Dives in misericordia


Ioannes Paulus PP. II

Dives in misericordia

Über das göttliche Erbarmen


1980.11.30

Segen


Verehrte Brüder, liebe Söhne und Töchter!
Gruss und Apostolischen Segen

I. WER MICH SIEHT, SIEHT DEN VATER

(vgl. Jn 14,9)
1

1. Die Offenbarung des Erbarmens

»GOTT..., DER VOLL ERBARMEN IST«,1 wurde uns von Jesus Christus als Vater geoffenbart: sein Sohn selbst hat ihn uns in sich kundgetan und kennengelehrt.2 Denkwürdig ist die Szene, da Philippus, einer der zwölf Apostel, sich an Jesus wandte mit der Bitte: »Herr, zeig uns den Vater, das genügt uns«, und die Antwort bekam: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.3 Diese Worte wurden während der Abschiedsreden gesprochen, am Ende des Ostermahles, dem dann die Ereignisse jener heiligen Tage folgten, in denen es sich ein für allemal erwiesen hat, daß »Gott..., der voll Erbarmen ist, ... uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht hat«.4

Im Anschluß an die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils und im Blick auf die besonderen Erfordernisse unserer Zeit habe ich die Enzyklika Redemptor Hominis der Wahrheit über den Menschen gewidmet, die uns in ihrer Fülle und Tiefe in Christus offenbar wird. Ein nicht weniger gewichtiges Erfordernis unserer ernsten und keineswegs leichten Zeit drängt mich dazu, mich noch einmal in das Geheimnis Christi zu versenken, um in ihm das Antlitz des Vaters zu entdecken, der der »Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes«5 ist. In der Konstitution Gaudium et Spes lesen wir: »Christus, der neue Adam, macht... dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«, und er tut dies eben »in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe«.6 Diese Worte bezeugen sehr klar, daß der Mensch in der vollen Würde seiner Natur nicht dargestellt werden kann ohne einen - nicht nur theoretischen, sondern ganzheitlich existentiellen - Bezug auf Gott. Der Mensch und seine höchste Berufung werden in Christus durch die Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe offenbar.

Sich diesem Geheimnis zuzuwenden, wird von vielfachen Erfahrungen der Kirche und des zeitgenössischen Menschen nahegelegt; es wird auch von den notvollen Rufen so vieler Menschenherzen, von ihren Leiden und Hoffnungen, ihren Ängsten und Erwartungen gefordert. Wenn es zutrifft, daß in gewissem Sinne jeder Mensch der Weg der Kirche ist - wie ich es in der Enzyklika Redemptor Hominis ausgesprochen habe - , dann sagen uns das Evangelium und die gesamte Tradition zugleich, daß wir diesen Weg mit jedem Menschen so gehen müssen, wie Christus ihn vorgezeichnet hat, indem er in sich selbst den Vater und dessen Liebe offenbarte.7 In Jesus Christus ist jeder Weg zum Menschen - der Kirche ein für allemal im wechselvollen Bild der Zeiten aufgegeben - gleichzeitig ein Weg, der zum Vater und zu seiner Liebe führt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Wahrheit auf unsere Zeit hin neu bekräftigt.

Je mehr sich die Sendung der Kirche auf den Menschen konzentriert, je mehr sie sozusagen anthropozentrisch ist, desto mehr muß sie sich als theozentrisch erweisen und es in Wirklichkeit sein, sich also in Jesus Christus auf den Vater ausrichten. Während verschiedene Geistesströmungen in der Vergangenheit und der Gegenwart dazu neigten und neigen, Theozentrik und Anthropozentrik voneinander zu trennen und sogar in Gegensatz zueinander zu bringen, bemüht sich die Kirche, darin Christus folgend, deren organische, tiefe Verbindung in die Geschichte des Menschen einzubringen. Das ist auch ein Grundgedanke, vielleicht sogar der wichtigste in der Lehre des letzten Konzils. Wenn wir also in der gegenwärtigen Phase der Kirchengeschichte unsere erste Aufgabe darin sehen, die Lehre des großen Konzils zu verwirklichen, so müssen wir uns diesem Grundgedanken mit Glauben, offenem Geist und mit dem Herzen zuwenden. Schon in meiner vorhin erwähnten Enzyklika habe ich versucht hervorzuheben, daß die Vertiefung und vielfache Bereicherung des Wissens um die Kirche - eine Frucht des Konzils - unseren Geist und unser Herz für Christus selbst weiter auftun müssen. Heute möchte ich sagen, daß diese Öffnung auf Christus hin - der als Erlöser der Welt dem Menschen den Menschen voll offenbart - sich nur vollziehen kann in einer immer reiferen Beziehung zum Vater und zu seiner Liebe.

2

2. Die Inkarnation des Erbarmens

Gott, »der in unzugänglichem Licht wohnt«,8 spricht zugleich zum Menschen durch die Sprache des Universums: »Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit«.9 Diese indirekte und unvollkommene Erkenntnis - ein Werk des Verstandes, der Gott durch Vermittlung der Geschöpfe sucht, ausgehend von der sichtbaren Welt - ist noch kein »Sehen des Vaters«. »Niemand hat Gott je gesehen«, schreibt der heilige Johannes, um jener Wahrheit besonderen Nachdruck zu verleihen, daß »Er, der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, (ihn) kundgemacht hat«.10 Diese »Kundmachung« offenbart Gott im unauslotbaren Geheimnis seines einen und dreifaltigen Seins, das von »unzugänglichem Licht«11 umgeben ist. Doch erkennen wir Gott durch die »Kundmachung« Christi vor allem in seiner liebenden Zuwendung zum Menschen, in seiner »Menschen - Freundlichkeit«.12 Gerade hier wird seine »unsichtbare Wirklichkeit« auf besondere Weise »sichtbar« in unvergleichlich höherem Maß als durch all seine anderen »Werke«: sie wird sichtbar in Christus und durch Christus, durch seine Taten und seine Worte und schließlich durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung.

Auf diese Weise - in Christus und durch Christus - wird Gott auch in seinem Erbarmen besonders sichtbar, das heißt: jene göttliche Eigenschaft tritt hervor, die schon das Alte Testament - in verschiedenen Bildern und Ausdrucksweisen - als »Erbarmen« beschrieben hat. Christus gibt der gesamten alttestamentlichen Tradition vom göttlichen Erbarmen eine endgültige Bedeutung. Er spricht nicht nur vom Erbarmen und erklärt es mit Hilfe von Gleichnissen und Parabeln, er ist vor allem selbst eine Verkörperung des Erbarmens, stellt es in seiner Person dar. Er selbst ist in gewissem Sinne das Erbarmen. Für den, der es in ihm sieht - und in ihm findet - , wird Gott in besonderer Weise »sichtbar« als Vater, »der voll Erbarmen ist«.13

Die Mentalität von heute scheint sich vielleicht mehr als die der Vergangenheit gegen einen Gott des Erbarmens zu sträuben und neigt dazu, schon die Idee des Erbarmens aus dem Leben und aus den Herzen zu verdrängen. Das Wort und der Begriff »Erbarmen« scheinen den Menschen zu befremden, der dank eines in der Geschichte vorher nie gekannten wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts Herrscher geworden ist und sich die Erde untertan gemacht und unterjocht hat.14 Dieses Herrschen über die Erde, das zuweilen einseitig und oberflächlich verstanden wird, scheint für das Erbarmen keinen Raum zu lassen. Es ist in diesem Zusammenhang lohnend, auf das Bild von der »Situation des Menschen in der heutigen Welt« zurückzugreifen, wie es am Beginn der Konstitution Gaudium et Spes umrissen wird. Unter anderem lesen wir dort die folgenden Sätze: »So zeigt sich die moderne Welt zugleich stark und schwach, zum Besten befähigt und zum Schlimmsten bereit. Sie hat die Wahl zwischen Freiheit und Sklaverei, Fortschritt und Rückschritt, Brüderlichkeit und Haß. Zudem weiß nun der Mensch, daß es seine Aufgabe ist, jene Kräfte, die er selbst geweckt hat und die ihn zermalmen oder ihm dienen können, richtig zu lenken«.15

Die Lage der Welt von heute weist nicht nur Umwandlungen auf, die zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Menschen auf dieser Erde berechtigen, sondern auch vielfache Bedrohungen, welche über die bisher gekannten weit hinausgehen. Die Kirche muß auf diese Bedrohungen bei entsprechenden Gelegenheiten weiterhin aufmerksam machen (wie in den Ansprachen vor der UNO, der UNESCO, der FAO und anderswo), sie aber auch im Lichte der von Gott empfangenen Wahrheit durchdenken.

In Christus geoffenbart, erlaubt uns die Wahrheit über Gott, den »Vater des Erbarmens«,16 ihn dem Menschen besonders nahe zu »sehen«, und zwar vor allem dann, wenn der Mensch leidet, wenn er im Kern seiner Existenz und seiner Würde bedroht ist. Das ist der Grund, warum sich in der heutigen Situation der Kirche und der Welt viele Menschen und viele Gemeinschaften, von einem lebendigen Glaubenssinn geführt, sozusagen spontan an Gottes Erbarmen wenden. Sie werden dazu sicher von Christus selbst gedrängt, der durch seinen Geist in den Herzen der Menschen am Werk ist. Das von ihm geoffenbarte Geheimnis Gottes als des »Vaters des Erbarmens« wird vor dem Hintergrund der heutigen Bedrohung des Menschen gleichsam ein einzigartiger Appell an die Kirche.

Mit dieser Enzyklika möchte ich auf diesen Appell eingehen; ich möchte aus der zeitlosen, in ihrer Einfachheit und zugleich Tiefe unvergleichlichen Sprache der Offenbarung und des Glaubens schöpfen, um in ihr noch einmal die großen Besorgnisse unserer Zeit vor Gott und den Menschen auszusprechen.

Offenbarung und Glaube lehren uns ja nicht so sehr, abstrakt über das Geheimnis Gottes als des »Vaters des Erbarmens« nachzusinnen, sondern zu diesem Erbarmen unsere Zuflucht zu nehmen, im Namen Christi und in Einheit mit ihm. Hat er etwa nicht gesagt, daß unser Vater, »der auch das Verborgene sieht«,17 sozusagen unablässig darauf wartet, daß wir ihn in jeder Not anrufen und so immer sein Geheimnis ermessen: das Geheimnis des Vaters und seiner Liebe?18

So ist es mein Wunsch, daß die Überlegungen dieser Enzyklika das Geheimnis der väterlich-erbarmenden Liebe Gottes allen näher bringen und zugleich zu einem inständigen Gebet der Kirche um Erbarmen werden, das der Mensch und die Welt von heute so sehr brauchen - und sie brauchen es, auch wenn sie sich dessen oft nicht bewußt sind.

II. DIE MESSIANISCHE BOTSCHAFT


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3. Als Christus zu wirken und zu lehren begann

Vor seinen Landsleuten in Nazaret bezieht sich Christus auf die Worte des Propheten Jesaja: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe«.19 Diese Sätze sind bei Lukas Jesu erste Messias - Offenbarung, der dann die Taten und Worte folgen, die wir aus dem Evangelium kennen. Durch diese Taten und Worte macht Christus den Vater unter den Menschen gegenwärtig. Es ist ungemein bezeichnend, daß diese Menschen vor allem die Armen sind, denen es an Lebensunterhalt fehlt; die, welche ihrer Freiheit beraubt sind; die Blinden, welche die Schönheit der Schöpfung nicht sehen können; die, welche in Trauer und Sorge leben oder unter sozialen Ungerechtigkeiten leiden; und schließlich die Sünder. Vor allem für die Letztgenannten wird der Messias ein besonders verstehbares Zeichen Gottes, der Liebe ist, ein Zeichen des Vaters. In diesem sichtbaren Zeichen können die Menschen von heute ebenso wie die Menschen von damals den Vater sehen.

Es ist aufschlußreich, daß Jesus den von Johannes dem Täufer gesandten Boten auf ihre Frage: »Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?«,20 mit dem gleichen Zeugnis antwortet, mit dem er in Nazaret seine Lehrtätigkeit begonnen hatte: »Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet«, und daß er abschließend hinzufügt: »Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt«.21

Jesus offenbarte insbesondere durch seinen Lebensstil und seine Taten, wie die Liebe, die wirkende Liebe, die Liebe, die sich dem Menschen zuwendet und alles umfängt, was sein Menschsein ausmacht, in unserer Welt gegenwärtig ist.Diese Liebe tritt besonders dort in Erscheinung, wo sie mit Leid, Ungerechtigkeit und Armut in Berührung kommt, mit der konkreten conditio humana, der geschichtlichen Befindlichkeit des Menschen, die auf verschiedene Weise von der physischen und moralischen Begrenztheit und Gebrechlichkeit des Menschen geprägt ist. Gerade wegen der Art und des Bereichs, in denen sich die Liebe kundtut, wird sie in der Sprache der Bibel auch als »Erbarmen« bezeichnet.

Christus offenbart Gott, der Vater ist, der »Liebe ist«, wie sich der heilige Johannes in seinem ersten Brief ausdrücken wird;22 er offenbart Gott, der »voll Erbarmen« ist, wie wir beim heiligen Paulus lesen.23 Diese Wahrheit ist nicht so sehr Gegenstand einer Belehrung, sondern in erster Linie eine Wirklichkeit, die uns durch Christus gegenwärtig wird. Den Vater als Liebe und Erbarmen gegenwärtig zu machen, ist für ihn die grundlegende Verwirklichung seiner Sendung als Messias; das bestätigen die Worte, die er in der Synagoge von Nazaret gesprochen hat und dann vor seinen Jüngern und vor den Boten Johannes' des Täufers.

Im Rahmen dieser Bekundung der Gegenwart Gottes als Vater, Liebe und Erbarmen macht Jesus das Erbarmen zu einem der Hauptthemen seiner Lehrtätigkeit.Wie gewöhnlich, spricht er auch hier vor allem »in Gleichnissen«, da diese das eigentliche Wesen der Dinge besser zum Ausdruck bringen. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Gleichnisse vom verlorenen Sohn24 oder vom barmherzigen Samariter25 oder auch - als Gegensatz dazu - an das Gleichnis vom unbarmherzigen Diener26 zu erinnern. Zahlreich sind die Abschnitte in der Unterweisung Christi, welche die erbarmende Liebe unter immer neuen Gesichtspunkten schildern. Halten wir uns nur den guten Hirten vor Augen auf der Suche nach seinem verlorenen Schaf27 oder die Frau, welche das ganze Haus durchkehrt, um die verlorene Drachme zu finden.28 Diese Themen der Lehre Christi werden besonders vom Evangelisten Lukas behandelt, dessen Evangelium den Ehrennamen »Evangelium des Erbarmens« bekam.

Bei dieser unserer Betrachtung der Verkündigung Jesu tut sich ein entscheidendes Problem auf: die Bedeutung der Ausdrücke und der Inhalt der Begriffe, vor allem der Begriffsinhalt von »Erbarmen« (im Verhältnis zu dem von »Liebe«).Das Erfassen dieser Inhalte ist der Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit des Erbarmens. Und gerade darauf kommt es uns am meisten an. Bevor wir uns allerdings im folgenden Abschnitt unserer Erwägungen diesem Punkt zuwenden und die einzelnen Wortbedeutungen und schließlich den Begriffsinhalt von »Erbarmen« zu klären suchen, ist noch eine Feststellung notwendig: nämlich daß Christus beim Offenbaren der erbarmenden Liebe Gottes gleichzeitig von den Menschen forderte, sich in ihrem Leben ebenfalls von Liebe und Erbarmen leiten zu lassen. Diese Forderung gehört wesenhaft zur messianischen Botschaft und stellt den Kern des evangelischen Ethos dar. Der Meister bringt sie zum Ausdruck sowohl in der Form des Gebotes, das er als »das wichtigste und erste«29 bezeichnet, wie auch in der Form einer Seligpreisung, wenn er in der Bergpredigt ausruft: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden«.30

Der messianischen Botschaft über das Erbarmen eignet somit eine besondere göttlich - menschliche Dimension. Christus wird in Erfüllung der messianischen Prophetien die Inkarnation jener Liebe, welche mit besonderer Eindringlichkeit in ihrer Zuwendung zu den Leidenden, den Unglücklichen und den Sündern sichtbar wird; er macht so den Vater, den Gott »voll Erbarmen«, gegenwärtig und in größerer Fülle offenbar. Dabei wird er für die Menschen zugleich Modell der erbarmenden Liebe zum Nächsten und verkündet so durch die Taten noch mehr als durch seine Worte den Aufruf zum Erbarmen, der eines der wesentlichen Elemente des evangelischen Ethos ist. Es geht hier nicht nur um die Befolgung eines Gebotes oder einer sittlichen Norm, sondern um die Erfüllung einer Grundvoraussetzung dafür, daß Gott dem Menschen sein Erbarmen erweisen kann: »Die Barmherzigen... werden Erbarmen finden«.

III. DAS ALTE TESTAMENT


4 4. Der Begriff »Erbarmen« hat im Alten Testament seine lange und reiche Geschichte. Wir müssen auf sie zurückgreifen, damit das von Christus geoffenbarte Erbarmen in größerer Fülle aufleuchten kann. Als er dieses Erbarmen durch Wort und Tat offenbarte, wandte er sich an Menschen, die nicht nur das Wort Erbarmen kannten, sondern auch als Gottesvolk des Alten Bundes im Lauf einer mehrhundertjährigen Geschichte das Erbarmen Gottes auf besondere Weise erfahren hatten. Diese Erfahrung war sowohl sozial und gemeinschaftlich als auch individuell und innerlich.

Israel war ja das Volk des Bundes mit Gott - eines oft gebrochenen Bundes. Wenn es sich seiner Untreue bewußt wurde - im Lauf der Geschichte Israels fehlte es nicht an Propheten und anderen, welche dieses Bewußtsein weckten - , rief es das Erbarmen an. Die Bücher des Alten Testamentes bringen uns dafür Zeugnisse zur Genüge. Als besonders wichtige Tatsachen und Texte seien angeführt: der Beginn der Geschichte der Richter,31 das Gebet Salomos bei der Einweihung des Tempels,32 ein Teil der Weissagungen Michas,33 die trostvollen Zusicherungen bei Jesaja,34 das flehende Gebet der Juden in der Verbannung,35 die Erneuerung des Bundes nach der Rückkehr aus dem Exil.36

Es ist bedeutsam, daß die Propheten in ihrer Verkündigung das Erbarmen, auf das sie wegen der Sünden des Volkes oft zu sprechen kommen, mit dem eindrucksvollen Bild der Liebe Gottes in Verbindung bringen. Der Herr liebt Israel mit der Liebe einer besonderen Erwählung, ähnlich der Liebe eines Bräutigams;37 deshalb verzeiht er immer wieder seine Schuld, ja seinen Treubruch und Verrat. Findet er Buße und echte Bekehrung, nimmt er sein Volk wieder neu in Gnaden an.38 Bei den Propheten bedeutet Erbarmen eine besondere Kraft der Liebe, die stärker ist als die Sünde und Untreue des auserwählten Volkes.

In diesem weitgespannten »sozialen« Zusammenhang tritt das Erbarmen als entsprechendes Gegenüber der inneren Erfahrung der einzelnen Personen auf, die sich in Schuld verstrickt haben oder Leiden und Unglück aller Art ausgesetzt sind. Sowohl das physische als auch das moralische Übel oder die Sünde veranlassen die Söhne und Töchter Israels, sich an den Herrn zu wenden und sein Erbarmen anzurufen. In solcher Weise - im Wissen um die Schwere seiner Schuld - wendet sich David in ihn.39 An ihn wendet sich nach seinem Aufbegehren auch Ijob in seinem entsetzlichen Unglück;40 an ihn wendet sich Ester im Bewußtsein der tödlichen Gefahr, die ihr Volk bedroht.41 In den Büchern des Alten Testaments finden wir noch weitere Beispiele dieser Art.42

Am Anfang dieser mannigfaltigen gemeinschaftlichen und persönlichen Überzeugung, wie sie vom ganzen Alten Testament im Laufe der Jahrhunderte bestätig wird, steht die grundlegende Erfahrung des auserwählten Volkes in der Zeit des Exodus: der Herr sah das Elend des versklavten Volkes, hörte seine Schreie, erkannte seine Bedrängnis und beschloß, es zu befreien.43 In dieser Rettung durch den Herrn sieht der Prophet dessen Liebe und Mitleid am Werk.44 Hier hat die Sicherheit ihre Wurzeln, mit der das auserwählte Volk und jedes seiner Glieder auf Gottes Erbarmen baut, das man in jeder Bedrängnis anrufen kann.

Dazu kommt die Tatsache, daß das Elend des Menschen, seine »Erbärmlichkeit«, auch in seiner Sünde besteht. Das Bundesvolk kannte dieses Elend schon von den Zeiten des Exodus an, als es das goldene Kalb aufstellte. Über diesen Akt des Bundesbruches hat der Herr triumphiert, als er sich dem Mose feierlich als »ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Güte und Treue« kundtat.45 In dieser zentralen Offenbarung wird das auserwählte Volk und jedes seiner Mitglieder nach jedem Fall in Schuld immer wieder die Kraft und den Beweggrund finden, sich an den Herrn zu wenden, um ihn an das zu erinnern, was er selbst über sich geoffenbart hat,46 und seine Vergebung zu erflehen.

So hat der Herr in seinen Taten und Worten seinem erwählten Volk schon von der Schwelle seiner Geschichte an handelnd und sprechend sein Erbarmen geoffenbart, und dieses Volk hat sich im weiteren Verlauf seiner Geschichte im Unglück wie beim Bewußtwerden seiner Schuld immer wieder dem Gott der Erbarmungen anvertraut. Alle Färbungen der Liebe zeigen sich im Erbarmen des Herrn gegen die Seinen: er ist ihr Vater,47 weshalb Israel sein erstgeborener Sohn ist;48 er ist auch der Bräutigam jener, der vom Propheten ein neuer Name verkündet wird: ruhama, »Wohlgeliebte«, weil ihr Erbarmen widerfahren soll.49

Auch wenn der Herr, durch die Treulosigkeit seines Volkes erbittert, beschließt, es fallen zu lassen, ist seine Zärtlichkeit und seine großherzige Liebe zu den Seinen immer noch stark genug, um ihn seinen Zorn vergessen zu lassen.50 So ist es verständlich, daß dann die Psalmisten, sobald sie das höchste Loblied auf den Herrn anstimmen wollen, den Gott der Liebe besingen, den Gott der Zärtlichkeit, des Erbarmens und der Treue.51

Aus all dem folgt, daß das Erbarmen nicht nur zum Gottesbegriff gehört, sondern das Leben des ganzen Volkes Israel und seiner einzelnen Söhne und Töchter kennzeichnet; es ist der Inhalt der innigen Beziehung zu ihrem Herrn, der Inhalt ihres Gesprächs mit ihm. Gerade in dieser Hinsicht wird das Erbarmen in den einzelnen Büchern des Alten Testaments mit einer Fülle von Ausdrücken beschrieben. Es wäre vielleicht schwierig, in diesen Büchern eine rein theoretische Antwort auf die Frage zu suchen, was das Erbarmen als solches ist. Nichtsdestoweniger sagt die in ihnen verwendete Terminologie schon sehr viel darüber aus.52

Das Alte Testament bedient sich beim Preis des göttlichen Erbarmens vieler bedeutungsverwandter Ausdrücke; sie unterscheiden sich durch die Eigenheit ihres jeweiligen Inhaltes, streben jedoch sozusagen von verschiedenen Richtungen aus einem einzigen Grundinhalt zu, um dessen übersteigenden Reichtum zum Ausdruck und dem Menschen unter verschiedenen Gesichtspunkten näher zu bringen. Das Alte Testament ermutigt die von Unglück Betroffenen, vor allem die Schuldbeladenen - wie auch das ganze Volk Israel, das den Bund mit Gott geschlossen hatte - , das Erbarmen anzurufen und mit ihm zu rechnen; es wird in Zeiten des Falls und der Mutlosigkeit ins Bewußtsein gerufen. Und sooft es sich im Leben des Volkes oder des einzelnen zeigt und verwirklicht, wird es dann Gegenstand von Dank und Lobpreis.

Auf diese Weise wird das Erbarmen in gewisser Hinsicht der göttlichen Gerechtigkeit gegenübergestellt und erweist sich in vielen Fällen nicht nur als stärker, sondern auch als tiefer. Schon in der Lehre des Alten Testamentes ist die Gerechtigkeit zwar eine echte Tugend im Menschen und in Gott die transzendente Vollkommenheit, wird jedoch von der »Größe« der Liebe überragt, insofern diese ursprünglicher und grundlegender ist. Die Liebe motiviert sozusagen die Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit dient letztlich der Liebe. Der Vorrang und die Erhabenheit der Liebe gegenüber der Gerechtigkeit (das ist bezeichnend für die ganze Offenbarung) kommen gerade im Erbarmen zum Ausdruck. Das war den Psalmisten und Propheten so klar, daß sogar das Wort Gerechtigkeit selbst allmählich das vom Herrn gewirkte Heil und sein Erbarmen bedeutete.53 Das Erbarmen unterscheidet sich von der Gerechtigkeit, steht jedoch nicht im Widerspruch zu ihr, wenn wir, wie es eben das Alte Testament tut, in der Geschichte des Menschen die Gegenwart Gottes anerkennen, der sich schon als Schöpfer seinem Geschöpf in besonderer Liebe verbunden hat. Die Liebe schließt von ihrem Wesen her Haß und Übelwünschen dem gegenüber aus, dem sie sich einmal zum Geschenk gemacht hat: Nihil odisti eorum quae fecisti, »du... verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast«.54 Diese Worte weisen auf das tiefe Fundament der Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Erbarmen in Gott - in seiner Zuwendung zum Menschen und zur Welt. Sie bedeuten, daß wir die belebenden Wurzeln und die innigsten Motive dieses Verhältnisses suchen und zum »Anfang«, auf das Schöpfungsgeheimnis selbst zurückgehen müssen. Schon im Alten Bund verheißen diese Worte die volle Offenbarung Gottes, der »Liebe ist«.55

Mit dem Geheimnis der Schöpfung ist das Geheimnis der Erwählung verbunden, das in besonderer Weise die Geschichte jenes Volkes geprägt hat, dessen geistlicher Vater Abraham kraft seines Glaubens ist. Durch dieses Volk, dessen Weg entlang der Geschichte des Alten sowie des Neuen Bundes führt, richtet sich das Geheimnis der Erwählung an jeden Menschen, an die ganze Menschheitsfamilie. »Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt«.56 »Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen... - meine Gnade wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken«.57 Diese Wahrheit, einst Israel verkündet, trägt in sich die Perspektive der ganzen Geschichte des Menschen: eine Perspektive, die zugleich zeitlich und endzeitlich ist.58 Christus offenbart den Vater in der gleichen Perspektive einer schon vorbereiteten Hörerschaft, wie die Schriften des Alten Testaments an vielen Stellen beweisen. Beim Abschluß dieses Offenbarens am Vorabend seines Todes spricht er zum Apostel Philippus die denkwürdigen Worte: »Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt...? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.59

IV. DAS GLEICHNIS VOM VERLORENEN SOHN


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5. Der Vergleich

Schon an der Schwelle zum Neuen Testament wird im Evangelium des heiligen Lukas eine einzigartige Entsprechung zwischen zwei Beschreibungen des göttlichen Erbarmens hörbar, in der die gesamte Tradition des Alten Testamentes machtvoll widerhallt. Hier finden die semantischen Inhalte der differenzierten Terminologie der alttestamentlichen Bücher ihren Niederschlag. Wir sehen Maria, die das Haus des Zacharias betritt und aus ganzer Seele den Herrn preist für »sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht über denen, die ihn fürchten«. Gleich darauf erwähnt sie Gottes Huld für Israel und rühmt die Erwählung Israels, »das Erbarmen«, an das er, sein Erwähler, eh und je »denkt«.60 Später, im selben Haus, lobpreist bei der Geburt Johannes' des Täufers dessen Vater Zacharias den Gott Israels und verherrlicht sein »Erbarmen mit unseren Vätern«, und daß er »seines heiligen Bundes gedachte«.61

In der Lehre Christi wird das vom Alten Testament übernommene Bild vereinfacht und zugleich vertieft. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Parabel vom verlorenen Sohn,62 wo das Wesen des göttlichen Erbarmens besonders deutlich aufleuchtet (wenn auch das Wort »Erbarmen« im Urtext nicht vorkommt). Dazu trägt nicht so sehr, wie in den alttestamentlichen Büchern, die Terminologie bei, sondern vielmehr die Analogie, der Vergleich, der es möglich macht, das Geheimnis des Erbarmens vollständiger zu erfassen, das sich wie ein tiefes Drama zwischen der Liebe des Vaters und der Verlorenheit und Sünde des Sohnes ereignet.

Dieser Sohn, der vom Vater das ihm zustehende Erbteil erhält und von zuhause weggeht, um es in einem fernen Land mit seinem »zügellosen Leben« zu verschleudern, ist in gewisser Hinsicht der Mensch aller Zeiten, angefangen von dem, der als erster das Erbteil der Gnade und der Gerechtigkeit des Urstandes verlor. Die Analogie ist hier sehr weitgespannt. Die Parabel bezieht sich indirekt auf jeden Bruch des Liebesbundes, auf jeden Verlust der Gnade, auf jede Sünde. In dieser Analogie wird weniger die Untreue des Volkes Israel hervorgehoben, als dies in der Tradition der Propheten der Fall war, obwohl auch sie mitgemeint sein kann. Als dieser Sohn »alles durchgebracht hatte, ging es ihm sehr schlecht«, um so mehr als »in dem Land«, in das er sich nach Verlassen des väterlichen Hauses begeben hatte, »eine große Hungersnot ausgebrochen war«. In dieser Lage »hätte er gerne seinen Hunger gestillt«, ganz gleich womit, sogar »mit den Futterschoten, die die Schweine fraßen«, welche er für »einen Bürger des Landes« auf dem Feld hütete. Aber selbst das wurde ihm verweigert.

Die Analogie verlagert sich eindeutig auf das Innere des Menschen. Das Vermögen, welches der Sohn vom Vater empfangen hatte, war eine Quelle materieller Güter; aber wichtiger als diese Güter war seine Würde als Sohn im Haus des Vaters.Die Lage, in der er sich nach dem Verlust der materiellen Güter vorfand, mußte ihm den Verlust dieser Würde zum Bewußtsein bringen. Früher, als er vom Vater sein Erbteil verlangte, um fortzugehen, hatte er daran nicht gedacht. Anscheinend denkt er auch jetzt noch nicht daran, wenn er zu sich selbst sagt: »Wieviele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um«. Er mißt sich mit dem Maß der Güter, die er verloren hat, die er nicht mehr »besitzt«, während die Tagelöhner im Haus seines Vaters sie »besitzen«. Aus seinen Worten spricht vor allem seine Ausrichtung auf die materiellen Güter. Nichtsdestoweniger verbirgt sich unter ihrer Oberfläche das Drama der verlorenen Würde, das Wissen um die leichtsinnig zerstörte Sohnschaft.

So faßt er denn den Entschluß: »Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner«.63 Diese Worte rücken das Kernproblem vollends ins Licht. Der materielle Engpaß, in den der verlorene Sohn durch seine Leichtfertigkeit und seine Sünde geraten war, hatte in ihm den Sinn für seine - jetzt verlorene - Würde zum Reifen gebracht. Sein Entschluß, in das väterliche Haus zurückzukehren und den Vater um Aufnahme zu bitten - nicht aufgrund der Rechte eines Sohnes, sondern als Tagelöhner - , scheint äußerlich durch den Hunger und das Elend veranlaßt, in die er gefallen war; diesen Beweggrund durchdringt jedoch das Wissen um einen viel tieferen Verlust: ein Tagelöhner im Haus des eigenen Vaters zu sein, ist sicher eine große Demütigung und Schande. Dennoch ist der verlorene Sohn bereit, diese Demütigung und Schande auf sich zu nehmen. Er ist sich klar darüber, daß er kein anderes Recht mehr hat als das, im Haus des Vaters Tagelöhner zu sein. Er faßt seinen Entschluß im vollen Bewußtsein dessen, was er verdient hat und worauf er nach den Normen der Gerechtigkeit noch Anspruch erheben kann. Gerade diese Überlegung beweist, daß in der Tiefe des Gewissens des verlorenen Sohnes der Sinn für die verlorene Würde auftaucht, für jene Würde, die dem Verhältnis des Sohnes zum Vater entspringt. Mit diesem Entschluß macht er sich auf den Weg.

In der Parabel vom verlorenen Sohn wird kein einziges Mal das Wort »Gerechtigkeit« verwendet; gleiches gilt - im Urtext - für das Wort »Erbarmen«. Aber das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Liebe, die sich als Erbarmen kundtut, ist dem Inhalt der evangelischen Parabel in großer Genauigkeit eingeschrieben. Sie macht deutlich, daß die Liebe zum Erbarmen wird, wenn es gilt, die - genaue und oft zu enge - Norm der Gerechtigkeit zu überschreiten. Nachdem der verlorene Sohn das vom Vater erhaltene Vermögen aufgebraucht hat und ins väterliche Haus zurückgekehrt ist, kann er nur beanspruchen, sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienen zu dürfen und eventuell nach und nach zu einem gewissen materiellen Besitz zu kommen, der in seiner Größe aber vielleicht nie mehr an den heranreichen wird, den er verschleudert hat. Mehr kann er nicht beanspruchen in der Ordnung der Gerechtigkeit, umso weniger, als er nicht nur den ihm zustehenden Vermögensanteil vergeudet, sondern durch sein ganzes Verhalten auch den Vater verletzt und beleidigt hat. Dieses Verhalten, das ihn nach seinem eigenen Urteil die Würde eines Sohnes gekostet hat, konnte ja dem Vater nicht gleichgültig sein; es mußte ihm Schmerz bereiten und ihn in gewisser Hinsicht auch mit hineinziehen. Und doch, letzten Endes ging es um den eigenen Sohn, und diese Beziehung konnte durch keinerlei Verhalten gestört oder getroffen werden. Der verlorene Sohn ist sich dessen bewußt, und gerade dieses Wissen läßt ihn den Verlust seiner Würde klar erkennen und den Platz richtig einschätzen, der ihm im Haus des Vaters noch zustehen konnte.


Dives in misericordia