Evangelium vitae DE 77

IV. KAPITEL - DAS HABT IHR MIR GETAN - FÜR EINE NEUE KULTUR DES MENSCHLICHEN LEBENS


»Ihr aber seid ein Volk, das Gottes besonderes Eigentum wurde, damit es seine großen Taten verkünde«

(1P 2,9):

das Volk des Lebens und für das Leben


78 Die Kirche hat das Evangelium als Ankündigung und Quelle von Freude und Heil empfangen. Sie hat es als Geschenk von Jesus empfangen, der vom Vater gesandt wurde, »damit Er den Armen eine gute Nachricht bringe« (Lc 4,18). Sie hat es durch die Apostel empfangen, die von Ihm in die ganze Welt ausgesandt wurden (vgl. Mk Mc 16,15 Mt 28,19-20). Die aus diesem Einsatz für die Verkündigung des Evangeliums entstandene Kirche vernimmt in sich selbst jeden Tag das mahnende Wort des Apostels: »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde« (1Co 9,16). »Evangelisieren ist — schrieb Paul VI. — in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren«. 101

Evangelisierung ist eine globale und dynamische Aktion, die die Kirche in ihrer Teilhabe an der prophetischen, priesterlichen und königlichen Sendung des Herrn Jesus einbezieht. Sie ist daher untrennbar mit den Dimensionen der Verkündigung, der Feier und des Dienstes der Nächstenliebe verbunden. Sie ist ein zutiefst kirchliches Tun, das alle heranzieht, die auf verschiedenste Weise für das Evangelium tätig sind, einen jeden nach seinen Gaben und seinem Amt.

Das gilt auch für die Verkündigung des Evangeliums vom Leben, eines wesentlichen Bestandteils des Evangeliums, das Jesus Christus ist. Wir stehen im Dienst dieses Evangeliums, getragen von dem Bewußtsein, daß wir es als Geschenk empfangen haben und ausgesandt sind, es der ganzen Menschheit »bis an die Grenzen der Erde« (Ac 1,8) zu verkünden. Darum hegen wir das demütige und dankbare Bewußtsein, das Volk des Lebens und für das Leben zu sein, und treten so vor allen auf.

101) Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi (8. Dezember 1975), Nr. EN 14: AAS 68 (1976), 13.


79 Wir sind das Volk des Lebens, weil Gott uns in seiner unentgeltlichen Liebe das Evangelium vom Leben geschenkt hat und wir von diesem Evangelium verwandelt und gerettet worden sind. Wir sind vom »Urheber des Lebens« (Ac 3,15) um den Preis seines kostbaren Blutes erkauft (vgl. 1Co 6,20 1Co 7,23 1P 1,19) und durch die Taufe in Ihn eingegliedert worden (vgl. Röm Rm 6,4-5 Kol Col 2,12) wie Zweige, die aus dem einen Stamm Lebenssaft und Fruchtbarkeit ziehen (vgl. Jn 15,5). Innerlich erneuert durch die Gnade des Geistes, der »Herr ist und lebendig macht«, sind wir zu einem Volk für das Leben geworden und sind aufgerufen, uns auch so zu verhalten.

Wir sind gesandt: im Dienst des Lebens zu stehen, ist für uns nicht Prahlerei, sondern eine Verpflichtung, die aus dem Bewußtsein entsteht, »ein Volk« zu sein, »das Gottes besonderes Eigentum wurde, damit es seine großen Taten verkünde« (1P 2,9). Auf unserem Weg führt und trägt uns das Gesetz der Liebe: es ist die Liebe, deren Quelle und Vorbild der menschgewordene Gottessohn ist, der »durch seinen Tod der Welt das Leben geschenkt hat«. 102

Wir sind als Volk gesandt. Die Verpflichtung zum Dienst am Leben lastet auf allen und auf jedem einzelnen. Es handelt sich um eine »kirchliche« Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn, die das aufeinander abgestimmte hochherzige Handeln aller Mitglieder und aller Gruppierungen der christlichen Gemeinde erfordert. Die gemeinschaftliche Aufgabe hebt jedoch die Verantwortung des einzelnen Menschen, an den das Gebot des Herrn, für jeden Menschen »zum Nächsten zu werden«, gerichtet ist: »Dann geh und handle genauso!« (Lc 10,37), weder auf noch verringert sie diese.

Wir spüren alle miteinander die Verpflichtung, das Evangelium vom Leben zu verkünden, es in der Liturgie und in unserem gesamten Dasein zu feiern, ihm mit verschiedenen Initiativen und Strukturen zu dienen, die seine Unterstützung und Förderung zum Ziele haben.

102) Vgl. Römisches Meßbuch, Gebet des Priesters vor der Kommunion.



»Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch«

(1Jn 1,3):

das Evangelium vom Leben verkünden


80 »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, ... das Wort des Lebens..., das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1Jn 1,1 1Jn 1,3). Jesus ist das einzige Evangelium: wir haben nichts anderes zu sagen und zu bezeugen.

Die Verkündigung Jesu ist die Verkündigung des Lebens. Denn Er ist »das Wort des Lebens« (1Jn 1,1). In Ihm »wurde das Leben offenbart« (1Jn 1,2); ja, Er ist selber »das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde« (ebd.). Dank der Gabe des Geistes wurde dieses Leben dem Menschen mitgeteilt. Wenn es auf das Leben in Fülle, auf das »ewige Leben«, hingeordnet ist, gewinnt auch das »irdische Leben« seinen vollen Sinn.

Wenn wir von diesem Evangelium vom Leben erleuchtet werden, empfinden wir das Bedürfnis, es in dem überraschend Neuen, das es kennzeichnet, zu verkünden und zu bezeugen: da es sich mit Jesus selbst, dem Überbringer alles Neuen 103 und Sieger über das »Alter«, das aus der Sünde stammt und zum Tod führt, 104 gleichsetzt, übersteigt dieses Evangelium jede menschliche Erwartung und macht offenbar, zu welchen erhabenen Höhen sich die Würde der Person durch die Gnade zu erheben vermag. Der hl. Gregor von Nyssa stellt folgende Betrachtung darüber an: »Der Mensch, der unter den Lebewesen nichts zählt, der Staub, Gras, Vergänglichkeit ist, wird, sobald vom Gott des Universums an Kindes Statt angenommen, zum Vertrauten dieses Gottes, dessen Vollkommenheit und Größe niemand sehen, hören und begreifen kann. Mit welchem Wort, Gedanken oder Aufschwung des Geistes wird man je vermögen, den Überfluß dieser Gnade zu preisen? Der Mensch übersteigt seine Natur: vom Sterblichen wird er zum Unsterblichen, vom Vergänglichen zum Unvergänglichen, vom Vorübergehenden zum Ewigen, er wird vom Menschen zu Gott«. 105

Die Dankbarkeit und Freude angesichts der unermeßlichen Würde des Menschen spornt uns an, alle an dieser Botschaft teilhaben zu lassen: »Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1Jn 1,3). Man muß dasEvangelium vom Leben zum Herzen jedes Mannes und jeder Frau gelangen lassen und es in die verborgensten Winkel der ganzen Gesellschaft einführen.

103) Vgl. Hl. Irenäus: "Omnem novitatem attulit, semetipsum afferens, qui fuerat annuntiatus": Gegen die Häresien IV, 34, 1: SCh 100/2, 846-847.
104) Vgl. Hl. Thomas von Aquin: "Peccator inveterascit, recedens a novitate Christi": In Psalmos Davidis lectura, 6,5.
105) De beatitudinibus, Oratio VII: PG 44, 1280.


81 Es geht darum, zunächst die Mitte dieses Evangeliums zu verkünden. Das bedeutet Verkündigung eines lebendigen und nahen Gottes, der uns in eine tiefe Verbindung mit sich ruft und uns öffnet für die sichere Hoffnung auf das ewige Leben; es bedeutet Geltendmachung des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen der menschlichen Person, ihrem Leben und ihrer Leiblichkeit besteht; es bedeutet Darstellung des menschlichen Lebens als Leben der Beziehung, als Gottesgeschenk, als Frucht und Zeichen seiner Liebe; es bedeutet Verkündigung der außergewöhnlichen Beziehung Jesu zu jedem Menschen, der es ermöglicht, in jedem menschlichen Antlitz das Ant- litz Christi zu erkennen; es bedeutet Aufzeigen der »aufrichtigen Selbsthingabe« als Aufgabe und Ort voller Verwirklichung der eigenen Freiheit.

Gleichzeitig gilt es sämtliche Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesem Evangelium ergeben und die man wie folgt zusammenfassen kann: das menschliche Leben, ein wertvolles Geschenk Gottes, ist heilig und unantastbar und daher sind insbesondere die vorsätzliche Abtreibung und die Euthanasie absolut unannehmbar; das Leben des Menschen darf nicht nur nicht ausgelöscht, sondern es muß mit aller liebevollen Aufmerksamkeit geschützt werden; das Leben findet seinen Sinn in der empfangenen und geschenkten Liebe, in deren Blickfeld Sexualität und menschliche Fortpflanzung volle Wahrheit erlangen; in dieser Liebe haben auch das Leiden und der Tod einen Sinn und können, wenngleich das Geheimnis, das sie umfängt, weiterbesteht, zu Heilsereignissen werden; die Achtung vor dem Leben erfordert, daß Wissenschaft und Technik stets auf den Menschen und seine ganzheitliche Entwicklung hingeordnet werden; die ganze Gesellschaft muß die Würde jeder menschlichen Person in jedem Augenblick und in jeder Lage ihres Lebens achten, verteidigen und fördern.



82 Um wahrhaftig ein Volk im Dienst am Leben zu sein, müssen wir von der ersten Verkündigung des Evangeliums an und später in der Katechese und in den verschiedenen Verkündigungsformen, im persönlichen Gespräch und in jeder erzieherischen Tätigkeit mit Standhaftigkeit und Mut diese Inhalte vorlegen. Den Erziehern, Lehrern, Katecheten und Theologen obliegt die Aufgabe, die anthropologischen Gründe hervorzuheben, auf die sich die Achtung vor jedem Menschenleben gründet und stützt. Während wir das eigenartig Neue desEvangeliums vom Leben zum Strahlen bringen, werden wir auf diese Weise allen helfen können, auch im Licht der Vernunft und der Erfahrung zu entdecken, daß die christliche Botschaft den Menschen und die Bedeutung seines Seins und seiner Existenz voll erhellt; wir werden wertvolle Punkte für Begegnung und Dialog auch mit den Nichtglaubenden finden, sind wir doch alle miteinander verpflichtet, eine neue Kultur des Lebens erstehen zu lassen.

Während wir von den widersprüchlichsten Stimmen umgeben sind und viele die gesunde Lehre über das Leben des Menschen verwerfen, spüren wir, daß die inständige Bitte des Paulus an Timotheus auch an uns gerichtet ist: »Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung« (
2Tm 4,2). Diese Ermahnung muß besonders im Herzen derer kräftigen Widerhall finden, die in der Kirche auf verschiedene Weise an ihrer Sendung als »Lehrerin« der Wahrheit am unmittelbarsten teilhaben. Sie soll vor allem bei uns Bischöfen Widerhall finden: wir sind als erste dazu angehalten, unermüdliche Verkünder des Evangeliums vom Leben zu sein; uns ist auch die Aufgabe anvertraut, über die zuverlässige und getreue Weitergabe der in dieser Enzyklika neu vorgelegten Lehre zu wachen und die geeignetsten Maßnahmen zu ergreifen, damit die Gläubigen vor jeder Lehre, die ihr widerspricht, geschützt werden. Besondere Aufmerksamkeit müssen wir darauf legen, daß an den theologischen Fakultäten, in den Priesterseminarien und in den verschiedenen katholischen Institutionen die Kenntnis der gesunden Lehre verbreitet, erklärt und vertieft wird. 106 Die Ermahnung des Paulus möge von allen Theologen, von den Seelsorgern und von allen anderen vernommen werden, die Aufgaben der Lehre, Katechese und Gewissensbildungwahrnehmen: mögen sie im Bewußtsein der ihnen zukommenden Rolle niemals die schwerwiegende Verantwortung auf sich nehmen, die Wahrheit und ihren eigenen Auftrag dadurch zu verraten, daß sie persönliche Ideen vortragen, die im Gegensatz zum Evangelium vom Lebenstehen, wie es das Lehramt getreu vor– und auslegt.

Bei der Verkündigung dieses Evangeliums dürfen wir nicht Feindseligkeit und Unpopularität fürchten, wenn wir jeden Kompromiß und jede Zweideutigkeit ablehnen, die uns der Denkweise dieser Welt angleichen würde (vgl. Rm 12,2). Wir sollen in der Welt, aber nicht von der Weltsein (vgl. Joh Jn 15,19 Jn 17,16) mit der Kraft, die uns von Christus kommt, der durch seinen Tod und seine Auferstehung die Welt besiegt hat (vgl. Jn 16,33).

106) Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. VS 116: AAS 85 (1993), 1224.



»Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast«

83 (Ps 139 Ps 1,14):

das Evangelium vom Leben feiern


Da wir als »Volk für das Leben« in die Welt gesandt sind, soll unsere Verkündigung auch zueiner echten Feier des Evangeliums vom Leben werden. Ja, durch die beschwörende Kraft ihrer Gesten, Symbole und Riten wird diese Feier zum wertvollen und bedeutsamen Ort für die Weitergabe der Schönheit und Größe dieses Evangeliums.

Dazu ist es vor allem dringend notwendig, in uns und in den anderen eine kontemplative Sicht zu pflegen. 107 Diese entsteht aus dem Glauben an den Gott des Lebens, der jeden Menschen geschaffen und wunderbar gestaltet hat (vgl. Ps 139 Ps 2,14). Es ist die Sicht dessen, der das Leben dadurch in seiner Tiefe sieht, daß er dessen Dimensionen der Unentgeltlichkeit, der Schönheit, der Herausforderung zu Freiheit und Verantwortlichkeit erfaßt. Es ist die Sicht dessen, der sich nicht anmaßt, der Wirklichkeit habhaft zu werden, sondern sie als ein Geschenk annimmt und dabei in jedem Ding den Widerschein des Schöpfers und in jedem Menschen sein lebendiges Abbild entdeckt (vgl. Gn 1,27 Ps 8,6). Diese Sicht kapituliert nicht mutlos angesichts derer, die sich in Krankheit, in Leid, am Rande der Gesellschaft und an der Schwelle des Todes befinden; sondern sie läßt sich von allen diesen Situationen befragen, um nach einem Sinn zu suchen, und beginnt gerade unter diesen Gegebenheiten, auf dem Antlitz jedes Menschen einen Aufruf zu Gegenüberstellung, zu Dialog, zu Solidarität zu entdecken.

Es ist an der Zeit, daß alle diese Sicht übernehmen und so wieder fähig werden, mit dem von ehrfürchtigem Staunen erfüllten Herzen jeden Menschen zu ehren und zu achten, wie uns Paul VI. in einer seiner ersten Weihnachtsbotschaften einlud zu tun. 108 Beseelt von dieser kontemplativen Sicht, kann das neue Volk der Erlösten gar nicht anders als in Freudes-, Lobes– und Dankeshymnen auszubrechen über das unschätzbare Geschenk des Lebens, über das Geheimnis der Berufung jedes Menschen, in Christus am Gnadenleben und an einer Existenz unendlicher Gemeinschaft mit Gott, dem Schöpfer und Vater, teilzuhaben.

107) Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. CA 37: AAS 83 (1991), 840.
108) Vgl. Weihnachtsbotschaft von 1967: AAS 60 (1968), 40.


84 Das Evangelium vom Leben feiern heißt, den Gott des Lebens, den Gott, der das Leben schenkt, feiern: »Wir müssen das ewige Leben feiern, von dem jedes andere Leben herrührt. Von ihm empfängt jedes Wesen, das in irgendeiner Weise am Leben teilhat, proportional zu seinen Fähigkeiten das Leben. Dieses göttliche Leben, das über jedem Leben steht, belebt und bewahrt das Leben. Jedes Leben und jede Lebensregung haben ihren Ursprung in diesem Leben, das jedes Leben und jeden Lebensursprung übersteigt. Ihm verdanken die Seelen ihre Unvergänglichkeit, sowie dank ihm alle Tiere und Pflanzen leben, die das schwächste Echo des Lebens empfangen. Den Menschen, Wesen, die aus Geist und Materie bestehen, schenkt das (göttliche) Leben das Leben. Wenn es dann geschieht, daß wir es verlassen müssen, dann verwandelt uns das Leben wegen seiner überströmenden Liebe zum Menschen und ruft uns zu sich. Nicht nur das: es verheißt uns, uns, Seelen und Körper, in das vollkommene Leben, in die Unsterblichkeit zu geleiten. Es ist zu wenig, wenn man sagt, dieses Leben ist lebendig: es ist Lebensursprung, einzige Lebensursache und Lebensquelle. Jedes Lebewesen muß es betrachten und preisen: es ist Leben, das in Leben überströmt«. 109

Wie der Psalmist, so loben und preisen auch wir im persönlichen und gemeinschaftlichentäglichen Gebet Gott, unseren Vater, der uns im Mutterschoß gewoben und uns gesehen und geliebt hat, als wir noch ohne Gestalt waren (vgl.
Ps 139 Ps 3,13 Ps 139,15-16), und mit unbezähmbarer Freude rufen wir aus: »Ich danke dir, daß du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke« (Ps 139 Ps 4,14). Ja, »dieses sterbliche Leben ist trotz seiner Mühen, seiner dunklen Geheimnisse, seiner Leiden, seiner unabwendbaren Hinfälligkeit eine sehr schöne Sache, ein immer originelles und ergreifendes Wunder, ein Ereignis, würdig mit Freude und Lobpreis besungen zu werden«. 110 Mehr noch, der Mensch und sein Leben erscheinen uns nicht nur als eines der größten Wunderwerke der Schöpfung: Gott hat dem Menschen eine beinahe göttliche Würde verliehen (vgl. Ps 8,6-7). In jedem Kind, das geboren wird, und in jedem Menschen, der lebt oder der stirbt, erkennen wir das Abbild der Herrlichkeit Gottes: diese Herrlichkeit feiern wir in jedem Menschen, der Zeichen des lebendigen Gottes, Ikone Jesu Christi ist.

Wir sind aufgerufen, Staunen und Dankbarkeit über das als Geschenk empfangene Leben zum Ausdruck zu bringen und das Evangelium vom Leben nicht nur im persönlichen und gemeinschaftlichen Gebet, sondern vor allem in den Feiern des liturgischen Jahres anzunehmen, zu genießen und mitzuteilen. Hier muß im besonderen an die Sakramente als wirksame Zeichen für die Gegenwart und das Heilswirken des Herrn Jesus in der christlichen Existenz erinnert werden: sie machen die Menschen dadurch zu Teilhabern am göttlichen Leben, daß sie ihnen die nötige geistliche Kraft sicherstellen, um in ihrer vollen Wahrheit die Bedeutung des Lebens, des Leidens und des Sterbens zu realisieren. Dank einer echten Wiederentdeckung des Sinnes der Riten und dank ihrer angemessenen Bewertung werden die liturgischen Feiern, vor allem jene sakramentalen Charakters, immer mehr in der Lage sein, die volle Wahrheit über die Geburt, das Leben, das Leiden und den Tod auszudrücken und so dazu verhelfen, diese Wirklichkeit als Teilhabe am Ostermysterium des gestorbenen und auferstandenen Christus zu erleben.

109) Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, 6, 1-3: PG 3, 856-857.
110) Paul VI., Pensiero alla morte (Gedanke an den Tod), Istituto Paolo VI, Brescia 1988, S. 24.


85 Bei der Feier des Evangeliums vom Leben muß man auch die Gesten und die Symbole zu würdigen und zu schätzen wissen, an denen die verschiedenen kulturellen und volkstümlichen Traditionen und Bräuche so reich sind. Es handelt sich um Gelegenheiten und Formen der Begegnung, mit denen in den verschiedenen Ländern und Kulturen die Freude über ein neugeborenes Leben, die Achtung und die Verteidigung jedes menschlichen Lebens, die Sorge für den Kranken oder Notleidenden, die Nähe zum Alten oder Sterbenden, die Teilnahme am Schmerz des Trauernden, die Hoffnung und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum Ausdruck gebracht werden.

Aus dieser Sicht greife ich auch die von den Kardinälen im Konsistorium von 1991 gebotene Anregung auf und schlage vor, man möge in den verschiedenen Nationen jedes Jahr einen Tag für das Leben feiern, wie er bereits auf Initiative einiger Bischofskonferenzen begangen wird. Dieser Tag muß unter der aktiven Beteiligung aller Mitglieder der Ortskirche vorbereitet und gefeiert werden. Sein wesentliches Ziel ist es, in den Gewissen, in den Familien, in der Kirche und in der zivilen Gesellschaft das Erkennen des Sinnes und Wertes zu wecken, den das menschliche Leben zu jedem Zeitpunkt und unter jeder Bedingung hat; in das Zentrum der Aufmerksamkeit soll dabei besonders das schwerwiegende Problem von Abtreibung und Euthanasie gerückt werden, ohne jedoch die anderen Augenblicke und Aspekte des Lebens zu übergehen, die je nachdem, was die geschichtliche Entwicklung nahelegt, jeweils aufmerksame Beachtung verdienen.



86 In der Logik des gottgefälligen geistlichen Kultes (vgl. Röm Rm 12,1) soll sich die Feier desEvangeliums vom Leben vor allem in dem in Liebe zu den anderen und in Selbsthingabe gelebtenAlltagsdasein vollziehen. Auf diese Weise wird unsere ganze Existenz zur glaubwürdigen und verantwortungsbewußten Aufnahme des Geschenkes des Lebens und zu einem aufrichtigen, dankbaren Lobpreis an Gott, der uns dieses Geschenk gemacht hat. Das geschieht bereits in vielen, vielen Akten eines oft schlichten und verborgenen Sichverschenkens, die von Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken vollbracht werden.

In diesem an Menschlichkeit und Liebe reichen Rahmen entstehen auch die heroischen Taten. Sie sind die feierlichste Verherrlichung des Evangeliums vom Leben, weil sie es mit totaler Selbsthingabe verkünden; sie sind die leuchtende Offenbarung des höchsten Grades von Liebe, der darin besteht, daß einer sein Leben für den geliebten Menschen hingibt (vgl. Joh Jn 15,13); sie sind die Teilhabe am Geheimnis des Kreuzes, an dem Jesus offenbar macht, welchen Wert für Ihn das Leben jedes Menschen hat und wie es sich in der aufrichtigen Selbsthingabe voll verwirklicht. Jenseits aufsehenerregender Taten gibt es den Heroismus im Alltag, der aus kleinen und großen Gesten des Teilens besteht, die eine echte Kultur des Lebens fördern. Unter diesen Gesten verdient die in ethisch annehmbaren Formen durchgeführte Organspende besondere Wertschätzung, um Kranken, die bisweilen jeder Hoffnung beraubt sind, die Möglichkeit der Gesundheit oder sogar des Lebens anzubieten.

Zu diesem Heroismus im Alltag gehört das stille, aber um so fruchtbarere und beredtere Zeugnis »aller mutigen Mütter, die sich vorbehaltlos ihrer Familie widmen, die unter Schmerzen ihre Kinder zur Welt bringen und dann bereit sind, jede Mühe und jedes Opfer auf sich zu nehmen, um ihnen das Beste weiterzugeben, was sie in sich tragen«. 111 Wenn sie ihre Sendung leben, »finden diese heroischen Mütter dabei in ihrer Umgebung nicht immer Unterstützung. Ja, die Vorbilder der Zivilisation, wie sie häufig von den Massenmedien vorgestellt und verbreitet werden, begünstigen nicht die Mutterschaft. Im Namen des Fortschritts und der Moderne werden die Werte der Treue, der Keuschheit und des Opfers heute als überholt hingestellt, und doch haben sich in diesen Werten ganze Scharen von christlichen Gattinnen und Müttern ausgezeichnet und tun es weiter... Wir danken euch, heroische Mütter, für eure unbesiegbare Liebe! Wir danken euch für euer unerschrockenes Vertrauen auf Gott und seine Liebe. Wir danken euch für das Opfer eures Lebens... Im Ostergeheimnis erstattet euch Christus das Geschenk zurück, das ihr Ihm gemacht habt. Denn Er hat die Macht, euch das Leben zurückzugeben, das ihr Ihm als Opfer dargebracht habt«. 112

111) Johannes Paul II., Predigt bei der Seligsprechung von Isidor Bakanja, Elisabeth Canori Mora und Gianna Beretta Molla (24. April 1994): "L'Osservatore Romano", 25.-26. April 1994, S. 5.
112) Ebd.



»Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke?«

87 (Jc 2,14):

dem Evangelium vom Leben dienen


Kraft der Teilhabe an der königlichen Sendung Christi müssen sich die Unterstützung und Förderung des menschlichen Lebens durch den Dienst der Nächstenliebe verwirklichen, der im persönlichen Zeugnis, in den verschiedenen Formen des freiwilligen Einsatzes, im sozialen Handeln und im politischen Engagement zum Ausdruck kommt. Das ist zur Stunde eine besonders dringende Forderung, da sich die »Kultur des Todes« so mächtig der »Kultur des Lebens« widersetzt und bisweilen die Oberhand zu gewinnen scheint. Davor liegt jedoch noch eine Forderung, die aus dem Glauben entsteht, »der in der Liebe wirksam ist« (Ga 5,6), wie uns der Jakobusbrief ermahnt: »Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot, und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen — was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat« (Jc 2,14-17).

Beim Dienst der Nächstenliebe muß uns eine Haltung beseelen und kennzeichnen: wir müssen uns des anderen als Person annehmen, die von Gott unserer Verantwortung anvertraut worden ist. Als Jünger Jesu sind wir berufen, uns zum Nächsten jedes Menschen zu machen (vgl. Lk Lc 10,29-37) und dabei dem Ärmsten, Einsamsten und Bedürftigsten besonderen Vorzug zu gewähren. Dadurch, daß wir dem Hungernden, dem Dürstenden, dem Fremden, dem Nackten, dem Kranken, dem Gefangenen — wie auch dem ungeborenen Kind, dem alten Menschen in seinem Leiden oder unmittelbar vor seinem Tod — helfen, dürfen wir Jesus dienen, wie Er selber gesagt hat: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Daher müssen wir uns von dem immer noch aktuellen Wort des hl. Johannes Chrysostomus angesprochen und beurteilt fühlen: »Willst du dem Leib Christi Ehre erweisen? Vernachlässige ihn nicht, wenn er nackt ist. Ehre ihn nicht hier im Tempel mit Seidenstoffen, um ihn dann draußen, wo er unter Kälte und Nacktheit leidet, unbeachtet zu lassen«. 113

Der Dienst der Liebe gegenüber dem Leben muß zutiefst einheitlich sein: er darf keine Einseitigkeiten und Diskriminierungen dulden, denn das menschliche Leben ist in jeder Phase und in jeder Situation heilig und unverletzlich; es ist ein unteilbares Gut. Es geht also darum, sich des ganzen Lebens und des Lebens aller »anzunehmen«. Ja, noch tiefgründiger: es gilt, bis an die eigentlichen Wurzeln des Lebens und der Liebe zu gehen.

Ausgehend von einer tiefen Liebe zu jedem Mann und jeder Frau hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine außergewöhnliche Geschichte der Liebe entwickelt, die in das kirchliche und staatliche Leben zahlreiche Strukturen für den Dienst am Leben eingeführt hat, die bei jedem unvoreinge- nommenen Beobachter Bewunderung hervorrufen. Es ist eine Geschichte, die mit erneuertem Verantwortungsgefühl jede christliche Gemeinde durch ein vielfältiges pastorales und soziales Handeln weiterschreiben muß. In diesem Sinne müssen ausreichende und wirksame Formen der Begleitung des werdenden Lebens in die Tat umgesetzt werden, wobei es darum geht, jenen Müttern besonders nahe zu sein, die sich auch ohne Unterstützung durch den Vater nicht scheuen, ihr Kind zur Welt zu bringen und zu erziehen. Gleiche Fürsorge muß dem Leben am Rande der Gesellschaft oder im Leiden, besonders in seiner Schlußphase, erwiesen werden.

113) Kommentar zum Evangelium des Matthäus, L, 3: PG 58, 508.


88 Das alles erfordert eine geduldige und mutige Erziehungsarbeit, die alle und jeden einzelnen dazu anhalten soll, die Last der anderen zu tragen (vgl. Ga 6,2); es verlangt besonders unter der Jugend eine ständige Förderung von Berufungen zum Dienst; es schließt die Durchführung konkreter, fester und vom Evangelium angeregter Vorhaben und Initiativen ein.

Vielfältig sind die Mittel, die mit Kompetenz und ernsthaftem Einsatz abgeschätzt werden müssen. Im Hinblick auf den Ursprung des Lebens gilt es, die Zentren für die natürlichen Methoden der Fruchtbarkeitsregelung als eine wirksame Hilfe für die verantwortliche Elternschaft zu fördern, wobei jeder Mensch, vom Kind angefangen, um seiner selbst willen anerkannt und geachtet und jede Entscheidung vom Kriterium der aufrichtigen Selbsthingabe angeregt und geleitet wird. Auch die Ehe- und Familienberater leisten durch ihre spezifische Tätigkeit der Beratung und Vorbeugung, die sie im Licht einer der christlichen Auffassung vom Menschen, vom Paar und von der Sexualität entsprechenden Anthropologie ausüben, einen wertvollen Dienst, um den Sinn der Liebe und des Lebens wiederzuentdecken und jede Familie in ihrer Sendung als »Heiligtum des Lebens« zu unterstützen und zu begleiten. In den Dienst am werdenden Leben stellen sich auch die Zentren für Lebenshilfe und die Häuser oder Zentren zur Aufnahme des Lebens. Dank ihrer Arbeit gewinnen viele unverheiratete Mütter und in Schwierigkeiten geratene Paare wieder Sinn und Überzeugungen und finden Beistand und Hilfe, um Unbehagen und Ängste bei der Annahme eines werdenden oder gerade zur Welt gekommenen Lebens zu überwinden.

Angesichts des Lebens in elendem, herabgekommenem Zustand, in der Situation der Entgleisung, in Krankheit und am Rande der Gesellschaft sind andere Instrumente — wie die Gemeinschaften zur Wiederherstellung von Drogenabhängigen, die Wohngemeinschaften für die Minderjährigen oder die Geisteskranken, die Zentren zur Behandlung und Aufnahme von AIDS-Kranken, die Solidaritätsgemeinschaften vor allem für die Behinderten — beredter Ausdruck dessen, was sich die Liebe auszudenken vermag, um einem jeden neuen Grund zur Hoffnung und konkrete Lebensmöglichkeiten zu geben.

Wenn sich dann das irdische Dasein seinem Ende zuneigt, ist es wiederum die Liebe, die die geeignetsten Bedingungen ausfindig macht, damit alte Menschen, besonders wenn sie sich nicht mehr selbst versorgen können, und die sogenannten Kranken im Endstadium sich einer wirklich menschlichen Fürsorge erfreuen und Antworten erhalten können, die ihren Bedürfnissen, insbesondere ihrer Angst und Einsamkeit angemessen sind. Unersetzlich ist in diesen Fällen die Rolle der Familien; aber diese können in den sozialen Strukturen der Fürsorge und — falls notwendig — bei der Anwendung der palliativen Behandlungsmethoden große Hilfe finden, wenn sie sich geeigneter Gesundheits– und Sozialdienste bedienen, die sowohl in den öffentlichen Krankenhäu- sern, Kliniken und Pflegeheimen als auch zu Hause tätig sind.

Neu nachgedacht werden muß über die Rolle der Krankenhäuser, der Kliniken und derPflegeheime: ihre wahre Identität ist nicht einfach jene von Strukturen, in denen man sich der Kranken und Sterbenden annimmt, sondern vor allem die Identität einer Umgebung, in welcher das Leiden, der Schmerz und der Tod in ihrer menschlichen und spezifisch christlichen Bedeutung erkannt und gedeutet werden. In besonderer Weise als klar und wirksam erweisen muß sich diese Identität in den Instituten, die von Ordensleuten abhängig oder jedenfalls an die Kirche gebunden sind.



89 Diese Strukturen und Orte des Dienstes am Leben und alle anderen Initiativen zu Hilfe und Solidarität, die die jeweiligen Situationen wachrufen können, müssen von Personen belebt werden, die auf hochherzige Weise verfügbar und sich zutiefst dessen bewußt sind, wie entscheidend dasEvangelium vom Leben für das Wohl des einzelnen und der Gesellschaft ist.

Von besonderer Art ist die den im Gesundheitswesen Tätigen anvertraute Verantwortung: der Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und Krankenpfleger, der Seelsorger, Ordensleute, Verwalter und der freiwilligen Helfer. Ihr Beruf macht sie zu Hütern und Dienern des menschlichen Lebens. In dem heutigen kulturellen und sozialen Umfeld, in dem die Wissenschaft und die ärztliche Kunst Gefahr laufen, die ihnen eigene ethische Dimension zu verlieren, können sie bisweilen stark versucht sein, zu Urhebern der Manipulation des Lebens oder gar zu Todesvollstreckern zu werden. Angesichts dieser Versuchung ist ihre Verantwortung heute enorm gewachsen und findet ihre tiefste Inspiration und stärkste Stütze gerade in der dem Ärzteberuf innewohnenden, unumgänglichen ethischen Dimension, wie schon der alte und immer noch aktuelle hippokratische Eid erkannte, demgemäß von jedem Arzt verlangt wird, sich zur absoluten Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Heiligkeit zu verpflichten.

Die absolute Achtung jedes unschuldigen Menschenlebens erfordert auch die Ausübung des Einspruchs aus Gewissensgründen gegen vorsätzliche Abtreibung und Euthanasie. »Sterben lassen« darf niemals als eine medizinische Behandlung angesehen werden, auch dann nicht, wenn man nur die Absicht hätte, damit einer Bitte des Patienten nachzukommen: es ist vielmehr die Verneinung des ärztlichen Berufes, der sich als leidenschaftliches und hartnäckiges »Ja« zum Leben qualifiziert. Auch die biomedizinische Forschung, ein faszinierendes und neue große Wohltaten für die Menschheit verheißendes Gebiet, muß immer die Durchführung von Experimenten, Forschungen bzw. Anwendungen ablehnen, die infolge der Mißachtung der unverletzlichen Würde des Menschen nicht mehr im Dienst der Menschen stehen und zu Realitäten werden, die sie, obwohl sie ihnen zu helfen scheinen, tatsächlich unterdrücken.



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