganzer Regionen aus der Unterentwicklung und stellt an sich eine große Chance dar. Ohne die Führung der Liebe in der Wahrheit kann dieser weltweite Impuls allerdings dazu beitragen, die Gefahr bisher ungekannter Schäden und neuer Spaltungen in der Menschheitsfamilie heraufzubeschwören. Darum stellen uns die Liebe und die Wahrheit vor einen ganz neuen und kreativen Einsatz, der freilich sehr umfangreich und komplex ist. Es geht darum, die Vernunft auszuweiten und sie fähig zu machen, diese eindrucksvollen neuen Dynamiken zu erkennen und auszurichten, indem man sie im Sinn jener »Kultur der Liebe« beseelt, deren Samen Gott in jedes Volk und in jede Kultur gelegt hat.



DRITTES KAPITEL

BRÜDERLICHKEIT, WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UND ZIVILGESELLSCHAFT


34 Die Liebe in der Wahrheit stellt den Menschen vor die staunenswerte Erfahrung des Geschenks. Die Unentgeltlichkeit ist in seinem Leben in vielerlei Formen gegenwärtig, die aufgrund einer nur produktivistischen und utilitaristischen Sicht des Daseins jedoch oft nicht erkannt werden. Der Mensch ist für das Geschenk geschaffen, das seine transzendente Dimension ausdrückt und umsetzt. Manchmal ist der moderne Mensch fälschlicherweise der Überzeugung, der einzige Urheber seiner selbst, seines Lebens und der Gesellschaft zu sein. Diese Überheblichkeit ist eine Folge des egoistischen Sich-in-sich-selbst-Verschließens und rührt – in Begriffen des Glaubens gesprochen – von der Ursünde her. Die Weisheit der Kirche hat stets vorgeschlagen, die Erbsünde auch bei der Interpretation der sozialen Gegebenheiten und beim Aufbau der Gesellschaft zu beachten: »Zu übersehen, daß der Mensch eine verwundete, zum Bösen geneigte Natur hat, führt zu schlimmen Irrtümern im Bereich der Erziehung, der Politik, des gesellschaftlichen Handelns und der Sittlichkeit«.[85] Zur Aufzählung der Bereiche, in denen sich die schädlichen Auswirkungen der Sünde zeigen, gehört nun schon seit langer Zeit auch jener der Wirtschaft. Auch unsere Zeit liefert uns dafür einen offensichtlichen Beleg. Die Überzeugung, sich selbst zu genügen und in der Lage zu sein, das in der Geschichte gegenwärtige Übel allein durch das eigene Handeln überwinden zu können, hat den Menschen dazu verleitet, das Glück und das Heil in immanenten Formen des materiellen Wohlstands und des sozialen Engagements zu sehen. Weiter hat die Überzeugung, daß die Wirtschaft Autonomie erfordert und keine moralische „Beeinflussung“ zulassen darf, den Menschen dazu gedrängt, das Werkzeug der Wirtschaft sogar auf zerstörerische Weise zu mißbrauchen. Langfristig haben diese Überzeugungen zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systemen geführt, die die Freiheit der Person und der gesellschaftlichen Gruppen unterdrückt haben und genau aus diesem Grund nicht in der Lage waren, für die Gerechtigkeit zu sorgen, die sie versprochen hatten. Wie ich schon in meiner Enzyklika Spe salvi geschrieben habe, entfernt man auf diese Weise die christliche Hoffnung aus der Geschichte,[86] die jedoch ein kraftvolles Potential im Dienste der umfassenden Entwicklung des Menschen darstellt, die in der Freiheit und in der Gerechtigkeit gesucht wird. Die Hoffnung ermutigt die Vernunft und gibt ihr die Kraft, den Willen zu lenken.[87] Sie ist bereits im Glauben gegenwärtig, von dem sie geradezu geweckt wird. Die Liebe in der Wahrheit nährt sich aus ihr und macht sie zugleich sichtbar. Da die Hoffnung ein völlig unentgeltliches Geschenk Gottes ist, tritt sie als etwas Ungeschuldetes in unser Leben herein, das über jedes Gesetz der Gerechtigkeit hinausgeht. Das Geschenk übertrifft seinem Wesen nach den Verdienst, sein Gesetz ist das Übermaß. Es kommt uns in unserer Seele zuvor als Zeichen der Gegenwart Gottes in uns und seiner Erwartung an uns. Die Wahrheit, die wie die Liebe ein Geschenk ist, ist, so lehrt der heilige Augustinus, größer als wir.[88] Auch die Wahrheit über uns selbst, über unsere eigene Erkenntnis, ist uns zu aller erst „geschenkt“. Denn in jedem Erkenntnisvorgang wird die Wahrheit nicht von uns erzeugt, sondern immer gefunden, oder besser, empfangen. Die Wahrheit kommt wie die Liebe »nicht aus Denken und Wollen, sondern übermächtigt gleichsam den Menschen«.[89]

Da die Liebe in der Wahrheit eine Gabe ist, die alle empfangen, stellt sie eine Kraft dar, die Gemeinschaft stiftet, die die Menschen auf eine Weise vereint, die keine Barrieren und Grenzen kennt. Die Gemeinschaft der Menschen kann von uns selbst gestiftet werden, aber sie wird allein aus eigener Kraft nie eine vollkommen brüderliche Gemeinschaft sein und jede Abgrenzung überwinden, das heißt, eine wirklich universale Gemeinschaft werden: Die Einheit des Menschengeschlechts, eine brüderliche Gemeinschaft jenseits jedweder Teilung, wird aus dem zusammenrufenden Wort Gottes, der die Liebe ist, geboren. Bei der Behandlung dieser entscheidenden Frage müssen wir einerseits präzisieren, daß die Logik des Geschenks die Gerechtigkeit nicht ausschließt oder ihr in einem zweiten Moment und von außen hinzugefügt wird, und andererseits, daß eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung, die wahrhaft menschlich sein will, dem Prinzip der Unentgeltlichkeit als Ausdruck der Brüderlichkeit Raum geben muß.

[85] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr.
CEC 407; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, CA 25: a.a.O., 822-824.
[86] Vgl. Nr. : AAS 99 (2007), 1000.
[87] Vgl. ebd., : a.a.O., 1004-1005.
[88] Der hl. Augustinus behandelt diese Lehre ausführlich im Dialog über den freien Willen (De libero arbitrio II 3,8ff). Er spricht von einem »inneren Sinn«, der in der menschlichen Seele existiert. Dieser Sinn besteht in einem Akt, der außerhalb der normalen Funktionen der Vernunft vollzogen wird, ein unreflektierter und gleichsam instinktiver Akt, durch den die Vernunft, indem sie sich ihrer vergänglichen und fehlbaren Verfaßtheit bewußt wird, über sich die Existenz von etwas Ewigem, absolut Wahrem und Gewissem annimmt. Der hl. Augustinus nennt diese innere Wahrheit manchmal Gott (Bekenntnisse X,24,35; XII,25,35; De libero arbitrio II 3,8) und häufiger Christus (De magistro 11,38; Bekenntnisse VII,18,24; XI,2,4).
[89] Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, : a.a.O., 219.


35 Der Markt ist, wenn gegenseitiges und allgemeines Vertrauen herrscht, die wirtschaftliche Institution, die die Begegnung zwischen den Menschen ermöglicht, welche als Wirtschaftstreibende ihre Beziehungen durch einen Vertrag regeln und die gegeneinander aufrechenbaren Güter und Dienstleistungen austauschen, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen. Der Markt unterliegt den Prinzipien der sogenannten ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Beziehungen des Gebens und Empfangens zwischen gleichwertigen Subjekten regelt. Aber die Soziallehre der Kirche hat stets die Wichtigkeit der distributiven Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit für die Marktwirtschaft selbst betont, nicht nur weil diese in das Netz eines größeren sozialen und politischen Umfelds eingebunden ist, sondern auch aufgrund des Beziehungsgeflechts, in dem sie abläuft. Denn wenn der Markt nur dem Prinzip der Gleichwertigkeit der getauschten Güter überlassen wird, ist er nicht in der Lage, für den sozialen Zusammenhalt zu sorgen, den er jedoch braucht, um gut zu funktionieren. Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen. Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen, und der Vertrauensverlust ist ein schwerer Verlust.

Papst Paul VI. hat in der Enzyklika Populorum progressio richtigerweise die Tatsache unterstrichen, daß allgemein verbreitete gerechte Handlungsweisen für das Wirtschaftssystem selbst einen Vorteil darstellen, da die reichen Länder die ersten Nutznießer des wirtschaftlichen Aufschwungs der armen Länder sind.[90] Dabei handelte es sich nicht nur darum, Fehlfunktionen durch Hilfsleistungen zu korrigieren. Die Armen dürfen nicht als eine »Last«[91] angesehen werden, sondern als eine Ressource, auch unter streng wirtschaftlichem Gesichtspunkt. Es muß jedoch die Sichtweise jener als unrichtig verworfen werden, nach denen die Marktwirtschaft strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen sei, um bestmöglich funktionieren zu können. Es ist im Interesse des Marktes, Emanzipierung zu fördern, aber um dies zu erreichen, darf er sich nicht nur auf sich selbst verlassen, denn er ist nicht in der Lage, von sich aus das zu erreichen, was seine Möglichkeiten übersteigt. Er muß vielmehr auf die moralischen Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese hervorbringen können.

[90] Vgl. Nr.
PP 49: a.a.O., 281.
[91] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, CA 28: a.a.O., 827-828.


36 Das Wirtschaftsleben kann nicht alle gesellschaftlichen Probleme durch die schlichte Ausbreitung des Geschäftsdenkens überwinden. Es soll auf das Erlangen des Gemeinwohls ausgerichtet werden, für das auch und vor allem die politische Gemeinschaft sorgen muß. Es darf daher nicht vergessen werden, daß die Trennung zwischen der Wirtschaftstätigkeit, der die Aufgabe der Schaffung des Reichtums zukäme, und der Politik, die sich mittels Umverteilung um die Gerechtigkeit zu kümmern habe, schwere Störungen verursacht.

Die Kirche vertritt seit jeher, daß die Wirtschaftstätigkeit nicht als antisozial angesehen werden darf. Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden. Die Gesellschaft muß sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde. Es ist sicher richtig, daß der Markt eine negative Ausrichtung haben kann, nicht weil dies seinem Wesen entspräche, sondern weil eine gewisse Ideologie ihm diese Ausrichtung geben kann. Es darf nicht vergessen werden, daß es den Markt nicht in einer Reinform gibt. Er erhält seine Gestalt durch die kulturellen Gegebenheiten, die ihm eine konkrete Prägung und Orientierung geben. Die Wirtschaft und das Finanzwesen können, insofern sie Mittel sind, tatsächlich schlecht gebraucht werden, wenn der Verantwortliche sich nur von egoistischen Interessen leiten läßt. So können an sich gute Mittel in schadenbringende Mittel verwandelt werden. Doch diese Konsequenzen bringt die verblendete Vernunft der Menschen hervor, nicht die Mittel selbst. Daher muß sich der Appell nicht an das Mittel, sondern an den Menschen richten, an sein moralisches Gewissen und an seine persönliche und soziale Verantwortung.

Die Soziallehre der Kirche ist der Ansicht, daß wahrhaft menschliche Beziehungen in Freundschaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit auch innerhalb der Wirtschaftstätigkeit und nicht nur außerhalb oder »nach« dieser gelebt werden können. Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muß, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden.

Vor uns liegt eine große Herausforderung, die von den Problemen der Entwicklung in dieser Zeit der Globalisierung hervorgebracht und durch die Wirtschafts- und Finanzkrise noch weiter erschwert wurde: Wir müssen in unserem Denken und Handeln nicht nur zeigen, daß die traditionellen sozialethischen Prinzipien wie die Transparenz, die Ehrlichkeit und die Verantwortung nicht vernachlässigt oder geschwächt werden dürfen, sondern auch, daß in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen. Das ist ein Erfordernis des Menschen in unserer jetzigen Zeit, aber auch ein Erfordernis des wirtschaftlichen Denkens selbst. Es ist zugleich ein Erfordernis der Liebe und der Wahrheit.


37 Die Soziallehre der Kirche hat immer bekräftigt, daß die Gerechtigkeit alle Phasen der Wirtschaftstätigkeit betrifft, da diese stets mit dem Menschen und mit seinen Bedürfnissen zu tun hat. Die Beschaffung von Ressourcen, die Finanzierung, die Produktion, der Konsum und alle übrigen Phasen haben unvermeidbar moralische Folgen. So hat jede wirtschaftliche Entscheidung eine moralische Konsequenz. All das bestätigt sich auch in den Sozialwissenschaften und in den Tendenzen der heutigen Wirtschaft. Vielleicht war es früher denkbar, der Wirtschaft die Schaffung des Reichtums anzuvertrauen, um dann der Politik die Aufgabe zu übertragen, diesen zu verteilen. Heute erscheint das schwieriger, da die wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht an territoriale Grenzen gebunden sind, während die Autorität der Regierungen weiter vorwiegend örtlich beschränkt ist. Darum müssen die Regeln der Gerechtigkeit von Anfang an beachtet werden, während der wirtschaftliche Prozeß in Gang ist, und nicht mehr danach oder parallel dazu. Darüber hinaus ist es nötig, daß Räume für wirtschaftliche Tätigkeiten geschaffen werden, die von Trägern durchgeführt werden, die ihr Handeln aus freiem Entschluß nach Prinzipien ausrichten, die sich vom reinen Profitstreben unterscheiden, die aber dennoch weiter wirtschaftliche Werte hervorbringen wollen. Die vielen Ausdrucksformen der Wirtschaft, die aus konfessionellen und nicht konfessionellen Initiativen hervorgegangen sind, zeigen, daß das eine konkrete Möglichkeit ist.

In der Zeit der Globalisierung leidet die Wirtschaft an konkurrierenden Modellen, die von sehr unterschiedlichen Kulturen abhängig sind. Die daraus hervorgehenden wirtschaftlich-unternehmerischen Verhaltensweisen finden vorwiegend in der Beachtung der ausgleichenden Gerechtigkeit einen Berührungspunkt. Das Wirtschaftsleben braucht ohne Zweifel Verträge, um den Tausch von einander entsprechenden Werten zu regeln. Ebenso sind jedoch gerechte Gesetze, von der Politik geleitete Mechanismen zur Umverteilung und darüber hinaus Werke, die vom Geist des Schenkens geprägt sind, nötig. Die globalisierte Wirtschaft scheint die erste Logik, jene des vertraglich vereinbarten Gütertausches, zu bevorzugen, aber direkt und indirekt zeigt sie, daß sie auch die anderen beiden Formen braucht, die Logik der Politik und die Logik des Geschenks ohne Gegenleistung.


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