Caritas in veritate DE 47


47 Die Vermehrung der verschiedenen Unternehmenstypologien und besonders derjenigen, die dazu fähig sind, den Gewinn als ein Mittel zu begreifen, um den Zweck der Humanisierung des Marktes und der Gesellschaften zu erreichen, muß auch in den Ländern verfolgt werden, die unter Ausschluß oder Ausgrenzung aus den globalen Wirtschaftskreisläufen leiden. Dort ist es sehr wichtig, mit Projekten angemessen konzipierter und verwalteter Subsidiarität voranzukommen, die vor allem die Rechte zu stärken trachten, wobei jedoch immer auch die Übernahme entsprechender Verantwortlichkeiten vorgesehen ist. In den Beiträgen zur Entwicklung muß das Prinzip der zentralen Stellung der menschlichen Person sichergestellt sein, die das Subjekt ist, das in erster Linie die Verpflichtung zur Entwicklung auf sich nehmen muß. Das Hauptinteresse gilt der Verbesserung der Lebenssituationen der konkreten Menschen in einer bestimmten Region, damit sie jenen Verpflichtungen nachkommen können, deren Erfüllung ihnen ihre derzeitige Notlage unmöglich macht. Die Sorge kann niemals eine abstrakte Haltung sein. Um an die einzelnen Situationen angepaßt werden zu können, müssen die Entwicklungsprogramme von Flexibilität gekennzeichnet sein; und die Empfänger der Hilfe sollten direkt in die Planung der Projekte einbezogen und zu Hauptakteuren ihrer Umsetzung werden. Ebenso ist es notwendig, die Kriterien eines stufenweisen und begleitenden Fortschreitens – einschließlich der laufenden Kontrolle der Ergebnisse – anzuwenden, da es keine universal gültigen Rezepte gibt. Viel hängt von der konkreten Durchführung der Interventionen ab. »Weil die Völker die Baumeister ihres eigenen Fortschritts sind, müssen sie selbst auch an erster Stelle die Last und Verantwortung dafür tragen. Aber sie werden es nicht schaffen, wenn sie gegenseitig isoliert bleiben«.[114] Angesichts der Konsolidierung des Prozesses der fortschreitenden Integration der Erde hat diese Mahnung Papst Pauls VI. heute noch größere Gültigkeit. Die Dynamik der Einbeziehung hat nichts Mechanisches an sich. Die Lösungen müssen auf der Grundlage einer behutsamen Einschätzung der Situation genau auf das Leben der Völker und konkreten Personen zugeschnitten werden. Neben den Großprojekten braucht es die kleinen Projekte und vor allem die tatkräftige Mobilisierung aller Angehörigen der Zivilgesellschaft, sowohl der juristischen wie der physischen Personen.

Die internationale Zusammenarbeit benötigt Personen, die den wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklungsprozeß durch die Solidarität ihrer Präsenz, der Begleitung, der Ausbildung und des Respekts teilen. Unter diesem Gesichtspunkt müßten sich die internationalen Organismen selbst nach der tatsächlichen Wirksamkeit ihrer oft viel zu kostspieligen bürokratischen Verwaltungsapparate fragen. Es kommt mitunter vor, daß der Hilfeempfänger zu einem Mittel für den Helfer wird und die Armen dazu dienen, aufwendige bürokratische Organisationen aufrechtzuerhalten, die für ihren eigenen Bestand allzu hohe Beträge aus jenen Ressourcen für sich behalten, die eigentlich für die Entwicklung bestimmt sein sollten. Aus dieser Sicht wäre es wünschenswert, daß sich alle internationalen Organismen und die Nichtregierungsorganisationen zu einer größeren Transparenz verpflichteten, indem sie die Spender sowie die öffentliche Meinung über den prozentualen Anteil der erhaltenen Gelder, der für die Programme der Zusammenarbeit bestimmt ist, über den tatsächlichen Inhalt solcher Programme und schließlich über die Zusammensetzung der Ausgaben der Einrichtung selbst informieren.

[114] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio,
PP 77: a.a.O., 295.


48 Das Thema Entwicklung ist heute stark an die Verpflichtungen gebunden, die aus der Beziehung des Menschen zur natürlichen Umwelt entstehen. Diese Beziehung wurde allen von Gott geschenkt. Der Umgang mit ihr stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar. Wenn die Natur und allen voran der Mensch als Frucht des Zufalls oder des Evolutionsdeterminismus angesehen werden, wird das Verantwortungsbewußtsein in den Gewissen schwächer. Der Gläubige erkennt hingegen in der Natur das wunderbare Werk des schöpferischen Eingreifens Gottes, das der Mensch verantwortlich gebrauchen darf, um in Achtung vor der inneren Ausgewogenheit der Schöpfung selbst seine berechtigten materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn diese Auffassung schwindet, wird am Ende der Mensch die Natur entweder als ein unantastbares Tabu betrachten oder, im Gegenteil, sie ausbeuten. Beide Haltungen entsprechen nicht der christlichen Anschauung der Natur, die Frucht der Schöpfung Gottes ist.

Die Natur ist Ausdruck eines Plans der Liebe und der Wahrheit. Sie geht uns voraus und wird uns von Gott als Lebensraum geschenkt. Sie spricht zu uns vom Schöpfer (vgl.
Rm 1,20) und von seiner Liebe zu den Menschen. Sie ist dazu bestimmt, am Ende der Zeiten in Christus »vereint zu werden« (vgl. Ep 1,9-10 Col 1,19-20). Auch sie ist also eine »Berufung«.[115] Die Natur steht uns nicht als »ein Haufen zufällig verstreuter Abfälle«[116] zur Verfügung, sondern als eine Gabe des Schöpfers, der die ihr innewohnenden Ordnungen gezeichnet hat, damit der Mensch daraus die gebotenen Aufschlüsse bezieht, »damit er [sie] bebaue und hüte« (Gn 2,15). Aber es muß auch betont werden, daß es der wahren Entwicklung widerspricht, die Natur für wichtiger zu halten als die menschliche Person. Diese Einstellung verleitet zu neu-heidnischen Haltungen oder einem neuen Pantheismus: Aus der in einem rein naturalistischen Sinn verstandenen Natur allein kann man nicht das Heil für den Menschen ableiten. Allerdings muß man auch die gegenteilige Position zurückweisen, die eine vollständige Technisierung der Natur anstrebt, weil das natürliche Umfeld nicht nur Materie ist, über die wir nach unserem Belieben verfügen können, sondern wunderbares Werk des Schöpfers, das eine „Grammatik“ in sich trägt, die Zwecke und Kriterien für eine weise, nicht funktionelle und willkürliche Nutzung angibt. Viele Schäden für die Entwicklung rühren heute aus diesen verzerrten Auffassungen her. Die Natur vollständig auf eine Menge einfacher Gegebenheiten zu verkürzen, erweist sich schließlich als Quelle der Gewalt gegenüber der Umwelt und motiviert zu respektlosen Handlungen gegenüber der Natur des Menschen. Da diese nicht nur aus Materie, sondern auch aus Geist besteht und als solche reich an Bedeutungen und zu erreichenden transzendenten Zielen ist, hat sie auch einen normativen Charakter für die Kultur. Der Mensch deutet und bildet die natürliche Umwelt durch die Kultur nach, die ihrerseits durch die verantwortliche, auf die Gebote des Sittengesetzes achtende Freiheit bestimmt wird. Die Projekte für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung dürfen daher die nachfolgenden Generationen nicht ignorieren, sondern müssen zur Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Generationen bereit sein, indem sie den vielfältigen Bereichen – dem ökologischen, juristischen, ökonomischen, politischen und kulturellen – Rechnung tragen.[117]

[115] Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, 6: AAS 82 (1990), 150.
[116] Heraklit von Ephesus (ca 535-475 v. Chr.), Fragment 22B124, in: H. Diehls – W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Weidmann, Berlin 19526.
[117] Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nrn. 451-487.


49 Die mit der Sorge und dem Schutz für die Umwelt zusammenhängenden Fragen müssen heute der Energieproblematik entsprechende Beachtung schenken. Das Aufkaufen der nicht erneuerbaren Energiequellen durch einige Staaten, einflußreiche Gruppen und Unternehmen stellt nämlich ein schwerwiegendes Hindernis für die Entwicklung der armen Länder dar. Diese verfügen weder über die ökonomischen Mittel, um sich Zugang zu den bestehenden nicht erneuerbaren Energiequellen zu verschaffen, noch können sie die Suche nach neuen und alternativen Quellen finanzieren. Das Aufkaufen der natürlichen Ressourcen, die sich in vielen Fällen gerade in den armen Ländern befinden, führt zu Ausbeutung und häufigen Konflikten zwischen den Nationen und auch innerhalb der Länder selbst. Solche Konflikte werden häufig gerade auf dem Boden dieser Länder ausgetragen, mit einer bedrückenden Schlußbilanz von Tod, Zerstörung und weiterem Niedergang. Die internationale Gemeinschaft hat die unumgängliche Aufgabe, die institutionellen Wege zu finden, um der Ausbeutung der nicht erneuerbaren Ressourcen Einhalt zu gebieten, und das auch unter Einbeziehung der armen Länder, um mit ihnen gemeinsam die Zukunft zu planen.

Auch an dieser Front besteht die dringende moralische Notwendigkeit einer erneuerten Solidarität, besonders in den Beziehungen zwischen den Entwicklungsländern und den hochindustrialisierten Ländern.[118] Die technologisch fortschrittlichen Gesellschaften können und müssen ihren Energieverbrauch verringern, weil die Produktion in der verarbeitenden Industrie sich weiter entwickelt, aber auch weil sich unter ihren Bürgern eine größere Sensibilität für die Umwelt verbreitet. Man muß außerdem hinzufügen, daß heute eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Energie realisierbar und es gleichzeitig möglich ist, die Suche nach alternativen Energien voranzutreiben. Es ist jedoch auch eine weltweite Neuverteilung der Energiereserven notwendig, so daß auch die Länder, die über keine eigenen Quellen verfügen, dort Zugang erhalten können. Ihr Schicksal darf nicht den Händen des zuerst Angekommenen oder der Logik des Stärkeren überlassen werden. Es handelt sich um beachtliche Probleme, die, wenn sie in entsprechender Weise angegangen werden sollen, von seiten aller die verantwortungsvolle Bewußtwerdung der Folgen verlangen, die über die neuen Generationen hereinbrechen werden, vor allem über die sehr vielen Jugendlichen in den armen Völkern, die »ihren Anteil am Aufbau einer besseren Welt fordern«.[119]

[118] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, 10: AAS 82 (1990), 152-153.
[119] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio,
PP 65: a.a.O., 289.


50 Diese Verantwortung ist global, weil sie nicht nur die Energie, sondern die ganze Schöpfung betrifft, die wir den neuen Generationen nicht ausgebeutet hinterlassen dürfen. Es ist dem Menschen gestattet, eine verantwortungsvolle Steuerung über die Natur auszuüben, um sie zu schützen, zu nutzen und auch in neuen Formen und mit fortschrittlichen Technologien zu kultivieren, so daß sie die Bevölkerung, die sie bewohnt, würdig aufnehmen und ernähren kann. Es gibt Platz für alle auf dieser unserer Erde: Auf ihr soll die ganze Menschheitsfamilie die notwendigen Ressourcen finden, um mit Hilfe der Natur selbst, dem Geschenk Gottes an seine Kinder, und mit dem Einsatz ihrer Arbeit und ihrer Erfindungsgabe würdig zu leben. Wir müssen jedoch auf die sehr ernste Verpflichtung hinweisen, die Erde den neuen Generationen in einem Zustand zu übergeben, so daß auch sie würdig auf ihr leben und sie weiter kultivieren können. Das schließt ein, »es sich zur Pflicht zu machen, nach verantwortungsbewußter Abwägung gemeinsam zu entscheiden, welcher Weg einzuschlagen ist, mit dem Ziel, jenen Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der ein Spiegel der Schöpferliebe Gottes sein soll – des Gottes, in dem wir unseren Ursprung haben und zu dem wir unterwegs sind«.[120] Man kann nur wünschen, daß die internationale Gemeinschaft und die einzelnen Regierungen es wirksam verhindern können, daß die Umwelt zu ihrem Schaden ausgenutzt wird. Es ist ebenso erforderlich, daß die zuständigen Autoritäten alle nötigen Anstrengungen unternehmen, damit die wirtschaftlichen und sozialen Kosten für die Benutzung der allgemeinen Umweltressourcen offen dargelegt sowie von den Nutznießern voll getragen werden und nicht von anderen Völkern oder zukünftigen Generationen: Der Schutz der Umwelt, der Ressourcen und des Klimas erfordert, daß alle auf internationaler Ebene Verantwortlichen gemeinsam handeln und bereit sind, in gutem Glauben, dem Gesetz entsprechend und in Solidarität mit den schwächsten Regionen unseres Planeten zu arbeiten.[121] Eine der größten Aufgaben der Ökonomie ist gerade der äußerst effiziente Gebrauch der Ressourcen, nicht die Verschwendung, wobei man sich bewußt sein muß, daß der Begriff der Effizienz nicht wertneutral ist.

[120] Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2008, 7: AAS 100 (2008), 41.
[121] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der UN-Vollversammlung (18. April 2008): Insegnamenti IV, 1 (2008), 618-626.


51 Die Verhaltensmuster, nach denen der Mensch die Umwelt behandelt, beeinflussen die Verhaltensmuster, nach denen er sich selbst behandelt, und umgekehrt. Das fordert die heutige Gesellschaft dazu heraus, ernsthaft ihren Lebensstil zu überprüfen, der in vielen Teilen der Welt zum Hedonismus und Konsumismus neigt und gegenüber den daraus entstehenden Schäden gleichgültig bleibt.[122] Notwendig ist ein tatsächlicher Gesinnungswandel, der uns dazu anhält, neue Lebensweisen anzunehmen, »in denen die Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten und die Gemeinschaft mit den anderen Menschen für ein gemeinsames Wachstum die Elemente sein sollen, die die Entscheidungen für Konsum, Sparen und Investitionen bestimmen«.[123] Jede Verletzung der bürgerlichen Solidarität und Freundschaft ruft Umweltschäden hervor, so wie die Umweltschäden ihrerseits Unzufriedenheit in den sozialen Beziehungen auslösen. Die Natur ist besonders in unserer Zeit so sehr in die Dynamik der sozialen und kulturellen Abläufe integriert, daß sie fast keine unabhängige Variable mehr darstellt. Die fortschreitende Wüstenbildung und die Verelendung mancher Agrargebiete sind auch Ergebnis der Verarmung der dort wohnenden Bevölkerungen und der Rückständigkeit. Durch die Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung jener Bevölkerungen schützt man auch die Natur. Wie viele natürliche Ressourcen werden zudem durch Kriege zerstört! Der Friede der Völker und zwischen den Völkern würde auch einen größeren Schutz der Natur erlauben. Das Aufkaufen der Ressourcen, besonders des Wassers, kann schwere Konflikte unter der betroffenen Bevölkerung hervorrufen. Ein friedliches Einvernehmen über die Nutzung der Ressourcen kann die Natur und zugleich das Wohlergehen der betroffenen Gesellschaften schützen.

Die Kirche hat eine Verantwortung für die Schöpfung und muß diese Verantwortung auch öffentlich geltend machen. Und wenn sie das tut, muß sie nicht nur die Erde, das Wasser und die Luft als Gaben der Schöpfung verteidigen, die allen gehören. Sie muß vor allem den Menschen gegen seine Selbstzerstörung schützen. Es muß so etwas wie eine richtig verstandene Ökologie des Menschen geben. Die Beschädigung der Natur hängt nämlich eng mit der Kultur zusammen, die das menschliche Zusammenleben gestaltet. Wenn in der Gesellschaft die »Humanökologie«[124] respektiert wird, profitiert davon auch die Umweltökologie. Wie die menschlichen Tugenden miteinander verbunden sind, so daß die Schwächung einer Tugend auch die anderen gefährdet, so stützt sich das ökologische System auf die Einhaltung eines Planes, der sowohl das gesunde Zusammenleben in der Gesellschaft wie das gute Verhältnis zur Natur betrifft.

Um die Natur zu schützen, genügt es nicht, mit anspornenden oder einschränkenden Maßnahmen einzugreifen, und auch eine entsprechende Anleitung reicht nicht aus. Das sind wichtige Hilfsmittel, aber das entscheidende Problem ist das moralische Verhalten der Gesellschaft. Wenn das Recht auf Leben und auf einen natürlichen Tod nicht respektiert wird, wenn Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt des Menschen auf künstlichem Weg erfolgen, wenn Embryonen für die Forschung geopfert werden, verschwindet schließlich der Begriff Humanökologie und mit ihm der Begriff der Umweltökologie aus dem allgemeinen Bewußtsein. Es ist ein Widerspruch, von den neuen Generationen die Achtung der natürlichen Umwelt zu verlangen, wenn Erziehung und Gesetze ihnen nicht helfen, sich selbst zu achten. Das Buch der Natur ist eines und unteilbar sowohl bezüglich der Umwelt wie des Lebens und der Bereiche Sexualität, Ehe, Familie, soziale Beziehungen, kurz der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Unsere Pflichten gegenüber der Umwelt verbinden sich mit den Pflichten, die wir gegenüber dem Menschen an sich und in Beziehung zu den anderen haben. Man kann nicht die einen Pflichten fordern und die anderen unterdrücken. Das ist ein schwerwiegender Widerspruch der heutigen Mentalität und Praxis, der den Menschen demütigt, die Umwelt erschüttert und die Gesellschaft beschädigt.

[122] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, 13: a.a.O., 154-155.
[123] Ders., Enzyklika Centesimus annus,
CA 36: a.a.O., 838-840.
[124] Ebd., CA 38: a.a.O., 840-841; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 8: a.a.O., 779.


52 Die Wahrheit und die Liebe, die sie erschließt, lassen sich nicht produzieren, man kann sie nur empfangen. Ihre letzte Quelle ist nicht und kann nicht der Mensch sein, sondern Gott, das heißt Er, der Wahrheit und Liebe ist. Dieses Prinzip ist sehr wichtig für die Gesellschaft und für die Entwicklung, da weder die eine noch die andere lediglich menschliche Produkte sein können; ebenso gründet sich die Berufung zur Entwicklung der Menschen und der Völker nicht auf eine lediglich menschliche Entscheidung, sondern sie ist in einen Plan eingeschrieben, der uns vorausgeht und für uns alle eine Pflicht darstellt, die freiwillig angenommen werden muß. Das, was uns vorausgeht, und das, was uns konstituiert – die Liebe und die Wahrheit –, zeigt uns, was das Gute ist und worin unser Glück besteht. Es zeigt uns somit den Weg zur wahren Entwicklung.



FÜNFTES KAPITEL

DIE ZUSAMMENARBEIT DER MENSCHHEITSFAMILIE


53 Eine der schlimmsten Arten von Armut, die der Mensch erfahren kann, ist die Einsamkeit. Genau betrachtet haben auch die anderen Arten von Armut, einschließlich der materiellen Armut, ihren Ursprung in der Isolation, im Nicht-geliebt-Sein oder in der Schwierigkeit zu lieben. Oft entstehen die Arten der Armut aus der Zurückweisung der Liebe Gottes, aus einem ursprünglichen tragischen Verschließen des Menschen in sich selbst, der meint, sich selbst genügen zu können oder nur eine unbedeutende und vorübergehende Erscheinung, ein »Fremder« in einem zufällig gebildeten Universum zu sein. Der Mensch ist entfremdet, wenn er allein ist oder sich von der Wirklichkeit ablöst, wenn er darauf verzichtet, an ein Fundament zu denken und zu glauben.[125] Die Menschheit insgesamt ist entfremdet, wenn sie sich bloß menschlichen Plänen, Ideologien und falschen Utopien verschreibt.[126] Heute erscheint die Menschheit interaktiver als gestern: Diese größere Nähe muß zu echter Gemeinschaft werden. Die Entwicklung der Völker hängt vor allem davon ab, sich als eine einzige Familie zu erkennen, die in einer echten Gemeinschaft zusammenarbeitet und von Subjekten gebildet wird, die nicht einfach nebeneinander leben.[127]

Papst Paul VI. bemerkte, daß »die Welt krank ist, weil ihr Gedanken fehlen«.[128] Diese Aussage enthält eine Feststellung, vor allem aber einen Wunsch: Es bedarf eines neuen Schwungs des Denkens, um die Implikationen unseres Familieseins besser zu verstehen; die wechselseitigen Unternehmungen der Völker dieser Erde fordern uns zu diesem Schwung auf, damit die Integration im Zeichen der Solidarität[129] und nicht der Verdrängung vollzogen wird. Ein solches Denken verpflichtet auch zu einer kritischen und beurteilenden Vertiefung der Kategorie der Beziehung. Es handelt sich um eine Aufgabe, die nicht von den Sozialwissenschaften allein durchgeführt werden kann, insofern sie den Beitrag von Wissen wie Metaphysik und Theologie verlangt, um die transzendente Würde des Menschen klar zu begreifen.

Der Mensch als Geschöpf von geistiger Natur verwirklicht sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Je echter er diese lebt, desto mehr reift auch seine eigene persönliche Identität. Nicht durch Absonderung bringt sich der Mensch selber zur Geltung, sondern wenn er sich in Beziehung zu den anderen und zu Gott setzt. Die Bedeutung solcher Beziehungen wird also grundlegend. Dies gilt auch für die Völker. Ihrer Entwicklung ist daher eine metaphysische Sicht der Beziehung zwischen den Personen sehr zuträglich. Diesbezüglich findet die Vernunft Anregung und Orientierung in der christlichen Offenbarung. Gemäß dieser wird die Person nicht durch die Gemeinschaft der Menschen absorbiert, beziehungsweise ihre Autonomie zunichte gemacht, wie es in den verschiedenen Formen des Totalitarismus geschieht. Vielmehr bringt die Gemeinschaft im christlichen Denken die Person weiter zur Geltung, da die Beziehung zwischen Person und Gemeinschaft der eines Ganzen gegenüber einem anderen Ganzen entspricht.[130] Wie die Gemeinschaft der Familie in sich die Personen, die sie bilden, nicht auflöst und wie die Kirche selbst die »neue Schöpfung« (vgl.
Ga 6,15 2Co 5,17), die durch die Taufe ihrem Leib eingegliedert wird, voll hervorhebt, so löst auch die Einheit der Menschheitsfamilie in sich die Personen, Völker und Kulturen nicht auf, sondern macht sie füreinander transparenter und vereint sie stärker in ihrer legitimen Vielfalt.

[125] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, CA 41: a.a.O., 843-845.
[126] Vgl. ebd. CA 41
[127] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, EV 20: a.a.O., 422-424.
[128] Enzyklika Populorum progressio, PP 85: a.a.O., 298-299.
[129] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1998, 3: AAS 90 (1998), 150; ders., Ansprache an die Mitglieder der Stiftung »Centesimus annus« (9. Mai 1998), 2: Insegnamenti XXI, 1 (1998), 873-874; ders., Ansprache bei der Begegnung mit den Autoritäten und dem Diplomatischen Corps in der Wiener Hofburg (20. Juni 1998), 8: Insegnamenti XXI, 1 (1998), 1435-1436; ders., Botschaft an den Rektor Magnificus der Katholischen Universität Sacro Cuore anläßlich des jährlichen Tags der Universität (5. Mai 2000), 6: Insegnamenti XXIII, 1 (2000), 759-760.
[130] Nach Thomas von Aquin: »ratio partis contrariatur rationi personae«, in: III Sent. d. 5,3,2; auch: »Homo non ordinatur ad communitatem politicam secundum se totum et secundum omnia sua«, in: Summa Theologiae I-II 21,4, ad 3.


54 Das Thema der Entwicklung der Völker fällt mit dem der Einbeziehung aller Personen und Völker in die eine Gemeinschaft der Menschheitsfamilie zusammen, die auf der Basis der Grundwerte der Gerechtigkeit und des Friedens in Solidarität gebildet wird. Diese Sicht findet von der Beziehung der Personen der Dreifaltigkeit in dem einen Göttlichen Wesen her eine klare Erhellung. Die Dreifaltigkeit ist völlige Einheit, insofern die drei Göttlichen Personen reine Beziehung sind. Die gegenseitige Transparenz zwischen den Göttlichen Personen ist völlig und die Verbindung untereinander vollkommen, denn sie bilden eine absolute Einheit und Einzigkeit. Gott will auch uns in diese Wirklichkeit der Gemeinschaft aufnehmen: »denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind« (Jn 17,22). Die Kirche ist Zeichen und Werkzeug dieser Einheit.[131] Auch die Beziehungen zwischen Menschen in der Geschichte können nur Nutzen aus dem Bezug auf dieses göttliche Modell ziehen. Insbesondere im Licht des offenbarten Geheimnisses der Dreifaltigkeit versteht man, daß eine echte Öffnung nicht zentrifugale Zerstreuung bedeutet, sondern tiefe Durchdringung. Dies ergibt sich auch aus der gemeinsamen menschlichen Erfahrung der Liebe und der Wahrheit. Wie die sakramentale Liebe die Eheleute geistig als »ein Fleisch« (Gn 2,24 Mt 19,5 Ep 5,31) verbindet und aus den zweien eine echte Einheit in der Beziehung macht, verbindet auf analoge Weise die Wahrheit die Vernunftwesen untereinander und läßt sie im Einklang denken, indem sie sie anzieht und in sich vereint.

[131] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, LG 1.
55 Die christliche Offenbarung über die Einheit des Menschengeschlechts setzt eine metaphysische Interpretation des humanum voraus, in dem die Fähigkeit zur Beziehung ein wesentliches Element darstellt. Auch andere Kulturen und Religionen lehren Brüderlichkeit und Frieden und sind daher für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen von großer Bedeutung. Es fehlen aber nicht religiöse und kulturelle Haltungen, in denen das Prinzip der Liebe und der Wahrheit nicht vollständig angenommen und am Ende so die echte menschliche Entwicklung gebremst oder sogar behindert wird. Die Welt von heute ist von einigen Kulturen mit religiösem Hintergrund durchzogen, die den Menschen nicht zur Gemeinschaft verpflichten, sondern ihn auf der Suche nach dem individuellen Wohl isolieren, indem sie sich darauf beschränken, psychologische Erwartungen zu befriedigen. Auch eine gewisse Verbreitung von religiösen Wegen kleiner Gruppen oder sogar einzelner Personen und der religiöse Synkretismus können Faktoren einer Zerstreuung und eines Mangels an Engagement sein. Ein möglicher negativer Effekt des Globalisierungsprozesses ist die Tendenz, solchen Synkretismus zu begünstigen[132] und dabei Formen von „Religionen“ zu nähren, die die Menschen einander entfremden, anstatt sie einander begegnen zu lassen, und sie von der Wirklichkeit entfernen. Gleichzeitig bleiben mitunter kulturelle und religiöse Vermächtnisse weiter bestehen, die die Gesellschaft in feste soziale Kasten eingrenzen, in Formen von magischem Glauben, die die Würde der Person mißachten, und in Haltungen der Unterwerfung unter okkulte Mächte. Auf dieser Ebene ist es für die Liebe und die Wahrheit schwierig, sich zu behaupten, was Schaden für die echte Entwicklung mit sich bringt.

Wenn es einerseits wahr ist, daß die Entwicklung die Religionen und Kulturen der verschiedenen Völker braucht, ist es aus diesem Grund andererseits ebenso wahr, daß eine angemessene Unterscheidung vonnöten ist. Religionsfreiheit bedeutet nicht religiöse Gleichgültigkeit und bringt nicht mit sich, daß alle Religionen gleich sind.[133] Die Unterscheidung hinsichtlich des Beitrags der Kulturen und Religionen zum Aufbau der sozialen Gemeinschaft in der Achtung des Gemeinwohls ist vor allem für den, der politische Gewalt ausübt, erforderlich. Solche Unterscheidung muß sich auf das Kriterium der Liebe und der Wahrheit stützen. Da die Entwicklung der Menschen und der Völker auf dem Spiel steht, wird sie die Möglichkeit der Emanzipation und der Einbeziehung im Hinblick auf eine wirklich universale Gemeinschaft der Menschen berücksichtigen. »Der ganze Mensch und alle Menschen« sind das Kriterium, um auch die Kulturen und die Religionen zu beurteilen. Das Christentum, die Religion des »Gottes, der ein menschliches Angesicht hat«,[134] trägt in sich selbst ein solches Kriterium.

[132] Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Öffentliche Sitzung der Päpstlichen Akademie für Theologie und der Päpstlichen Akademie des heiligen Thomas von Aquin (8. November 2001), 3: Insegnamenti XXIV, 2 (2001), 676-677.
[133] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche Dominus Jesus (6. August 2000), 22: AAS 92 (2000), 763-764; dies., Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 8: AAS 96 (2004), 369-370.
[134] Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, : a.a.O., 1010; ders., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006), a.a.O., 465-477.


56 Die christliche Religion und die anderen Religionen können ihren Beitrag zur Entwicklung nur leisten, wenn Gott auch im öffentlichen Bereich mit spezifischem Bezug auf die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere politischen Aspekte Platz findet. Die Soziallehre der Kirche ist entstanden, um dieses »Statut des Bürgerrechts«[135] der christlichen Religion geltend zu machen. Die Verweigerung des Rechts, öffentlich die eigene Religion zu bekennen und dafür tätig zu sein, daß auch das öffentliche Leben über die Wahrheiten des Glaubens unterrichtet wird, bringt negative Folgen für die wahre Entwicklung mit sich. Der Ausschluß der Religion vom öffentlichen Bereich wie andererseits der religiöse Fundamentalismus behindern die Begegnung zwischen den Menschen und ihre Zusammenarbeit für den Fortschritt der Menschheit. Das öffentliche Leben verarmt an Motivationen, und die Politik nimmt ein unerträgliches und aggressives Gesicht an. Die Menschenrechte laufen Gefahr, nicht geachtet zu werden, weil sie entweder ihres transzendenten Fundaments beraubt werden oder weil die persönliche Freiheit nicht anerkannt wird. Im Laizismus und im Fundamentalismus verliert man die Möglichkeit eines fruchtbaren Dialogs und einer gewinnbringenden Zusammenarbeit zwischen Vernunft und religiösem Glauben. Die Vernunft bedarf stets der Reinigung durch den Glauben, und dies gilt auch für die politische Vernunft, die sich nicht für allmächtig halten darf. Die Religion bedarf ihrerseits stets der Reinigung durch die Vernunft, um ihr echtes menschliches Antlitz zu zeigen. Der Abbruch dieses Dialogs ist mit einem schwer lastenden Preis für die Entwicklung der Menschheit verbunden.

[135] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus,
CA 5: a.a.O., 798-800; vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006), a.a.O., 471.


57 Der fruchtbare Dialog zwischen Glaube und Vernunft kann nur das Werk der sozialen Nächstenliebe wirksamer machen und bildet den sachgemäßen Rahmen, um die brüderliche Zusammenarbeit zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen in der gemeinsamen Sicht, für die Gerechtigkeit und den Frieden der Menschheit zu arbeiten, zu fördern. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes sagten die Konzilsväter: »Es ist fast einmütige Auffassung der Gläubigen und Nichtgläubigen, daß alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen ist«.[136] Für die Gläubigen ist die Welt nicht das Produkt des Zufalls noch der Notwendigkeit, sondern eines Planes Gottes. Von daher kommt die Pflicht der Gläubigen, ihre Bemühungen mit allen Menschen guten Willens – Angehörige anderer Religionen oder Nichtgläubige – zu vereinen, damit unsere Welt wirklich dem göttlichen Plan entspricht: als eine Familie unter dem Blick des Schöpfers zu leben. Besonderes Zeichen der Liebe und Leitkriterium für die brüderliche Zusammenarbeit von Gläubigen und Nichtgläubigen ist ganz sicher das Prinzip der Subsidiarität,[137] Ausdruck der unveräußerlichen Freiheit des Menschen. Die Subsidiarität ist vor allem eine Hilfe für die Person durch die Autonomie der mittleren Gruppen und Verbände. Solche Hilfe wird geboten, wenn die Person und die sozialen Subjekte es nicht aus eigener Kraft schaffen, und schließt immer emanzipatorische Zielsetzungen ein, da sie die Freiheit und die Partizipation, insofern sie Übernahme von Verantwortung ist, fördert. Die Subsidiarität achtet die Würde der Person, in der sie ein Subjekt sieht, das immer imstande ist, anderen etwas zu geben. Indem sie in der Gegenseitigkeit die innerste Verfassung des Menschen anerkennt, ist die Subsidiarität das wirksamste Gegenmittel zu jeder Form eines bevormundenden Sozialsystems. Sie kann sowohl die vielfache Gliederung der Ebenen und daher der Vielfalt der Subjekte erklären als auch ihre Koordinierung. Es handelt sich demnach um ein besonders geeignetes Prinzip, um die Globalisierung zu lenken und sie auf eine echte menschliche Entwicklung auszurichten. Um nicht eine gefährliche universale Macht monokratischer Art ins Leben zu rufen, muß die Steuerung der Globalisierung von subsidiärer Art sein, und zwar in mehrere Stufen und verschiedene Ebenen gegliedert, da sie die Frage nach einem globalen Gemeingut aufwirft, das zu verfolgen ist; eine solche Autorität muß aber auf subsidiäre und polyarchische Art und Weise organisiert sein,[138] um die Freiheit nicht zu verletzen und sich konkret wirksam zu erweisen.

[136] Nr.
GS 12.
[137] Vgl. Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno (15. Mai 1931), AAS 23 (1931), 203; Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, CA 48: a.a.O., 852-854; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. CEC 1883.
[138] Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: a.a.O., PT 274.


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