Dives in misericordia 12

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12. Genügt die Gerechtigkeit

Es ist nicht schwer festzustellen, daß in der heutigen Welt wieder ein Sinn für Gerechtigkeit erwacht ist; er ist weit verbreitet und rückt zweifellos all das ins Bewußtsein, was im Widerspruch zur Gerechtigkeit steht: sei es im Verhältnis zwischen den Menschen, den sozialen Gruppierungen oder den »Klassen«, sei es zwischen den einzelnen Völkern und Staaten, sei es schließlich zwischen politischen Systemen als solchen, ja zwischen sogenannten »Welten«. Diese tiefgreifende und vielfältige Tendenz, an deren Basis das menschliche Bewußtsein unserer Zeit die Gerechtigkeit gestellt hat, bezeugt den ethischen Charakter der Spannungen und Kämpfe, die sich über die Erde ziehen.

Die Kirche teilt mit den Menschen unserer Zeit diesen tiefen, brennenden Wunsch nach einem in jeder Hinsicht gerechten Leben und versäumt es nicht, die verschiedenen Aspekte der Gerechtigkeit, wie sie das Leben der Menschen und der Gesellschaftsgruppen fordert, zu durchdenken. Das bestätigt der Bereich der katholischen Soziallehre, die sich im Lauf der letzten hundert Jahre machtvoll entwickelt hat. Nach den Prinzipien dieser Lehre richten sich sowohl die Erziehung und die Bildung des menschlichen Gewissens im Geist der Gerechtigkeit als auch die einzelnen Initiativen, insbesondere auf dem Gebiet des Laienapostolats, die sich ebenfalls in diesem Geist entfalten.

Man kann jedoch schwerlich darüber hinwegsehen, daß die Programme, die von der Idee der Gerechtigkeit ausgehen und deren Verwirklichung im Zusammenleben der Menschen, der menschlichen Gruppen und Gesellschaften dienen sollen, in der Praxis oft arg entstellt werden. Obwohl sie sich dann weiter auf die Idee der Gerechtigkeit berufen, gewinnen - so lehrt die Erfahrung - negative Kräfte, wie etwa Groll, Haß oder gar Grausamkeit die Oberhand. In diesem Fall wird das Verlangen, den Feind zu vernichten, seine Freiheit einzuschränken oder ihm eine vollständige Abhängigkeit aufzuerlegen, zum eigentlichen Beweggrund des Handelns; dies widerspricht dem Ursinn von Gerechtigkeit, die ihrem Wesen nach darauf abzielt, Gleichheit und Gleichstellung zwischen den streitenden Parteien zu erreichen. Diese Art Mißbrauch der Gerechtigkeitsidee und die praktische Verfälschung der Gerechtigkeit beweisen, wie weit sich das menschliche Handeln von der Gerechtigkeit entfernen kann, selbst wenn es in ihrem Namen begonnen wurde. Nicht umsonst beanstandete Jesus bei seinen Zuhörern, die den Lehren des Alten Testaments treu waren, die Haltung, die in dem Spruch zum Ausdruck kommt: »Auge für Auge und Zahn für Zahn«.111 Das war die damalige Form, die Gerechtigkeit zu verfälschen, und die heutigen haben sie zum Modell. Es ist ja offensichtlich, daß im Namen einer sogenannten Gerechtigkeit (z.B. einer geschichtlichen oder Klassengerechtigkeit) manchmal der Nächste vernichtet, getötet, seiner Freiheit oder der elementarsten Menschenrechte beraubt wird. Die Erfahrung der Vergangenheit und auch unserer Zeit lehrt, daß die Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja, zur Verneinung und Vernichtung ihrer selbst führen kann, wenn nicht einer tieferen Kraft - der Liebe - die Möglichkeit geboten wird, das menschliche Leben in seinen verschiedenen Bereichen zu prägen. Gerade die geschichtliche Erfahrung hat, unter anderem, zur Formulierung der Aussage geführt: summum ius, summa iniuria - höchstes Recht, höchstes Unrecht. Diese Behauptung entwertet die Gerechtigkeit nicht, noch verringert sie die Bedeutung der Ordnung, die sich auf sie aufbaut; sie weist nur unter einem anderen Aspekt auf die Notwendigkeit hin, aus jenen noch tieferen Quellen des Geistes zu schöpfen, denen sich die Ordnung der Gerechtigkeit selber verdankt.

Das Bild der Generation, der wir angehören, vor Augen, teilt die Kirche die Unruhe so vieler Zeitgenossen. Besorgniserregend ist außerdem das Verblassen vieler fundamentaler Werte, die ein unbestreitbares Gut nicht nur der christlichen, sondern ganz einfach der menschlichen Moral, der moralischen Kultur darstellen, wie etwa die Achtung des menschlichen Lebens vom Augenblick der Empfängnis an, die Achtung der Ehe in ihrer unauflöslichen Einheit, die Achtung des Dauercharakters der Familie. Die sittliche Freizügigkeit verletzt vor allem diesen empfindlichsten Bereich des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Auf der gleichen Linie liegen die Krise der Wahrheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, der Mangel an Verantwortungsbewußtsein im Reden, die nur auf Nützlichkeit ausgerichtete Beziehung von Mensch zu Mensch, das Fehlen des Sinnes für echtes Gemeinwohl und die Leichtigkeit, mit der dieses seinem Zweck entfremdet wird. Schließlich ist noch die Verdrängung des Sakralen zu nennen, die oft zur Verdrängung des Menschlichen wird: der Mensch und die Gesellschaft, denen nichts »heilig« ist, sind - allem Anschein zum Trotz - dem moralischen Verfall preisgegeben.

VII. DAS ERBARMEN GOTTES IN DER SENDUNG DER KIRCHE


Im Zusammenhang mit diesem Bild unserer Generation, das unvermeidlich tiefe Unruhe hervorruft, erinnern wir uns der Worte, die aus Anlaß der Menschwerdung des Gottessohnes im Magnifikat Marias erklangen und das Erbarmen »von Geschlecht zu Geschlecht« preisen. Die Kirche unserer Zeit muß sich, indem sie die Ausdruckskraft dieser inspirierten Worte stets im Herzen bewahrt und sie auf die Erfahrungen und Leiden der großen Menschheitsfamilie anwendet, der Notwendigkeit tiefer und eingehender bewußt werden, in ihrer ganzen Sendung, auf den Spuren der Tradition des Neuen und des Alten Bundes und vor allem auf den Spuren Jesu Christi und seiner AposteI, für das Erbarmen Gottes Zeugnis abzulegen. Die Kirche muß für das Erbarmen Gottes, das Christus in seiner gesamten messianischen Sendung offenbart hat, Zeugnis ablegen, indem sie es zunächst als heilbringende Glaubenswahrheit bekennt, die zugleich für ein Leben notwendig ist, das mit dem Glauben übereinstimmen soll, und dann sucht, dieses Erbarmen sowohl in das Leben ihrer Gläubigen als auch nach Möglichkeit in das aller Menschen guten Willens einzuführen und dort Fleisch werden zu lassen. Schließlich hat die Kirche, indem sie dieses Erbarmen bekennt und ihm allzeit treu bleibt, das Recht und die Pflicht, sich auf das Erbarmen Gottes zu berufen und es angesichts aller Erscheinungsformen von physischem und moralischem Übel, angesichts aller Bedrohungen, die über dem gesamten Horizont des Lebens der heutigen Menschheit lasten, zu ergehen.

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13. Die Kirche bekennt und verkündet das Erbarmen Gottes

Die Kirche muß das göttliche Erbarmen in all seiner Wahrheit, wie sie uns die Offenbarung überliefert hat, bekennen und verkünden. Auf den vorhergehenden Seiten dieses Dokumentes haben wir versucht, diese Wahrheit, die die gesamte Heilige Schrift und die Tradition der Kirche so vielfältig bezeugen, wenigstens in großen Linien darzulegen. Im täglichen Leben der Kirche klingt die Wahrheit vom Erbarmen Gottes, wie sie in der Bibel zum Ausdruck kommt, ständig in zahlreichen Lesungen der heiligen Liturgie an. Das echte Glaubensbewußtsein des Volkes Gottes nimmt sie wahr, wie verschiedene Formen der persönlichen und der gemeinschaftlichen Frömmigkeit bezeugen. Es wäre sicher schwierig, sie alle hier aufzuzählen und zusammenzufassen, sind sie doch zum größten Teil im Innersten der Herzen und Gedanken der Menschen lebendig eingeprägt. Wenn einige Theologen sagen, daß das Erbarmen unter den Attributen und Vollkommenheiten Gottes das wichtigste ist, so liefern dafür die Bibel, die Tradition und das ganze Glaubensleben des Volkes Gottes ihre besonderen Zeugnisse. Es handelt sich hierbei nicht um die Vollkommenheit des unerforschlichen Wesens Gottes im Geheimnis der Gottheit als solcher, sondern um die Vollkommenheit und das Attribut, durch das der Mensch in der tiefsten Wahrheit seiner Existenz dem lebendigen Gott besonders oft und nahe begegnet. Nach den Worten Christi an Philippus112 findet die Anschauung des Vaters - eine Schau Gottes im Glauben - gerade in der Begegnung mit seinem Erbarmen eine einzigartige Gestalt innerer Einfachheit und Wahrheit, jener ähnlich, die wir im Gleichnis vom verlorenen Sohn finden.

»Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.113 Die Kirche bekennt das Erbarmen Gottes, sie lebt davon in ihrer reichen Glaubenserfahrung und auch in ihrer Lehre, indem sie unablässig Christus betrachtet und sich auf ihn ausrichtet, auf sein Leben und sein Evangelium, auf sein Kreuz und seine Auferstehung, auf sein Geheimnis insgesamt. Alles was zur »Anschauung« Christi im lebendigen Glauben und in der Lehre der Kirche gehört, bringt uns der »Anschauung des Vaters« in der Heiligkeit seines Erbarmens näher. Die Kirche bekennt und verehrt das Erbarmen Gottes, so will es scheinen, auf besondere Weise, indem sie sich an Christi Herz wendet. Tatsächlich erlaubt uns gerade die Hinwendung zu Christus im Geheimnis seines Herzens, bei diesem Thema der Offenbarung, der erbarmenden Liebe des Vaters, zu verweilen, das den innersten Kern der messianischen Sendung des menschgewordenen Gottessohnes ausmacht: ein zentraler Punkt und gleichzeitig der dem Menschen am leichtesten zugängliche.

Die Kirche lebt ein authentisches Leben, wenn sie das Erbarmen bekennt und verkündet - das am meisten überraschende Attribut des Schöpfers und des Erlösers - und wenn sie die Menschen zu den Quellen des Erbarmens des Heilandes führt, welche sie hütet und aus denen sie austeilt. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der ständigen Betrachtung des Wortes Gottes zu und vor allem der bewußten, mit innerer Reife vollzogenen Feier der Eucharistie und des Sakraments der Buße oder Versöhnung. Die Eucharistie nähert uns ja immer mehr jener Liebe, die mächtiger ist als der Tod: »Sooft wir von diesem Brot essen und aus diesem Kelch trinken«, verkünden wir nicht nur den Tod des Erlösers, sondern auch seine Auferstehung, »bis er kommt« in Herrlichkeit.114 Die gleiche Eucharistiefeier, die zum Gedächtnis dessen gefeiert wird, der uns in seiner messianischen Sendung durch sein Wort und sein Kreuz den Vater geoffenbart hat, beweist die unerschöpfliche Liebe, durch die er immer danach strebt, sich mit uns zu verbinden und mit uns einszuwerden, indem er allen Menschenherzen entgegenkommt. Das Sakrament der Buße oder Versöhnung ebnet dabei den Weg zu jedem Menschen selbst dann, wenn er mit schwerer Schuld beladen ist. In diesem Sakrament kann jeder Mensch auf einzigartige Weise das Erbarmen erfahren, das heißt die Liebe, die mächtiger ist als die Sünde. Darüber wurde bereits in der Enzyklika Redemptor Hominis gesprochen; es ist jedoch sinnvoll, noch einmal auf dieses grundlegende Thema einzugehen.

Gerade weil es die Sünde in der Welt gibt, die »Gott so sehr geliebt hat, daß er seinen einzigen Sohn hingab«,115 kann Gott, der »die Liebe«116 ist, sich nicht anders denn als Erbarmen offenbaren. Dieses Erbarmen entspricht nicht nur der tiefsten Wahrheit jener Liebe, die Gott ist, sondern auch der ganzen inneren Wahrheit des Menschen und der Welt, seiner derzeitigen Heimat.

Das Erbarmen als solches ist als Vollkommenheit des unendlichen Gottes auch selbst unendlich. Unendlich und unerschöpflich ist daher die Bereitschaft des Vaters, die verlorenen Söhne aufzunehmen, die zu seinem Hause zurückkehren. Unendlich sind die Bereitschaft und die Macht der Vergebung, die unablässig aus dem wunderbaren Wert des Opfers des Sohnes hervorgehen. Keine menschliche Sünde kann diese Macht bezwingen oder auch nur einschränken. Von seiten des Menschen kann sie nur der Mangel an gutem Willen, der Mangel an Bereitschaft zur Bekehrung und zur Buße, also die hartnäckige Verstockung einschränken, die sich der Gnade und der Wahrheit widersetzt, besonders vor dem Zeugnis des Kreuzes und der Auferstehung Christi.

Die Kirche bekennt und verkündet also die Bekehrung. Die Bekehrung zu Gott ist immer ein Entdecken seines Erbarmens, jener Liebe also, die nach dem Maßstab des Schöpfers und Vaters langmütig und wohlwollend117 ist: jener Liebe, der »der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn«,118 in der Geschichte des Bundes mit dem Menschen treu ist bis zum Äußersten, bis zum Kreuz, zum Tod und zur Auferstehung seines Sohnes. Die Bekehrung zu Gott ist immer Frucht des »Wiederfindens« dieses Vaters, der voll des Erbarmens ist.

Die wahre Kenntnis Gottes in seinem Erbarmen und seiner wohlwollenden Liebe ist eine ununterbrochene und nie versiegende Quelle der Bekehrung, die nicht als nur vorübergehender innerer Akt zu verstehen ist, sondern als ständige Haltung, als Zustand der Seele. Denn wer Gott auf diese Weise kennenlernt, ihn so »sieht«, kann nicht anders, als in fortwährender Bekehrung zu ihm zu leben. Er lebt also in statu conversionis, im Zustand der Bekehrung; gerade diese Haltung stellt das tiefste Element der Pilgerfahrt jedes Menschen auf dieser Erde in statu viatoris, im Zustand des Unterwegs-seins, dar Selbstverständlich bekennt die Kirche das Erbarmen Gottes, das im gekreuzigten und auferstandenen Christus geoffenbart wurde, nicht nur mit den Worten ihrer Lehre, sondern vor allem mit dem lebendigen Pulsschlag des ganzen Volkes Gottes. Durch dieses Lebenszeugnis erfüllt die Kirche die dem Volk Gottes eigene Mission, die an der messianischen Sendung Christi teilhat und diese in gewissem Sinne fortsetzt.

Die Kirche von heute ist sich voll bewußt, daß sie nur dann die aus der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils entstehenden Aufgaben verwirklichen kann, wenn sie sich auf das Erbarmen Gottes stützt; das gilt in erster Linie von der ökumenischen Aufgabe, welche die Einheit aller anstrebt, die sich zu Christus bekennen. Indem die Kirche zahlreiche Bemühungen in diesem Sinn unternimmt, bekennt sie demütig, daß nur die Liebe, die mächtiger ist als die Schwäche der menschlichen Uneinigkeit, jene Einheit endgültig verwirklichen kann, um die Christus den Vater anflehte und die der Heilige Geist unablässig »mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können«,119 erbittet.

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14. Die Kirche sucht das Erbarmen zu verwirklichen

Jesus Christus hat gelehrt, daß der Mensch das Erbarmen Gottes nicht nur empfängt und erfährt, sondern auch berufen ist, an seinen Mitmenschen »Erbarmen zu üben«: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden«.120 Die Kirche sieht in diesen Worten einen Aufruf zum Handeln und bemüht sich, Erbarmen zu üben. Obwohl alle Seligpreisungen der Bergpredigt den Weg der Bekehrung und der Lebensänderung weisen, ist die von den Barmherzigen hierin besonders sprechend. Der Mensch hat Zugang zur erbarmenden Liebe Gottes, zu seinem Erbarmen, im Maß und insofern er sich selbst innerlich von diesem Geist der Liebe zum Nächsten umwandeln läßt.

Dieser wahrhaft evangelische Prozeß ist mehr als eine ein für allemal verwirklichte geistliche Umkehr; er ist ein Lebensstil, ein wesentliches und immerwährendes Kennzeichen der christlichen Berufung. Er besteht in der ständigen Entdeckung und ausdauernden Verwirklichung der Liebe als einigender und zugleich erhebender Kraft - allen psychologisch oder sozial bedingten Schwierigkeiten zum Trotz; es handelt sich um eine erbarmende Liebe, die ihrem Wesen nach schöpferisch ist. Die erbarmende Liebe ist in den zwischenmenschlichen Beziehungen nie ein einseitiger Akt oder Prozeß. Selbst dort, wo allem Anschein nach nur ein Teil gibt und hingibt und der andere nur empfängt und nimmt (z.B. im Fall des Arztes, der behandelt; des Lehrers, der unterrichtet; der Eltern, die die Kinder ernähren und erziehen; des Wohltäters, der die Bedürftigen unterstützt), wird tatsächlich auch der Geber immer zum Beschenkten. Auch kann er leicht selbst in die Lage dessen kommen, der empfängt, dem eine Wohltat zuteil wird, der die erbarmende Liebe erfährt, der Gegenstand von Erbarmen wird.

Der gekreuzigte Christus ist uns hierin im Höchstmaß Beispiel, Anregung und Aufruf. Auf dieses ergreifende Vorbild schauend, können wir in aller Demut den anderen Erbarmen erweisen, wohl wissend, daß Christus es als ihm selbst erwiesen annimmt.121 Dieses Vorbild ins Auge fassend, müssen wir auch ständig all jene Handlungen und Absichten läutern, in denen wir das Erbarmen nur in einer Richtung, nur als Wohltat für den anderen auffassen und üben, während ein echter Akt erbarmender Liebe die Überzeugung in uns voraussetzt, daß wir zugleich von denen Erbarmen empfangen, denen wir es erweisen. Fehlt diese Gegenseitigkeit, dann sind weder unsere Handlungen echte Akte des Erbarmens, noch hat sich in uns die Bekehrung restlos vollzogen, deren Weg uns Christus mit seinem Wort und Beispiel bis zum Kreuz gewiesen hat, noch haben wir schon vollen Anteil an dem wunderbaren Quell der erbarmenden Liebe, den er uns erschlossen hat.

So ist also der Weg, den Christus uns in der Bergpredigt mit der Seligpreisung der Barmherzigen gewiesen hat, viel reicher, als es manche allgemein übliche Ansichten über das Erbarmen wahrhaben wollen. Diese Ansichten sehen im Erbarmen einen Akt oder Vorgang, der nur in eine Richtung geht und zwischen dem, der es übt, und dem, der damit beschenkt wird, zwischen dem, der das Gute tut, und dem, der empfängt, einen Abstand voraussetzt und aufrecht erhält. Aus dieser Sicht ergibt sich die Anmaßung, die zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen vom Erbarmen zu befreien und ausschließlich auf die Gerechtigkeit zu gründen. Solchem Denken über das Erbarmen entgeht das fundamentale Band zwischen Erbarmen und Gerechtigkeit, von dem die ganze biblische Tradition und noch mehr die messianische Sendung Jesu Christi spricht. Das echte Erbarmen ist sozusagen die tiefste Quelle der Gerechtigkeit. Ist es der letzteren gegeben, zwischen den Menschen nach Gebühr »Recht zu sprechen«, wenn sie die Sachgüter verteilen und tauschen, so ist die Liebe und nur die Liebe (auch jene gütige Liebe, die wir als »Erbarmen« bezeichnen) fähig, den Menschen sich selbst zurückzugeben.

Das wahrhaft christliche Erbarmen ist in gewisser Hinsicht auch die vollkommenste Inkarnation der »Gleichheit« unter den Menschen und daher auch die vollkommenste Inkarnation der Gerechtigkeit, insofern auch diese in ihrem Bereich das gleiche Ergebnis anstrebt. Die von der Gerechtigkeit bewirkte Gleichheit beschränkt sich jedoch auf den Bereich der äußeren, der Sachgüter, während Liebe und Erbarmen die Menschen dazu bringen, einander in dem Wert zu begegnen, den der Mensch selbst in der ihm eigenen Würde darstellt. Auch löscht die von der »langmütigen« und »gütigen«122 Liebe geschaffene Gleichheit unter den Menschen die Unterschiede keineswegs aus: wer gibt, wird hochherziger, wenn er sich gleichzeitig von dem beschenkt fühlt, der seine Gabe empfängt; umgekehrt leistet der Empfänger, der die Gabe in dem Bewußtsein anzunehmen weiß, daß er mit diesem Annehmen etwas Gutes tut, seinerseits einen Beitrag in dem großen Anliegen der personalen Würde und hilft so, die Menschen in tiefere Verbindung zueinander zu bringen.

Mithin wird das Erbarmen zu einem unerläßlichen Element, sollen die Beziehungen der Menschen zueinander vom Geist höchster Achtung des wahrhaft Menschlichen und gegenseitiger Brüderlichkeit geprägt werden. Es ist unmöglich, dieses Band unter den Menschen zu knüpfen, wenn ihre Beziehungen zueinander keinen anderen Maßstab kennen als den der Gerechtigkeit. Diese muß in allen Bereichen zwischenmenschlicher Beziehung sozusagen eine tiefgreitende »Korrektur« erfahren: durch die Liebe, welche nach dem Hohen Lied des heiligen Paulus »langmütig« und »gütig« ist oder, anders ausgedrückt, die für das Evangelium und das Christentum so wesentlichen Züge des Erbarmens trägt. Wir wollen darüber hinaus daran erinnern, daß die erbarmende Liebe auch jene herzliche Zärtlichkeit und Empfindsamkeit in sich schließt, die uns im Gleichnis vom verlorenenen Sohn so eindrucksvoll vor Augen geführt wird123 oder auch in denen vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme.124 Am wenigsten darf die erbarmende Liebe zwischen denen fehlen, die einander am nächsten sind: Ehegatten, Eltern und Kinder, Freunde; unerläßlich ist sie auch im Erziehungswesen und in der Seelsorge.

Ihre Ausstrahlung reicht aber weiter. Wenn Paul VI. mehrmals von der »Kultur der Liebe«125 als dem Ziel gesprochen hat, auf das alle Anstrengungen auf sozialem und kulturellem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet ausgerichtet sein müssen, so ist hier hinzuzufügen, daß dieses Ziel unerreichbar bleibt, solange wir in den weiten und verflochtenen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens mit unseren Entwürfen und Maßnahmen haltmachen bei »Auge für Auge und Zahn für Zahn«126 und nicht darum bestrebt sind, diesen Grundsatz umzuformen, zu ergänzen durch einen neuen Geist. In diese Richtung weist zweifellos auch das Zweite Vatikanische Konzil, wenn es wiederholt von der Notwendigkeit spricht, die Welt menschlicher zu machen,127 und die Mission der Kirche in der heutigen Welt eben in der Verwirklichung dieser Aufgabe sieht. Die Welt der Menschen kann nur dann immer menschlicher werden, wenn wir in den vielgestaltigen Bereich der zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen zugleich mit der Gerechtigkeit jene »erbarmende Liebe« hineintragen, welche die messianische Botschaft des Evangeliums ausmacht.

Die Welt der Menschen kann nur dann »immer menschlicher« werden, wenn wir in alle gegenseitigen Beziehungen, die ihr geistiges Antlitz prägen, das Element des Verzeihens einbringen, welches für das Evangelium so wesentlich ist. Das Verzeihen bezeugt, daß in der Welt eine Liebe gegenwärtig ist, die stärker ist als die Sünde. Es ist darüber hinaus die Grundbedingung für die Versöhnung, nicht nur in den Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen, sondern auch in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den Menschen. Eine Welt ohne Verzeihen wäre eine Welt kalter und ehrfurchtsloser Gerechtigkeit, in deren Namen jeder dem anderen gegenüber nur seine Rechte einfordert; so könnten die verschiedenen Formen des Egoismus, die im Menschen schlummern, das Leben und Zusammenleben der Menschen in ein System der Unterdrückung der Schwächeren durch die Stärkeren oder in einen Schauplatz ständigen Kampfes der einen gegen die anderen verwandeln.

Die Kirche muß es daher in jedem geschicht lichen Zeitalter, aber besonders in unserem als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachten, das Geheimnis des Erbarmens, das uns in Christus aufstrahlt, zu verkünden und ins Leben hineinzutragen. Dieses Geheimnis ist nicht nur für die Kirche selbst als Gemeinschaft der Glaubenden, sondern in gewissem Sinn für alle Menschen Quelle eines Lebens, das grundverschieden ist von dem, welches der Mensch, seiner dreifachen Begehrlichkeit128 überlassen, aufbauen könnte. Im Namen dieses Geheimnisses lehrt uns Christus, immer zu verzeihen. Wie oft wiederholen wir in dem Gebet, das er selbst uns gelehrt hat, die Bitte: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«, das heißt jenen, die uns gegenüber schuldig geworden sind!129 Es ist wirklich schwer, den tiefen Wert der Haltung auszudrücken, welche diese Worte bezeichnen und uns ins Bewußtsein einprägen wollen. Wieviel sagen sie jedem Menschen über seinen Mitmenschen und auch über sich selbst! Das Wissen um die Tatsache, daß einer des anderen Schuldner ist, geht Hand in Hand mit der Berufung zur brüderlichen Solidarität, die der heilige PauIus in der prägnanten Einladung formuliert: »Ertragt einander in Liebe«.130 Welches Programm der Demut gegenüber dem Menschen lehren uns diese Worte - sowohl dem Nächsten als auch sich selbst gegenüber! Welche Schule des guten Willens für das tägliche Zusammenleben in den verschiedenen Umständen unseres Daseins sind sie! Was bleibt von allen »humanistischen« Lebens- und Erziehungsprogrammen, wenn wir diese Lehre unbeachtet lassen?

Christus legt auf die Notwendigkeit, den anderen zu verzeihen, so großen Nachdruck, daß er Petrus auf die Frage, wie oft er dem Nächsten verzeihen müsse, die symbolische Zahl »siebenundsiebzigmal«131 nennt und hiermit die Antwort gibt, daß er jedem und jedesmal verzeihen muß. Selbstverständlich hebt die Forderung, hochherzig zu verzeihen, die objektiven Forderungen der Gerechtigkeit nicht auf. Die richtig verstandene Gerechtigkeit ist sozusagen der Zweck des Verzeihens. An keiner Stelle der Frohen Botschaft bedeutet das Verzeihen, noch seine Quelle, das Erbarmen, ein Kapitulieren vor dem Bösen, dem Ärgernis, vor der erlittenen Schädigung oder Beleidigung. In jedem Fall sind Wiedergutmachung des Bösen und des Ärgenisses, Behebung des Schadens, Genugtuung für die Beleidigung Bedingungen der Vergebung.

So braucht also das Erbarmen als grundlegende Struktur immer die Gerechtigkeit. Aber es hat die Kraft, der Gerechtigkeit einen neuen Inhalt zu geben. Dieser findet seinen einfachsten und vollsten Ausdruck im Verzeihen. Es macht uns deutlich, daß es außer »Wiedergutmachung« und »Waffenstillstand« - Forderungen der Gerechtigkeit - auch die Liebe geben muß, wenn der Mensch Mensch bleiben soll. Daß die Forderungen der Gerechtigkeit erfüllt werden, ist eine Hauptbedingung dafür, daß das Antlitz der Liebe aufleuchten kann. Schon beim Betrachten des Gleichnisses vom verlorenen Sohn haben wir die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, daß der, der verzeiht, und der, dem verziehen wird, einander in einem wesentlichen Punkt begegnen: in der Würde, im Ur-Wert des Menschseins, der nicht zerstört werden kann und dessen Entfaltung beziehungsweise Wiederfindung Quelle größter Freude ist.132

Die Kirche betrachtet es mit Recht als ihre Pflicht, als Ziel ihrer Sendung, die Echtheit des Verzeihens zu bewahren, sowohl im Leben und Verhalten als auch in der Erziehung und Seelsorge. Sie tut das, indem sie seine Quelle bewahrt, das heißt das Geheimnis des in Jesus Christus offenbaren göttlichen Erbarmens.

Der Sendung der Kirche in all den Gebieten, auf die zahlreiche Aussagen des letzten Konzils und eine mehrhundertjährige Erfahrung im Apostolat verweisen, liegt nichts anderes zugrunde als das »Schöpfen aus den Quellen des Heilands«.133 Dieses Schöpfen schenkt vielfache Orientierung für die Sendung der Kirche im Leben der einzelnen Christen, der einzelnen Gemeinschaften und auch der ganzen Gemeinschaft des Volkes Gottes; ein »Schöpfen aus den Quellen des Heilandes« kann einzig und allein im Geist jener Armut verwirklicht werden, zu welcher der Herr uns mit Wort und Beispiel aufruft: »Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben«.134 So wird durch die evangelische Armut der Träger von Amt und Verwaltung sowie des ganzen Volkes, das »die großen Werke« seines Herrn bezeugt, überall im Leben und Wirken der Kirche noch klarer sichtbar, daß Gott »reich an Erbarmen« ist.

VIII. GEBET DER KIRCHE IN UNSERER ZEIT


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15. Die Kirche ruft das göttliche Erbarmen an

Die Kirche bekennt die Wahrheit von Gottes Erbarmen, die im Gekreuzigten und Auferstandenen offenbar wurde, und verkündet sie auf verschiedene Weise. Darüber hinaus ist sie bestrebt, durch Menschen das Erbarmen mit dem Menschen Wirklichkeit werden zu lassen; sie sieht darin eine unerläßliche Voraussetzung der Bemühung um eine bessere und menschlichere Welt für heute und morgen. Dennoch darf die Kirche nie, in keinem Augenblick und keinem Abschnitt der Geschichte - insbesondere nicht in einer so kritischen Epoche wie der gegenwärtigen - den Aufschrei zu Gottes Erbarmen vergessen gegen die vielen Formen des Übels, welche drohend über der Menschheit lasten. Gerade das ist von ihrem Stifter her das fundamentale Recht und die fundamentale Pflicht der Kirche: Recht und Pflicht vor Gott und den Menschen. Je mehr das menschliche Bewußtsein der Säkularisierung erliegt und so den Sinn sogar für die Wortbedeutung von »Erbarmen« verliert, je mehr es sich von Gott entfernt und somit auch vom Geheimnis des Erbarmens, desto mehr hat die Kirche das Recht und die Pflicht, »mit lautem Schreien«135 den Gott des Erbarmens anzurufen. Dieses »laute Schreien« muß gerade die Kirche unserer Zeit kennzeichnen; sie muß Gott anrufen um sein Erbarmen, dessen Offenbarwerden in Kreuz und Auferstehung, also im Paschamysterium, sie bekennt und verkündet. Dieses Geheimnis schließt die vollständigste Offenbarung des Erbarmens in sich, also jener Liebe, die stärker ist als der Tod stärker als die Sünde und jedes Übel; jener Liebe, die den Menschen auch aus dem tiefsten Fall erhebt, auch von den schlimmsten Drohungen befreit.

Der zeitgenössische Mensch fühlt diese Drohungen. Das hierüber oben Gesagte ist nur eine Andeutung. Der Mensch von heute stellt sich oft die angsterfüllte Frage nach der Lösung der entsetzlichen Spannungen, die sich über der Welt zusammengeballt haben und das Leben der Menschen durchziehen. Und wenn er manchmal nicht den Mut hat, das Wort »Erbarmen« auszusprechen, oder in einem areligiösen Bewußtsein auch kein entsprechendes findet, muß es die Kirche um so nachdrücklicher aussprechen, nicht nur in ihrem eigenen Namen, sondern auch im Namen aller Menschen von heute.

Es ist also notwendig, daß alles, was ich in diesem Dokument über das Erbarmen sagte, ununterbrochen zu einem inbrünstigen Gebet wird, zu einem Aufschrei, der das göttliche Erbarmen anfleht entsprechend den Notwendigkeiten des Menschen in der Welt von heute. Dieser Schrei muß die ganze Fülle der Wahrheit über das Erbarmen in sich tragen, welche in der Heiligen Schrift und in der Tradition sowie im authentischen Glaubensleben so vieler Generationen des Volkes Gottes so reichen Ausdruck gefunden hat. Mit diesem Schrei wenden wir uns, wie die Beter des Alten Bundes, an Gott, der nichts von dem, was er geschaffen hat, verachten kann,136 der sich selbst, seinem Vater-sein und seiner Liebe treu ist. Wie die Propheten bestürmen wir diese Liebe, die mütterliche Züge trägt und wie eine Mutter jedem ihrer Kinder, jedem verirrten Schäflein nachgeht, selbst wenn es Millionen solcher Verirrungen gäbe, selbst wenn das Unrecht in der Welt überhandnähme gegenüber dem Recht, selbst wenn die Menschheit von heute für ihre Sünden eine neue »Sintflut« verdiente, so wie einst die Generation Noachs eine Sintflut verdient hat. Nehmen wir unsere Zuflucht zu jener väterlichen Liebe, die uns von Christus in seiner messianischen Sendung offenbart wurde und die in seinem Kreuz, seinem Tod und seiner Auferstehung ihren Höhepunkt erreichte! Nehmen wir unsere Zuflucht durch Christus zu Gott, eingedenk der Worte Marias im Magnifikat, die das Erbarmen »von Geschlecht zu Geschlecht« verkünden. Erflehen wir das göttliche Erbarmen für das »Geschlecht« von heute! Die Kirche, die sich bemüht, nach dem Vorbild Marias den Menschen in Gott Mutter zu sein bringt mit diesem Gebet ihre mütterliche Sorge und zuversichtliche Liebe zum Ausdruck, die ja das drängendste Motiv zum Beten sind.

Erheben wir unser flehendes Gebet, geleitet vom Glauben, von der Hoffnung und der Liebe, die Christus unseren Herzen eingepflanzt hat. Diese Haltung ist gleichermaßen Liebe zu Gott, den der zeitgenössische Mensch oft weit von sich entfernt und sich entfremdet hat, den er in verschiedener Weise als für ihn »überflüssig« bezeichnet; Liebe zu Gott, deren verletzende Ablehnung durch den heutigen Menschen wir tief empfinden, wobei es uns drängt, mit Christus am Kreuze auszurufen: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«.137 Diese Haltung der Fürbitte ist gleichzeitig Liebe zu den Menschen, zu allen Menschen ohne jede Ausnahme und ohne den geringsten Unterschied: ohne Unterschied nach Rasse, Kultur, Sprache und Weltanschauung, ohne Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden; eine Liebe zu den Menschen, die das wahrhaft Gute für jeden einzelnen von ihnen wünscht und für jede menschliche Gemeinschaft, für jede Familie, jede Nation, jede Gesellschaftsgruppe, für die Jugendlichen, die Erwachsenen, die Eltern, die Greise, die Kranken: Liebe zu allen ohne Ausnahme. Das ist Liebe, eifrige Sorge, einem jeden jedes wahrhaft Gute zu sichern und jegliches Übel hinwegzunehmen und zu verhindern.

Und wenn so mancher Zeitgenosse den Glauben und die Hoffnung nicht teilt, die mich als Diener Christi und Verwalter der Geheimnisse Gottes138 veranlassen, in dieser Stunde unserer Geschichte Gottes Erbarmen auf die Menschheit herabzurufen, suche er zumindest, den Grund für diese meine Sorge zu verstehen. Sie ist von der Liebe zum Menschen eingegeben, zu allem, was menschlich ist und was nach der Ahnung vieler unserer Zeitgenossen von einer Gefahr schrecklichen Ausmaßes bedroht ist. Dasselbe Geheimnis Christi, das uns die erhabene Berufung des Menschen enthüllt und das mich dazu gedrängt hat, in der Enzyklika Redemptor Hominis die unvergleichliche Würde des Menschen zu bekräftigen, verpflichtet mich gleichzeitig, das Erbarmen Gottes zu verkünden, seine im Geheimnis Christi geoffenbarte barmherzige Liebe. Ebendieses Geheimnis veranlaßt mich auch, in dieser schwierigen und kritischen Phase der Geschichte der Kirche und der Welt - gegen Ende des zweiten Jahrtausends - mich an dieses Erbarmen zu wenden und es herabzuflehen.

In Namen Jesu Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, im Geist seiner messianischen Sendung, die in der Geschichte der Menschheit fortdauert, erheben wir unsere Stimme und bitten, daß sich in diesem Abschnitt der Geschichte jene Liebe, die im Vater ist, noch einmal offenbare und durch das Wirken des Sohnes und des Heiligen Geistes ihre Anwesenheit in der Welt von heute deutlich mache und sich stärker als jedes Übel erweise: stärker als die Sünde und der Tod. Darum bitten wir durch die Fürsprache jener, die das »Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht« unaufhörlich verkündet, und auch all jener, an denen sich die Worte der Bergpredigt bis zur Vollendung verwirklicht haben: »Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden«.139

Bei der weiteren Erfüllung der großen Aufgabe, das Zweite Vatikanische Konzil in die Tat umzusetzen - in welchem wir mit Recht eine neue Phase der Selbstverwirklichung der Kirche erblicken, dem Zeitalter angemessen, in dem es uns zu leben bestimmt ist - , muß die Kirche selbst von der vollen Überzeugung geleitet sein, daß sie bei diesem Werk auf keinen Fall nur an sich denken darf. Ihr ganzer Sinn ist es ja, Gott zu offenbaren, jenen Vater, der sich uns in Christus »sichtbar« macht.140 Selbst wenn der Widerstand der menschlichen Geschichte noch so nachhaltig, die Uneinheitlichkeit der zeitgenössischen Zivilisation noch so ausgeprägt, die Verneinung Gottes in der Welt der Menschen noch so verbreitet ist, muß die Nähe zu jenem Geheimnis, das von Ewigkeit her in Gott verborgen war und an dem der Mensch durch Christus wirklichen Anteil in der Zeit erhielt, um so größer sein.

Mit meinem Apostolischen Segen.

Gegeben in Rom, zu St. Peter, am 30. November 1980, dem ersten Sonntag im Advent, im dritten Jahr meines Pontifikates.
1 Eph 2, 4.
2 Vgl. Jn 1, 18; Hebr 1, 1 f.
3 Jn 14, 8 f.
4 Eph 2, 4 f.
5 2 Co 1, 3.
6 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 22; AAS 58 (1966), S. 1042.
7 Vgl. ebd.
8 1 Tim 6, 16.
9 Rm 1, 20.
10 Jn 1, 18.
11 1 Tim 6, 16.
12 «Phil-antropía»: Tit 3, 4.
13 Eph 2, 4.
14 Vgl. Gn 1, 28.
15 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 9; AAS 58 (1966), S. 1032.
16 2 Co 1, 3.
17 Mt 6, 4. 6. 18.
18 Vgl. Eph 3, 18; außerdem Lk 11, 5-13
19 Lk 4, 18 f.
20 Lk 7, 19.
21 Lk 7, 22 f.
22 1 Jo 4, 8. 16
23 Eph 2, 4.
24 Lk 15, 11-32.
25 Lk 10, 30-37.
26 Mt 18, 23-35.
27 Mt 18, 12-14; Lk 15, 3-7.
28 Lk 15, 8-10.
29 Mt 22, 38.
30 Mt 5, 7.
31 Vgl. Jg 3, 7-9.
32 Vgl 1 R 8, 22-53.
33 Vgl. Mich 7, 18 20.
34 Vgl. Is 1, 18; 51, 4-16.
35 Vgl. Ba 2, 11-3, 8.
36 Vgl. Neh 9.
37 Vgl. z. B. Hos 2, 21-25 und 15; Is 54, 6-8.
38 Vgl. Jer 31, 20; Ez 39, 25-29.
39 Vgl. 2 S 11; 12; 24, 10.
40 Jb passirn.
41 Est 4, 17k ff.
42 Vgl. z.B. Neh 9, 30-32; Tb 3, 2 f. 11 f.; 8, 16f.; 1 M 4, 24.
43 Vgl. Ex 3, 7f.
44 Vgl. Is 63, 9.
45 Ex 34, 6.
46 Vgl. Nb 14, 18; 2 Chr 30, 9; Neh 9, 17; Ps 86 (85), 15; Sg 15, 1; Sir 2, 11; Jl 2, 13.
47 Vgl. Is 63, 16.
48 Vgl. Ex 4, 22.
49 Vgl. Hos 2, 3.
50 Vgl. Hos 11, 7-9; Jer 31, 20; Is 54, 7f.
51 Ps 103(102) und 145(144).
52 Die Bücher des Alten Testaments bedienen sich, um den Begriff »Erbarmen« auszudrücken, vor allem zweier Wörter, die verschiedene semantische Nuancen aufweisen. Da ist vor allem das Wort hesed, das eine tief verwurzelte Haltung von Güte bezeichnet. Wenn sich diese zwischen zwei Menschen entwickelt, sind sie nicht nur einander wohlwollend gesinnt, sondern auch einander treu, und zwar aufgrund einer inneren Verpflichtung, also auch aufgrund einer Treue zu sich selbst. Wenn hesed auch »Gnade« oder »Liebe« bedeutet, dann eben aufgrund dieser Treue. Die Tatsache, daß die besagte Verpflichtung nicht nur moralischer, sondern fast rechtlicher Art ist ändert daran nichts. Wenn im Alten Testament der Ausdruck hesed auf den Herrn bezogen wird, geschieht das immer im Zusammenhang mit dem Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat. Dieser Bund war von seiten Gottes eine Gabe und ein Gnadenerweis für Israel. Dennoch bekam hesed - weil sich Gott um des geschlossenen Bundes willen verpflichtet hatte diesen einzuhalten - in gewissem Sinn rechtlichen Charakter. Die rechtliche Verpflichtung von seiten Gottes trat außer Kraft wenn Israel den Bund brach und dessen Bedingungen mißachtete. Doch gerade dann enthüllte hesed, nun keine rechtliche Verpflichtung mehr, seinen tiefsten Sinn in seiner anfänglichen Bedeutung: Liebe, die schenkt; Liebe, die stärker ist als der Verrat; Gnade, die stärker ist als die Sünde.

Diese Treue zur untreuen »Tochter meines Volkes« (vgl. Lm 4,3 Lm 4,6) ist letzten Endes von seiten Gottes Treue zu sich selbst. Das ergibt sich klar vor allem aus der häufigen Wiederkehr des Wortpaares hesed we'emet (= Gnade und Treue), das man als Hendiadyoin betrachten könnte (vgl. z. B. Ex 34,6 2S 2,6 2S 15,20 Ps 10 Ps 11 f. Mich Ps 7,20).

»Nicht euretwegen handle ich, Haus Israel sondern um meines heiligen Namens willen« (Ez 36,22). Wenngleich also auch Israel, schuldbeladen durch den Bundesbruch, auf Gottes hesed keinen rechtlichen Anspruch hat, so darf und muß es doch weiter hin darauf hoffen und vertrauen, da der Gott des Bundes wahrhaft »seiner Liebe verantwortlich« ist. Frucht einer solchen Liebe sind die Verzeihung, die Wiederaufnahme in die Beziehung der Huld und Gnade und die Erneuerung des inneren Bundes.

Das zweite Wort, das in der Terminologie des Alten Testaments zur Bezeichnung des Erbarmens dient, ist rahamim. Es hat eine andere Nuance als hesed. Während letzteres die Treue zu sich selbst und die »Verantwortung der eigenen Liebe gegenüber« (in gewisser Hinsicht männliche Charakterzüge) hervorhebt, läßt rahamim schon von der Wortwurzel her die Mutterliebe anklingen (rehem = Mutterschoß). Der tiefsten und ursprünglichsten Verbundenheit, ja Einheit der Mutter mit dem Kind entspringt eine besondere Beziehung zu ihm, eine besondere Liebe. Diese Liebe kann man als völlig ungeschuldet bezeichnen, ist sie doch nicht Lohn für ein Verdienst; insofern stellt sie eine innere Notwendigkeit dar, einen »Zwang« des Herzens. Sie ist eine gleichsam »weibliche« Variante der männlichen Treue zu sich selbst, wie sie in hesed anklingt. Auf diesem psychologischen Hintergrund entfaltet sich rahamim in eine ganze Reihe von Gefühlen, so etwa Güte und Zärtlichkeit, Geduld und Verständnis, das heißt Bereitschaft zur Verzeihung.

Das Alte Testament schreibt dem Herrn eben diese Charakterzüge zu, wenn es auf ihn den Ausdruck rahamim anwendet. So lesen wir bei Jesaja: »Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und selbst, wenn sie ihr Kind vergessen würde: Ich vergesse dich nicht« (Is 49,15). Diese Liebe, die dank der geheimnisvollen Kraft der Mutterschaft treu und unüberwindlich ist, wird in den alttestamentlichen Texten verschiedenartig ausgedrückt: als Rettung aus Gefahren, insbesonders von Feinden, als Vergebung der Sünden - der Einzelnen und des ganzen Volkes Israel - und schließlich als die Entschlossenheit, die (endzeitliche) Verheißung und Hoffnung trotz aller menschlichen Untreue zu erfüllen, wie wir bei Hosea lesen: »Ich will ihre Untreue heilen und sie in Großmut wieder lieben« (Os 14,5).

In der Terminologie des Alten Testamentes finden wir noch andere Ausdrücke, die sich in verschiedener Weise auf den selben Grundinhalt beziehen. Die beiden vorhin erwähnten verdienen jedoch besondere Aufmerksamkeit. In ihnen tritt klar der ursprüngliche anthropomorphe Aspekt hervor: die Verfasser der biblischen Schriften verwenden, um das göttliche Erbarmen zu beschreiben, Ausdrücke, die dem Bewußtsein und der Erfahrung ihrer Zeitgenossen entsprechen. Die griechische Terminologie der Septuaginta-Ubersetzung ist weniger reich als die hebräische und bietet daher nicht alle semantischen Nuancen, die den Originaltext kennzeichnen. Auf jeden Fall baut das Neue Testament auf dem Reichtum und der Tiefe auf, die bereits dem Alten eigen waren.

Auf diese Weise erben wir vom Alten Testament - gleichsam in einer besonderen Synthese - nicht nur den Reichtum der Ausdrücke dieser Bücher zur Beschreibung des göttlichen Erbarmens, sondern auch eine spezifische, selbstverständlich anthropomorphe »Psychologie« Gottes: das Bild seiner sich sorgenden Liebe, die sich angesichts des Übels - insbesondere der Sünde des Menschen und des Volkes - als Erbarmen kundtut. Dieses Bild besteht aus dem eher allgemeinen Inhalt des Verbums hanan, aber auch aus dem von hesed und von rahamim. Das Wort hanan drückt etwas Umfassenderes aus: den Erweis der Gnade, worin gleichsam eine ständige Bereitschaft zu Hochherzigkeit, Güte und Milde eingeschlossen ist.

Außer diesen grundlegenden semantischen Elementen schließt der Begriff des Erbarmens im Alten Testament auch den Bedeutungsgehalt des Wortes hamal ein, das wörtlich »(den besiegten Feind) verschonen« bedeutet, aber auch »Verzeihen und Mitleid bezeugen«, und infolgedessen Vergebung und Nachlaß der Schuld. Auch das Wort hus drückt Verzeihen und Mitleid aus, aber vor allem in gefühlsmäßigem Sinn. Diese Ausdrücke treten in den biblischen Texten seltener zur Bezeichnung des Erbarmens auf. Außerdem ist das bereits erwähnte Wort 'emet hervorzuheben das in erster Linie »Solidität, Sicherheit« bedeutet (im Griechischen der Septuaginta: »Wahrheit«) und dann »Treue«, so daß es sich mit dem semantischen Inhalt des Wortes hesed zu verbinden scheint.
53 Ps 40, 11, 98, 2f.; Is 45, 21; 51, 5.8; 56, 1.
54 Sg 11, 24.
55 1 Jn 4, 8.16.
56 Jer 31, 3.
57 Is 54, 10.
58 Jon 4, 2. 11; Ps 145, 9; Sir 18, 8-14; Sg 11, 23-12, 1.
59 Jn 14, 9.
60 In beiden Fällen handelt es sich um hesed, also um die Treue Gottes zur eigenen Liebe gegenüber seinem Volk, um die Treue zu den Verheißungen, die eben in der Mutterschaft der Gottesmutter ihre endgültige Erfüllung finden werden (vgl. Lc 1,49-54).
61 Vgl. Lk 1, 72. - Auch in diesem Fall handelt es sich um Erbarmen im Sinn von hesed, während in den folgenden Sätzen, in denen Zacharias von der »barmherzigen Liebe unseres Gottes« spricht, eindeutig die zweite Bedeutung, die von rahamim (lateinische Übersetzung: viscera misericordiae), zum Ausdruck gebracht wird, welche das göttliche Erbarmen eher mit der mütterlichen Liebe identifiziert.
62 Vgl. Lk 15, 11-32.
63 Lk 15, 18 f.
64 Lk 15, 20.
65 Lk 15, 32.
66 Vgl. Lk 15, 3-6.
67 Vgl. Lk 15, 8 f.
68 1 Co 13, 4-8.
69 Vgl. Rm 12, 21.
70 ..., »dem ein solcher, so großer Erlöser beschieden war«. Vgl Liturgie der Osternacht: »Exsultet«.
71 Ac 10, 38.
72 Mt 9, 35.
73 Vgl. Mk 15, 37; Jn 19, 30.
74 Is 53, 5.
75 2 Co 5, 21.
76 Ebd.
77 Nizänisch-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis.
78 Jn 3, 16.
79 Vgl. Jn 14, 9.
80 Mt 10, 28.
81 Phil 2, 8.
82 2 Co 5, 21.
83 Vgl. 1 Co 15, 54f.
84 Vgl. Lk 4, 18-21.
85 Vgl. Lk 7, 20-23.
86 Vgl. Is 35, 5; 61, 1-3.
87 1 Co 15, 4.
88 Ap 21, 1.
89 Ap 21, 4.
90 Vgl. ebd.
91 Ap 3, 20.
92 Vgl. Mt 24, 35
93 Vgl. Ap 3, 20.
94 Mt 25, 40.
95 Mt 5, 7.
96 Jn 14, 9.
97 Rm 8, 32.
98 Mk 12, 27.
99 Jn 20, 19-23
100 Vgl. Ps 89(88), 2
101 Lk 1, 50
102 Vgl. 2 Co 1, 21 f.
103 Lk 1, 50.
104 Vgl. Ps 85(84), 11.
105 Lk 1, 50.
106 Vgl. Lk 4, 18.
107 Vgl. Lk 7, 22.
108 Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 62; AAS 57 (1965), S. 63.
109 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 10; AAS 58 (1966), S. 1032.
110 Ebd.
111 Mt 5, 38.
112 Vgl. Job 14, 9f.
113 Ebd.
114 Vgl. 1 Co 11, 26; Anrufung im »Missale Romanum«.
115 Jn 3, 16.
116 1 Jn 4, 8.
117 Vgl. 1 Co 13, 4.
118 2 Co 1, 3.
119 Rm 8, 16.
120 Mt 5, 7.
121 Vgl. Mt 25, 34-40.
122 Vgl 1 Co 13, 4.
123 Vgl. Lk 15, 11-32.
124 Vgl. Lk 15, 1-10.
125 Vgl. z. B. Insegnamenti di Paolo VI, XXIII (1975), S. 1568 (Schlußwort zum Heiligen Jahr, 25.12.1975).
126 Mt 5, 38.
127 Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 40; AAS 58 (1966), S. 1057-1059; PAUL VI., Apostolisches Schreiben Paterna cum benevolentia, bes. Nr. 1 und 6; AAS 67 (1975), S. 7-9, 17-23.
128 Vgl. 1 Jn 2, 16.
129 Mt 6, 12.
130 Eph 4, 2; vgl. Gal 6, 2.
131 Mt 18, 22.
132 Vgl. Lk 15, 32.
133 Vgl. Is 12, 3.
134 Mt 10, 8.
135 Vgl. Hebr 5, 7.
136 Vgl. Sg 11, 24; Ps 145(144), 9, Gn 1, 31.
137 Lk 23, 24.
138 Vgl. Kor 4, 1.
139 Mt 5, 7.
140 Vgl. Jo 14, 9.



Dives in misericordia 12