Evangelium vitae DE 47


47 Die Sendung Jesu zeigt mit den zahlreichen von ihm vollbrachten Krankenheilungen an, wie sehr Gott auch das physische Leben des Menschen am Herzen liegt. »Als Leib- und Seelenarzt« 37 wird Jesus vom Vater gesandt, den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden und alle zu heilen, deren Herz zerbrochen ist (vgl. Lk Lc 4,18 Is 61,1). Als er dann seine Jünger in die Welt sendet, erteilt er ihnen einen Auftrag, in dem die Heilung der Kranken mit der Verkündigung des Evangeliums einhergehen soll: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Mt 10,7-8 vgl. Mk Mc 6,13 Mc 16,18).

Sicher ist für den Gläubigen das physische Leben in seinem irdischen Zustand kein Absolutum,so daß von ihm gefordert werden kann, es um eines höheren Gutes willen aufzugeben; denn, wie Jesus sagt, »wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mc 8,35). Dazu gibt es im Neuen Testa- ment eine Reihe von Zeugnissen. Jesus zögert nicht, sich selbst zu opfern und macht freiwillig sein Leben zu einer Opfergabe an den Vater (vgl. Joh Jn 10,17) und an die Seinen (vgl. Joh Jn 10,15). Auch der Tod Johannes des Täufers, des Vorläufers des Erlösers, bezeugt, daß das irdische Leben nicht das absolute Gut ist: wichtiger ist die Treue zum Wort des Herrn, auch wenn sie das Leben aufs Spiel setzen kann (vgl. Mk Mc 6,17-29). Und Stephanus, während er als treuer Zeuge der Auferstehung des Herrn das irdische Leben verliert, folgt dem Beispiel des Meisters und geht mit den Worten der Vergebung auf die zu, die ihn steinigen (vgl. Apg Ac 7,59-60), womit er den Weg für die zahllose Schar von Märtyrern öffnet, die von der Kirche von Anfang an verehrt werden.

Kein Mensch darf jedoch willkürlich über Leben oder Tod entscheiden; denn absoluter Herr über eine solche Entscheidung ist allein der Schöpfer, der, »in dem wir leben, uns bewegen und sind« (Ac 17,28).

37) Hl. Ignatius von Antiochien, Brief an die Epheser, 7, 2; Patres Apostolici, F.X. Funk, II, 82.



»Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben«

(Ba 4,1):

vom Gesetz des Sinai zur Spendung des Geistes


48 Das Leben trägt unauslöschlich eine ihm wesenseigene Wahrheit in sich. Der Mensch muß sich, wenn er das Geschenk Gottes annimmt, bemühen, das Leben in dieser Wahrheit zu erhalten, die für jenes wesentlich ist. Die Abwendung von ihr ist gleichbedeutend mit der eigenen Verurteilung zu Bedeutungslosigkeit und Unglück, was zur Folge hat, daß man auch zu einer Bedrohung für das Leben anderer werden kann, sobald die Schutzdämme niedergerissen sind, die in jeder Situation die Achtung und Verteidigung des Lebens garantieren.

Die dem Leben eigene Wahrheit wird vom Gebot Gottes geoffenbart. Das Wort des Herrn gibt konkret an, welcher Richtung das Leben folgen muß, um seine Wahrheit respektieren und seine Würde schützen zu können. Nicht nur das spezifische Gebot »du sollst nicht töten« (
Ex 20,13 Dt 5,17) gewährleistet den Schutz des Lebens: das ganze Gesetz des Herrn steht im Dienst dieses Schutzes, weil es jene Wahrheit offenbart, in der das Leben seine volle Bedeutung findet.

Es verwundert daher nicht, daß der Bund Gottes mit seinem Volk so stark an die Perspektive des Lebens, auch in seiner physischen Dimension, gebunden ist. Das Gebot wird in ihm als Weg des Lebens angeboten: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden, und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, segnen« (Dt 30,15-16). Hier geht es nicht nur um das Land Kanaan und um die Existenz des Volkes Israel, sondern um die heutige und zukünftige Welt und um die Existenz der ganzen Menschheit. Denn es ist absolut unmöglich, daß das Leben voll glaubwürdig bleibt, wenn es sich vom Guten entfernt; und das Gute wiederum ist wesentlich an die Gebote des Herrn gebunden, das heißt an das »lebenspendende Gesetz« (Si 17,11). Das Gute, das erfüllt werden soll, kommt nicht wie eine beschwerende Last zum Leben hinzu, weil der Grund des Lebens selbst ja das Gute ist und das Leben nur durch die Erfüllung des Guten aufgebaut wird.

Das Gesetz in seiner Gesamtheit schützt also voll das Leben des Menschen. Daraus erklärt sich, wie schwierig es ist, sich getreu an das Gebot »du sollst nicht töten« zu halten, wenn die anderen »Worte des Lebens« (Ac 7,38), mit denen dieses Gebot zusammenhängt, nicht eingehalten werden. Außerhalb dieser Sichtweise wird das Gebot schließlich zu einer bloß äußerlichen Verpflichtung, deren Grenzen sehr rasch sichtbar werden und für die man nach Abschwächungen oder Ausnahmen suchen wird. Nur wenn man sich der Fülle der Wahrheit über Gott, über den Menschen und über die Geschichte öffnet, erstrahlt das Wort »du sollst nicht töten« wieder als Gut für den Menschen in allen seinen Dimensionen und Beziehungen. Aus dieser Sicht können wir die Wahrheitsfülle begreifen, die in der Stelle des Buches Deuteronomium enthalten ist, die Jesus in der Antwort auf die erste Versuchung aufgreift: »Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern... von allem, was der Mund des Herrn spricht« (Dt 8,3; vgl. Mt 4,4).

Wenn der Mensch das Wort des Herrn hört, kann er würdig und gerecht leben; wenn der Mensch das Gesetz Gottes befolgt, kann er Früchte bringen an Leben und Glück: »Alle, die an ihm festhalten, finden das Leben; doch alle, die es verlassen, verfallen dem Tod« (Ba 4,1).



49 Die Geschichte Israels zeigt, wie schwierig es ist, die Treue zum Gesetz vom Leben aufrechtzuerhalten, das Gott den Menschen ins Herz geschrieben und dem Bundesvolk am Berg Sinai anvertraut hat. Angesichts der Suche nach alternativen Lebensprojekten zum Plan Gottes weisen insbesondere die Propheten mit Nachdruck darauf hin, daß allein der Herr die authentische Quelle des Lebens ist. So schreibt Jeremia: »Mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten« (Jr 2,13). Die Propheten weisen mit anklagendem Finger auf alle, die das Leben mißachten und die Rechte der Menschen verletzen: »Sie treten die Kleinen in den Staub« (Am 2,7); »Mit dem Blut Unschuldiger haben sie diesen Ort angefüllt« (Jr 19,4). Und unter ihnen prangert der Prophet Ezechiel wiederholt die Stadt Jerusalem an und nennt sie »die Stadt voll Blutschuld« (Ez 22,2 Ez 24,6 Ez 24,9), die »Stadt, die in ihrer Mitte Blut vergießt« (Ez 22,3).

Aber während die Propheten die Angriffe auf das Leben anzeigen, kümmern sie sich vor allem darum, die Erwartung eines neuen Lebensprinzips anzuregen, das in der Lage ist, eine erneuerte Beziehung zu Gott und zu den Schwestern und Brüdern zu begründen. So eröffnen sie noch unbekannte und außerordentliche Möglichkeiten für das Verständnis und die Verwirklichung aller im Evangelium vom Leben enthaltenen Forderungen. Das wird einzig und allein dank der Gabe Gottes möglich sein, die reinigt und erneuert: »Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch« (Ez 36,25-26 vgl. Jer Jr 31,31-34). Dank dieses »neuen Herzens« vermag man den eigentlichen und tiefsten Sinn des Lebens zu begreifen und zu verwirklichen: nämlich eine Gabe zu sein, die sich in der Hingabe erfüllt. Das ist die lichtvolle Botschaft über den Wert des Lebens, die uns von der Gestalt des Gottesknechtes zuteil wird: »Der Herr rettete den, der sein Leben als Sühneopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben... Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht« (Is 53,10 Is 53,11).

In der Person Jesu von Nazaret erfüllt sich das Gesetz, und durch seinen Geist wird uns das neue Herz geschenkt. Jesus hebt nämlich das Gesetz nicht auf, sondern bringt es zur Erfüllung (vgl. Mt Mt 5,17): Gesetz und Propheten lassen sich in der goldenen Regel von der gegenseitigen Liebe zusammenfassen (vgl. Mt 7,12). In Ihm wird das Gesetz endgültig zum »Evangelium«, zur Frohbotschaft von der Herrschaft Gottes über die Welt, die das ganze Dasein auf seine Wurzeln und seine ursprünglichen Perspektiven zurückführt. Es ist das Neue Gesetz, »das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus« (Rm 8,2), dessen grundlegender Ausdruck — in Nachahmung des Herrn, der sein Leben hingibt für seine Freunde (vgl. Joh Jn 15,13) — dieSelbsthingabe in der Liebe zu den Schwestern und Brüdern ist: »Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben« (1Jn 3,14). Es ist das Gesetz der Freiheit, der Freude und der Seligkeit.




»Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben«

(Jn 19,37):

am Stamm des Kreuzes erfüllt sich das Evangelium vom Leben


50 Zum Abschluß dieses Kapitels, in dem wir Betrachtungen zur christlichen Botschaft über das Leben angestellt haben, möchte ich mit einem jeden von euch innehalten, um uns in den zu versenken, den sie durchbohrt haben und der alle an sich zieht (vgl. Joh Jn 19,37 Jn 12,32). Wenn wir »das Schauspiel« der Kreuzigung (vgl. Lk Lc 23,48) betrachten, werden wir an diesem glorreichen Stamm die Erfüllung und volle Offenbarung des ganzen Evangeliums vom Lebenentdecken können.

In den frühen Nachmittagsstunden des Karfreitag, »brach eine Finsternis über das ganze Land herein... Die Sonne verdunkelte sich. Der Vorhang im Tempel riß mitten entzwei« (Lc 23,44 Lc 23,45). Das ist das Symbol einer gewaltigen kosmischen Umwälzung und eines schrecklichen Kampfes zwischen den Mächten des Guten und den Mächten des Bösen, zwischen Leben und Tod. Auch wir befinden uns heute inmitten eines dramatischen Kampfes zwischen der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens«. Aber von dieser Finsternis wird der Glanz des Kreuzes nicht verdunkelt; ja, dieses hebt sich noch klarer und leuchtender ab und offenbart sich als Mittelpunkt, Sinn und Vollendung der ganzen Geschichte und jedes Menschenlebens.

Der an das Kreuz genagelte Jesus wird erhöht. Er erlebt den Augenblick seiner größten »Ohnmacht«, und sein Leben scheint völlig dem Hohn und Spott seiner Widersacher und den Händen seiner Mörder preisgegeben zu sein: er wird verspottet, verhöhnt, geschmäht (vgl. Mk Mc 15,24-36). Doch gerade angesichts all dessen ruft der römische Hauptmann aus, als er »ihn auf diese Weise sterben sah«: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!« (Mc 15,39). So wird im Augenblick seiner äußersten Schwachheit die Identität des Gottessohnes offenbar: am Kreuz offenbart sich seine Herrlichkeit!

Durch seinen Tod erhellt Jesus den Sinn des Lebens und des Todes jedes Menschen. Vor seinem Tod betet Jesus zum Vater und ruft ihn um Vergebung für seine Verfolger an (vgl. Lk Lc 23,34), und dem Verbrecher, der ihn bittet, an ihn zu denken, wenn er in sein Reich kommt, antwortet er: »Amen, das sage ich dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lc 23,43). Nach seinem Tod »öffneten sich die Gräber, und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt« (Mt 27,52). Das von Jesus gewirkte Heil ist Geschenk des Lebens und der Auferstehung. Während seines Erdendaseins hatte Jesus auch Heil geschenkt, indem er alle heilte und segnete (vgl. Apg Ac 10,38). Aber die Wunder, die Krankenheilungen und selbst die Auferweckungen waren Zeichen für ein anderes Heil, das in der Vergebung der Sünden, das heißt in der Befreiung des Menschen von der tiefsten Krankheit, und in seiner Erhebung zum Leben Gottes selbst besteht.

Am Kreuz erneuert und verwirklicht sich in seiner ganzen, endgültigen Vollendung das Wunder von der von Mose in der Wüste erhöhten Schlange (vgl. Joh Jn 3,14-15 Nb 21,8-9). Auch heute begegnet jeder in seiner Existenz bedrohte Mensch, wenn er auf den blickt, der durchbohrt wurde, der sicheren Hoffnung, Befreiung und Erlösung zu finden.



51 Aber da ist noch eine andere genaue Begebenheit, die meinen Blick auf sich zieht und ein ergriffenes Nachdenken bei mir auslöst: »Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf« (Jn 19,30). Und der römische Soldat »stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floß Blut und Wasser heraus« (Jn 19,34).

Nun hat alles seine ganze Vollendung erlangt. Das »Aufgeben des Geistes« beschreibt den Tod Jesu ähnlich dem jedes anderen Menschen, spielt aber, wie es scheint, auch auf die »Spendung des Geistes« an, durch die er uns vom Tod befreit und uns einem neuen Leben öffnet.

Es ist das Leben Gottes selbst, das dem Menschen zuteil wird. Es ist das Leben, das durch die Sakramente der Kirche — deren Symbole sind das aus der Seite Christi geflossene Blut und Wasser — ständig den Kindern Gottes mitgeteilt wird, die so das Volk des neuen Bundes bilden.Vom Kreuz, der Quelle des Lebens her entsteht das »Volk des Lebens« und breitet sich aus.

Die Betrachtung des Kreuzes führt uns so zu den tiefsten Wurzeln des ganzen Geschehens. Jesus, der beim Eintritt in die Welt gesagt hatte: »Ja, Gott, ich komme, um deinen Willen zu tun« (vgl. He 10,9), war in allem dem Vater gehorsam, und da er »die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung« (Jn 13,1), indem er sich ganz für sie hingab.

Er, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mc 10,45), erreicht am Kreuz den Gipfel der Liebe. »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Jn 15,13). Und er ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren (vgl. Röm Rm 5,8).

Solcherart verkündet er, daß das Leben seinen Mittelpunkt, seinen Sinn und seine Fülle erreicht, wenn es verschenkt wird.

An diesem Punkt wird die Meditation zu Lobpreis und Dank und spornt uns gleichzeitig an, Jesus nachzuahmen und seinen Spuren zu folgen (vgl. 1P 2,21).

Auch wir sind aufgerufen, unser Leben für die Brüder hinzugeben und so den Sinn und die Bestimmung unseres Daseins in ihrer Wahrheitsfülle zu verwirklichen.

Wir können das fertigbringen, weil Du, o Herr, uns das Beispiel gegeben und uns die Kraft deines Geistes mitgeteilt hast. Wir können das fertigbringen, wenn wir jeden Tag mit Dir und wie Du, dem Vater gehorsam sind und seinen Willen tun.

Laß uns daher mit bereitem und selbstlosem Herzen jedes Wort hören, das aus dem Mund des Herrn kommt: so werden wir lernen, nicht nur das Leben des Menschen »nicht zu töten«, sondern es in Ehren zu halten, zu lieben und zu fördern.




III. KAPITEL - DU SOLLST NICHT TÖTEN - DAS HEILIGE GESETZ GOTTES

52

»Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote\«

(Mt 19,17):

Evangelium und Gebot


»Es kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« (Mt 19,16). Jesus antwor- tete: »Wenn du das Leben erlangen willst, halte die Gebote« (Mt 19,17). Der Meister spricht vom ewigen Leben, das heißt von der Teilhabe am Leben Gottes selbst. Dieses Leben erlangt man durch die Einhaltung der Gebote des Herrn, also einschließlich des Gebotes »du sollst nicht töten«. Genau dieses ist denn auch das erste der Zehn Gebote, an das Jesus den jungen Mann erinnert, der ihn fragt, welche Gebote er einhalten müsse: »Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen...« (Mt 19,18).

Gottes Gebot ist niemals getrennt von seiner Liebe: es ist stets ein Geschenk zu Wachstum und Freude des Menschen. Als solches stellt es einen wesentlichen Aspekt und ein unverzichtbares Element des Evangeliums dar, ja, es nimmt selbst Gestalt an als »Evangelium«, das heißt als frohe Botschaft. Auch das Evangelium vom Leben ist für den Menschen ein großes Gottesgeschenk und zugleich eine verpflichtende Aufgabe. Es weckt beim freien Menschen Staunen und Dankbarkeit und erfordert, mit lebendigem Verantwortungsbewußtsein angenommen, bewahrt und erschlossen zu werden: Gott fordert vom Menschen, dem er das Leben schenkt, daß er es liebt, achtet und fördert. Auf diese Weise wird das Geschenk zum Gebot, und das Gebot selbst offenbart sich als Geschenk.

Der Mensch, lebendiges Abbild Gottes, war von seinem Schöpfer als König und Herr gewollt. »Gott hat den Menschen so gemacht — schreibt der hl. Gregor von Nyssa —, daß er seine Rolle als König der Erde erfüllt... Der Mensch ist nach dem Bild dessen geschaffen worden, der der Herrscher über das Universum ist. Alles weist darauf hin, daß sein Wesen von Anfang an vom Königtum gekennzeichnet ist... Auch der Mensch ist König. Geschaffen, um die Welt zu beherrschen, hat er die Ähnlichkeit mit dem universalen König empfangen, ist er das lebendige Abbild, das durch seine Würde an der Vollkommenheit des göttlichen Vorbildes teilhat«. 38 Der Mensch, der aufgerufen ist fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, sich die Erde zu unterwerfen und über die anderen Geschöpfe zu herrschen (vgl. Gn 1,28), ist nicht nur König und Herr über die Dinge, sondern auch und vor allem über sich selbst 39 und in gewissem Sinne über das Leben, das ihm geschenkt wird und das er durch den in Liebe und in der Achtung vor Gottes Plan vollzogenen Zeugungsakt weitergeben kann. Bei seiner Herrschaft handelt es sich jedoch nicht um eine absolute, sondern um eine übertragene; sie ist realer Widerschein der alleinigen und unendlichen Herrschaft Gottes. Darum muß sie der Mensch durch Teilhabe an der unermeßlichen Weisheit und Liebe Gottes mit Weisheit und Liebe leben. Und das geschieht durch den Gehorsam gegenüber seinem heiligen Gesetz: ein freier und froher Gehorsam (vgl. Ps 119 Ps 1), der aus dem Bewußtsein erwächst und genährt wird, daß die Gebote des Herrn ein Gnadengeschenk sind und dem Menschen immer nur zu seinem Besten um des Schutzes seiner persönlichen Würde und der Erreichung seines Glücks willen anvertraut werden.

Wie schon in bezug auf die Sachwelt, so gilt noch mehr in bezug auf das Leben, daß der Mensch nicht absoluter Herr und unanfechtbarer Schiedsrichter ist, sondern — und darauf beruht seine unvergleichliche Größe — »Vollstrecker des Planes Gottes«. 40

Das Leben wird dem Menschen anvertraut als ein Schatz, den er nicht zerstreuen, als ein Talent, das er wirtschaftlich verwalten soll. Darüber muß der Mensch seinem Herrn Rechenschaft ablegen (vgl. Mt 25,14-30 Lc 19,12-27).

38) De hominis opificio, 4: PG 44, 136.
39) Vgl. Hl. Johannes Damascenus, De fide orthodoxa, 2, 12: PG 94, 920, zitiert in Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II 1,1Prol.
40) Paul VI., Enzyklika Humanae vitae (25. Juli 1968), Nr. HV 13: AAS 60 (1968), 489.



»Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft vom Menschen«

(Gn 9,5):

das menschliche Leben ist heilig und unantastbar


53 »Das menschliche Leben ist als etwas Heiliges anzusehen, da es ja schon von seinem Anfang an 'das Handeln des Schöpfers erfordert? und immer in einer besonderen Beziehung mit dem Schöpfer, seinem einzigen Ziel, verbunden bleibt. Gott allein ist der Herr des Lebens vom Anfang bis zum Ende: Niemand kann sich — unter keinen Umständen — das Recht anmaßen, einem unschuldigen menschlichen Geschöpf direkt den Tod zuzufügen«. 41 Mit diesen Worten legt die Instruktion Donum vitae den zentralen Inhalt der Offenbarung Gottes über die Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens dar.

Denn die Heilige Schrift legt dem Menschen die Vorschrift »Du sollst nicht töten« als göttliches Gebot vor (
Ex 20,13 Dt 5,17). Es steht — wie ich schon unterstrichen habe — im Dekalog, im Herzen des Bundes, den der Herr mit dem auserwählten Volk schließt; doch enthalten war es bereits in dem allerersten Bund Gottes mit der Menschheit nach der reinigenden Strafe der Sintflut, die durch das Überhandnehmen von Sünde und Gewalt ausgelöst worden war (vgl. Gn 9,5-6).

Gott erklärt sich zum absoluten Herrn über das Leben des nach seinem Bild und Gleichnis gestalteten Menschen (vgl. Gn 1,26-28). Das menschliche Leben weist somit einen heiligmäßigen und unverletzlichen Charakter auf, in dem sich die Unantastbarkeit des Schöpfers selber widerspiegelt. Eben deshalb wird Gott zum strengen Richter einer jeden Verletzung des Gebotes »du sollst nicht töten«, das die Grundlage des gesamten menschlichen Zusammenlebens bildet. Er ist der »goel«, das heißt der Verteidiger des Unschuldigen (vgl. Gn 4,9-15 Is 41,14 Jr 50,34 Ps 19 Ps 2,15). Auch auf diese Weise macht Gott deutlich, daß er keine Freude am Untergang der Lebenden hat (vgl. Sg 1,13). Nur der Teufel vermag sich darüber zu freuen: durch seinen Neid kam der Tod in die Welt (vgl. Sg 2,24). Er, der »ein Mörder von Anfang an« ist, ist auch »ein Lügner und der Vater der Lüge« (Jn 8,44): durch Irreführung lenkt er den Menschen auf die Ziele Sünde und Tod, die als Lebensziele und Erfolge hingestellt werden.

41) KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), Einleitung, Nr. 5: AAS 80 (1988), 76-77; vgl. Katechismus der katholischen Kirche, CEC 2258.


54 Das Gebot »du sollst nicht töten« besitzt einen ausgesprochen starken negativen Inhalt: es zeigt die äußerste Grenze auf, die niemals überschritten werden darf. Implizit jedoch spornt es zu einem positiven Verhalten der absoluten Achtung vor dem Leben an mit dem Ziel, es zu fördern und auf dem Weg der Liebe, die sich verschenkt, die annimmt und dient, fortzuschreiten. Auch das Volk des Alten Bundes hat, wenn auch langsam und mit Widersprüchen, nach dieser Auffassung eine fortschreitende Reife gekannt und sich so auf die großartige Verkündigung Jesu vorbereitet: das Gebot der Nächstenliebe ist dem Gebot der Gottesliebe ähnlich; »an diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten« (vgl. Mt 22,36-40). »Denn die Gebote... du sollst nicht töten... und alle anderen Gebote — unterstreicht der hl. Paulus — sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Rm 13,9 vgl. Ga 5,14). Nachdem es in das Neue Gesetz übernommen und in ihm zur Vollendung gebracht worden ist, bleibt das Gebot »du sollst nicht töten« unverzichtbare Voraussetzung, um »das Leben erlangen« zu können (vgl. Mt 19,16-19). Aus dieser Sicht klingt auch das Wort des Apostels Johannes endgültig: »Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt« (1Jn 3,15).

Die lebendige Tradition der Kirche hat von ihren Anfängen an — wie die Didaché, die älteste außerbiblische christliche Lehrschrift bezeugt — das Gebot »du sollst nicht töten« in kategorischer Form wieder aufgegriffen: »Es gibt zwei Wege, der eine ist der Weg des Lebens, der andere der des Todes; zwischen ihnen besteht ein großer Unterschied... Nach der Vorschrift der Lehre: Du sollst nicht töten..., du sollst ein Kind weder abtreiben noch ein Neugeborenes töten... Der Weg des Todes ist folgender:... sie haben kein Mitleid mit dem Armen, sie leiden nicht mit dem Leidenden, sie anerkennen nicht ihren Schöpfer, sie töten ihre Kinder und bringen durch Abtreibung Geschöpfe Gottes um; sie schicken den Bedürftigen fort, unterdrücken den Geplagten, sind Anwälte der Reichen und ungerechte Richter der Armen; sie sind voller Sünde. Mögt ihr, o Söhne, euch stets von all dieser Schuld fernhalten!«. 42

Im Laufe der Zeit hat die Tradition der Kirche immer einmütig den absoluten und bleibenden Wert des Gebotes »du sollst nicht töten« gelehrt. Bekanntlich wurde in den ersten Jahrhunderten der Mord — zusammen mit Abtrünnigkeit vom Glauben und Ehebruch — unter die drei schwersten Sünden gereiht und eine besonders schwere und lange öffentliche Bube verlangt, ehe dem reuigen Mörder Vergebung und die Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft gewährt wurden.

42) Didach‚, I, 1; II, 1-2; V, 1 und 3: Patres apostolici, ed. F. X. Funk, I, 2-3, 6-9, 14-17; vgl. Brief des Pseudo-Barnabas, XIX, 5: ebd., I, 90-93.


55 Das darf uns nicht erstaunen: das Töten eines Menschen, in dem das Bild Gottes gegenwärtig ist, ist eine besonders schwere Sünde. Gott allein ist Herr des Lebens! Doch angesichts der vielfältigen und oft dramatischen Begebenheiten, die das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft bereithält, haben die Gläubigen seit eh und je darüber nachgedacht und versucht, zu einer vollständigeren und tieferen Einsicht dessen zu gelangen, was das Gebot Gottes verbietet und vorschreibt. 43 Es gibt nämlich Situationen, in denen die vom Gesetz Gottes festgelegten Werte in Form eines wirklichen Widerspruchs erscheinen. Das kann zum Beispiel bei der Notwehrder Fall sein, in der das Recht, das eigene Leben zu schützen, und die Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen, sich nur schwer miteinander in Einklang bringen lassen. Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom Alten Testament verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Mc 12,31). Auf das Recht sich zu verteidigen könnte demnach niemand aus mangelnder Liebe zum Leben oder zu sich selbst, sondern nur kraft einer heroischen Liebe verzichten, die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt Mt 5,38-48) in die aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selber ist.

Andererseits »kann die Notwehr für den, der für das Leben anderer oder für das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist, nicht nur ein Recht, sondern eine schwerwiegende Verpflichtung sein«. 44 Es geschieht leider, daß die Notwendigkeit, den Angreifer unschädlich zu machen, mitunter seine Tötung mit sich bringt. In diesem Fall wird der tödliche Ausgang dem Angreifer zur Last gelegt, der sich ihm durch seine Tat ausgesetzt hat, auch für den Fall, daß er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre. 45

43) Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. CEC 2263-2269; vgl. auch Katechismus des Konzils von Trient III, Par. 327-332.
44) Katechismus der katholischen Kirche, Nr. CEC 2265.
45) Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II 64,7; Hl. Alfons von Liguori, Theologia moralis, 1. III, tr. 4, c. 1, dub. 3.


56 In diesen Problemkreis gehört auch die Frage der Todesstrafe, wobei in der Kirche wie in der weltlichen Gesellschaft zunehmend eine Tendenz festzustellen ist, die eine sehr begrenzte Anwendung oder überhaupt die völlige Abschaffung der Todesstrafe fordert. Das Problem muß in die Optik einer Strafjustiz eingeordnet werden, die immer mehr der Würde des Menschen und somit letzten Endes Gottes Plan bezüglich des Menschen und der Gesellschaft entsprechen soll. Tatsächlich soll die von der Gesellschaft verhängte Strafe »in erster Linie die durch das Vergehen herbeigeführte Unordnung wiedergutmachen«. 46 Die öffentliche Autorität muß die Verletzung der Rechte des einzelnen und der Gemeinschaft dadurch wiedergutmachen, daß sie dem Schuldigen als Vorbedingung für seine Wiederentlassung in die Freiheit eine angemes- sene Sühne für d as Vergehen auferlegt. Auf diese Weise erreicht die Autorität auch das Ziel, die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Person zu verteidigen und zugleich dem Schuldigen selbst einen Ansporn und eine Hilfe zur Besserung und Heilung anzubieten. 47

Um alle diese Ziele zu erreichen, müssen Ausmaß und Art der Strafe sorgfältig abgeschätzt und festgelegt werden und dürfen außer in schwerwiegendsten Fällen, das heißt wenn der Schutz der Gesellschaft nicht anders möglich sein sollte, nicht bis zum Äußersten, nämlich der Verhängung der Todesstrafe gegen den Schuldigen, gehen. Solche Fälle sind jedoch heutzutage infolge der immer angepaßteren Organisation des Strafwesens schon sehr selten oder praktisch überhaupt nicht mehr gegeben.

Jedenfalls bleibt der vom neuen Katechismus der Katholischen Kirche angeführte Grundsatz gültig: »soweit unblutige Mittel hinreichen, um das Leben der Menschen gegen Angreifer zu verteidigen und die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Menschen zu schützen, hat sich die Autorität an diese Mittel zu halten, denn sie entsprechen besser den konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und sind der Menschenwürde angemessener«. 48

46) Katechismus der katholischen Kirche, Nr.
CEC 2266.
47) Vgl. ebd. CEC 2266
48) Nr. CEC 2267.


57 Wenn auf die Achtung jeden Lebens, sogar des Schuldigen und des ungerechten Angreifers, so große Aufmerksamkeit verwendet wird, hat das Gebot »du sollst nicht töten« absoluten Wert, wenn es sich auf den unschuldigen Menschen bezieht. Und das umso mehr, wenn es sich um ein schwaches und schutzloses menschliches Lebewesen handelt, das einzig in der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen radikalen Schutz gegenüber der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet.

Die absolute Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der Tat eine in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition der Kirche ständig aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig vorgetragene sittliche Wahrheit. Diese Einmütigkeit ist sichtbare Frucht jenes vom Heiligen Geist geweckten und getragenen »übernatürlichen Glaubenssinnes«, der das Gottesvolk vor Irrtum bewahrt, wenn es »seine allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert«. 49

Da im Bewußtsein der Menschen und in der Gesellschaft das Wahrnehmungsvermögen dafür, daß die direkte, d.h. vorsätzliche Tötung jedes unschuldigen Menschenlebens, besonders in seinem Anfangs– und Endstadium, ein absolutes und schweres sittliches Vergehen darstellt, zunehmend schwächer wird, hat das Lehramt der Kirche seine Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verstärkt. Mit dem besonders insistierenden päpstlichen Lehramt hat sich das bischöfliche Lehramt mit zahlreichen umfassenden Lehr– und Pastoraldokumenten der Bischofskonferenzen wie einzelner Bischöfe stets vereinigt. Und auch der feste und in seiner Kürze markante Beitrag des II. Vatikanischen Konzils blieb nicht aus. 50

Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, daß die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist. Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz begründet ist, das jeder Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet (vgl. Röm
Rm 2,14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt gelehrt. 51

Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden. Sie ist in der Tat ein schwerer Ungehorsam gegen das Sittengesetz, ja gegen Gott selber, seinen Urheber und Garanten; sie widerspricht den Grundtugenden der Gerechtigkeit und der Liebe. »Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, daß ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine solche 3 nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben«. 52

Was das Recht auf Leben betrifft, ist jedes unschuldige menschliche Lebewesen allen anderen absolut gleich. Diese Gleichheit bildet die Grundlage jeder echten sozialen Beziehung, die, wenn sie wirklich eine solche sein soll, auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit gründen muß, indem sie jeden Mann und jede Frau als Person anerkennt und schützt und nicht als eine Sache betrachtet, über die man verfügen könne. Im Hinblick auf die sittliche Norm, die die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen verbietet, »gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, »Elendeste« auf Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut gleich«. 53

49) II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, Nr. LG 12.
50) Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 27.
51) Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, Nr. LG 25.
52) Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Euthanasie Iura et bona (5. Mai 1980), II: AAS 72 (1980), 546.
53) Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. VS 96: AAS 85 (1993), 1209.




Evangelium vitae DE 47