Ecclesia in Europa DE 65

IV. KAPITEL


DAS EVANGELIUM


DER HOFFNUNG FEIERN


»Ihm, der auf dem Thron sitzt,

und dem Lamm gebühren Lob und Ehre

und Herrlichkeit und Kraft in alle Ewigkeit«

(@AP 5,13@)

Eine betende Gemeinde


66 Das Evangelium der Hoffnung, die Botschaft der Wahrheit, die frei macht (vgl. Joh Jn 8,32),muß gefeiert werden. Vor dem Lamm der Apokalypse beginnt eine feierliche Liturgie des Lobes und der Anbetung: »Ihm, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm gebühren Lob und Ehre und Herrlichkeit und Kraft in alle Ewigkeit« (Ap 5,13). Diese Vision, die Gott und den Sinn der Geschichte offenbar macht, erfolgt »am Tag des Herrn« (Ap 1,10), dem Tag der Auferstehung, der in der sonntäglichen Versammlung immer wieder vergegenwärtigt wird.

Die Kirche, die diese Offenbarung empfängt, ist eine Gemeinde, die betet.Während sie betet,hört sie ihren Herrn und das, was der Geist ihr sagt: Sie betet an, lobt, dankt und fleht schließlich um das Kommen des Herrn: »Komm, Herr Jesus!« (Ap 22,16-20) und bekräftigt damit, daß sie von ihm allein Rettung und Heil erwartet.

Auch von dir, Kirche Gottes in Europa, wird verlangt, daß du eine betende Gemeinde bist und deinen Herrn mit den Sakramenten, der Liturgie und der ganzen Existenz feierst. Im Gebet wirst du die lebendigmachende Gegenwart des Herrn entdecken. So wirst du, wenn du dein ganzes Tun in ihm verwurzelst, den Europäern wieder die Begegnung mit ihm selbst nahebringen können – eine echte Hoffnung, die allein das Verlangen nach Gott voll zu befriedigen vermag, welches sich in den verschiedenen, im heutigen Europa wieder auftauchenden Formen religiöser Suche verbirgt.


I. Die Liturgie wiederentdecken


Das religiöse Empfinden im heutigen Europa


67 Trotz weiter Bereiche der Entchristianisierung im europäischen Kontinent gibt es Zeichen, die dazu beitragen, das Gesicht einer Kirche zu umreißen, die als Glaubende ihren Herrn verkündet, feiert und ihm dient. Es fehlt nämlich nicht an Beispielen authentischer Christen, die Zeiten kontemplativen Schweigens durchleben, treu an geistlichen Initiativen teilnehmen, in ihrem Alltag das Evangelium leben und es in ihren verschiedenen Aufgabenbereichen bezeugen. Außerdem lassen sich Äußerungen einer »Heiligkeit des Volkes« ausmachen, die belegen, daß es auch im heutigen Europa nicht unmöglich ist, das Evangelium im persönlichen Bereich und in einer echten Gemeinschaftserfahrung zu leben.


68 Neben vielen Beispielen unverfälschten Glaubens gibt es in Europa auch eine unbestimmte und mitunter abwegige Religiosität. Ihre Anzeichen sind bei den Menschen selbst, die sie ausstrahlen, häufig vage und oberflächlich, wenn nicht sogar in sich widersprüchlich. Es handelt sich ganz offensichtlich um Phänomene einer Flucht in den Spiritualismus, eines religiösen und esoterischen Synkretismus, einer Suche nach außergewöhnlichen Ereignissen um jeden Preis bis hin zu absonderlichen Entscheidungen wie dem Beitritt zu gefährlichen Sekten oder dem Festhalten an pseudoreligiösen Erfahrungen.

Das verbreitete Verlangen nach geistlicher Nahrung muß mit Verständnis aufgenommen und geläutert werden. Für den Menschen, der sich, wenn auch nur unklar, bewußt wird, nicht von Brot allein leben zu können, ist es notwendig, daß die Kirche auf überzeugende Weise die Antwort, die Jesus dem Versucher gegeben hat, bezeugen kann: »Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt« (
Mt 4,4).



Eine feiernde Kirche


69 Im Kontext der heutigen Gesellschaft, die – allzu oft für die Transzendenz verschlossen und von konsumistischem Verhalten erstickt – zur leichten Beute alter und neuer Formen von Götzendienerei wird und zugleich nach etwas dürstet, das über das unmittelbar Gegebene hinausgeht, ist die Aufgabe, welche die Kirche in Europa erwartet, zugleich anspruchsvoll und erhebend. Sie besteht darin, den Sinn für das »Mysterium« wiederzuentdecken, die liturgischen Feiern zu erneuern, damit sie ausdrucksstärkere Zeichen für die Gegenwart Christi, des Herrn, sind, außerdem der Stille, dem Gebet und der Kontemplation neuen Raum zu geben und zurückzukehren zu den Sakramenten – besonders der Eucharistie und der Buße – als Quellen der Freiheit und neuer Hoffnung.

Darum richte ich an dich, Kirche in Europa, eine dringende Aufforderung: Sei eine Kirche, die betet, Gott lobt, seinen absoluten Vorrang anerkennt, ihn mit frohem Glauben preist. Entdecke wieder den Sinn für das Mysterium: Lebe es mit demütiger Dankbarkeit, bezeuge es mit zutiefst empfundener Freude, die ansteckend wirkt. Feiere das Heil Christi. Nimm es als Geschenk an, das dich zu seinem »Sakrament » macht: Mache dein Leben zu einem wahren Gottesdienst, der Gott gefällt (vgl. Röm
Rm 12,1)!



Das Gespür für das Mysterium


70 Gewisse Symptome lassen ein Schwinden des Sinnes für das Mysterium sogar in den liturgischen Feiern erkennen, die doch gerade in das Mysterium einführen sollten. Es ist daherdringend nötig, daß in der Kirche wieder ein echtes Gespür für die Liturgie erwacht. Die Liturgie ist, wie von den Synodenvätern in Erinnerung gerufen,119 ein Hilfsmittel zur Heiligung; sie ist Feier des Glaubens der Kirche und Medium zur Weitergabe des Glaubens. Zusammen mit der Heiligen Schrift und den Lehren der Kirchenväter ist sie die lebendige Quelle echter, solider Spiritualität. Durch sie treten die Gläubigen – wie dies auch die Tradition der ehrwürdigen Ostkirchen deutlich hervorhebt – in Gemeinschaft mit der Heiligsten Dreifaltigkeit, und erfahren ihre Teilhabe an der göttlichen Natur als Gnadengabe. Die Liturgie wird so zur Vorwegnahme der endzeitlichen Seligkeit und zur Teilhabe an der himmlischen Herrlichkeit.


71 In den liturgischen Feiern müssen wir Jesus wieder in den Mittelpunkt stellen, um uns von ihm erleuchten und leiten zu lassen. Hier können wir eine der stärksten Antworten finden, die unsere Gemeinden auf eine vage und inhaltslose Religiosität zu geben berufen sind. Der Zweck der Liturgie der Kirche liegt nicht in der Befriedigung der Wünsche und der Besänftigung der Ängste des Menschen, sondern im Hören und Empfangen Jesu, des Lebendigen, der den Vater ehrt und preist, um so mit Jesus den Vater zu lobpreisen und zu ehren. Die kirchlichen Gottesdienste verkünden, daß unsere Hoffnung von Gott her zu uns kommt, und zwar durch unseren Herrn Jesus.

Es geht darum, die Liturgie als Werk der Dreifaltigkeit zu leben. Der Vater handelt für uns in den gefeierten Geheimnissen; er ist es, der zu uns spricht, uns vergibt, uns anhört, uns seinen Geist schenkt. An ihn wenden wir uns, auf ihn hören wir, ihn preisen wir und ihn rufen wir an. Jesus setzt sich für unsere Heiligung ein, indem er uns an seinem Mysterium teilhaben läßt. Der Heilige Geist wirkt mit seiner Gnade und macht uns zum Leib Christi, zur Kirche.

Die Liturgie muß als Ankündigung und Vorwegnahme der künftigen Herrlichkeit, als End- und Zielpunkt unserer Hoffnung, gelebt werden. Denn wie das Konzil lehrt, »nehmen wir in der irdischen Liturgie vorauskostend an jener himmlischen Liturgie teil, die in der heiligen Stadt Jerusalem gefeiert wird, zu der wir pilgernd unterwegs sind [...], bis Christus erscheint als unser Leben und wir mit ihm erscheinen in Herrlichkeit« .120



Liturgische Ausbildung


72 Obwohl nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bereits ein beachtliches Stück Wegs zurückgelegt wurde, um zu einem Erleben des eigentlichen Sinnes der Liturgie zu gelangen, bleibt doch noch viel zu tun. Es bedarf dazu einer laufenden Erneuerung und einer beständigen Aus- und Weiterbildung aller: der Priester, der Personen gottgeweihten Lebens und der Laien.

Die wahre Erneuerung, die sich keineswegs irgendwelcher Willkürhandlungen bedient, besteht darin, das Bewußtsein für die Bedeutung des Mysteriums immer besser zu entwickeln, um so die Gottesdienste zu Augenblicken der Gemeinschaft mit dem großen und heiligen Geheimnis der Dreifaltigkeit zu machen. Wenn die Kirche in Europa die heiligen Handlungen als Beziehung zu Gott und Empfang seiner Gaben – als Ausdruck also eines echten geistlichen Lebens – feiert, dann kann sie wirklich ihre Hoffnung nähren und sie denen schenken, die sie verloren haben.


73 Zu diesem Zweck ist ein großer Einsatz auf dem Gebiet der Ausbildung nötig. Da es ihr Ziel ist, das Verständnis der wahren Bedeutung der Feiern der Kirche zu fördern, erfordert sie außer einer angemessenen Unterweisung in den Riten eine echte Spiritualität und die Erziehung dazu, sie in Fülle zu leben.121 Es muß daher eine regelrechte »liturgische Mystagogie« stärker gefördert werden, wobei alle Gläubigen, jeder seinem besonderen Beitrag entsprechend, aktiv an den heiligen Handlungen, insbesondere an der Eucharistie, teilnehmen sollen.


II. Die Sakramente feiern



74 Ein besonders wichtiger Platz muß der Feier der Sakramente vorbehalten bleiben, als Handlungen Christi und der Kirche, die auf die Verehrung Gottes, die Heiligung der Menschen und den Aufbau der kirchlichen Gemeinschaft ausgerichtet sind. Im Bewußtsein, daß in ihnen Christus selbst durch den Heiligen Geist handelt, müssen die Sakramente mit größter Sorgfalt und unter Schaffung angemessener Bedingungen gefeiert werden. Den Teilkirchen des Kontinents soll es ein Herzensanliegen sein, ihre Sakramentenpastoral zu verstärken, um die tiefe Wahrheit der Sakramente erkennbar werden zu lassen. Die Synodenväter haben diese Forderung herausgestellt, um zwei Gefahren entgegenzutreten: Auf der einen Seite scheinen gewisse kirchliche Kreise das richtige Sakraments-Verständnis verloren zu haben, und sie könnten die gefeierten Geheimnisse möglicherweise banalisieren; auf der anderen Seite empfangen viele Getaufte, Gepflogenheiten und Traditionen folgend, in bedeutsamen Augenblicken ihres Lebens die Sakramente, ohne jedoch den Weisungen der Kirche entsprechend zu leben.122



Die Eucharistie


75 Die Eucharistie, höchste Gabe Christi an die Kirche, macht im Mysterium das Opfer Christi für unser Heil gegenwärtig: »Die Heiligste Eucharistie enthält das Heilsgut der Kirche in seiner ganzen Fülle, Christus selbst, unser Osterlamm« .123 Aus ihr, »Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens« ,124 schöpft die Kirche auf ihrer Pilgerschaft und findet darin die Quelle jeder Hoffnung. Denn die Eucharistie gibt »unserem Weg durch die Geschichte einen Impuls, indem sie in die tägliche Hingabe eines jeden an die Erfüllung der eigenen Pflichten den Samen lebendiger Hoffnung hineinlegt« .125

Wir sind alle eingeladen, den Glauben an die Eucharistie – »Unterpfand der künftigen Herrlichkeit« – in der Gewißheit zu bekennen, daß die Gemeinschaft mit Christus, die wir jetzt als Pilger in unserer sterblichen Existenz erleben, die letzte Begegnung jenes Tages vorwegnimmt, »an dem wir ihm ähnlich sein werden, denn wir werden ihn sehen wie er ist« (
1Jn 3,2). Die Eucharistie ist eine Art »Vorgeschmack auf die Ewigkeit in der Zeit« , sie ist göttliche Gegenwart und Gemeinschaft mit ihr; als Erinnerung an das Pascha Christi ist sie ihrer Natur nach die Überbringerin der Gnade in die Menschheitsgeschichte. Sie macht offen für die Zukunft Gottes; da sie Gemeinschaft mit Christus, mit seinem Leib und seinem Blut ist, ist sie Teilhabe am ewigen Leben Gottes.126



Die Versöhnung


76 Zusammen mit der Eucharistie muß bei der Wiedergewinnung der Hoffnung auch das Sakrament der Versöhnung eine grundlegende Rolle spielen: »Die persönliche Erfahrung der Vergebung Gottes ist nämlich für jeden von uns ein wesentliches Fundament jeglicher Hoffnung für unsere Zukunft« .127 Eine der Wurzeln der Resignation, die heute viele befällt, ist in der Unfähigkeit zu suchen, sich als Sünder zu bekennen und sich vergeben zu lassen. Diese Unfähigkeit beruht oft auf der Einsamkeit dessen, der lebt, als gäbe es Gott nicht, und niemanden hat, den er um Vergebung bitten kann. Wer sich hingegen als Sünder bekennt und sich der Barmherzigkeit des himmlischen Vaters anvertraut, erfährt die Freude einer wahren Befreiung und kann weiterleben, ohne sich in sein Elend zurückzuziehen.128 Er empfängt somit die Gnade eines Neubeginns und findet wieder Anlaß zum Hoffen.

Darum ist es notwendig, daß in der Kirche in Europa das Sakrament der Versöhnung eine Wiederbelebung erfährt. Es muß jedoch unterstrichen werden, daß die Form des Sakraments das persönliche Sündenbekenntnis ist, gefolgt von der Einzelabsolution. Diese Begegnung zwischen dem Beichtenden und dem Priester muß in jeder vom Ritus des Sakramentes vorgesehenen Form gefördert werden. Angesichts eines verbreiteten Verlustes des Sündenbewußtseins und des Sich-Durchsetzens einer im moralischen Bereich von Relativismus und Subjektivismus geprägten Mentalität ist es dringend geboten, in jeder Kirchengemeinde für eine ernsthafte Gewissensbildung zu sorgen.129 Die Synodenväter haben darauf bestanden, daß klar und deutlich die Wahrheit über die persönliche Sünde und die Notwendigkeit der persönlichen Vergebung Gottes durch den Dienst des Priesters anerkannt werde. Generalabsolutionen sind für die Spendung des Sakramentes der Versöhnung keine Alternative.130


77 Ich wende mich an die Priester und ermahne sie, großherzig ihre Verfügbarkeit im Beichthören einzusetzen und selber durch den regelmäßigen Empfang des Bußsakramentes ein Beispiel zu geben. Ich empfehle ihnen, sich um ihre eigene Fortbildung auf dem Gebiet der Moraltheologie zu kümmern, um die Problemstellungen, die in jüngster Zeit im Bereich der Moral des Einzelnen und der Gesellschaft aufgetreten sind, mit Kompetenz aufgreifen zu können. Darüber hinaus sollen sie den konkreten Lebenssituationen, in denen sich die Gläubigen befinden, besondere Aufmerksamkeit widmen. Sie sollen die Gläubigen geduldig dahin bringen, die Forderungen des christlichen Sittengesetzes anzuerkennen, und ihnen helfen, das Sakrament als eine freudige Begegnung mit dem Erbarmen des himmlischen Vaters zu leben.131



Gebet und Leben


78 Neben der Feier der Eucharistie gilt es auch die anderen Formen des gemeinschaftlichen Gebetes zu fördern 132 und dabei mitzuhelfen, die zwischen diesen Formen und dem liturgischen Gebet bestehende Verbindung wiederzuentdecken. Im besonderen sollen in lebendiger Fortführung der Tradition der lateinischen Kirche die verschiedenen Ausdrucksformen dereucharistischen Verehrung außerhalb der Messe gefördert werden: persönliche Anbetung, Aussetzung und Prozession, die als Äußerung des Glaubens an das Fortbestehen der Realpräsenz des Herrn im Sakrament des Altars zu verstehen sind.133 Bei der persönlichen oder gemeinsamen Verrichtung des Stundengebetes, an dessen einzigartigen Wert auch für die gläubigen Laien das Zweite Vatikanische Konzil erinnert hat,134 möge man dazu anleiten, ebenfalls den Zusammenhang mit dem eucharistischen Geheimnis zu sehen. Die Familien sollen dazu angehalten werden, dem gemeinsamen Gebet Raum zu geben, um so das ganze Ehe- und Familienleben im Lichte des Evangeliums einsichtig zu machen. Auf diese Weise wird sich von daher und im Hören auf das Wort Gottes jene Hausliturgie herausbilden, die sämtlichen Vorgängen des Familienlebens ihren Rhythmus gibt.135

Jede Form des gemeinsamen Gebetes setzt das persönliche Gebet voraus. Zwischen der Person und Gott entsteht jenes wahrhaftige Gespräch, das im Lobpreis, im Dank und in der Bitte zum Ausdruck kommt, die durch Jesus Christus und im Heiligen Geist an den Vater gerichtet werden. Das persönliche Gebet, gleichsam der Atem des Christen, darf niemals vernachlässigt werden. Die Verbindung zwischen diesem und dem liturgischen Gebet soll ebenfalls wiederentdeckt werden.


79 Besondere Aufmerksamkeit muß auch der Volksfrömmigkeit eingeräumt werden.136 Sie ist in den verschiedenen Regionen Europas durch die Bruderschaften, durch Wallfahrten und Prozessionen zu zahlreichen Heiligtümern weitverbreitet und bereichert so den Lauf des Kirchenjahres und inspiriert Bräuche und Gepflogenheiten in Familie und Gesellschaft. Alle diese Formen müssen aufmerksam beobachtet werden durch eine Pastoral zur Förderung und Erneuerung, die ihnen hilft, alles zu entfalten, was echter Ausdruck der Weisheit des Volkes Gottes ist. Dies gilt sicherlich für den Rosenkranz. In diesem ihm gewidmeten Jahr liegt es mir am Herzen, dieses Gebet nochmals zu empfehlen; denn »der Rosenkranz, in seiner ganzen Bedeutung wieder neu entdeckt, führt ins Herz des christlichen Lebens selbst hinein. Er bietet eine gewohnheitsmäßige und ebenso fruchtbare geistige wie pädagogische Möglichkeit der persönlichen Betrachtung, der geistlichen Bildung des Volkes Gottes und der Neuevangelisierung« .137

Im Bereich der Volksfrömmigkeit ist eine ständige Überwachung zweideutiger Aspekte mancher Erscheinungen dringend geboten, indem man sie vor einem Abdriften in den Säkularismus, vor unbedachtem Konsumismus oder auch vor Gefahren des Aberglaubens bewahrt, um sie innerhalb reifer und authentischer Formen zu halten. Hier gilt es, Erziehungsarbeit zu leisten, indem man erklärt, wie die Volksfrömmigkeit immer im Einklang mit der Liturgie der Kirche und in Verbindung mit den Sakramenten gelebt werden muß.


80 Es darf nicht vergessen werden, daß der »Gottesdienst, der Gott gefällt« (vgl. Röm Rm 12,1), vor allem im täglichen Leben vollzogen wird, das – auch in Augenblicken scheinbarer Ohnmacht – durch die freie, großherzige Selbsthingabe in der Liebe gelebt wird. So wird das Leben von unerschütterlicher Hoffnung beseelt, weil es allein der Gewißheit der Macht Gottes und des Sieges Christi überlassen ist: ein Leben, erfüllt vom Trost Gottes, mit dem wir unsererseits alle trösten sollen, denen wir auf unserem Weg begegnen (vgl. 2Co 1,4).



Der Tag des Herrn


81 Ein beispielhafter und sehr gedächtnisträchtiger Moment in bezug auf die Feier des Evangeliums der Hoffnung ist der Tag des Herrn.

Im gegenwärtigen Kontext beschränken die äußeren Umstände die Möglichkeiten der Christen, den Sonntag als Tag der Begegnung mit dem Herrn in seiner Fülle zu leben. Nicht selten geschieht es, daß der Sonntag auf ein »Wochenende« , auf eine bloße Flucht aus dem Alltag reduziert wird. Es bedarf daher einer gut gegliederten pastoralen Aktion auf erzieherischer, geistlicher und gesellschaftlich-sozialer Ebene, die hilft, die wahre Bedeutung des Sonntags zu leben.


82 Ich erneuere daher die Einladung, die tiefste Bedeutung des Tages des Herrn zurückzugewinnen: 138 Er soll geheiligt werden durch die Teilnahme an der Eucharistie und durch eine Ruhe, die reich an christlicher Freude und Brüderlichkeit ist. Er soll als Zentrum der ganzen Gottesverehrung gefeiert werden, als unaufhörliche Vorankündigung des ewigen Lebens, die die Hoffnung wiederbelebt und uns ermutigt auf unserem Weg. Man scheue sich daher nicht, den Sonntag gegen jeden Angriff zu verteidigen und sich in der Arbeitsplanung für seine Sicherstellung einzusetzen, so daß er zum Vorteil der ganzen Gesellschaft ein Tag für den Menschen sein kann. Wenn nämlich der Sonntag seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt würde und es an ihm nicht mehr möglich wäre, dem Gebet, der Erholung, der Gemeinschaft und der Freude den angemessenen Raum zu geben, könnte es geschehen, »daß der Mensch nicht mehr den ,,Himmel'' sehen kann, weil er in einem so engen Horizont eingesperrt ist. So ist er unfähig, zu feiern, auch wenn er eine Festtagsgewandung trägt« .139 Und ohne die Dimension des Feierns würde die Hoffnung kein Haus mehr finden, um darin zu wohnen.

V. KAPITEL

DEM EVANGELIUM

DER HOFFNUNG DIENEN


»Ich kenne deine Werke, deine Liebe

und deinen Glauben, dein Dienen und Ausharren«

(@AP 2,19@)

Der Weg der Liebe


83 Das Wort, das der Geist den Kirchen sagt, enthält ein Urteil über ihr Leben. Es betrifft Taten und Haltungen: »Ich kenne deine Werke« lautet die Einleitung, die gleichsam wie ein Kehrreim, mit wenigen Varianten, in den an die sieben Kirchen geschriebenen Briefen erklingt. Wenn sich die Werke als positiv herausstellen, sind sie Frucht der Mühe, des Ausharrens, des Ertragens von Prüfungen, Kummer und Armut, der Treue in den Verfolgungen, der Liebe, des Glaubens, des Dienstes. In diesem Sinne können sie als Beschreibung einer Kirche gelesen werden, die das Heil, das ihr vom Herrn zukommt, nicht nur verkündet und feiert, sondern es konkret ,,lebt''.

Um dem Evangelium der Hoffnung zu dienen, wird auch von der Kirche in Europa verlangt, daß sie dem Weg der Liebe folgt – ein Weg, der über die evangelisierende Nächstenliebe führt, über das vielfältige Engagement im Dienen und über die Entscheidung für eine unermüdliche und unbegrenzte Hochherzigkeit.


I. Der Dienst der Liebe


In Gemeinschaft und Solidarität


84 Die empfangene und weitergeschenkte Liebe ist für jeden Menschen die Urerfahrung, in der die Hoffnung entsteht. »Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er der Liebe nicht begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält« .140

Die Herausforderung für die Kirche im heutigen Europa besteht also darin, dem Menschen unserer Zeit durch das Zeugnis der Liebe, das eine ihm innewohnende evangelisierende Kraft besitzt,zu helfen, daß er die Liebe Gottes des Vaters und die Liebe Christi im Heiligen Geist erfährt.

Darin besteht schließlich das »Evangelium« , die frohe Botschaft für jeden Menschen: Gott hat uns zuerst geliebt (vgl.
1Jn 4,10 1Jn 4,19); Jesus hat uns bis zur Vollendung geliebt (vgl. Joh Jn 13,1). Dank der Gabe des Heiligen Geistes wird den Glaubenden die Liebe Gottes angeboten, durch die sie seiner Liebesfähigkeit teilhaftig werden: sie drängt im Herzen jedes Jüngers und der ganzen Kirche (vgl. 2Co 5,14). Eben weil von Gott geschenkt, wird die Liebe für den Menschen zumGebot (vgl. Joh Jn 13,34).

Leben in der Liebe wird also dadurch zur frohen Botschaft an jeden Menschen, daß es die Liebe Gottes, die niemanden fallen läßt, sichtbar macht. Das bedeutet schließlich, dem verlorenen Menschen echte Gründe zum Weiterhoffen zu geben.


85 Es ist die Berufung der Kirche als »glaubwürdiges, wenn auch immer unzureichendes Zeichen der gelebten Liebe, die Menschen mit der Liebe Gottes und Christi, der sie sucht, in Berührung zu bringen« .141 Das beweist die Kirche, »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ,142 wenn Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften das Evangelium der Liebe intensiv leben. Mit anderen Worten, unsere Kirchengemeinden sind aufgerufen, wahre Übungsplätze für gemeinschaftliches Miteinander zu sein.

Das Zeugnis der Liebe muß seinem Wesen entsprechend über die Grenzen der Kirchengemeinde hinausgehen, um jeden Menschen zu erreichen, so daß die Liebe zu allen Menschen für das gesamte soziale Leben zum Anreiz echter Solidarität wird. Wenn die Kirche der Liebe dient, läßt sie zugleich die »Kultur der Solidarität« wachsen und trägt auf diese Weise dazu bei, die allgemeinen Werte des menschlichen Zusammenlebens wieder fruchtbar zu machen.

Aus dieser Sicht gilt es, den authentischen Sinn des christlichen Freiwilligendienstes wiederzuentdecken.

Während er aus dem Glauben entsteht und ständig von ihm genährt wird, muß er berufliche Fähigkeit und echte Liebe zu verbinden wissen, indem er alle, die ihn ausüben, dazu anspornt, »die Gefühle einfacher Menschenliebe auf die Höhe der Christusliebe emporzuheben; jeden Tag inmitten von Ermüdung und Überdruß das Bewußtsein von der Würde jedes Menschen zurückzugewinnen; die Bedürfnisse der Menschen ausfindig zu machen und dabei, wenn nötig, dort neue Wege einzuschlagen, wo die Not am dringendsten ist und Beachtung und Hilfe am schwächsten sind« .143


II. Dem Menschen

in der Gesellschaft dienen


Den Armen wieder Hoffnung geben


86 Die ganze Kirche ist gefordert, den Armen wieder Hoffnung zu geben. Sie aufzunehmen und ihnen zu dienen, bedeutet für die Kirche, Christus aufzunehmen und ihm zu dienen (vgl. Mt Mt 25,40). Die vorrangige Liebe zu den Armen ist eine notwendige Dimension des Christseins und des Dienstes am Evangelium. Sie zu lieben und ihnen zu bezeugen, daß sie von Gott besonders geliebt werden, heißt anzuerkennen, daß Menschen unabhängig davon, in welchen ökonomischen, kulturellen und sozialen Verhältnissen sie sich befinden, um ihrer selbst willen wertvoll sind, und ihnen so zu helfen, ihre Leistungsfähigkeiten zur Geltung zu bringen.


87 Nicht unberührt lassen kann uns sodann das Phänomen der Arbeitslosigkeit, die in vielen Nationen Europas eine ernste soziale Geißel darstellt. Dazu kommen die Probleme im Zusammenhang mit den wachsenden Migrantenströmen. Die Kirche muß daran erinnern, daß die Arbeit ein Gut darstellt, um das sich die ganze Gesellschaft kümmern muß.

Während die Kirche erneut die sittlichen Kriterien ins Bewußtsein ruft, von denen sich Markt und Wirtschaft in gewissenhafter Achtung vor der zentralen Stellung des Menschen leiten lassen müssen, wird sie es nicht unterlassen, den Dialog mit den auf politischer, gewerkschaftlicher und unternehmerischer Ebene engagierten Personen zu suchen.144 Ein solcher Dialog muß als Ziel den Aufbau eines Europas als Gemeinschaft von Völkern und Menschen anstreben, als Gemeinschaft, die – solidarisch in der Hoffnung – nicht ausschließlich den Gesetzen des Marktes unterworfen ist, sondern sich entschieden um die Wahrung der Würde des Menschen auch in den wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen bemüht.


88 Auch der Krankenpastoral muß eine angemessene Bedeutung verliehen werden. In Anbetracht dessen, daß die Krankheit eine Situation darstellt, die grundsätzliche Fragen über den Sinn des Lebens aufwirft, muß »in einer Wohlstands- und Leistungsgesellschaft, in einer Kultur, die von der Vergötzung des Körpers, von der Verdrängung des Leidens und des Schmerzes und vom Mythos ewiger Jugendlichkeit gekennzeichnet ist« ,145 die Sorge für die Kranken als eine der Prioritäten angesehen werden. Zu diesem Zweck muß einerseits eine angemessene pastorale Präsenz an den Stätten des Leidens – zum Beispiel durch den Einsatz von Krankenhausseelsorgern, Mitgliedern von Freiwilligenverbänden, kirchlichen Gesundheitseinrichtungen – und andererseits eine Unterstützung für die Familien der Kranken gefördert werden. Außerdem wird es notwendig sein, den Ärzten und dem Pflegepersonal mit geeigneten pastoralen Mitteln zur Seite zu stehen, um sie in ihrer anspruchsvollen Berufung im Dienst an den Kranken zu unterstützen. Denn die im Gesundheitswesen tätigen Personen leisten mit ihrer Arbeit Tag für Tag einen edlen Dienst am Leben. Von ihnen wird verlangt, den Patienten auch jenen besonderen seelischen Beistand zu bieten, der die Wärme eines echten menschlichen Kontaktes voraussetzt.


89 Und schließlich soll nicht übersehen werden, daß von den Gütern der Erde nicht selten auf ungebührliche Weise Gebrauch gemacht wird. Da der Mensch nämlich den Auftrag, die Erde mit Weisheit und Liebe zu bebauen und zu hüten (vgl. Gen Gn 2,15), nicht erfüllte, hat er in vielen Regionen Wälder und Landflächen zerstört, die Gewässer verseucht, die Luft zum Atmen unerträglich gemacht, die hydro-geologischen und atmosphärischen Systeme durcheinandergebracht und riesige Landstriche der fortschreitenden Wüstenbildung ausgesetzt.

Auch in diesem Fall heißt Dienst am Evangelium der Hoffnung, sich auf neue Weise für einenrichtigen Gebrauch der Güter der Erde einzusetzen,146 indem man zu jener aufmerksamen Sorgfalt anregt, die nicht nur die natürlichen Lebensräume schützt, sondern vor allem die Lebensqualität der Menschen dadurch verteidigt, daß sie den künftigen Generationen eine Umwelt vorbereitet, die mit dem Plan des Schöpfers besser übereinstimmt.



Die Wahrheit über die Ehe und die Familie


90 Die Kirche in Europa muß auf allen Ebenen wieder die Wahrheit über die Ehe und die Familie zuverlässig herausstellen.147 Das ist eine Dringlichkeit, die sie in sich brennen spürt, weil sie weiß, daß ihr kraft des ihr von ihrem Bräutigam und Herrn übertragenen Evangelisierungsauftrags diese Aufgabe obliegt, die sich heute mit zwingender Notwendigkeit neu stellt. Nicht wenige kulturelle, soziale und politische Faktoren tragen nämlich zu einer immer stärker hervortretenden Krise der Familie bei. Sie gefährden in verschiedenem Ausmaß die Wahrheit und die Würde der menschlichen Person und stellen durch Verzerrung selbst die Idee der Familie in Frage. Der Wert der Unauflöslichkeit der Ehe wird immer weniger anerkannt; es wird die gesetzliche Anerkennung von Formen faktischen Zusammenlebens und deren Gleichstellung mit den rechtmäßig geschlossenen Ehen verlangt; es fehlt nicht an Versuchen, Modelle von Partnerschaften zu akzeptieren, in denen der Unterschied im Geschlecht nicht mehr wesentlich ist.

In diesem Kontext ist die Kirche gefordert, mit neuer Kraft zu verkünden, was das Evangelium über die Ehe und die Familie sagt, um deren Bedeutung und Wert im Heilsplan Gottes zu erfassen. Insbesondere ist es nötig, die Institution von Ehe und Familie als aus dem Willen Gottes entstammende Realitäten erneut zu bekräftigen. Die Wahrheit über die Familie als innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe,148 die offen ist für die Zeugung neuer Menschen, muß ebenso wiederentdeckt werden wie ihre Würde als ,,Hauskirche'' und ihre Teilnahme an der Sendung der Kirche und am Leben der Gesellschaft.


91 Nach Ansicht der Synodenväter ist es notwendig, anzuerkennen, daß viele Familien im Alltag ihres in Liebe gelebten Daseins sichtbare Zeugen der Gegenwart Jesu sind, der sie begleitet und durch die Gabe seines Geistes aufrechterhält. Um einen solchen Weg zu unterstützen, muß man die Theologie und die Spiritualität von Ehe und Familie vertiefen, die Wahrheit und Schönheit der Familie, die auf die als dauerhafte und fruchtbare Vereinigung eines Mannes und einer Frau verstandene Ehe gegründet ist, uneingeschränkt und mit Festigkeit verkündigen und durch wirksame Beispiele auf sie hinweisen und in jeder Kirchengemeinde eine angemessene Familienpastoral fördern. Gleichzeitig wird es nötig sein, mit mütterlicher Sorge seitens der Kirche denjenigen, die sich in schwierigen Situationen befinden, wie z. B. ledigen jungen Müttern, getrennt lebenden oder geschiedenen Personen, verstoßenen Kindern, eine Hilfe anzubieten. In jedem Fall sollte man den berechtigten Protagonismus einzelner oder in Zusammenschlüssen organisierter Familien in der Kirche und in der Gesellschaft anregen, begleiten und unterstützen und sich um die Förderung einer wirklich angemessenen Familienpolitik von seiten der einzelnen Staaten und der Europäischen Union bemühen« .149


92 Besondere Beachtung verdient die Erziehung der jungen Menschen und der Verlobten zur Liebe: Speziell zur Vorbereitung auf das Sakrament der Ehe bestimmte Kurse sollen ihnen helfen, bis zu diesem Augenblick in Keuschheit zu leben. Als besonders aufmerksam wird sich die Kirche in ihrer Erziehungsarbeit erweisen, wenn sie die Neuvermählten auch nach der Hochzeit weiter begleitet.


93 Schließlich ist die Kirche aufgerufen, mit mütterlicher Güte auch Ehesituationen entgegenzukommen, in denen leicht die Hoffnung schwindet. »Angesichts so vieler zerstörter Familien fühlt sich die Kirche veranlaßt, kein strenges und distanziertes Urteil zu fällen, sondern vielmehr in die Wunden so vieler menschlicher Tragödien hinein das Licht des Wortes Gottes zu tragen, das vom Zeugnis seines Erbarmens begleitet ist. Aus diesem Geiste heraus versucht die Familienpastoral, sich auch jener Situationen anzunehmen, in denen geschiedene Gläubige eine weitere Ehe eingegangen sind. Sie sind nicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen: Sie sind ganz im Gegenteil dazu eingeladen, am Leben der Gemeinde teilzunehmen und einen Weg des geistlichen Wachstums im Geiste des Evangeliums einzuschlagen. Die Kirche verschweigt ihnen gegenüber jedoch nicht, daß sie sich objektiv in einem moralisch ungeordneten Zustand befinden, und ebenso wenig, daß hieraus Konsequenzen für den Sakramentenempfang entstehen. Dennoch möchte die Kirche ihnen ihre ganze mütterliche Nähe bekunden« .150


94 Wenn es für den Dienst am Evangelium der Hoffnung unbedingt einer entsprechenden, vorrangigen Aufmerksamkeit für die Familie bedarf, so steht es ebenso außer Zweifel, daß die Familien selbst in bezug auf eben dieses Evangelium der Hoffnung eine unersetzliche Aufgabe zu erfüllen haben. Deshalb richte ich voll Vertrauen und Liebe an alle christlichen Familien, die in diesem Europa leben, erneut die Aufforderung: »Familien, werdet, was ihr seid!« . Ihr seid daslebende Abbild der Liebe Gottes: Ihr habt nämlich den »Auftrag, die Liebe zu hüten, zu offenbaren und mitzuteilen als lebendigen Widerschein und wirkliche Teilhabe an der Liebe Gottes zu den Menschen und an der Liebe Christi, unseres Herrn, zu seiner Braut, der Kirche« .151

Ihr seid das »Heiligtum des Lebens [...]: der Ort, an dem das Leben, Gabe Gottes, in angemessener Weise angenommen und gegen die vielfältigen Angriffe, denen es ausgesetzt ist, geschützt wird und wo es sich entsprechend den Forderungen eines echten menschlichen Wachstums entfalten kann« .152

Ihr seid das Fundament der Gesellschaft, da ihr der erste Ort der »Humanisierung« der Person und des bürgerlichen Lebens seid,153 ein Vorbild für die Errichtung in Liebe und Solidarität gelebter sozialer Beziehungen.

Seid also selber glaubwürdige Zeugen des Evangeliums der Hoffnung! Denn ihr seid »gaudium et spes« ,154 Freude und Hoffnung.



Dem Evangelium des Lebens dienen


95 Die Überalterung und die zahlenmäßige Abnahme der Bevölkerung, die in verschiedenen Ländern Europas zu beobachten sind, müssen Anlaß zur Sorge geben; denn derGeburtenrückgang ist Symptom eines gestörten Verhältnisses zur eigenen Zukunft; er ist der deutliche Ausdruck eines Mangels an Hoffnung, Zeichen jener »Kultur des Todes« , die die heutige Gesellschaft durchzieht.155

Zusammen mit dem Geburtenrückgang müssen noch andere Anzeichen erwähnt werden, die dazu beitragen, den Wert des Lebens zu verdunkeln und eine Art Verschwörung gegen das Leben zu entfesseln. Darunter ist betrüblicherweise vor allem die Verbreitung der Abtreibung zu zählen, auch unter Anwendung chemisch-pharmakologischer Präparate, die sie ohne Zutun eines Arztes möglich machen und so jeder Form sozialer Verantwortlichkeit entziehen. Begünstigt wird das durch die in der Rechtsordnung vieler Staaten des Kontinents vorhandene Gesetzgebung, welche eine Handlung zuläßt, die ein »verabscheuungswürdiges Verbrechen« 156 ist und eine schwere sittliche Störung darstellt. Nicht vergessen werden dürfen auch die gegen das Leben verübten Anschläge durch »Eingriffe auf menschliche Embryonen, die unweigerlich mit der Tötung des Embryos verbunden sind, auch wenn sie Zwecken dienen, die an sich erlaubt sind« , oder durch eine unkorrekte Anwendung der Verfahren vorgeburtlicher Diagnose, die nicht eine mitunter mögliche frühzeitige Therapie zum Ziel haben, sondern »in den Dienst einer Eugenetik-Mentalität gestellt werden, die die selektive Abtreibung in Kauf nimmt« .157

Des weiteren muß eine Tendenz erwähnt werden, die in einigen Teilen Europas festzustellen ist, nämlich die Annahme, es könne erlaubt sein, dem eigenen Leben oder dem eines anderen Menschen bewußt ein Ende zu setzen: Das führt zur Verbreitung der versteckten oder offen praktizierten Euthanasie, deren Legalisierung wiederholt gefordert und in einigen traurigen Fällen bereits vollzogen wurde.


96 Unter diesen Umständen ist es notwendig, »dem Evangelium des Lebens« auch durch »eine allgemeine Mobilisierung der Gewissen und eine gemeinsame sittliche Anstrengung« zu dienen, »um eine große Strategie zugunsten des Lebens in die Tat umzusetzen. Wir müssen alle zusammen eine neue Kultur des Lebens aufbauen« .158 Das ist eine große Herausforderung, der man mit Verantwortung und mit der Gewißheit begegnen muß, daß »die Zukunft der europäischen Kultur großenteils von der entschiedenen Verteidigung und Förderung der Werte des Lebens, dem Kern ihres Kulturerbes, abhängt« .159 Es geht in der Tat darum, Europa seine wahre Würde zurückzugeben, nämlich ein Ort zu sein, wo jede Person in ihrer unvergleichlichen Würde bestätigt wird.

Ich mache mir gern die folgenden Worte der Synodenväter zu eigen: »Die Synode der europäischen Bischöfe regt die christlichen Gemeinden dazu an, sich zu Glaubensboten des Lebens zu machen. Sie ermutigt die christlichen Ehepaare und Familien, sich gegenseitig zu unterstützen in der Treue zu ihrer Sendung als Mitarbeiter Gottes bei der Zeugung und Erziehung neuer Geschöpfe. Sie schätzt jeden großherzigen Versuch, auf den von falschen Sicherheits- und Glücksmodellen genährten Egoismus im Bereich der Weitergabe des Lebens zu reagieren. Sie ersucht die Staaten Europas und die Europäische Union, weitblickende politische Maßnahmen zur Förderung der konkreten Wohn- und Arbeitsbedingungen und der sozialen Dienste zu ergreifen, die geeignet sind, die Gründung der Familie und die Antwort auf die Berufung zur Elternschaft zu begünstigen, und darüber hinaus dem heutigen Europa die kostbarste Ressource sicherstellen: die Europäer von morgen« .160



Eine menschenwürdige Stadt erbauen


97 Die tätige Liebe verpflichtet uns, das Kommen des Reiches Gottes zu beschleunigen. Deshalb arbeitet sie an der Förderung der echten Werte mit, die einer menschenwürdigen Kultur zugrunde liegen. Denn wie das Zweite Vatikanische Konzil ausführt, »müssen die Christen auf der Pilgerschaft zur himmlischen Vaterstadt suchen und sinnen, was oben ist; dadurch wird jedoch die Bedeutung ihrer Aufgabe, zusammen mit allen Menschen am Aufbau einer menschlicheren Welt mitzuarbeiten, nicht vermindert, sondern gemehrt« .161 Weit davon entfernt, von der Geschichte zu entfremden, steigert die Erwartung des neuen Himmels und der neuen Erde die Sorge um die gegenwärtige Wirklichkeit, wo schon jetzt das Neue heranwächst, das Keim und Gestalt der Welt ist, die kommen wird.

Von diesen Glaubensgewißheiten beseelt, wollen wir uns um den Aufbau einer menschenwürdigen Stadt bemühen. Auch wenn es nicht möglich ist, in der Geschichte eine vollkommene Gesellschafts- und Sozialordnung aufzubauen, wissen wir doch, daß jede ehrliche Anstrengung für die Errichtung einer besseren Welt vom Segen Gottes begleitet ist und daß jeder Same von Gerechtigkeit und Liebe, der in der Zeit ausgesät wurde, in alle Ewigkeit erblüht.


98 Beim Aufbau der menschenwürdigen Stadt muß der Soziallehre der Kirche eine inspirierende Rolle zuerkannt werden. Durch sie nämlich stellt die Kirche dem europäischen Kontinent die Frage nach der moralischen Qualität seiner Kultur. Sie hat ihren Ursprung in der Begegnung zwischen der biblischen Botschaft mit der Vernunft auf der einen und den das Leben des Menschen und der Gesellschaft betreffenden Problemen und Situationen auf der anderen Seite. Durch die Gesamtheit der von ihr gebotenen Prinzipien trägt diese Lehre dazu bei, solide Grundlagen für ein menschengerechtes Zusammenleben in Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit und Solidarität zu legen. Ausgerichtet auf die Verteidigung und Förderung der Würde der menschlichen Person – Grundlage nicht nur des wirtschaftlichen und politischen Lebens, sondern auch der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens – erweist sich die Soziallehre als fähig, die tragenden Säulen der Zukunft des Kontinents abzustützen.162 In dieser Lehre finden sich die Anhaltspunkte, um die moralische Struktur der Freiheit verteidigen zu können und so die europäische Kultur und Gesellschaft sowohl vor der totalitären Utopie der »Gerechtigkeit ohne Freiheit« als auch vor der Utopie der »Freiheit ohne Wahrheit« , die mit einem falschen »Toleranz« -Begriff einhergeht, zu bewahren; beide Utopien sind Vorboten von Irrtum und Schrecken für die Menschheit, wie die jüngste Geschichte Europas selbst leider beweist.163


99 Die Soziallehre der Kirche ist durch ihre innere Verbindung mit der Würde der Person so beschaffen, daß sie auch von denen verstanden wird, die nicht der Gemeinschaft der Gläubigen angehören. Es ist also dringend notwendig, die Kenntnis von ihr und ihr Studium zu verbreiten und so die auch unter den Christen herrschende Unwissenheit über sie zu überwinden. Das verlangt das im Aufbau befindliche neue Europa, das nach diesen Werten erzogene Menschen braucht, die bereit sind, sich für die Verwirklichung des Gemeinwohls einzusetzen. Dazu ist die Präsenz christlicher Laien erforderlich, die in den verschiedenen Verantwortungsbereichen des zivilen Lebens, der Wirtschaft, der Kultur, des Gesundheitswesens, der Erziehung und der Politik so wirken sollen, daß sie dort die Werte des Reiches Gottes einfließen lassen können.164



Für eine Kultur der Aufnahme


100 Zu den Herausforderungen, die sich heute dem Dienst am Evangelium der Hoffnung stellen, zählt auch das wachsende Phänomen der Zuwanderungen, das von der Kirche die Fähigkeit verlangt, jede Person, welchem Volk oder welcher Nation sie auch angehört, aufzunehmen. Es spornt auch die gesamte europäische Gesellschaft und ihre Institutionen zur Suche nach einer gerechten Ordnung und nach Weisen des Zusammenlebens an, die alle respektieren, sowie nach der Legalität in einem Prozeß möglicher Integration.

In Anbetracht des Zustandes von Elend, Unterentwicklung oder auch unzureichender Freiheit, der leider noch immer in verschiedenen Ländern herrscht und viele zum Verlassen ihres Landes treibt, bedarf es eines mutigen Einsatzes von seiten aller für die Verwirklichung einer gerechteren internationalen Wirtschaftsordnung, die in der Lage ist, die wirkliche Entwicklung aller Völker und aller Länder zu fördern.


101 Angesichts des Migrationsphänomens steht für Europa die Fähigkeit auf dem Spiel, Formen einer intelligenten Aufnahme und Gastfreundschaft Raum zu geben. Die »universalistische« Sicht des Gemeinwohls fordert das: Man muß den Blick weiten, um die Bedürfnisse der ganzen Menschheitsfamilie im Auge zu haben. Das Phänomen der Globalisierung fordert Öffnung und Teilen, wenn es nicht Wurzel von Ausschließung und Ausgrenzung sein soll, sondern vielmehr von solidarischer Teilnahme aller an der Produktion und am Austausch der Güter.

Jeder muß sich um das Wachstum einer reifen Kultur der Aufnahme bemühen, die der gleichen Würde aller Menschen und der pflichtgemäßen Solidarität gegenüber den Schwächsten Rechnung trägt und deshalb erfordert, daß jedem Einwanderer die Grundrechte zuerkannt werden. In der Verantwortung der öffentlichen Behörden liegt es, die Kontrolle der Zuwanderungsströme unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Gemeinwohls durchzuführen. Die Aufnahme muß immer unter Einhaltung der Gesetze erfolgen und daher, wenn nötig, mit der Ausschaltung von Mißbräuchen einhergehen.


102 Es ist ebenfalls notwendig, sich für die Erarbeitung möglicher Formen einer echten Integration der gesetzlich aufgenommenen Zuwanderer in das Gesellschafts- und Kulturgefüge der verschiedenen europäischen Nationen einzusetzen. Die Integration erfordert, daß man nicht der Gleichgültigkeit gegenüber den universalen menschlichen Werten verfallen darf und daß das besondere kulturelle Erbe jeder Nation bewahrt werden muß. Ein friedliches Zusammenleben und ein Austausch der jeweiligen inneren Reichtümer wird den Aufbau eines Europa möglich machen, das gemeinsames Haus zu sein versteht, in das jeder aufgenommen werden kann, in dem keiner diskriminiert wird und alle als Mitglieder einer einzigen großen Familie behandelt werden und verantwortungsvoll leben.


103 Die Kirche ihrerseits ist aufgerufen, »ihren Einsatz zur Schaffung und weiteren Verbesserung ihrer Aufnahme- und pastoralen Betreuungsdienste für die Zuwanderer und Flüchtlinge fortzusetzen« ,165 um zu erreichen, daß ihre Würde und Freiheit respektiert und ihre Integration gefördert wird.

Eine besondere pastorale Sorge muß der Integration der katholischen Zuwanderer gelten, wobei ihrer Kultur und der Ursprünglichkeit ihrer religiösen Tradition entsprechende Achtung entgegengebracht werden soll. Zu diesem Zweck sind Kontakte zwischen den Herkunftskirchen der Zuwanderer und den Kirchen der Aufnahmeländer zu fördern, um Hilfsmaßnahmen zu erarbeiten, die unter den Zuwanderern auch die Anwesenheit von aus ihren Ländern stammenden Priestern, Ordensleuten und entsprechend ausgebildeten Seelsorghelfern vorsehen.

Der Dienst am Evangelium verlangt außerdem, daß die Kirche zur Verteidigung der Anliegen der Unterdrückten und Ausgeschlossenen die politischen Autoritäten der verschiedenen Staaten und die Verantwortlichen der europäischen Institutionen auffordert, den Flüchtlingsstatus für alle anzuerkennen, die aufgrund der Gefahr für ihr Leben aus ihrem Herkunftsland geflohen sind, wie auch ihre Rückkehr in ihre Länder zu unterstützen und außerdem Bedingungen zu schaffen, damit die Würde aller Zuwanderer geachtet und ihre Grundrechte verteidigt werden.166


III. Entschließen wir uns zur Liebe!



104 Der von den Synodenvätern an alle Christen des europäischen Kontinents gerichtete Aufruf, die tätige Liebe zu leben,167 stellt die gelungene Synthese eines wirklichen Dienstes am Evangelium der Hoffnung dar. Jetzt lege ich ihn dir, Kirche Christi in Europa, wieder vor. Die Freuden und Hoffnungen, die Betrübnisse und die Ängste der heutigen Europäer, vor allem der Armen und der Leidenden, seien auch deine Freuden und Hoffnungen, deine Betrübnisse und Ängste, und alles, was wirklich menschlich ist, finde Widerhall in deinem Herzen. Blicke auf Europa und auf seinen Weg mit der Sympathie dessen, der jedes positive Element schätzt, aber zugleich die Augen nicht vor dem verschließt, was mit dem Evangelium unvereinbar ist, und es nachdrücklich anklagt.


105 Kirche in Europa, empfange jeden Tag mit neuer Frische die Gabe der Liebe, die dein Herr dir anbietet und zu der er dich befähigt. Lerne von ihm die Inhalte und das Ausmaß der Liebe. Und sei Kirche der Seligpreisungen, die ständig Christus gleichgestaltet wird (vgl. Mt Mt 5,1-12).

Frei von Hindernissen und Abhängigkeiten, sei arm und Freundin der Armen, aufnahmebereit gegenüber jedem Menschen und achte auf jede alte oder neue Form von Armut.

Ständig gereinigt durch die Güte des Vaters, erkenne in der Haltung Jesu, der stets die Wahrheit verteidigt hat, sich aber gleichzeitig den Sündern gegenüber barmherzig erwies, die höchste Norm deines Handelns.

In Jesus, bei dessen Geburt der Friede verkündet wurde (vgl. Lk Lc 2,14), in ihm, der durch seinen Tod jede Feindschaft niedergerissen (vgl. Eph Ep 2,14) und den wahren Frieden gegeben hat (vgl. Jn 14,27), sei Friedensstifter, indem du deine Söhne und Töchter aufforderst, ihr Herz von jeder Feindseligkeit, jedem Egoismus und jeder Parteilichkeit reinigen zu lassen, und indem du unter allen Umständen den Dialog und die gegenseitige Achtung förderst.

Werde in Jesus, der Gerechtigkeit Gottes, nie müde, jegliche Form von Ungerechtigkeit anzuklagen. Während du in der Welt mit den Werten des kommenden Reiches lebst, sollst du Kirche der Liebe sein, sollst du deinen unentbehrlichen Beitrag leisten, um in Europa eine immer menschenwürdigere Gesellschaft aufzubauen.

Ecclesia in Europa DE 65