Evangelium vitae DE


Ioannes Paulus PP. II

Evangelium vitae

An die Bischöfe, Priester und Diakone

die Ordensleute und Laien

sowie an alle Menschen guten Willens

über den Wert und die Unantastbarkeit

des menschlichen Lebens


1995.03.25







EINFÜHRUNG



1 Das Evangelium vom Leben liegt der Botschaft Jesu am Herzen. Von der Kirche jeden Tag liebevoll aufgenommen soll es mit beherzter Treue als Frohe Botschaft allen Menschen jeden Zeitalters und jeder Kultur verkündet werden.

Am Beginn des Heils steht die Geburt eines Kindes, die als frohe Nachricht verkündet wird: »Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (
Lc 2,10-11). Gewiß ist es die Geburt des Erlösers, die diese »große Freude« ausstrahlt; aber zu Weihnachten wird auch der volle Sinn jeder menschlichen Geburt offenbar, und die messianische Freude erscheint so als Fundament und Erfüllung der Freude über jedes Kind, das geboren wird (vgl. Joh Jn 16,21).

Den zentralen Kern seines Erlösungsauftrags stellt Jesus mit den Worten vor: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10). Tatsächlich bezieht Er sich auf jenes »neue« und »ewige« Leben, das in der Gemeinschaft mit dem Vater besteht, zu der jeder Mensch im Sohn durch das Wirken des heiligmachenden Geistes unentgeltlich gerufen ist. Doch eben in diesem »Leben« gewinnen sämtliche Aspekte und Momente des Lebens des Menschen ihre volle Bedeutung.




Der unvergleichliche Wert der menschlichen Person


2 Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung, Einstiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen Seins. Eines Prozesses, der unerwarteter- und unverdienterweise von der Verheißung erleuchtet und vom Geschenk des göttlichen Lebens erneuert wird, das in der Ewigkeit zu seiner vollen Erfüllung gelangen wird (vgl. 1Jn 3,1-2). Zugleich unterstreicht diese übernatürliche Berufung die Relativität des irdischen Lebens von Mann und Frau. In Wahrheit ist es nicht »letzte«, sondern »vorletzte« Wirklichkeit; es ist also heilige Wirklichkeit, die uns anvertraut wird, damit wir sie mit Verantwortungsgefühl hüten und in der Liebe und Selbsthingabe an Gott sowie an die Schwestern und Brüder zur Vollendung bringen.

Die Kirche weiß, dab dieses Evangelium vom Leben, das ihr von ihrem Herrn anvertraut wurde, 1 im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Menschen tiefen und überzeugenden Widerhall findet, weil es seinen Erwartungen, während es unendlich über diese hinausgeht, überraschenderweise entspricht. Selbst in Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der in ehrlicher Weise für die Wahrheit und das Gute offen ist, im Licht der Vernunft und nicht ohne den geheimnisvollen Einfluß der Gnade im ins Herz geschriebenen Naturgesetz (vgl. Rm 2,14-15) den heiligen Wert des menschlichen Lebens vom ersten Augenblick bis zu seinem Ende zu erkennen und das Recht jedes Menschen zu bejahen, daß dieses sein wichtigstes Gut in höchstem Mabe geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruht das menschliche Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.

Besonders verteidigen und fördern müssen dieses Recht die Christgläubigen im Bewußtsein der wunderbaren Wahrheit, an die das II. Vatikanische Konzil erinnert: »Der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt«. 2 Denn in diesem Heils- ereignis offenbart sich der Menschheit nicht nur die unendliche Liebe Gottes, der »die Welt so sehr geliebt (hat), daß er seinen einzigen Sohn hingab« (Jn 3,16), sondern auch derunvergleichliche Wert jeder menschlichen Person.

Und während die Kirche beharrlich das Geheimnis der Erlösung ergründet, erfaßt sie mit immer neuem Staunen 3 diesen Wert und fühlt sich aufgerufen, dieses »Evangelium«, Quelle unbesiegbarer Hoffnung und wahrer Freude für jede Epoche der Geschichte, den Menschen aller Zeiten zu verkünden. Das Evangelium von der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der Person und das Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium.

Der Mensch, der lebendige Mensch stellt den ersten und grundlegenden Weg der Kirche dar. 4

1) Tatsächlich findet sich der Ausdruck "Evangelium vom Leben" als solcher nicht in der Heiligen Schrift. Er entspricht jedoch einem wesentlichen Aspekt der biblischen Botschaft.
2) Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 22.
3) Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor Hominis (4. März 1979), Nr. RH 10: AAS 71 (1979), 275.
4) Vgl. ebd., Nr. RH 14: a.a.O., 285.



Die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens


3 Jeder Mensch ist auf Grund des Geheimnisses vom fleischgewordenen Wort Gottes (vgl. Joh Jn 1,14) der mütterlichen Sorge der Kirche anvertraut. Darum muß jede Bedrohung der Würde und des Lebens des Menschen eine Reaktion im Herzen der Kirche auslösen, sie muß sie im Zentrum ihres Glaubens an die erlösende Menschwerdung des Gottessohnes treffen, sie muß sie miteinbeziehen in ihren Auftrag, in der ganzen Welt und allen Geschöpfen das Evangelium vom Leben zu verkünden (vgl. Mk Mc 16,15).

Heute erweist sich diese Verkündigung als besonders dringend angesichts der erschütternden Vermehrung und Verschärfung der Bedrohungen des Lebens von Personen und Völkern, vor allem dann, wenn es schwach und wehrlos ist. Zu den alten schmerzlichen Plagen von Elend, Hunger, endemischen Krankheiten, Gewalt und Kriegen gesellen sich andere unbekannter Art und von beunruhigenden Ausmaßen.

Schon das Zweite Vatikanische Konzil beklagte an einer Stelle, die von geradezu dramatischer Aktualität ist, nachdrücklich vielfältige Verbrechen und Angriffe gegen das menschliche Leben. Wenn ich mir nun im Abstand von dreißig Jahren die Worte der Konzilsversammlung zu eigen mache, erhebe ich im Namen der ganzen Kirche und in der Gewißheit, damit dem echten Empfinden jedes reinen Gewissens Ausdruck zu verleihen, noch einmal und mit gleichem Nachdruck klagend meine Stimme: »Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers. 5

5) Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 27.


4 Weit davon entfernt, sich einschränken zu lassen, ist dieses beunruhigende Panorama statt dessen leider in Ausdehnung begriffen: mit den neuen, vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, während sich eine neue kulturelle Situation abzeichnet und verfestigt, die den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten und womöglich noch widerwärtigeren Aspekt verleiht und neue ernste Sorgen auslöst: breite Schichten der öffentlichen Meinung rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter Freiheit und unter kostenloser Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.

Das alles bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der Betrachtungsweise des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Umstand, daß die Gesetzgebung vieler Länder sogar in Abweichung von den Grundprinzipien ihrer Verfassungen zugestimmt hat, solche gegen das Leben gerichtete Praktiken nicht zu bestrafen oder ihnen gar volle Rechtmäßigkeit zuzuerkennen, ist zugleich besorgniserregendes Symptom und keineswegs nebensächliche Ursache für einen schweren moralischen Verfall: Entscheidungen, die einst einstimmig als verbrecherisch angesehen und vom allgemeinen sittlichen Empfinden abgelehnt wurden, werden nach und nach gesellschaftlich als achtbar betrachtet. Selbst die Medizin, die auf die Verteidigung und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen ihrer Bereiche immer eingehender für die Durchführung dieser Handlungen gegen die Person und entstellt auf diese Weise ihr Gesicht, widerspricht sich selbst und verletzt die Würde all derer, die sie ausüben. In einem solchen kulturellen und gesetzlichen Kontext sehen sich auch die schwerwiegenden bevölkerungsstatistischen, sozialen oder familiären Probleme, die auf zahlreichen Völkern der Welt lasten und eine verantwortungsvolle und rührige Aufmerksamkeit seitens der nationalen und internationalen Gemeinschaften erfordern, falschen und illusorischen Lösungsversuchen ausgesetzt, die zur Wahrheit und zum Wohl der Menschen und der Nationen im Widerspruch stehen.

Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: so schwerwiegend und beunruhigend das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend und beunruhigend, daß selbst das Gewissen, als wäre es von so weitreichenden Konditionierungen verfinstert, immer träger darin wird, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens.




In Gemeinschaft mit allen Bischöfen der Welt


5 Dem Problem der Bedrohungen des menschlichen Lebens in unserer Zeit war dasaußerordentliche Konsistorium der Kardinäle gewidmet, das vom 4. bis 7. April 1991 in Rom stattgefunden hat. Nach einer umfassenden und gründlichen Erörterung des Problems und der Herausforderungen, die sich der ganzen Menschheitsfamilie und im besonderen der christlichen Gemeinschaft stellen, haben mich die Kardinäle einstimmig ersucht, den Wert des menschlichen Lebens und seine Unantastbarkeit unter Bezugnahme auf die gegenwärtigen Umstände und die Angriffe, von denen es heute bedroht wird, mit der Autorität des Nachfolgers Petri zu bekräftigen.

Nach Annahme dieses Vorschlags habe ich zu Pfingsten 1991 ein persönliches Schreiben an jeden Mitbruder gerichtet mit der Bitte, er möge mir im Geiste der bischöflichen Kollegialität im Hinblick auf die Erstellung eines eigenen Dokuments seine Mitarbeit zukommen lassen. 6 Ich bin allen Bischö- fen, die geantwortet haben und mir wertvolle Informationen, Ratschläge und Vorschläge zugehen lieben, zutiefst dankbar. Sie haben so auch ihre einmütige und überzeugte Teilnahme am Lehr- und Pastoralauftrag der Kirche in bezug auf das Evangelium vom Lebenunter Beweis gestellt.

In demselben Brief habe ich, wenige Tage vor der Hundertjahrfeier der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum, die Aufmerksamkeit aller auf diese einzigartige Analogie gelenkt: »Wie es vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse war, die, in ihren fundamentalsten Rechten unterdrückt, von der Kirche mit großem Mut in Schutz genommen wurde, indem diese die heiligen Rechte der Person des Arbeiters herausstellte, so weiß sie sich auch jetzt, wo eine andere Kategorie von Personen in ihren grundlegenden Lebensrechten unterdrückt wird, verpflichtet, mit unvermindertem Mut den Stimmlosen Stimme zu sein. Für immer hat sie sich den Ruf des Evangeliums nach dem Schutz der Armen zu eigen gemacht, deren Menschenrechte bedroht, mißachtet und verletzt werden«. 7

Das fundamentale Recht auf Leben wird heute bei einer großen Zahl schwacher und wehrloser Menschen, wie es insbesondere die ungeborenen Kinder sind, mit Füßen getreten. Wenn die Kirche am Ende des vorigen Jahrhunderts angesichts der damals vorherrschenden Ungerechtigkeiten nicht schweigen durfte, so kann sie heute noch weniger schweigen, wo sich in vielen Teilen der Welt zu den leider noch immer nicht überwundenen sozialen Ungerechtigkeiten der Vergangenheit noch schwerwiegendere Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen gesellen, die möglicherweise mit Elementen des Fortschritts im Hinblick auf die Gestaltung einer neuen Weltordnung verwechselt werden.

Die vorliegende Enzyklika, Frucht der Zusammenarbeit des Episkopates jedes Landes der Welt, will also eine klare und feste Bekräftigung des Wertes des menschlichen Lebens und seiner Unantastbarkeit und zugleich ein leidenschaftlicher Appell im Namen Gottes an alle und jeden einzelnen sein: achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben und diene ihm! Nur auf diesem Weg wirst du Gerechtigkeit, Entwicklung, echte Freiheit, Frieden und Glück finden!

Mögen diese Worte alle Söhne und Töchter der Kirche erreichen! Mögen sie alle Menschen guten Willens erreichen, die um das Wohl jedes Mannes und jeder Frau und um das Schicksal der ganzen Gesellschaft besorgt sind!

6) Vgl. Brief an alle Brüder im Bischofsamt über "das Evangelium vom Leben" (19. Mai 1991): Insegnamenti XIV/1 (1991), 1293-1296.
7) Ebd., a.a.O., 1294.


6 In tiefer Verbundenheit mit jeder Schwester und jedem Bruder im Glauben und von aufrichtiger Freundschaft für alle beseelt, möchte ich das Evangelium vom Leben neu überdenken und verkünden, als Glanz der Wahrheit, das die Gewissen erleuchtet, als helles Licht, das den verfinsterten Blick erhellt, als unerschöpfliche Quelle der Beständigkeit und des Mutes, um den immer neuen Herausforderungen entgegenzutreten, denen wir auf unserem Weg begegnen.

Und während ich an die im Verlauf des Jahres der Familie gesammelte reiche Erfahrung denke, blicke ich, gleichsam als gedankliche Ergänzung des Briefes, den ich »an jede konkrete Familie jeder Region der Erde« 8 gerichtet hatte, mit neuem Vertrauen auf alle Hausgemeinschaften und wünsche mir, daß auf allen Ebenen der Einsatz aller für die Unterstützung der Familie wieder auflebe und sich verstärke, damit diese auch heute — trotz zahlreicher Schwierigkeiten und schwerwiegender Bedrohungen — dem Plan Gottes entsprechend immer als »Heiligtum des Lebens« 9 erhalten bleibe.

Alle Mitglieder der Kirche, des Volkes des Lebens und für das Leben, lade ich ganz dringend ein, miteinander dieser unserer Welt neue Zeichen der Hoffnung zu geben, indem wir bewirken, daß Gerechtigkeit und Solidarität wachsen und sich durch den Aufbau einer echten Zivilisation der Wahrheit und der Liebe eine neue Kultur des menschlichen Lebens durchsetzt.

8) Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994),
LF 4: AAS 86 (1994), 871.
9) Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. CA 39: AAS 83 (1991), 842.



I. KAPITEL - DAS BLUT DEINES BRUDERS SCHREIT ZU MIR VOM ACKERBODEN - DIE GEGENWÄRTIGEN BEDROHUNGEN DES MENSCHLICHEN LEBENS

7

»Kain griff seinen Bruder Abel an und erschlug ihn«

(Gn 4,8):

an der Wurzel der Gewalt gegen das Leben


»Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen... Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören« (Sg 1,13-14 Sg 2,23-24).

Im Widerspruch zum Evangelium vom Leben, das am Anfang mit der Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes zu einem vollen und vollkommenen Leben (vgl. Gn 2,7 Sg 9,2-3) erschallte, steht die qualvolle Erfahrung des Todes, der in die Welt kommt und auf das ganze Dasein des Menschen den Schatten des Un-Sinnes wirft. Der Tod kommt durch den Neid des Teufels (vgl. Gn 3,1 Gn 3,4-5) und die Sünde der Stamm- eltern (vgl. Gn 2,17 Gn 3,17-19) in die Welt. Und er kommt gewaltsam mit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain: »Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn« (Gn 4,8).

Dieser erste Mord wird in einer beispielhaften Episode des Buches Genesis mit einzigartiger Beredtheit geschildert: eine Episode, die jeden Tag pausenlos und in bedrückender Wiederholung neu ins Buch der Geschichte der Völker geschrieben wird.

Wir wollen miteinander diesen Passus aus der Bibel wieder lesen, der trotz seines archaischen Charakters und seiner äußersten Schlichtheit höchst lehrreich erscheint.

»Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht.

Da überfiel es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: 'Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!?

Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn.

Da sprach der Herr zu Kain: 'Wo ist dein Bruder Abel?? Er entgegnete: 'Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?? Der Herr sprach: 'Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.?

Kain antwortete dem Herrn: 'Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.?

Der Herr aber sprach zu ihm: 'Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen.? Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden«(Gn 4,2-16).


8 Kain »überlief es ganz heiß« und sein Blick »senkte sich», weil »der Herr auf Abel und sein Opfer schaute« (Gn 4,4). Der biblische Text enthüllt zwar nicht, aus welchem Grund Gott das Opfer Abels jenem Kains vorzieht; er weist jedoch mit aller Klarheit darauf hin, daß Gott trotz der Bevorzugung von Abels Gabe den Dialog mit Kain nicht abbricht. Er ermahnt ihn, indem er ihn an seine Freiheit gegenüber dem Bösen erinnert: der Mensch ist keineswegs für das Böse vorherbestimmt. Sicherlich wird er, wie schon Adam, von der verderblichen Macht der Sünde in Versuchung geführt, die, einer wilden Bestie gleich, an der Pforte seines Herzens lauert und darauf wartet, über die Beute herzufallen. Aber Kain bleibt der Sünde gegenüber frei. Er kann und er soll Herr über sie sein: »Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!« (Gn 4,7).

Eifersucht und Zorn gewinnen Oberhand über die Mahnung des Herrn, und so greift Kain seinen eigenen Bruder an und erschlägt ihn. Im Katechismus der katholischen Kirche lesen wir: »Im Bericht über die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain offenbart die Schrift, daß im Menschen schon von Anfang seiner Geschichte an Zorn und Eifersucht als Folgen der Erbsünde wirksam sind. Der Mensch ist zum Feind des Mitmenschen geworden«. 10

Der Bruder tötet den Bruder. Wie beim ersten Brudermord wird bei jedem Mord die »geistige« Verwandtschaft geschändet, die die Menschen zu einer einzigen großen Familie vereinigt, 11 da sie alle an demselben grundlegenden Gut teilhaben: der gleichen Personwürde. Nicht selten wird auch die Verwandtschaft »des Fleisches und Blutes« geschändet, wenn zum Beispiel die Bedrohungen des Lebens im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ausbrechen, wie es bei der Abtreibung geschieht, oder wenn im weitesten Familien- und Verwandtenkreis die Euthanasie befürwortet oder dazu angestiftet wird.

Am Anfang jeder Gewalt gegen den Nächsten steht ein Nachgeben gegenüber der »Logik« des Bösen, das heißt desjenigen, der »von Anfang an ein Mörder war« (Jn 8,44), wie uns der Apostel Johannes in Erinnerung ruft: »Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug« (1Jn 3,11-12). Die Ermordung des Bruders ist also von Beginn der Geschichte an das traurige Zeugnis dafür, wie das Böse mit beeindruckender Geschwindigkeit voranschreitet: zum Aufbegehren des Menschen gegen Gott im irdischen Paradies gesellt sich der tödliche Kampf des Menschen gegen den Menschen.

Nach dem Verbrechen greift Gott ein, um den Ermordeten zu rächen. Gott gegenüber, der sich nach dem Schicksal Abels erkundigt, weicht Kain in Überheblichkeit der Frage aus, statt sich verlegen zu zeigen und um Verzeihung zu bitten: »Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gn 4,9). »Ich weiß es nicht«: mit der Lüge versucht Kain das Verbrechen zu verdecken. So ist es oft geschehen und geschieht es, wenn Ideologien verschiedenster Art dazu dienen, um die schrecklichsten Verbrechen gegen die Person zu rechtfertigen und zu bemänteln.»Bin ich der Hüter meines Bruders?«: Kain will nicht an den Bruder denken und lehnt es ab, jene Verantwortung, die jeder Mensch gegenüber dem anderen hat, zu leben. Das läßt uns unwillkürlich an heutige Bestrebungen denken, die den Menschen seiner Verantwortung gegenüber seinem Mitmenschen entheben wollen; Anzeichen dafür sind unter anderem das Nachlassen der Solidarität gegenüber den schwächsten Gliedern der Gesellschaft, wie den Alten, den Kranken, den Einwanderern, den Kindern gegenüber, und die häufig zu bemerkende Gleichgültigkeit in den Beziehungen der Völker untereinander, selbst dann, wenn fundamentale Werte wie das Überleben, die Freiheit und der Friede auf dem Spiel stehen.

10) Nr. CEC 2259.
11) Vgl. Hl. Ambrosius, De Noe, 26, 94-96: CSEL 32, 480-481.
9 Doch Gott kann das Verbrechen nicht ungestraft lassen: vom Ackerboden, auf dem es vergossen wurde, verlangt das Blut des Erschlagenen, daß Er Gerechtigkeit widerfahren lasse (vgl. Gn 37,26 Is 26,21 Ez 24, 7f). Aus diesem Text hat die Kirche die Bezeichnung »himmelschreiende Sünden« abgeleitet und in diese vor allem den beabsichtigten Mord einbezogen. 12 Für die Juden ist, wie für viele Völker der Antike, das Blut der Sitz des Lebens, ja »das Blut ist Lebenskraft« (Dt 12,23), und das Leben, besonders das menschliche Leben, gehört allein Gott: wer daher nach dem Leben des Menschen trachtet, trachtet Gott selbst nach dem Leben.

Kain ist von Gott und ebenso vom Ackerboden, der ihm seinen Ertrag verweigert, verflucht (vgl. Gn 4,11-12). Und er wird bestraft: er soll in der Steppe und in der Wüste wohnen. Die mörderische Gewalttätigkeit verändert das Lebensmilieu des Menschen tiefgreifend. Aus dem »Garten von Eden« (Gn 2,15), einem Ort des Überflusses, der unbeschwerten zwischenmenschlichen Beziehungen und der Freundschaft mit Gott, wird die Erde zum »Land Nod« (Gn 4,16), Ort des »Elends», der Einsamkeit und der Gottferne. Kain wird »rastlos und ruhelos auf der Erde« sein (Gn 4,14): Unsicherheit und Unbeständigkeit werden ihn immer begleiten.

Gott jedoch, der stets Barmherzige, auch wenn Er straft, »machte dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde« (Gn 4,15): Er versieht ihn also mit einem Zeichen, das nicht den Zweck hat, ihn zur Verabscheuung durch die anderen Menschen zu verdammen, sondern ihn vor allen zu schützen und zu verteidigen, die ihn töten wollen, und wäre es auch, um den Tod Abels zu rächen. Nicht einmal der Mörder verliert seine Personwürde, und Gott selber leistet dafür Gewähr. Tatsächlich offenbart sich hier das paradoxe Geheimnis von der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes, wie der hl. Ambrosius schreibt: »Nachdem in dem Augenblick, als sich die Sünde eingeschlichen hatte, ein Brudermord, also das größte Verbrechen, begangen worden war, mußte sofort das Gesetz von der göttlichen Barmherzigkeit erweitert werden; damit es nicht geschähe, daß die Menschen, obwohl die Strafe den Schuldigen unmittelbar getroffen hatte, beim Bestrafen weder Toleranz noch Milde walten lassen, sondern die Schuldigen unverzüglich der Strafe ausliefern würden. (...) Gott verstieß Kain von seinem Angesicht und verbannte den von seinen Eltern Abtrünnigen an einen anderen Wohnort, weil er von der menschlichen Zahmheit zur tierischen Wildheit übergegangen war. Doch Gott wollte den Mörder nicht durch einen Mord bestrafen, da Er mehr die Reue des Sünders will als seinen Tod«. 13

12) Vgl. Katechismus der katholischen Kirche Nr. CEC 1867 und CEC 2268.
13) De Cain et Abel, II, 10, 38: CSEL 32, 408.



»Was hast du getan?«

(Gn 4,10):

die Verfinsterung des Wertes des Lebens


10 Der Herr sprach zu Kain: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gn 4,10). Das von den Menschen vergossene Blut hört nicht auf zu schreien,von Generation zu Generation nimmt dieses Schreien andere und immer neue Töne und Akzente an.

Die Frage des Herrn »Was hast du getan?«, der Kain nicht entgehen kann, ist auch an den heutigen Menschen gerichtet, damit er sich den Umfang und die Schwere der Angriffe auf das Leben bewußt mache, von denen die Geschichte der Menschheit weiterhin gekennzeichnet ist; damit er auf die Suche nach den vielfältigen Ursachen gehe, die diese Bedrohungen hervorrufen und fördern; damit er mit größtem Ernst über die Folgen nachdenke, die sich aus diesen Anschlägen für die Existenz der Menschen und der Völker ergeben.

Manche Bedrohungen stammen aus der Natur selbst, werden aber durch die schuldhafte Unbekümmertheit und Nachlässigkeit der Menschen, die nicht selten Abhilfe schaffen könnten, verschlimmert; andere hingegen sind das Ergebnis von Gewaltsituationen, Haß und gegensätzlichen Interessen, die die Menschen veranlassen, mit Mord, Krieg, Blutbädern und Völkermord über andere Menschen herzufallen.

Und wie sollte man nicht an die Gewalt denken, die dem Leben von Millionen von Menschen, besonders Kindern, zugefügt wird, die wegen der ungerechten Verteilung der Reichtümer unter den Völkern und sozialen Klassen zu Elend, Unterernährung und Hunger gezwungen sind? Oder an die Gewalt, die, noch ehe Kriege ausbrechen, einem skandalösen Waffenhandel anhaftet, der einer Spirale von zahllosen bewaffneten Konflikten, die die Welt in Blut tauchen, Vorschuß leistet? Oder an die Todessaat, die durch die unbedachte Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, durch die kriminelle Verbreitung der Drogen und dadurch zustande kommt, daß Muster für die Sexualität Unterstützung finden, die nicht nur in moralischer Hinsicht unannehmbar, sondern auch Vorboten schwerwiegender Gefahren für das Leben sind? Es ist gar nicht möglich, die umfangreiche Skala der Bedrohungen des menschlichen Lebens vollständig aufzuzählen, so zahlreich sind die offen zutage tretenden oder heimtückischen Formen, die sie in unserer Zeit annehmen!



11 Unsere Aufmerksamkeit will sich aber im besonderen auf eine andere Art von Angriffenkonzentrieren, die das werdende und das zu Ende gehende Leben betreffen, Angriffe, die im Vergleich zur Vergangenheit neue Merkmale aufweisen und ungewöhnlich ernste Probleme aufwerfen: deshalb, weil die Tendenz besteht, daß sie im Bewußtsein der Öffentlichkeit den »Verbrechenscharakter« verlieren und paradoxerweise »Rechtscharakter« annehmen, so daß eine regelrechte gesetzliche Anerkennung durch den Staat und die darauf folgende Durchführung mittels des kostenlosen Eingriffs durch das im Gesundheitswesen tätige Personal verlangt wird. Diese Angriffe treffen das menschliche Leben in äußerst bedenklichen Situationen, wo es völlig wehrlos ist. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, daß sie großenteils gerade in der und durch die Familie ausgetragen werden, die doch grundlegend dazu berufen ist, »Heiligtum des Lebens« zu sein.

Wie hat es zu einer solchen Situation kommen können? Dabei müssen vielfältige Faktoren in Betracht gezogen werden. Im Hintergrund steht eine tiefe Kulturkrise, die Skepsis selbst an den Fundamenten des Wissens und der Ethik hervorruft und es immer schwieriger macht, den Sinn des Menschen, seiner Rechte und seiner Pflichten klar zu erfassen. Dazu kommen die verschiedensten existentiellen und Beziehungsschwierigkeiten, die noch verschärft werden durch die Wirklichkeit einer komplexen Gesellschaft, in der die Personen, die Ehepaare, die Familien oft mit ihren Problemen allein bleiben. Es fehlt nicht an Situationen von besonderer Armut, Bedrängnis oder Verbitterung, in denen der Kampf um das Überleben, der Schmerz bis an die Grenzen der Erträglichkeit, die besonders von Frauen erlittenen Gewaltakte den Entscheidungen zur Verteidigung und Förderung des Lebens bisweilen geradezu Heroismus abverlangen.

Das alles erklärt wenigstens zum Teil, daß der Wert des Lebens heute eine Art »Verfinsterung« erleiden kann, mag auch das Gewissen nicht aufhören, ihn als heiligen und unantastbaren Wert anzuführen, wie die Tatsache beweist, daß man geneigt ist, manche Verbrechen gegen das werdende oder zu Ende gehende Leben mit medizinischen Formulierungen zu bemänteln, die den Blick von der Tatsache ablenken, daß das Existenzrecht einer konkreten menschlichen Person auf dem Spiel steht.



12 Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, daß wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre »Kultur des Todes« herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strö- mungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.

Wenn man die Dinge von diesem Gesichtspunkt her betrachtet, kann man in gewisser Hinsicht von einem Krieg der Mächtigen gegen die Schwachen sprechen: das Leben, das mehr Annahme, Liebe und Fürsorge verlangen würde, wird für nutzlos gehalten oder als eine unerträgliche Last betrachtet und daher auf vielerlei Weise abgelehnt. Wer durch seine Krankheit, durch seine Behinderung oder, noch viel einfacher, durch sein bloßes Dasein den Wohlstand oder die Lebensgewohnheiten derer in Frage stellt, die günstiger dastehen, wird zunehmend als Feind angesehen, gegen den man sich verteidigen bzw. den man ausschalten muß. Auf diese Weise wird eine Art »Verschwörung gegen das Leben« entfesselt. Sie involviert nicht nur die einzelnen Personen in ihren individuellen, familiären oder Gruppenbeziehungen, sondern geht darüber hinaus, um schließlich auf Weltebene den Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu schaden und sie durcheinanderzubringen.




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