Ecclesia in America DE 58

Vorrangige Liebe zu den Armen und gesellschaftlichen Randgruppen


58 „Die Kirche in Amerika muß in ihre seelsorglichen Initiativen die Solidarität der Gesamtkirche gegenüber den Armen und Randgruppen jeglicher Art mit einbeziehen. Zu ihrer Haltung müssen Fürsorge, Förderung, Befreiung und brüderliche Akzeptanz gehören. Die Kirche erhebt den Anspruch, daß es absolut keine gesellschaftlichen Randgruppen geben darf“ (213). Die Erinnerung an die dunklen Kapitel der Geschichte Amerikas hinsichtlich der Sklaverei und anderer Arten von gesellschaftlicher Diskriminierung muß den aufrichtigen Wunsch nach Umkehr hervorrufen, die zur Versöhnung und Gemeinschaft führt.

Die Sorge um die am meisten Bedürftigen geht aus der vorrangigen Liebe zu den Armen hervor. Es geht dabei um eine Liebe, die nicht exklusiv ist und die daher nicht als ein Zeichen von Partikularismus oder von Sektierertum (214) gewertet werden kann. Indem der Christ die Armen liebt, ahmt er den Herrn nach, der sich in seinem irdischen Leben in Mitleid den Nöten der Bedürftigen – sowohl in geistiger als auch in materieller Hinsicht – widmete.

Die Aktivität der Kirche zugunsten der Armen in allen Teilen des Kontinents ist wichtig, dennoch muß man sich weiterhin darum bemühen, daß diese Art von Seelsorge immer mehr zum Weg der Begegnung mit Christus wird, der, obwohl er reich ist, für uns arm wurde, um uns durch seine Armut zu bereichern (vgl.
2Co 8,9). All das, was in diesem Bereich bereits geschieht, muß noch intensiviert und erweitert werden, und man soll versuchen, die größtmögliche Anzahl von Armen dadurch zu erreichen. Die Heilige Schrift erinnert uns daran, daß Gott das Rufen der Armen erhört (vgl. Ps Ps 34,7), und die Kirche muß auf dieses Rufen der am meisten Bedürftigen achten. Indem sie auf deren Stimme hört, „muß die Kirche mit den Armen leben und an ihrem Leid teilnehmen. […] Schließlich muß sie durch ihre Lebensweise Zeugnis dafür ablegen, daß sie selbst sich durch ihre Prioritäten und in Wort und Tat in Gemeinschaft und Solidarität mit ihnen befindet“ (215).

Die Auslandsverschuldung


59 Die Auslandsverschuldung, die viele Völker des amerikanischen Kontinents zu ersticken scheint, ist ein sehr umfangreiches Problem. Wenn hier auch nicht auf die zahlreichen Aspekte eingegangen werden kann, so darf die Kirche in ihrer Seelsorge dieses Problem doch nicht ignorieren, da es das Leben so vieler Menschen betrifft. Daher haben auch etliche Bischofskonferenzen in Amerika im Bewußtsein der Tragweite dieses Problems diesbezüglich Studientagungen organisiert und Dokumente bezüglich einer effektiven Lösung desselben veröffentlicht (216). Auch ich habe meine Sorge über diese in vielen Fällen unhaltbare Situation schon des öfteren zum Ausdruck gebracht. Im Hinblick auf das bevorstehende Große Jubiläum des Jahres 2000 und in Erinnerung an den sozialen Sinn, den diese Jubeljahre im Alten Testament hatten, schrieb ich: „So werden sich im Geist des Buches Leviticus (25,8-28) die Christen zur Stimme aller Armen der Welt machen müssen, indem sie das Jubeljahr als eine passende Zeit hinstellen, um unter anderem an eine Überprüfung, wenn nicht überhaupt an einen erheblichen Erlaß der internationalen Schulden zu denken, die auf dem Geschick vieler Nationen lasten“ (217).

So wiederhole ich meinen Wunsch, den sich auch die Synodenväter zu eigen gemacht haben, daß der Päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden zusammen mit anderen zuständigen Organisationen, wie zum Beispiel die Abteilung für die Beziehungen zu den Staaten innerhalb des Staatssekretariats, „durch Nachforschung und Dialog zusammen mit Vertretern der Ersten Welt und Verantwortlichen der Weltbank und des internationalen Währungsfonds nach Lösungswegen zur Behebung des Problems der Auslandsverschuldung und nach Normen zur Verhinderung einer solchen Situation im Falle von zukünftigen Auslandskrediten sucht“ (218). Es wäre auch angebracht, daß auf möglichst breiter Ebene „Wirtschafts- und Währungsexperten von internationalem Ruf eine kritische Analyse der Weltwirtschaftsordnung in ihren positiven und negativen Aspekten erstellen, so daß die aktuelle Ordnung korrigiert wird, und man ein System und leistungsfähige Mechanismen zur Förderung einer ganzheitlichen und solidarischen Entwicklung der Menschen und Völker vorlegt“ (219).

Bekämpfung der Korruption


60 Auch in Amerika ist das Phänomen der Korruption weit verbreitet. Die Kirche kann aber auf wirksame Weise dazu beitragen, dieses Übel der bürgerlichen Gesellschaft durch eine „größere Präsenz qualifizierter Laien“ auszumerzen, „die durch ihre familiäre, schulische und kirchliche Herkunft Werte wie Wahrheit, Aufrichtigkeit, Fleiß und Dienst für das Allgemeinwohl fördern“ (220). Um dieses Ziel zu erreichen und auch um alle Menschen guten Willens zu erleuchten, die den durch Korruption entstandenen Übeln ein Ende bereiten wollen, muß jener Teil desKatechismus der Katholischen Kirche möglichst überall gelehrt und verbreitet werden, der sich auf dieses Thema bezieht. Auf diese Weise fördert man auch gleichzeitig bei den Katholiken aller Nationen die Kenntnis der durch die Bischofskonferenzen anderer Nationen diesbezüglich veröffentlichten Dokumente (221). Die Christen, die so unterwiesen sind, werden auch in bedeutender Weise zur Lösung dieses Problems beitragen, indem sie sich nämlich bemühen werden, die Soziallehre der Kirche in all den Aspekten, die ihr Leben und das jener Menschen betreffen, die ihr Einfluß erreichen könnte, in die Tat umzusetzen.

Das Drogenproblem


61 Hinsichtlich des schwerwiegenden Problems des Drogenhandels kann die Kirche in Amerika effektiv mit den Verantwortlichen der Nationen, mit den Leitern von Privatunternehmen, mit den nichtstaatlichen Organisationen und mit den internationalen Instanzen zusammenarbeiten, um Projekte zu entwickeln, die diesen Handel eliminieren, welcher die Integrität der Völker in Amerika bedroht (222). Diese Zusammenarbeit muß sich auf die gesetzgebenden Organe ausweiten und, indem sie die Initiativen zur Verhinderung von „Geldwäsche“ unterstützen, sollen sie die Kontrolle über die Güter derer fördern, die an diesem Handel beteiligt sind. Auch sollen sie darüber wachen, daß die Produktion und der Handel mit chemischen Substanzen zur Bearbeitung von Drogen nach legalen Normen abläuft. Die Dringlichkeit und Schwere dieses Problems drängen zum Aufruf an die verschiedenen Bereiche und Gruppen der zivilen Bevölkerung, den Drogenhandel gemeinsam zu bekämpfen (223). Was speziell die Bischöfe anbelangt, so ist es nach Auffassung der Synodenväter notwendig, daß sie selbst als Hirten des Gottesvolkes mutig und mit allen Kräften Hedonismus, Materialismus und solche Lebensweisen verwerfen, die den Griff zur Droge erleichtern (224).

Auch sollte man sich vor Augen halten, daß in gleicher Weise den verarmten Bauern geholfen werden muß, damit sie nicht in Versuchung kommen, durch den Anbau von Pflanzen zur Drogengewinnung zu leichtem Geld zu kommen. Diesbezüglich können die internationalen Organisationen den Regierungen der jeweiligen Länder wertvolle Zusammenarbeit anbieten, indem sie in verschiedener Hinsicht landwirtschaftliche Alternativproduktionen fördern. Auch müssen solche Leute ermutigt werden, die sich bemühen, andere vom Drogenkonsum abzubringen, und sich in pastoraler Fürsorge um drogenabhängige Opfer kümmern. Es ist von grundlegender Bedeutung, den jungen Generationen den wahren „Sinn des Lebens“ zu bieten, denn diese verfallen aufgrund dieses Sinnverlustes letzten Endes häufig dieser perversen Rauschgiftspirale. Auch die Mühe um Wiederherstellung und um soziale Rehabilitation kann eine wahre und wirkliche Aufgabe der Evangelisierung sein (225).

Die Aufrüstung


62 Ein Faktor, der in gravierender Weise die Entwicklung nicht weniger Länder in Amerika lähmt, ist die Aufrüstung. Aus den verschiedenen amerikanischen Teilkirchen muß sich eine prophetische Stimme erheben, die sowohl die Aufrüstung als auch den skandalösen Handel mit Kriegswaffen anprangert. Dieser verschlingt ungeheure Geldsummen, die eigentlich für die Bekämpfung der Armut und zur Förderung der Entwicklung eingesetzt werden müßten (226). Andererseits ist die Anhäufung von Waffen ein Faktor der Instabilität und eine Bedrohung des Friedens (227). Deshalb ist die Kirche wachsam angesichts des Risikos von bewaffneten Konflikten, vor allem wenn sie sich unter Bruderländern ereignen. Sie hat als Zeichen der Versöhnung und des Friedens dafür zu sorgen, „daß alle möglichen Mittel aufgewendet werden, um Wege der Vermittlung und Entscheidung zu finden und um zu Gunsten des Friedens und der Brüderlichkeit unter den Völkern zu wirken“ (228).

Eine Kultur des Todes und eine von den Mächtigen beherrschte Gesellschaft


63 Heute scheint sich in Amerika und auch in anderen Teilen der Welt ein Gesellschaftsmodell herauszukristallisieren, in welchem die Mächtigen dominieren und die Schwachen an den Rand gedrängt, ja sogar eliminiert werden. An dieser Stelle denke ich besonders an die ungeborenen Kinder, die wehrlose Opfer der Abtreibung sind; und ich denke an die alten und unheilbar kranken Menschen, die mitunter zum Objekt der Euthanasie gemacht werden; auch denke ich an viele andere Menschen, die durch Konsumhaltung und Materialismus an den Rand gedrängt werden. Ich kann auch die Augen nicht vor der unnötigen Anwendung der Todesstrafe verschließen. Wenn andere „unblutige Mittel hinreichen, um das Leben der Menschen gegen Angreifer zu verteidigen […] und die Sicherheit der Menschen zu schützen,“ wenn man die heutigen Möglichkeiten des Staates, das Verbrechen effektiv zurückzudrängen, in Betracht zieht, indem er den Täter außer Gefecht setzt, ohne ihm dadurch endgültig die Möglichkeit zur Reue zu nehmen, sind die Fälle, in denen es absolut notwendig wäre, den Übeltäter zu eliminieren, „sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben “ (229). Solche und ähnliche Gesellschaftsmodelle zeichnen sich durch die Kultur des Todes aus und stehen daher im Gegensatz zur Botschaft des Evangeliums. Angesichts dieser trostlosen Wirklichkeit versucht die kirchliche Gemeinschaft immer mehr, sich für eine Kultur des Lebens einzusetzen.

Daher haben die Synodenväter, indem sie die jüngsten Dokumente des kirchlichen Lehramtes übernommen haben, mit aller Deutlichkeit den totalen Einsatz für das menschliche Leben und dessen bedingungslose Achtung von der Empfängnis bis zum Augenblick des natürlichen Todes hervorgehoben, und sie bringen ihre Verwerfung solcher Übel wie Abtreibung und Euthanasie zum Ausdruck. Um diese Lehren des göttlichen und natürlichen Gesetzes zu erhalten, ist es von wesentlicher Bedeutung, die Kenntnis der kirchlichen Soziallehre zu fördern und sich dafür einzusetzen, daß solche Werte wie Leben und Familie auch durch das staatliche Sozialwesen und die staatliche Gesetzgebung anerkannt und verteidigt werden (230). Außer der Verteidigung des Lebens muß man auch durch die vielen seelsorglichen Einrichtungen eine aktive Förderung der Adoptionen intensivieren und ständige Fürsorgestellen für solche Frauen einrichten, die aufgrund ihrer Schwangerschaft sowohl vor als auch nach der Geburt des Kindes Probleme haben. Die Seelsorge muß auch in ganz besonderer Weise auf jene Frauen ausgerichtet sein, die eine Abtreibung erlitten oder aktiv durchführen haben lassen (231).

Ich danke Gott und spreche den Glaubensbrüdern und -schwestern in Amerika meine Hochachtung aus, die vereint mit anderen Christen und Menschen guten Willens sich dafür einsetzen, das Leben mit legalen Mitteln zu verteidigen und die Ungeborenen, die unheilbar Kranken und die Behinderten zu schützen. Ihr Einsatz ist auch deshalb höchst lobenswert, wenn man die Gleichgültigkeit so vieler Menschen, die Fallen der Euthanasie und die Anschläge auf das Leben und die Menschenwürde bedenkt, die täglich überall begangen werden (232).

Dieselbe Fürsorge muß auch für die oftmals vernachlässigten und verlassenen alten Menschen aufgebracht werden. Sie sind als Personen zu achten, und es ist wichtig, für sie Initiativen zur Annahme und Pflege zu ergreifen, wodurch auch gleichzeitig ihre Rechte gefördert und, soweit das möglich ist, ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden sichergestellt werden soll. Die alten Menschen müssen vor Situationen und vor Ausübung von Druck geschützt werden, die sie zum Selbstmord treiben könnten. In besonderer Weise müssen sie gegen die Versuchung des Selbstmordes durch Sterbehilfe und gegen die Euthanasie unterstützt werden.

Zusammen mit den Hirten des Gottesvolkes in Amerika richte ich einen Aufruf „an die im medizinisch-gesundheitlichen Bereich tätigen Katholiken und an alle, die einen öffentlichen Dienst verrichten sowie an alle, die im Schuldienst tätig sind, daß sie alles in ihrer Macht stehende tun, um das Leben zu verteidigen, das am meisten gefährdet ist. Hierbei sollen sie nach ihrem in rechter Weise gemäß der katholischen Lehre gebildeten Gewissen handeln. Die Bischöfe und Priester tragen in diesem Sinne die besondere Verantwortung, unermüdlich Zeugnis abzulegen für das Evangelium vom Leben, und sie sollen die Gläubigen ermahnen, daß sie in Treue zu diesem Evangelium handeln“ (233). Gleichzeitig sollte die Kirche in Amerika aber auch durch geeignete Interventionen die gesetzgebenden Institutionen aufklären, wenn sie Entscheidungen treffen, und sie sollten die Katholiken und anderen Menschen guten Willens ermutigen, Organisationen zur Förderung von guten Gesetzesprojekten zu schaffen, denn so werden jene Projekte verhindert, die Familie und Leben – zwei unzertrennbare Wirklichkeiten – bedrohen. Heutzutage muß ganz besonderes Augenmerk auf alles gelegt werden, was mit der Embryonenforschung zu tun hat, damit in keiner Hinsicht die Menschenwürde verletzt wird.

Einheimische Bevölkerungsgruppen und Amerikaner afrikanischer Herkunft


64 Wenn die Kirche in Amerika, die dem Evangelium Christi treu ist, den Weg der Solidarität zu gehen wünscht, muß sie auch in ganz besonderer Weise jene ethnischen Bevölkerungsgruppen in Betracht ziehen, die heutzutage immer noch Objekt ungerechter Diskriminierung sind. In der Tat ist jeglicher Versuch, die einheimischen Bevölkerungsgruppen zu Randgruppen zu machen, in der Wurzel zu ersticken. Das beinhaltet aber auch in erster Linie, daß man ihr Land und die mit ihnen abgeschlossenen Verträge zu respektieren hat. Ebenso muß man sich ihrer legitimen sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Bedürfnisse annehmen. Wie könnte man etwa die Notwendigkeit der Versöhnung zwischen den einheimischen Bevölkerungsgruppen und der Gesellschaft der jeweiligen Länder, in denen sie jetzt leben, einfach vergessen?

An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, daß die Amerikaner afrikanischer Herkunft auch heute noch in einigen Gegenden unter ethnischen Vorurteilen zu leiden haben. Dies stellt ein wichtiges Hindernis für die Begegnung mit Christus dar. Weil aber alle Menschen, gleich welcher Farbe und Rasse, von Gott und nach seinem Abbild geschaffen sind, sollte man konkrete Programme fördern, bei denen das gemeinsame Gebet nicht fehlen darf, Programme, die Völkerverständigung und Völkerversöhnung fördern, indem sie Brücken der christlichen Nächstenliebe, des Friedens und der Gerechtigkeit zwischen allen Menschen schlagen (234).

Um diese Ziele zu erreichen, ist es unerläßlich, kompetente Seelsorger auszubilden, die im Stande sind, die bereits legitim in Katechese und Liturgie „inkulturierten“ Methoden anzuwenden. Auch wird man eine genügende Anzahl an Seelsorgern gewinnen, die ihre Aktivität innerhalb der einheimischen Bevölkerungsgruppen entfalten, indem man die Priester- und Ordensberufungen unter ihnen fördert (235).

Die Problematik der Einwanderer


65 Der amerikanische Kontinent hat in seiner Geschichte etliche Einwanderungsbewegungen erlebt, die eine große Anzahl von Männern und Frauen in die verschiedenen Landesteile gebracht haben mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dieses Phänomen setzt sich auch heute noch fort und betrifft ganz konkret zahlreiche Personen und Familien, die aus den lateinamerikanischen Ländern des Kontinents kommen, sich in nördlichen Regionen niedergelassen haben und in einigen Fällen dort einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil bilden. Sehr oft bringen sie ein kulturelles und religiöses Erbe mit, das sehr reich an bedeutenden christlichen Elementen ist. Die Kirche ist sich der aus dieser Situation entstandenen Probleme bewußt und bemüht sich, eine echte Seelsorge für diese Einwanderer zu entfalten, um so ihre Ansiedlung in den jeweiligen Gebieten zu fördern und gleichzeitig die Aufnahmebereitschaft seitens der dort bereits ansässigen Völkergruppen anzuregen in der Überzeugung, daß das jeweilige Sich-Öffnen dem anderen gegenüber eine Bereicherung für alle sein wird.

Die kirchlichen Gemeinschaften sollten in diesem Phänomen einen besonderen Ruf sehen, die Brüderlichkeit im Geiste des Evangeliums als einen Wert zu leben, und sie sollten es gleichzeitig als eine Einladung betrachten, der eigenen Religiösität einen neuen Impuls zu verleihen, so daß auch die eigene Evangelisierungstätigkeit noch bewußter und entschiedener vonstatten geht. In diesem Sinne meinen die Synodenväter, daß „die Kirche in Amerika die wachsame Anwältin sein muß, die gegen alle ungerechten Beschränkungen das natürliche Recht einer jeden Person schützt, sich frei innerhalb des eigenen Landes und von einem Land zum anderen zu bewegen. Man muß auf die Rechte der Einwanderer und ihrer Familien ebenso achten wie darauf, daß ihre Menschenwürde gewahrt bleibt, was auch im Falle der illegalen Einwanderung gilt“ (236).

Hinsichtlich der Einwanderer bedarf es eines Geistes der Gastfreundschaft und Aufnahmebereitschaft, wodurch sie ermutigt werden, sich in das kirchliche Leben zu integrieren, ohne dabei ihre eigene Freiheit und ihre besondere kulturelle Identität aufgeben zu müssen. Hierfür ist es sehr wichtig, daß die Herkunftsdiözesen mit den Diözesen zusammenarbeiten, in denen sich die Einwanderer niedergelassen haben. Auch diesbezüglich ist innerhalb der durch Gesetzgebung vorgesehenen und in der kirchlichen Praxis üblichen spezifischen pastoralen Strukturen vorzugehen (237). Auf diese Weise wird eine möglichst adäquate und umfassende Seelsorge sichergestellt. Die ständige Sorge für eine wirksame Evangelisierung der Menschen, die erst vor kurzer Zeit eingereist sind und Christus noch nicht kennen, muß für die Kirche stets ein Impuls sein (238).



KAPITEL VI


DIE SENDUNG DER KIRCHE IN AMERIKA HEUTE: DIE NEUEVANGELISIERUNG

« Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch »

(Jn 20,21)

Von Christus gesandt


66 Der auferstandene Christus hat vor seiner Himmelfahrt die Apostel ausgesandt, um das Evangelium der ganzen Welt zu verkünden (vgl. Mk Mc 16,15), und er hat ihnen die nötige Vollmacht verliehen, diese Mission zu vollbringen. Es ist bedeutend, daß Jesus, bevor er den Aposteln den letzten Missionsauftrag übergab, sich auf die vom Vater erhaltene Allmacht bezog (vgl. Mt Mt 28,18). In der Tat gab Christus seine vom Vater empfangene Mission an die Apostel weiter (vgl. Joh Jn 20,21) und machte sie so zu Teilhabern an seiner Macht.

Und „weil die Laien Glieder der Kirche sind, haben auch sie die Berufung und Sendung, das Evangelium zu verkünden. Aufgrund der christlichen Initiationssakramente und der Gaben des Heiligen Geistes sind sie dazu berufen und verpflichtet“ (239). Und die Laien wurden ja auch tatsächlich „des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig“ gemacht (240). „Aufgrund ihrer Teilhabe am prophetischen Amt Christi werden die Laien“ folglich „ganz in diese Aufgabe der Kirche einbezogen“ (241), und deshalb müssen sie sich berufen und gesandt fühlen, die Frohbotschaft des Reiches zu verkünden. Die Worte Jesu: „Geht auch ihr in meinen Weinberg!“ (Mt 20,4) 242 , darf man nicht so auffassen, als wären sie nur an die Apostel gerichtet worden, sondern sie gelten für alle, die wahre Jünger des Herrn sein wollen.

Der wesentliche Auftrag, mit dem Jesus seine Jünger aussendet, ist die Verkündigung des Evangeliums, mit anderen Worten, die Evangelisierung (vgl. Mk Mc 16,15-18). „Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität“ (243). Wie ich bereits bei anderen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht habe, bewirken die Einzigartigkeit und Neuheit der Situation, in der sich Kirche und Welt an der Schwelle zum Dritten Jahrtausend befinden, und die daraus resultierenden Anforderungen, daß die Mission, das Evangelium zu verkünden, heutzutage ein neues Programm erfordert, das sich in seiner Gesamtheit als „Neuevangelisierung“ definieren läßt (244). Als oberster Hirte der Kirche ist es mir ein dringendes Anliegen, alle Glieder des Gottesvolkes – insbesondere jene, die auf dem amerikanischen Kontinent leben, wo ich zum erstenmal zu neuem Engagement und zur Neuevangelisierung, „neu in ihrem Eifer, in ihren Methoden und in ihrer Ausdrucksweise“ (245) aufrief – einzuladen, dieses Projekt zu übernehmen und dabei zusammenzuarbeiten. Bei der Annahme dieser Mission müssen alle bedenken, daß der lebendige Kern der Neuevangelisierung die klare und unmißverständliche Verkündigung der Person Jesu Christi sein muß, das heißt, es geht dabei um die Verkündigung seines Namens, seiner Lehre, seines Lebens, seiner Verheißungen und des Reiches, das Er für uns durch sein Ostermysterium erobert hat (246).

Jesus Christus – „Frohbotschaft“ und erster Verkünder des Evangeliums


67 Jesus Christus ist die „Frohbotschaft“ des Heils, das den Menschen von gestern, heute und für alle Zeiten zuteil geworden ist; doch er ist auch gleichzeitig der erste und höchste Verkünder seines Evangeliums (247). Die Kirche muß den Mittelpunkt ihrer Seelsorge und ihrer Evangelisierung im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus sehen. „All das, was im kirchlichen Bereich an Projekten erstellt wird, [hat) von Christus und seinem Evangelium auszugehen“ (248). Deshalb „soll die Kirche in Amerika immer mehr von Christus, dem menschlichen Antlitz Gottes und dem göttlichen Antlitz des Menschen sprechen. Es ist dies die Botschaft, die die Menschen wirklich aufrüttelt, den Geist wachruft und verwandelt oder, um es mit anderen Worten zu sagen: bekehrt. Christus muß freudig und kraftvoll, jedoch in erster Linie durch das Zeugnis des eigenen Lebens verkündet werden“ (249).

Jeder Christ kann in dem Maße seine Mission auf wirksame Weise vollbringen, in dem er das Leben des menschgewordenen Gottessohnes als vollkommenes Modell zur Evangelisierung an-nimmt. Aus dieser Sichtweise sind die Armen selbstverständlich als erste Adressaten der Evangelisierung zu betrachten und zwar nach dem Vorbild Jesu, der von sich selbst sagte: „Der Geist des Herrn […] hat mich gesalbt. Er hat mich gesalbt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe“ (
Lc 4,18) (250).

Wie ich bereits zuvor angedeutet habe, soll die Liebe zu den Armen vorrangig, nicht aber ausschließlich sein. Man hat, wie die Synodenväter aufzeigen, die Seelsorge gegenüber Menschen, die in der Gesellschaft leitende Funktionen haben, vernachlässigt, was dazu geführt hat, daß nicht wenige von ihnen sich von der Kirche entfernt haben (251). Der Grund dafür ist zum Teil darin zu suchen, daß man die Seelsorge im gewissen Sinn ausschließlich auf die Armen konzentriert hat. Die durch die Verbreitung des Säkularismus entstandenen Schäden sowohl in politischen als auch in wirtschaftlichen, gewerkschaftlichen, militärischen, sozialen und kulturellen Kreisen zeigen die Dringlichkeit einer Evangelisierung dieser Kreise auf, die von den Hirten selbst mit Nachdruck geleitet werden muß. Sie wurden von Gott berufen, für alle zu sorgen. Es ist auch notwendig, die in leitenden Ämtern tätigen Männer und Frauen mit neuem brennendem Eifer und durch neue Methoden zu evangelisieren, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Gewissensbildung durch die kirchliche Soziallehre liegen muß. Eine solche Unterweisung wird auch angesichts so vieler Fälle von Inkonsequenz und manchmal sogar von Korruption, die den sozio-politischen Strukturen Schaden zufügt, das beste Gegenmittel sein. Wenn man diese Gewissensbildung der in leitenden Positionen tätigen Menschen vernachlässigt, dann darf man sich auch nicht wundern, wenn viele dieser Menschen nach Kriterien handeln, die nicht im Einklang mit dem Evangelium stehen, ja, sogar diesem manchmal offen entgegengesetzt sind. Trotz allem sollte man anerkennen, daß „viele Menschen in leiten-den Positionen“, die zwar einen klaren Kontrast zur christlichen Mentalität bilden, „versuchen [...], eine gerechte und solidarische Gesellschaft zu errichten“ (252).

Die Begegnung mit Christus führt zur Evangelisierung


68 Die Begegnung mit dem Herrn erzeugt eine tiefgreifende Verwandlung bei denen, die sich ihm nicht verschließen. Der erste Impuls, der von dieser Umwandlung ausgeht, ist, daß man den anderen den Reichtum, den man in dieser Begegnung erfahren hat, gerne mitteilen möchte. Es geht dabei nicht einfach nur darum zu zeigen, was man kennengelernt hat, son-dern man will, wie die Samariterin, daß auch die anderen Jesus persönlich begegnen: „Kommt, und seht“ (Jn 4,29). Das Ergebnis wird dann dasselbe sein, wie schon damals in den Herzen der Menschen aus Samaria, die zu der Frau sagten: „Nicht mehr aufgrund deiner Aussage glauben wir, sondern weil wir ihn selbst gehört haben und nun wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt“ (Jn 4,42). Zu den zentralen Aufgaben der Mission der Kirche, die von der ständigen und geheimnisvollen Gegenwart ihres auferstandenen Herrn lebt, gehört es, „alle Menschen zur Begegnung mit Jesus Christus zu führen“ (253).

Wir sind berufen zu verkünden, daß Christus wirklich lebt, das heißt, daß der menschgewordene Gottessohn gestorben und auferstanden ist, daß er der einzige Retter aller Menschen sowie des Menschen in seiner Gesamtheit ist, und daß er als Herr der Geschichte weiterhin durch seinen Heiligen Geist in der Kirche und in der Welt bis zum Ende der Zeiten wirkt. Die Gegenwart des Auferstandenen in der Kirche ermöglicht auch dank des unsichtbaren Wirkens seines lebensspendenden Geistes die Begegnung mit ihm. Diese Begegnung ereignet sich durch den in der Kirche empfangenen und gelebten Glauben, denn die Kirche ist der mystische Leib Christi. Deshalb hat diese Begegnung auch eine wesentliche kirchliche Dimension und führt dazu, daß man sein Leben aufopfert. Und tatsächlich „bedeutet, dem lebendigen Christus zu begegnen, in erster Linie dessen Liebe anzunehmen, sich für ihn zu entscheiden, freiwillig sich zu seiner Person und zu seinem Projekt, das Gottesreich zu verkün-den und zu verwirklichen, zu bekennen“ (254).

Dieser Ruf führt dazu, daß wir Jesus suchen: „Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wohnst du? Er antwortete: Kommt und seht! Da gingen sie mit ihm und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm“ (Jn 1,38-39). „Dieses ‘Bei-Ihm-Bleiben’ beschränkt sich nicht nur auf jenen Tag, an dem er sie eingeladen hatte, sondern es erstreckt sich auf das ganze Leben. Ihm zu folgen heißt, so zu leben, wie er es tat, seine Botschaft anzunehmen, seine Kriterien zu übernehmen, sein Schicksal anzunehmen, an seinem Vorhaben, dem Plan des Vaters, teilzunehmen, nämlich alle zur Gemeinschaft mit der Dreifaltigkeit und zur Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern in einer gerechten und solidarischen Gesellschaft einzuladen“ (255). Der brennende Wunsch, die anderen zur Begegnung mit Ihm einzuladen, dem wir begegnet sind, steht am Anfang der Evangelisierungsmission, die der ganzen Kirche zugrunde liegt und die ganz besonders im heutigen Amerika an Dringlichkeit gewinnt, nachdem man dort den fünfhundertsten Jahrestag der ersten Evangelisierung begangen hat und während wir im Begriff sind, dankbar der 2000 Jahre seit der Ankunft des eingeborenen Gottessohnes auf dieser Welt zu gedenken.

Bedeutung der Katechese


69 Die Neuevangelisierung, an welcher der ganze Kontinent beteiligt ist, zeigt, daß man den Glauben nicht als selbstverständlich voraussetzen darf, sondern daß er vielmehr in seinem ganzen Umfang und Reichtum vorgestellt werden muß. Dies ist das Hauptziel des Katechese, die aufgrund ihres Wesens eine essentielle Dimension der Neuevangelisierung darstellt. „Die Katechese ist ein Prozeß der Unterweisung im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe, wodurch der Geist gebildet und das Herz angerührt wird. Das führt dazu, daß man Christus in vollem Umfang annimmt. Sie führt den Gläubigen tiefer in die Erfahrung christlicher Lebensweise ein, wozu auch die liturgische Feier des Geheimnisses der Erlösung und der christliche Dienst am Nächsten gehört“ (256).

Im Bewußtsein der Notwendigkeit einer vollständigen Glaubenserziehung übernahm ich den Vorschlag, den die Synodenväter auf der außerordentlichen Versammlung der Bischofssynode im Jahre 1985 machten, nämlich „einen Katechismus, bzw. ein Kompendium der ganzen katholischen Glaubens- und Sittenlehre“ auszuarbeiten „sozusagen als Bezugspunkt für die Katechismen bzw. Kompendien, die in den verschiedenen Regionen zu erstellen sind“ (257). Dieser Vorschlag wurde durch die Veröffentlichung der „editio typica“ des Catechismus Catholicae Ecclesiae verwirklicht (258). Außer dem offiziellen Text des Katechismus und zum besseren Nutzen seines Inhalts hatte ich auch verfügt, daß ein Allgemeines Direktorium zur Katechese ausgearbeitet und veröffentlicht würde (259). Den Gebrauch dieser Hilfsmittel von universalem Wert lege ich wärmstens allen jenen ans Herz, die sich in Amerika der Katechese widmen, und es ist wünschenswert, daß beide Dokumente als Modell dienen bei der „Vorbereitung und Revision aller katechetischen Programme auf pfarrlicher und diözesaner Ebene, wobei man sich vor Augen halten sollte, daß die religiöse Situation der Jugendlichen und Erwachsenen eine mehr kerygmatische und organische Katechese bei der Vorstellung der Glaubensinhalte erfordert“ (260).

Man muß die mutige Mission anerkennen und unterstützen, in der so viele Katecheten in ganz Amerika engagiert sind. Sie sind wahre Boten des Reiches: „Ihr Glaube und ihr Lebenszeugnis sind Bestandteile der Katechese“ (261), und ich möchte die Gläubigen dazu ermutigen, kraftvoll und in Liebe zum Herrn diesen Dienst an der Kirche zu übernehmen, bei dem sie großzügig ihre Zeit und ihre Begabungen zum Einsatz bringen. Die Bischöfe ihrerseits sollen dafür Sorge tragen, daß den Katecheten eine adäquate Ausbildung zukommt, damit sie diesen unerläßlichen Dienst im Leben der Kirche auszuüben im Stande sind.

Bei der Katechese sollte man sich immer vergegenwärtigen, – und dies gilt besonders für einen Kontinent wie Amerika, wo die soziale Frage einen bedeutenden Aspekt darstellt – daß „die Zunahme des Glaubensverständnisses sowie der praktische Glaubensausdruck im Leben der Gesellschaft in engster Beziehung zueinander stehen. Die Bemühungen um die Begegnung mit Christus sollten deshalb nicht weniger günstige Auswirkungen bei der Förderung des Allgemeinwohls in einer auf Gerechtigkeit basierenden Gesellschaft haben“ (262).

Evangelisierung der Kultur


70 Mein Vorgänger, Paul VI., vertrat aufgrund weiser Eingebung den Standpunkt: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche“ (263). Deshalb sagten auch die Synodenväter, daß „die Neuevangelisierung klare, ernsthafte und geordnete Anstrengungen erfordert, um die Kultur mit dem Evangelium zu durchwirken“ (264). Als der Sohn Gottes die menschliche Natur annahm, geschah dies innerhalb eines ganz bestimmten Volkes, auch wenn sein Erlösertod den Menschen aller Kulturen, Rassen und Lebensumstände das Heil gebracht hat. Das Geschenk seines Geistes und seiner Liebe ist für die Völker aller Kulturen bestimmt, um sie untereinander zu vereinen gleich dem Vorbild der vollkommenen Einheit des einen und dreifaltigen Gottes. Damit dies möglich werde, bedarf es einer Inkulturation der Glaubensverkündigung, so daß das Evangelium jeweils in der Sprache und innerhalb der Kultur jener Menschen verkündet wird, die es hören (265). Man sollte aber gleichzeitig nicht vergessen, daß einzig und allein das Ostergeheimnis Christi, das die höchste Selbstmitteilung des unendlichen Gottes innerhalb der zeitlich begrenzten Geschichte ist, der gültige Bezugspunkt für die Menschheit bei ihrer irdischen Pilgerschaft und auf der Suche nach wahrer Einheit und wahrem Frieden sein kann.

Das Mestizenantlitz unserer lieben Frau von Guadalupe war auf dem Kontinent von Anfang an ein Symbol der Inkulturation bei der Evangelisierung, deren Stern und Führung sie war. Durch ihre mächtige Fürsprache kann die Evangelisierung die Herzen der Menschen in Amerika durchdringen, ihre Kulturen durchwirken und sie von innen her verwandeln (266).


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