Evangelium vitae DE 35


35 Auch der jahwistische Schöpfungsbericht bringt dieselbe Überzeugung zum Ausdruck. Die ältere Erzählung spricht nämlich von einem göttlichen Hauch, der in den Menschen geblasen wird, damit er ins Leben trete: »Gott, der Herr, formte den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen« (Gn 2,7).

Der göttliche Ursprung dieses Lebensgeistes erklärt das ständige Unbefriedigtsein, das den Menschen in seinen Erdentagen begleitet. Da er von Gott geschaffen wurde und eine unauslöschliche Spur Gottes in sich trägt, trachtet der Mensch natürlich nach ihm. Jeder Mensch muß, wenn er die tiefe Sehnsucht seines Herzens vernimmt, sich das Wort der vom hl. Augustinus ausgesprochenen Wahrheit zu eigen machen: »Du, o Herr, hast uns für Dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir«. 25

Äußerst vielsagend ist das Unbefriedigtsein, von dem das Leben des Menschen im Garten Eden geplagt wird, solange sein einziger Bezug die natürliche Welt der Pflanzen und Tiere ist (vgl. Gen Gn 2,20). Erst das Auftreten der Frau, das heißt eines Wesens, das Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen Gn 2,23) und in dem ebenfalls der Geist des Schöpfergottes lebt, vermag sein Verlangen nach interpersonalem Dialog, der für die menschliche Existenz so wichtig ist, zu befriedigen. Im anderen, Mann oder Frau, spiegelt sich Gott selbst, endgültiger und befriedigender Anlegepunkt jedes Menschen.

»Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?«, fragt der Psalmist (Ps 8,5). Angesichts der Unermeßlichkeit des Universums ist er klein und unbedeutend; aber gerade dieser Gegensatz läßt seine Größe sichtbar werden: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott (man könnte auch übersetzen: als die Engel), hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt« (Ps 8,6). Die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen. In ihm findet der Schöpfer seine Ruhe, wie der hl. Ambrosius voll Erstaunen und Ergriffenheit kommentiert: »Der sechste Tag ist zu Ende und die Schöpfung der Welt wird mit der Gestaltung des Hauptwerkes abgeschlossen, des Menschen, der die Herrschaft über alle Lebewesen ausübt und gleichsam der Gipfel des Universums und die höchste Schönheit jedes geschaffenen Wesens ist. Wir müßten wahrhaftig in verehrungsvollem Schweigen verharren, da sich der Herr von jedem Werk der Welt ausruhte. Er ruhte sich dann im Innern des Menschen aus, er ruhte sich aus in seinem Verstand und seinem Denken; denn er hatte den Menschen erschaffen, ihn mit Vernunft ausgestattet und ihn befähigt, ihn nachzuahmen, seinen Tugenden nachzueifern, nach den himmlischen Gnaden zu dürsten. In diesen seinen Gaben ruht Gott, der gesagt hat: 'Was wäre das für ein Ort, an dem ich ausruhen könnte?... Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten und auf den, der zittert vor meinem Wort? (Is 66,1-2). Ich danke dem Herrn, unserem Gott, daß er ein so wunderbares Werk geschaffen hat, in dem er den Ort zum Ausruhen finden kann«. 26

25) Confessiones, I, 1: CCL 27, 1.
26) Hexaemeron, VI, 75-76: CSEL 32, 260-261.


36 Leider wird Gottes herrlicher Plan durch den Einbruch der Sünde in die Geschichte getrübt. Mit der Sünde lehnt sich der Mensch gegen den Schöpfer auf, bis er am Ende die Geschöpfe vergöttert: »Sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers« (Rm 1,25). Auf diese Weise entstellt der Mensch nicht nur in sich selbst das Bild Gottes, sondern ist versucht, es auch in den anderen dadurch zu beleidigen, daß er die Beziehungen der Gemeinschaft durch Verhaltensweisen wie Mißtrauen, Gleichgültigkeit, Feindschaft bis hin zum mörderischen Haß ersetzt. Wenn man nicht Gott als Gott anerkennt, verrät man die tiefe Bedeutung des Menschen und beeinträchtigt die Gemeinschaft der Menschen untereinander.

Mit der Menschwerdung des Gottessohnes erstrahlt im Leben des Menschen wieder das Bild Gottes und offenbart sich in seiner ganzen Fülle: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Col 1,15), »der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens« (He 1,3), lebt das vollkommene Ebenbild des Vaters.

Der dem ersten Adam übertragene Lebensplan findet schließlich in Christus seine Vollendung. Während der Ungehorsam Adams Gottes Plan bezüglich des Lebens des Menschen zerstört und entstellt und den Tod in die Welt bringt, ist der erlösende Gehorsam Christi Quelle der Gnade, die sich über die Menschen ergießt, indem sie für alle die Tore zum Reich des Leßens aufreißt (vgl. Rm 5,12-21). Der Apostel Paulus sagt: »Adam, der Erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist« (1Co 15,45).

Allen, die sich zustimmend in die Nachfolge Christi stellen, wird die Fülle des Lebens geschenkt: in ihnen wird das göttliche Bild wiederhergestellt, erneuert und zur Vollendung geführt. Das ist der Plan Gottes mit den Menschen: daß sie »an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben« (Rm 8,29). Nur so, im Glanz dieses Bildes, kann der Mensch von der Knechtschaft des Götzendienstes befreit werden, die zerbrochene Brüderlichkeit wiederherstellen und seine Identität wiederfinden.




»Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben«

(Jn 11,26):

das Geschenk des ewigen Lebens


37 Das Leben, das der Sohn Gottes den Menschen geschenkt hat, beschränkt sich nicht bloß auf das zeitlich-irdische Dasein. Das Leben, das von Ewigkeit her »in ihm« und »das Licht der Menschen« ist (Jn 1,4), beruht darauf, daß es aus Gott geboren ist und an der Fülle seiner Liebe teilhat: »Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind« (Jn 1,12-13).

Manchmal nennt Jesus dieses Leben, das zu schenken er gekommen ist, einfach: »das Leben»; und stellt die Geburt aus Gott als eine notwendige Bedingung dar, um das Ziel erreichen zu können, für das Gott den Menschen erschaffen hat: »Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Jn 3,3). Das Geschenk dieses Lebens bildet den eigentlichen Zweck der Sendung Jesu: er ist der, der »vom Himmel herabkommt und der Welt das Leben gibt« (Jn 6,33), so daß er mit voller Wahrheit sagen kann: »Wer mir nachfolgt, ... wird das Licht des Lebens haben« (Jn 8,12).

An anderen Stellen spricht Jesus vom »ewigen Leben», wobei das Adjektiv nicht nur auf eine überirdische Perspektive verweist. »Ewig« ist das Leben, das Jesus verheißt und schenkt, weil es Fülle der Teilhabe am Leben des »Ewigen« ist. Jeder, der an Jesus glaubt und in Gemeinschaft mit ihm tritt, hat das ewige Leben (vgl. Joh Jn 3,15 Jn 6,40), weil er von ihm die einzigen Worte hört, die seinem Dasein Lebensfülle offenbaren und einflößen; es sind die »Worte des ewigen Lebens», die Petrus in seinem Glaubensbekenntnis anerkennt: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes« (Jn 6,68-69). Worin dann das ewige Leben besteht, erklärt Jesus selbst, wenn er sich im Hohenpriesterlichen Gebet an den Vater wendet: »Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast« (Jn 17,3).

Gott und seinen Sohn erkennen heißt, das Geheimnis der Liebesgemeinschaft des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im eigenen Leben anzunehmen, das sich schon jetzt in derTeilhabe am göttlichen Leben dem ewigen Leben öffnet.



38 Das ewige Leben ist also das Leben Gottes selbst und zugleich das Leben der Kinder Gottes.Immer neues Staunen und grenzenlose Dankbarkeit müssen den Gläubigen angesichts dieser unerwarteten und unaussprechlichen Wahrheit erfassen, die uns von Gott in Christus zuteil wird. Der Gläubige macht sich die Worte des Apostels Johannes zu eigen: »Wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es... Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1Jn 3,1-2).

So erreicht die christliche Wahrheit über das Leben ihren Höhepunkt. Die Würde dieses Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm. Im Lichte dieser Wahrheit präzisiert und vervollständigt der hl. Irenäus seine Lobpreisung des Menschen: »Herrlichkeit Gottes« ist »der lebendige Mensch», aber »das Leben des Menschen besteht in der Schau Gottes«. 27

Daraus erwachsen unmittelbare Konsequenzen für das menschliche Leben in seiner irdischen Situation, in dem allerdings bereits das ewige Leben keimt und heranwächst. Wenn der Mensch instinktiv das Leben liebt, weil es ein Gut ist, so findet diese Liebe weitere Motivierung und Kraft, neue Fülle und Tiefe in den göttlichen Dimensionen dieses Gutes. So gesehen beschränkt sich die Liebe, die jeder Mensch zum Leben hat, nicht auf die einfache Suche eines Raumes der Selbstäußerung und der Beziehung zu den anderen, sondern sie entwickelt sich aus dem freudigen Bewußtsein, die eigene Existenz zu dem »Ort« der Offenbarwerdung Gottes sowie der Begegnung und der Gemeinschaft mit ihm machen zu können. Das Leben, das Jesus uns schenkt, entwertet nicht unser zeitliches Dasein, sondern nimmt es an und führt es seiner letzten Bestimmung zu: »Ich bin die Auferstehung und das Leben...; jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Jn 11,25 Jn 11,26).

27) "Vita autem hominis visio Dei": Gegen die Häresien, IV, 20,7: SCh 100/2, 648-649.



»Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder«

(Gn 9,5):

Achtung und Liebe für das Leben aller


39 Das Leben des Menschen kommt aus Gott, es ist sein Geschenk, sein Abbild und Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der einzige Herr über dieses Leben: der Mensch kann nicht darüber verfügen. Gott selbst bekräftigt dies gegenüber Noach nach der Sintflut: »Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder« (Gn 9,5). Und der biblische Text ist darauf bedacht zu unterstreichen, daß die Heiligkeit des Lebens in Gott und in seinem Schöpfungswerk begründet ist: »Denn als Abbild Gottes hat er den Menschen gemacht« (Gn 9,6).

Leben und Tod des Menschen liegen also in den Händen Gottes, in seiner Macht: »In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist«, ruft Ijob aus (12, 10). »Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf« (1S 2,6). Er allein kann sagen: »Ich bin es, der tötet und der lebendig macht« (Dt 32,39).

Aber diese Macht übt Gott nicht als bedrohliche Willkür aus, sondern als liebevolle Umsicht und Sorge gegenüber seinen Geschöpfen. Wenn es wahr ist, daß das Leben des Menschen in Gottes Händen ruht, so ist es ebenso wahr, daß es liebevolle Hände sind wie die einer Mutter, die ihr Kind annimmt, nährt und sich um es sorgt: »Ich lieb meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in dir« (Ps 131 Ps 1,2 vgl. Jes Is 49,15 Is 66,12-13 Os 11,4). So sieht Israel im Geschehen der Völker und im Schicksal der einzelnen nicht das Ergebnis einer bloßen Zufälligkeit oder eines blinden Schicksals, sondern das Ergebnis eines Planes der Liebe, in den Gott sämtliche Lebensmöglichkeiten aufnimmt und den aus der Sünde entstehenden Kräften des Todes entgegenstellt: »Denn Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen« (Sg 1,13-14).



40 Aus der Heiligkeit des Lebens erwächst seine Unantastbarkeit, die von Anfang an dem Herzen des Menschen, seinem Gewissen, eingeschrieben ist. Die Frage »Was hast du getan?« (Gn 4,10), mit der sich Gott an Kain wendet, nachdem dieser seinen Bruder Abel getötet hat, gibt die Erfahrung jedes Menschen wieder: in der Tiefe seines Gewissens wird er immer an die Unantastbarkeit des Lebens — seines Lebens und jenes der anderen — erinnert, als Realität, die nicht ihm gehört, weil sie Eigentum und Geschenk Gottes, des Schöpfers und Vaters, ist.

Das auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bezügliche Gebot steht im Zentrum der »zehn Worte« im Bund vom Sinai (vgl. Ex 34,28). Es verbietet zuallererst den Mord: »Du sollst nicht morden« (Ex 20,13); »Wer unschuldig und im Recht ist, den bring nicht um sein Leben« (Ex 23,7); aber es verbietet auch — wie in der weiteren Gesetzgebung Israels genau bestimmt wird — jede dem anderen zugefügte Verletzung (vgl. Ex Ex 21,12-27). Sicher muß man zugeben, daß im Alten Testament diese Sensibilität für den Wert des Lebens, selbst wenn sie bereits so hervorgehoben wird, noch nicht den Scharfsinn der Bergpredigt erreicht, wie aus manchen Aspekten der damals geltenden Gesetzgebung hervorgeht, die schwere Körperstrafen und sogar die Todesstrafe vorsah. Aber die Gesamtbotschaft, die das Neue Testa- ment zur Vervollkommnung bringen wird, ist ein mächtiger Appell zur Achtung der Unantastbarkeit des physischen Lebens und der persönlichen Integrität und erreicht ihren Höhepunkt in dem positiven Gebot, das dazu verpflichtet, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lv 19,18).



41 Das Gebot »du sollst nicht töten», das in jenem positiven Gebot von der Nächstenliebe eingeschlossen und vertieft ist, wirdvom Herrn Jesus in seiner ganzen Gültigkeit bekräftigt. Dem reichen Jüngling, der ihn fragt: »Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?», antwortet er: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote!« (Mt 19,16 Mt 19,17). Und als erstes nennt er das Gebot »du sollst nicht töten« (Mt 19,18). In der Bergpredigt verlangt Jesus von den Jüngern auch im Bereich der Achtung vor dem Leben eine höhere Gerechtigkeit als die der Schriftgelehrten und Pharisäer: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein« (Mt 5,21-22).

Durch sein Wort und sein Tun verdeutlicht Jesus die positiven Forderungen des Gebots von der Unantastbarkeit des Lebens noch weiter. Sie waren bereits im Alten Testament vorhanden, wo es der Gesetzgebung darum ging, Daseinsbeziehungen schwachen und bedrohten Lebens zu gewährleisten und es zu schützen: den Fremden, die Witwe, den Waisen, den Kranken, überhaupt den Armen, ja selbst das Leben vor der Geburt (vgl. Ex Ex 21,22 Ex 22,20-26). Mit Jesus erlangen diese positiven Forderungen neue Kraft und neuen Schwung und werden in ihrer ganzen Weite und Tiefe offenbar: sie reichen von der Sorge um das Leben des Bruders (des Familienangehörigen, des Angehörigen desselben Volkes, des Ausländers, der im Land Israel wohnt) zur Sorge um den Fremden bis hin zur Liebe des Feindes.

Der Fremde ist nicht länger ein Fremder für den, der für einen anderen Menschen in Not zumNächsten werden muß, bis zu dem Punkt, daß er die Verantwortung für sein Leben übernimmt, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr anschaulich und einprägsam schildert (vgl. Lk Lc 10,25-37). Auch der Feind ist für den kein Feind mehr, der ihn zu lieben (vgl. Mt 5,38-48 Lc 6,27-35) und dem er »Gutes zu tun« verpflichtet ist (vgl. Lk Lc 6,27 Lk Lc 6,33 Lk Lc 6,35), indem er auf die Nöte seines Lebens rasch und in der Gesinnung der Unentgeltlichkeit eingeht (vgl. Lk Lc 6,34-35). Höhepunkt dieser Liebe ist das Gebet für den Feind, durch das man sich mit der sorgenden Liebe Gottes in Einklang bringt: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,44-45 vgl. Lc 6,28 Lc 6,35).

Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt in derForderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem Leben. Mit dieser Lehre wendet sich der Apostel Paulus an die Christen von Rom, indem er dem Wort Jesu (vgl. Mt Mt 19,17-18) beistimmt: »Denn die Gebote: Du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Also ist die Liebe die Erfüllung des Gesetzes« (Rm 13,9-10).




»Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch«

(Gn 1,28):

die Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben


42 Das Leben zu verteidigen und zu fördern, in Ehren zu halten und zu lieben ist eine Aufgabe, die Gott jedem Menschen aufträgt, wenn er ihn als sein pulsierendes Abbild zur Teilhabe an seiner Herrschaft über die Welt beruft: »Gott segnete sie und sprach: "Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen"« (Gn 1,28).

Der biblische Text legt die Weite und Tiefe der Herrschaft an den Tag, die Gott dem Menschen schenkt. Es geht zunächst um die Herrschaft über die Erde und über alle Tiere, wie das Buch der Weisheit erwähnt: »Gott der Väter und Herr des Erbarmens... den Menschen hast du durch deine Weisheit erschaffen, damit er über deine Geschöpfe herrscht. Er soll die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit leiten« (9, 1. 2-3). Auch der Psalmist preist die Herrschaft des Menschen als Zeichen der vom Schöpfer empfangenen Herrlichkeit und Ehre: »Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht« (Ps 8 Ps 7-9).

Der Mensch, der berufen wurde, den Garten der Welt zu bebauen und zu hüten (vgl. Gn 2,15), hat eine besondere Verantwortung für die Lebensumwelt, das heißt für die Schöpfung, die Gott in den Dienst seiner personalen Würde, seines Lebens gestellt hat: Verantwortung nicht nur in bezug auf die gegenwärtige Menschheit, sondern auch auf die künftigen Generationen. Die ökologische Frage — von der Bewahrung des natürlichen Lebensraumes der verschiedenen Tierarten und der vielfältigen Lebensformen bis zur »Humanökologie« im eigentlichen Sinne des Wortes 28 — findet in dem Bibeltext eine einleuchtende und wirksame ethische Anleitung für eine Lösung, die das große Gut des Lebens, jeden Lebens, achtet. In Wirklichkeit ist »die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu 'gebrauchen oder mißbrauchen' oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, 'von der Frucht des Baumes zu essen' (vgl. Gn 2,16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten darf«. 29

28) Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), Nr. CA 38: AAS 83 (1991), 840-841.
29) Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), Nr. SRS 34: AAS 80 (1988), 560.


43 Eine gewisse Teilhabe des Menschen an der Herrschaft Gottes offenbart sich auch in der besonderen Verantwortung, die ihm gegenüber dem eigentlich menschlichen Leben anvertraut wird. Eine Verantwortung, die ihren Höhepunkt in der Weitergabe des Lebens durch die Zeugungseitens des Mannes und der Frau in der Ehe erreicht, wie das II. Vatikanische Konzil ausführt: »Derselbe Gott, der gesagt hat: 'Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei' (Gn 2,18), und der 'den Menschen von Anfang an als Mann und Frau schuf' (Mt 19,4), wollte ihm eine besondere Teilnahme an seinem schöpferischen Wirken verleihen, segnete darum Mann und Frau und sprach: 'Wachset und vermehrt euch' (Gn 1,28)«. 30

Wenn das Konzil von »einer besonderen Teilnahme« von Mann und Frau am »schöpferischen Wirken« Gottes spricht, will es hervorheben, daß die Zeugung des Kindes ein zutiefst menschliches und in hohem Maße religiöses Ereignis ist, weil sie die Ehegatten, die »ein Fleisch« werden (Gn 2,24), und zugleich Gott selber hineinzieht, der gegenwärtig ist. Wenn, wie ich in meinem Brief an die Familien geschrieben habe, »aus der ehelichen Vereinigung der beiden ein neuer Mensch entsteht, so bringt er ein besonderes Abbild Gottes, eine besondere Ähnlichkeit mit Gott selber in die Welt: in die Biologie der Zeugung ist die Genealogie der Person eingeschrieben. Wenn wir sagen, die Ehegatten seien als Eltern bei der Empfängnis und Zeugung eines neuen Menschen Mitarbeiter des Schöpfergottes, beziehen wir uns nicht einfach auf die Gesetze der Biologie; wir wollen vielmehr hervorheben, daß in der menschlichen Elternschaft Gott selber in einer anderen Weise gegenwärtig ist als bei jeder anderen Zeugung »auf Erden«. Denn nur von Gott kann jenes »Abbild und jene Ähnlichkeit« stammen, die dem Menschen wesenseigen ist, wie es bei der Schöpfung geschehen ist. Die Zeugung ist die Fortführung der Schöpfung«. 31

Das lehrt in direkter und beredter Sprache der Bibeltext, wenn er vom Freudenschrei der ersten Frau, der »Mutter aller Lebendigen« (Gn 3,20), berichtet. Eva, die sich des Eingreifens Gottes bewußt ist, ruft aus: »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (Gn 4,1). Durch die Weitergabe des Lebens von den Eltern an das Kind wird also bei der Zeugung dank der Erschaffung der unsterblichen Seele 32 das Abbild und Gleichnis Gottes selbst übertragen. In diesem Sinne heißt es zu Beginn der »Liste der Geschlechterfolge nach Adam«: »Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. Als Mann und Frau erschuf er sie, er segnete sie und nannte sie Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden. Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn, der ihm ähnlich war, wie sein Abbild, und nannte ihn Set« (Gn 5,1-3). Auf dieser ihrer Rolle von Mitarbeitern Gottes, der sein Bild auf das neue Geschöpf überträgt, beruht gerade die Größe der Eheleute, die bereit sind »zur Mitwirkung mit der Liebe des Schöpfers und Erlösers, der durch sie seine eigene Familie immer mehr vergrößert und bereichert«. 33 In diesem Licht pries Bischof Amphilochios die »heilige, erwählte und über alle irdischen Gaben erhabene Ehe« als »Erzeuger der Menschheit, Urheber von Ebenbildern Gottes«. 34

So werden Mann und Frau nach Vereinigung in der Ehe zu Teilhabern am göttlichen Werk: durch den Zeugungsakt wird Gottes Geschenk angenommen, und ein neues Leben öffnet sich der Zukunft.

Aber über den spezifischen Auftrag der Eltern hinaus betrifft die Aufgabe, das Leben anzunehmen und ihm zu dienen, alle und muß sich vor allem gegenüber dem im Zustand größter Schwachheit befindlichen Leben erweisen. Christus selber erinnert uns daran, wenn er verlangt, daß man ihn liebt und ihm in den von jeder Art von Leid heimgesuchten Brüdern dient: Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten, Kranken, Gefangenen... Was einem jeden von ihnen getan wird, wird Christus selbst getan (vgl. Mt 25,31-46).

30) Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 50.
31) Brief an die Familien Gratissimam sane (2. Februar 1994), LF 9: AAS 86 (1994), 878; vgl. Pius XII., Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 574.
32) "Animas enim a Deo immediate creari catholica fides nos retinere iubet": Pius XII., Enzyklika Humani generis (12. August 1950): AAS 42 (1950), 575.
33) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 50; vgl. Johannes Paul II., Apostol. Schreiben Familiaris consortio (22. November 1981), Nr. FC 28: AAS 74 (1982), 114.
34) Predigten, II, 1: CCSG 3, 39.



»Du hast mein Inneres geschaffen«

(Ps 139 Ps 2,13):

die Würde des ungeborenen Kindes


44 Das menschliche Leben befindet sich in einer Situation großer Gefährdung, wenn es in die Welt eintritt und wenn es das irdische Dasein verläßt, um in den Hafen der Ewigkeit einzugehen. Die Aufforderungen zu Sorge und Achtung vor allem gegenüber dem von Krankheit und Alter gefährdeten Sein sind im Wort Gottes sehr wohl vorhanden. Wenn es an direkten und ausdrücklichen Aufforderungen zum Schutz des menschlichen Lebens in seinen Anfängen, insbesondere des noch ungeborenen wie auch des zu Ende gehenden Lebens fehlt, so läßt sich das leicht daraus erklären, daß schon allein die Möglichkeit, das Leben in diesen Situationen zu verletzen, anzugreifen oder gar zu leugnen, der religiösen und kulturellen Sicht des Gottesvolkes fremd ist.

Im Alten Testament wird die Unfruchtbarkeit als ein Fluch gefürchtet, während die zahlreiche Nachkommenschaft als ein Segen empfunden wird: »Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk« (
Ps 127 Ps 3,3 vgl. Ps 128 Ps 4,3-4). Eine Rolle spielt bei dieser Überzeugung auch das Bewußtsein Israels, das Volk des Bundes und berufen zu sein, sich gemäß der an Abraham ergangenen Verheissung zu vermehren: »Sieh doch zum Himmel hinauf, und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst... So zahlreich werden deine Nachkommen sein« (Gn 15,5). Wirksam ist aber vor allem die Gewißheit, daß das von den Eltern weitergegebene Leben seinen Ursprung in Gott hat, wie die vielen Bibelstellen bezeugen, die voll Achtung und Liebe von der Empfängnis, von der Formung des Lebens im Mutterleib, von der Geburt und von der engen Verbindung sprechen, die zwischen dem Anfang des Seins und dem Tun Gottes, des Schöpfers, besteht.

»Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jr 1,5): die Existenz jedes einzelnen Menschen ist von ihren Anfängen an im Plan Gottes vorgegeben. Ijob in seinem tiefen Schmerz hält inne, um eine Betrachtung anzustellen über das Wirken Gottes bei der wunderbaren Formung seines Leibes im Schoß der Mutter; daraus schließt er den Grund der Zuversicht und äußert die Gewißheit, daß es einen göttlichen Plan für sein Leben gebe: »Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht; dann hast du dich umgedreht und mich vernichtet. Denk daran, daß du wie Ton mich geschaffen hast. Zum Staub willst du mich zurückkehren lassen. Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten. Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut schützte meinen Geist« (Jb 10,8-12). Hinweise anbetenden Staunens über Gottes Eingreifen bei der Bildung des Lebens im Mutterleib finden sich auch in den Psalmen. 35

Wie sollte man annehmen, daß auch nur ein Augenblick dieses wundervollen Prozesses des Hervorquellens des Lebens dem weisen und liebevollen Wirken des Schöpfers entzogen sein und der Willkür des Menschen überlassen bleiben könnte? Die Mutter der sieben Brüder ist jedenfalls nicht dieser Meinung: sie bekennt ihren Glauben an Gott, Anfang und Gewähr des Lebens von seiner Empfängnis an und zugleich Grund der Hoffnung auf das neue Leben über den Tod hinaus: »Ich weiß nicht, wie ihr in meinem Leib entstanden seid, noch habe ich euch Atem und Leben geschenkt; auch habe ich keinen von euch aus den Grundstoffen zusammengefügt. Nein, der Schöpfer der Welt hat den werdenden Menschen geformt, als er entstand; er kennt die Entstehung aller Dinge. Er gibt euch gnädig Atem und Leben wieder, weil ihr jetzt um seiner Gesetze willen nicht auf euch achtet« (2M 7,22-23).

35) Siehe zum Beispiel die Psalmen Ps 22,10-11 [21],10-11; Ps 71,6 [70],6; Ps 139,13-14 [138],13-14.


45 Die Offenbarung des Neuen Testamentes bestätigt die unbestrittene Anerkennung des Wertes des Lebens von seinen Anfängen an. Die Lobpreisung der Fruchtbarkeit und die beflissene Erwartung des Lebens sind aus den Worten herauszuhören, mit denen Elisabet ihrer Freude über ihre Schwangerschaft Ausdruck verleiht: »Der Herr... hat gnädig auf mich geschaut und mich von der Schande befreit« (Lc 1,25). Aber noch deutlicher verherrlicht wird der Wert der Person von ihrer Empfängnis an in der Begegnung zwischen der Jungfrau Maria und Elisabet und zwischen den beiden Kindern, die sie im Schoß tragen. Es sind gerade die Kinder, die den Anbruch des messianischen Zeitalters offenbaren: in ihrer Begegnung beginnt die erlösende Kraft der Anwesenheit des Gottessohnes unter den Menschen wirksam zu werden. »Sogleich — schreibt der hl. Ambrosius — machen sich die Segnungen des Kommens Marias und der Gegenwart des Herrn bemerkbar... Elisabet hörte als erste die Stimme, aber Johannes nahm als erster die Gnade wahr; sie hörte nach den Gesetzen der Natur, er hörte kraft des Geheimnisses; sie bemerkte die Ankunft Marias, er die des Herrn: die Frau die Ankunft der Frau, das Kind die Ankunft des Kindes. Die Frauen sprechen von den empfangenen Gnaden, die Kinder im Schoß der Mütter verwirklichen die Gnade und das Geheimnis der Barmherzigkeit zum Nutzen der Mütter selber: und diese sprechen auf Grund eines zweifachen Wunders unter der Inspiration der Kinder, die sie tragen, Prophezeiungen aus. Von dem Sohn heißt es, daß er sich freute, von der Mutter, daß sie vom Heiligen Geist erfüllt wurde. Nicht die Mutter wurde zuerst vom Heiligen Geist erfüllt, sondern der vom Heiligen Geist erfüllte Sohn war es, der auch die Mutter mit ihm erfüllte«. 36

36) Expositio Evangelii secundum Lucam, II, 22-23: CCL 14, 40-41.



»Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin so tief gebeugt«

(Ps 116 Ps 1,10)

das Leben im Alter und im Leiden


46 Auch was die letzten Augenblicke der Existenz betrifft, wäre es anachronistisch, aus der biblischen Offenbarung einen ausdrücklichen Bezug auf die aktuelle Problematik der Achtung der alten und kranken Menschen und eine ausdrückliche Verdammung von Versuchen zu erwarten, das Ende gewaltsam vorwegzunehmen: denn wir befinden uns hier in einem kulturellen und religiösen Umfeld, das einer derartigen Versuchung nicht ausgesetzt ist, sondern, was den alten Menschen betrifft, in seiner Weisheit und Erfahrung einen unersetzlichen Reichtum für die Familie und die Gesellschaft erkennt.

Das Alter wird von Ansehen gekennzeichnet und von Achtung umgeben (vgl.
2M 6,23). Und der Gerechte bittet nicht darum, vom Alter und seiner Last verschont zu bleiben; er betet im Gegenteil so: »Herr, mein Gott, du bist ja meine Zuversicht, meine Hoffnung von Jugend auf... Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlaß mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke« (Ps 71 Ps 2,5 Ps 712,18). Das Ideal der messianischen Zeit wird als das hingestellt, in dem »es keinen... Greis 3, der nicht das volle Alter erreicht« (Is 65,20).

Aber wie soll man im Alter dem unvermeidlichen Verfall des Lebens begegnen? Wie soll man sich dem Tod gegenüber verhalten? Der Gläubige weiß, daß sein Leben in Gottes Händen ruht:»Herr, du hältst mein Los in deinen Händen« (vgl. Ps 16 Ps 4,5), und nimmt auch das Sterben von ihm an: »Er (der Tod) ist das Los, das allen Sterblichen von Gott bestimmt ist. Was sträubst du dich gegen das Gesetz des Höchsten?« (Si 41,4). Wie der Mensch nicht Herr über das Leben ist, so auch nicht über den Tod; sowohl in seinem Leben wie in seinem Tod muß er sich ganz dem »Willen des Höchsten«, seinem Plan der Liebe anvertrauen.

Auch zum Zeitpunkt der Krankheit ist der Mensch aufgerufen, dasselbe Vertrauen zum Herrn zu leben und seine grundsätzliche Zuversicht in ihn zu erneuern, der »alle Gebrechen heilt« (vgl. Ps 103 Ps 5,3). Selbst dann, wenn sich vor dem Menschen jede Aussicht auf Gesundheit zu verschließen scheint — so daß er sich veranlaßt sieht auszurufen: »Meine Tage schwinden dahin wie Schatten, ich verdorre wie Gras« (Ps 102 Ps 6,12) —, ist der Gläubige von dem unerschütterlichen Glauben an die lebenspendende Macht Gottes erfüllt. Die Krankheit treibt ihn nicht zur Verzweiflung und auf die Suche nach dem Tod, sondern zu dem hoffnungsvollen Ausruf: »Voll Vertrauen war ich, auch wenn ich sagte: Ich bin tief gebeugt« (Ps 116 Ps 7,10); »Herr, mein Gott, ich habe zu dir geschrien, und du hast mich geheilt. Herr, du hast mich herausgeholt aus dem Reich des Todes, aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben gerufen« (Ps 30 Ps 8,3-4).



Evangelium vitae DE 35