Fides et ratio


\CENZYKLIKA

FIDES ET RATIO



VON PAPST JOHANNES PAUL II.

AN DIE BISCHÖFE

DER KATHOLISCHEN KIRCHE

ÜBER DAS VERHÄLTNIS

VON GLAUBE UND VERNUNFT

vom 14. September 1998



9999 Ehrwürdige Brüder im Bischofsamt,
Gruß und Apostolischen Segen!

Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt. Das Streben, die Wahrheit zu erkennen und letztlich ihn selbst zu erkennen, hat Gott dem Menschen ins Herz gesenkt, damit er dadurch, daß er Ihn erkennt und liebt, auch zur vollen Wahrheit über sich selbst gelangen könne (vgl.
Ex 33,18 Ps 27 [26], Ps 8-9 Ps 63 [62], Ps 2-3 Jn 14,8 1Jn 3,2).

EINLEITUNG


»ERKENNE DICH SELBST«


1 Sowohl im Orient als auch im Abendland läßt sich ein Weg feststellen, der im Laufe der Jahrhunderte die Menschheit fortschreitend zur Begegnung mit der Wahrheit und zur Auseinandersetzung mit ihr geführt hat. Ein Weg, der sich — anders konnte es gar nicht sein — im Horizont des Selbstbewußtseins der menschlichen Person entfaltet hat: je mehr der Mensch die Wirklichkeit und die Welt erkennt, desto besser erkennt er sich selbst in seiner Einmaligkeit, während sich für ihn immer drängender die Frage nach dem Sinn der Dinge und seines eigenen Daseins stellt. Alles, was als Gegenstand unserer Erkenntnis erscheint, wird daher selbst Teil unseres Lebens. Am Architrav des Tempels von Delphi war die ermahnende Aufforderung: Erkenne dich selbst! eingemeißelt — als Zeugnis für eine Grundwahrheit, die als Mindestregel von jedem Menschen angenommen werden muß, der sich innerhalb der ganzen Schöpfung gerade dadurch als »Mensch« auszeichnen will, daß er sich selbst erkennt.

Im übrigen zeigt uns ein bloßer Blick auf die Geschichte des Altertums deutlich, daß in verschiedenen Gegenden der Erde, die von ganz unterschiedlichen Kulturen geprägt waren, zur selben Zeit dieselben Grundsatzfragen auftauchten, die den Gang des menschlichen Daseins kennzeichnen: Wer bin ich? Woher komme ich und wohin gehe ich? Warum gibt es das Böse? Was wird nach diesem Leben sein? Diese Fragen finden sich in Israels heiligen Schriften, sie tauchen aber auch in den Weden und ebenso in der Awesta auf; wir finden sie in den Schriften des Konfuzius und Lao-tse sowie in der Verkündigung der Tirthankara und bei Buddha. Sie zeigen sich auch in den Dichtungen des Homer und in den Tragödien von Euripides und Sophokles wie auch in den philosophischen Abhandlungen von Platon und Aristoteles. Es sind Fragen, die ihren gemeinsamen Ursprung in der Suche nach Sinn haben, die dem Menschen seit jeher auf der Seele brennt: von der Antwort auf diese Fragen hängt in der Tat die Richtung ab, die das Dasein prägen soll.


2 Die Kirche ist an diesem Weg der Suche nicht unbeteiligt und kann es auch gar nicht sein. Seit dem Ostertag, wo sie die letzte Wahrheit über das Leben des Menschen als Geschenk empfangen hat, ist sie zur Pilgerin auf den Straßen der Welt geworden, um zu verkünden, daß Jesus Christus »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist (Jn 14,6). Unter den verschiedenen Diensten, die sie der Menschheit anzubieten hat, gibt es einen, der ihre Verantwortung in ganz besonderer Weise herausstellt: den Dienst an der Wahrheit. (1) Diese Sendung macht einerseits die gläubige Gemeinde zur Teilhaberin an der gemeinsamen Bemühung, welche die Menschheit vollbringt, um die Wahrheit zu erreichen; (2) andererseits verpflichtet sie sie dazu, sich um die Verkündigung der erworbenen Gewißheiten zu kümmern; dies freilich in dem Bewußtsein, daß jede erreichte Wahrheit immer nur eine Etappe auf dem Weg zu jener vollen Wahrheit ist, die in der letzten Offenbarung Gottes enthüllt werden wird: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen« (1Co 13,12).


3 Der Mensch besitzt vielfältige Möglichkeiten, um den Fortschritt in der Wahrheitserkenntnis voranzutreiben und so sein Dasein immer menschlicher zu machen. Unter diesen ragt die Philosophie hervor, die unmittelbar dazu beiträgt, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen und die Antwort darauf zu entwerfen: sie stellt sich daher als eine der vornehmsten Aufgaben der Menschheit dar. Seiner etymologischen Herkunft aus dem Griechischen entsprechend bedeutet das Wort Philosophie »Liebe zur Weisheit«. Die Entstehung und Entfaltung der Philosophie fällt tatsächlich genau in die Zeit, als der Mensch begonnen hat, sich nach dem Grund der Dinge und nach ihrem Ziel zu fragen. Sie zeigt in verschiedenen Arten und Formen, daß das Streben nach Wahrheit zur Natur des Menschen gehört. Es ist eine seiner Vernunft angeborene Eigenschaft, sich nach dem Ursprung der Dinge zu fragen, auch wenn sich die nach und nach gegebenen Antworten in einen Horizont einfügen, der die Komplementarität der verschiedenen Kulturen, in denen der Mensch lebt, deutlich macht.

Die Tatsache, daß sich die Philosophie stark auf die Gestaltung und Entwicklung der Kulturen des Abendlandes auswirkte, darf uns nicht den Einfluß vergessen lassen, den sie auch auf die Daseinsvorstellungen ausgeübt hat, aus denen der Orient lebt. Jedes Volk besitzt nämlich seine ihm eigene Ur-Weisheit, die als echter Reichtum der Kulturen danach strebt, sich auch in rein philosophischen Formen auszudrücken und zur Reife zu gelangen. Wie sehr das zutrifft, beweist der Umstand, daß eine bis in unsere Tage gegenwärtige Grundform philosophischen Wissens sogar in den Postulaten nachweisbar ist, denen die verschiedenen nationalen und internationalen Gesetzgebungen bei der Regelung des gesellschaftlichen Lebens folgen.


4 Es muß allerdings betont werden, daß sich hinter einem einzigen Begriff verschiedene Bedeutungen verbergen. Daher erweist sich eine einleitende erläuternde Darstellung als notwendig. Angespornt von dem Streben, die letzte Wahrheit über das Dasein zu entdecken, versucht der Mensch jene universalen Kenntnisse zu erwerben, die es ihm erlauben, sich selbst besser zu begreifen und in seiner Selbstverwirklichung voranzukommen. Die grundlegenden Erkenntnisse entspringen dem Staunen, das durch die Betrachtung der Schöpfung in ihm geweckt wird: der Mensch wird von Staunen ergriffen, sobald er sich als eingebunden in die Welt und in Beziehung zu den anderen entdeckt, die ihm ähnlich sind und deren Schicksal er teilt. Hier beginnt der Weg, der ihn dann zur Entdeckung immer neuer Erkenntnishorizonte führen wird. Ohne das Staunen würde der Mensch in die Monotonie der Wiederholung verfallen und sehr bald zu einer wirklichen Existenz als Person unfähig werden.

Die dem menschlichen Geist eigentümliche Fähigkeit zum spekulativen Denken führt durch die philosophische Betätigung zur Ausbildung einer Form strengen Denkens und so, durch die logische Folgerichtigkeit der Aussagen und die Geschlossenheit der Inhalte, zum Aufbau eines systematischen Wissens. Dank dieses Prozesses wurden in verschiedenen kulturellen Umfeldern und in verschiedenen Epochen Ergebnisse erzielt, die zur Ausarbeitung echter Denksysteme geführt haben. Dadurch war man im Laufe der Geschichte immer wieder der Versuchung ausgesetzt, eine einzige Strömung mit dem gesamten philosophischen Denken gleichzusetzen. Ganz offenkundig tritt jedoch in diesen Fällen ein gewisser »philosophischer Hochmut« auf den Plan, der Anspruch darauf erhebt, die aus seiner eigenen Perspektive stammende, unvollkommene Sicht zur allgemeinen Lesart zu erheben. In Wirklichkeit muß jedes philosophische System, auch wenn es ohne jegliche Instrumentalisierung in seiner Ganzheit anerkannt wird, dem philosophischen Denken die Priorität zuerkennen, von dem es seinen Ausgang nimmt und dem es folgerichtig dienen soll.

So ist es möglich, trotz des Wandels der Zeiten und der Fortschritte des Wissens einen Kern philosophischer Erkenntnisse zu erkennen, die in der Geschichte des Denkens ständig präsent sind. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an die Prinzipien der Non-Kontradiktion, der Finalität, der Kausalität wie auch an die Auffassung von der Person als freiem und verständigem Subjekt und an ihre Fähigkeit, Gott, die Wahrheit und das Gute zu erkennen; man denke ferner an einige moralische Grundsätze, die allgemein geteilt werden. Diese und andere Themen weisen darauf hin, daß es abgesehen von den einzelnen Denkrichtungen eine Gesamtheit von Erkenntnissen gibt, in der man so etwas wie ein geistiges Erbe der Menschheit erkennen kann; gleichsam als befänden wir uns im Angesicht einer impliziten Philosophie, auf Grund der sich ein jeder bewußt ist, diese Prinzipien, wenngleich in undeutlicher, unreflektierter Form zu besitzen. Diese Erkenntnisse sollten, eben weil sie in irgendeiner Weise von allen geteilt werden, eine Art Bezugspunkt der verschiedenen philosophischen Schulen darstellen. Wenn es der Vernunft gelingt, die ersten und allgemeinen Prinzipien des Seins zu erfassen und zu formulieren und daraus in rechter Weise konsequente Schlußfolgerungen von logischer und deontologischer Bedeutung zu entwickeln, dann kann sie sich als eine richtige Vernunft oder, wie die antiken Denker sie nannten, als orthòs logos, recta ratio ausgeben.


5 Die Kirche ihrerseits kann nicht umhin, den Einsatz der Vernunft für das Erreichen von Zielen anzuerkennen, die das menschliche Dasein immer würdiger machen. Denn sie sieht in der Philosophie den Weg, um Grundwahrheiten zu erkennen, welche die Existenz des Menschen betreffen. Gleichzeitig betrachtet sie die Philosophie als unverzichtbare Hilfe, um das Glaubensverständnis zu vertiefen und die Wahrheit des Evangeliums allen, die sie noch nicht kennen, mitzuteilen.

Im Anschluß an ähnliche Initiativen meiner Vorgänger möchte daher auch ich den Blick auf diese besondere Betätigung der Vernunft richten. Dazu drängt mich die Beobachtung, daß vor allem in unserer Zeit die Suche nach der letzten Wahrheit oft getrübt erscheint. Die moderne Philosophie hat zweifellos das große Verdienst, ihre Aufmerksamkeit auf den Menschen konzentriert zu haben. Von daher hat eine mit Fragen beladene Vernunft ihr Streben nach immer mehr und immer tieferer Erkenntnis weiterentwickelt. So wurden komplexe Denksysteme aufgebaut, die in den verschiedenen Wissensbereichen Früchte getragen haben, da sie die Entfaltung von Kultur und Geschichte förderten. Die Anthropologie, die Logik, die Naturwissenschaften, die Geschichte, die Sprache..., gewissermaßen die Gesamtheit des Wissens wurde davon erfaßt. Die positiven Ergebnisse, die erzielt wurden, dürfen jedoch nicht zur Vernachlässigung der Tatsache verleiten, daß dieselbe Vernunft, mit einseitigen Forschungen über den Menschen als Subjekt beschäftigt, vergessen zu haben scheint, daß dieser Mensch immer auch dazu berufen ist, sich einer Wahrheit zuzuwenden, die ihn übersteigt. Ohne Beziehung zu dieser Wahrheit bleibt jeder vom eigenen Gutdünken abhängig, und seine Verfaßtheit als Person wird schließlich nach pragmatischen, im wesentlichen auf empirischen Angaben beruhenden Kriterien beurteilt, in der irrigen Überzeugung, alles müsse von der Technik beherrscht werden. So kam es, daß sich die Vernunft, anstatt die Spannung zur Wahrheit bestmöglich auszudrücken, unter der Last des vielen Wissens über sich selbst gebeugt hat und von Tag zu Tag unfähiger wurde, den Blick nach oben zu erheben, um das Wagnis einzugehen, zur Wahrheit des Seins zu gelangen. Die moderne Philosophie hat das Fragen nach dem Sein vernachlässigt und ihr Suchen auf die Kenntnis vom Menschen konzentriert. Anstatt von der dem Menschen eigenen Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis Gebrauch zu machen, hat sie es vorgezogen, deren Grenzen und Bedingtheiten herauszustellen.

Daraus entstanden verschiedene Formen von Agnostizismus und Relativismus, die schließlich zur Folge hatten, daß sich das philosophische Suchen im Fließsand eines allgemeinen Skeptizismus verlor. In jüngster Zeit haben dann verschiedene Lehren Bedeutung erlangt, die sogar jene Wahrheiten zu entwerten trachten, die erreicht zu haben für den Menschen eine Gewißheit war. Die legitime Pluralität von Denkpositionen ist einem indifferenten Pluralismus gewichen, der auf der Annahme fußt, alle Denkpositionen seien gleichwertig: Das ist eines der verbreitetsten Symptome für das Mißtrauen gegenüber der Wahrheit, das man in der heutigen Welt feststellen kann. Auch manche aus dem Orient stammende Lebensanschauungen entgehen nicht diesem Vorbehalt. In ihnen wird nämlich der Wahrheit ihr Exklusivcharakter abgesprochen. Dabei geht man von der Annahme aus, daß die Wahrheit in verschiedenen, ja sogar einander widersprechenden Lehren gleichermaßen in Erscheinung trete. In diesem Horizont ist alles auf Meinung reduziert. Man hat den Eindruck einer Bewegung, die sich wie eine Welle nach oben und nach unten bewegt: Während es dem philosophischen Denken einerseits gelungen ist, in den Weg einzumünden, der es immer näher an die menschliche Existenz und ihre Ausdrucksformen heranführt, ist es andererseits bestrebt, existentielle, hermeneutische oder linguistische Anschauungen zu entwickeln, die auf die radikale Frage nach der Wahrheit des Lebens als Person, des Seins und Gottes verzichten. Als Folge davon sind beim modernen Menschen, und das nicht nur bei einigen Philosophen, Haltungen eines verbreiteten Mißtrauens gegenüber den großartigen Erkenntnisfähigkeiten des Menschen zutage getreten. Mit falscher Bescheidenheit gibt man sich mit provisorischen Teilwahrheiten zufrieden, ohne überhaupt noch zu versuchen, radikale Fragen nach dem Sinn und letzten Grund des menschlichen, persönlichen und gesellschaftlichen Lebens zu stellen. Die Hoffnung, von der Philosophie endgültige Antworten auf diese Fragen zu erhalten, ist also geschwunden.


6 Ausgestattet mit der Kompetenz, die ihr als Verwahrerin der Offenbarung Jesu Christi erwächst, will nun die Kirche die Notwendigkeit des Nachdenkens über die Wahrheit neu bekräftigen. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, mich sowohl an die Mitbrüder im Bischofsamt zu wenden, mit denen ich die Sendung teile, »offen die Wahrheit« (2Co 4,2) zu verkünden, als auch an die Theologen und Philosophen, deren Aufgabe die Erforschung der verschiedenen Aspekte der Wahrheit ist, sowie an alle Menschen, die sich auf der Suche befinden: Ich will sie teilhaben lassen an einigen Überlegungen hinsichtlich des Weges, der zur wahren Weisheit führt, damit jeder, der die Liebe zu ihr im Herzen trägt, den richtigen Weg einzuschlagen vermag, um sie zu erreichen und in ihr Ruhe in seiner Mühsal sowie geistige Freude zu finden.

Anstoß zu dieser Initiative ist für mich zunächst die vom II. Vatikanischen Konzil formulierte Erkenntnis, daß die Bischöfe »Zeugen der göttlichen und katholischen Wahrheit« sind. (3) Die Wahrheit zu bezeugen ist also eine Aufgabe, die uns Bischöfen übertragen wurde; ihr können wir uns nicht versagen, ohne das Amt, das wir erhalten haben, zu vernachlässigen. Durch neuerliche Bekräftigung der Glaubenswahrheit können wir dem Menschen unserer Zeit wieder echtes Vertrauen in seine Erkenntnisfähigkeiten geben und der Philosophie eine Herausforderung bieten, damit sie ihre volle Würde wiedererlangen und entfalten kann.

Noch ein weiterer Beweggrund veranlaßt mich zur Abfassung dieser Überlegungen. In der Enzyklika Veritatis splendor habe ich »einige fundamentale Wahrheiten der katholischen Lehre in Erinnerung« gerufen, »die im heutigen Kontext Gefahr laufen, verfälscht oder verneint zu werden«. (4) Mit dem vorliegenden Schreiben möchte ich nun jenen Gedanken weiterführen und dabei die Aufmerksamkeit eben auf das Thema Wahrheit und auf ihr Fundament im Verhältnis zum Glauben konzentrieren. Denn man kann nicht leugnen, daß unsere Zeit mit ihren raschen und umfassenden Veränderungen vor allem die jungen Generationen, denen die Zukunft gehört und von denen sie abhängt, dem Gefühl aussetzt, ohne echte Bezugspunkte zu sein. Das Erfordernis eines Fundamentes, auf dem das Dasein des einzelnen und der Gesellschaft aufgebaut werden kann, macht sich vor allem dann in dringender Weise bemerkbar, wenn man die Bruchstückhaftigkeit von Angeboten feststellen muß, die unter Vortäuschung der Möglichkeit, zum wahren Sinn des Daseins zu gelangen, das Vergängliche zum Wert erheben. So kommt es, daß viele ihr Leben fast bis an den Rand des Abgrunds dahinschleppen, ohne zu wissen, worauf sie eigentlich zugehen. Das hängt auch damit zusammen, daß diejenigen, die dazu berufen waren, die Frucht ihres Nachdenkens in kulturellen Formen auszudrücken, den Blick von der Wahrheit abgewandt haben und der Mühe geduldigen Suchens nach dem, was gelebt zu werden verdient, den Erfolg im Unmittelbaren vorziehen. Die Philosophie, der die große Verantwortung zukommt, das Denken und die Kultur durch den fortwährenden Hinweis auf die Wahrheitssuche zu gestalten, muß mit aller Kraft ihre ursprüngliche Berufung zurückgewinnen. Deshalb habe ich nicht nur das Bedürfnis gefühlt, sondern es auch als meine Pflicht empfunden, mich zu diesem Thema zu äußern, damit die Menschheit an der Schwelle des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung sich der großartigen Fähigkeiten, die ihr gewährt wurden, deutlicher bewußt werde und sich mit neuem Mut für die Verwirklichung des Heilsplanes einsetze, in den ihre Geschichte eingebettet ist.

KAPITEL I


DIE OFFENBARUNG


DER WEISHEIT GOTTES


Jesus als Offenbarer des Vaters


7 Jede von der Kirche angestellte Reflexion erfolgt auf der Grundlage des Bewußtseins, Verwahrerin einer Botschaft zu sein, die ihren Ursprung in Gott selbst hat (vgl. 2Co 4,1-2). Die Erkenntnis, die sie dem Menschen anbietet, rührt nicht aus ihrem eigenen Nachdenken her, und wäre es noch so erhaben, sondern aus dem gläubigen Hören des Wortes Gottes (vgl. 1Th 2,13). Am Anfang unseres Gläubigseins steht eine einzigartige Begegnung, die das Offenbarwerden eines seit ewigen Zeiten verborgenen, jetzt aber enthüllten Geheimnisses (vgl. 1Co 2,7 Rm 16,25-26) markiert: »Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Ep 1,9): daß die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur«. (5) Dabei handelt es sich um eine völlig ungeschuldete Initiative, die von Gott ausgeht, um die Menschheit zu erreichen und zu retten. Gott als Quelle der Liebe will sich zu erkennen geben, und die Erkenntnis, die der Mensch von Ihm hat, bringt jede andere wahre Erkenntnis über den Sinn seiner eigenen Existenz zur Vollendung, zu der sein Verstand zu gelangen vermag.


8 Unter beinahe wörtlicher Übernahme der von der dogmatischen Konstitution Dei Filius des I. Vatikanischen Konzils dargebotenen Lehre und unter Berücksichtigung der vom Konzil von Trient vorgelegten Grundsätze hat die Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanums den Gang der Glaubenseinsicht, intelligentia fidei, durch die Jahrhunderte fortgesetzt, indem sie über die Offenbarung im Lichte der biblischen Lehre und der gesamten Vätertradition nachdachte. Die Konzilsväter des I. Vatikanums hatten den übernatürlichen Charakter der Offenbarung Gottes hervorgehoben. Die rationalistische Kritik, die zu jener Zeit auf Grund weitverbreiteter falscher Thesen gegen den Glauben vorgebracht wurde, betraf die Leugnung jeder Erkenntnis, die nicht den natürlichen Fähigkeiten der Vernunft entspränge. Dieser Umstand hatte das Konzil zu der nachdrücklichen Bekräftigung verpflichtet, daß es außer der Erkenntnis der menschlichen Vernunft, die auf Grund ihrer Natur den Schöpfer zu erreichen vermag, eine Erkenntnis gibt, die dem Glauben eigentümlich ist. Diese Erkenntnis ist Ausdruck einer Wahrheit, die sich auf die Tatsache des sich offenbarenden Gottes selbst gründet und Wahrheitsgewißheit ist, weil Gott weder täuscht noch täuschen will. (6)


9 Das I. Vatikanische Konzil lehrt also, daß die durch philosophisches Nachdenken erlangte Wahrheit und die Wahrheit der Offenbarung weder sich miteinander vermischen noch einander überflüssig machen. »Es gibt zwei Erkenntnisordnungen, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind: im Prinzip, weil wir in der einen [Ordnung] mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns außer der Wahrheit, zu der die natürliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten«. (7) Der Glaube, der sich auf das Zeugnis Gottes gründet und der übernatürlichen Hilfe der Gnade bedient, ist in der Tat von einer anderen Ordnung als die philosophische Erkenntnis. Denn diese stützt sich auf die Sinneswahrnehmung, auf die Erfahrung und bewegt sich allein im Licht des Verstandes. Die Philosophie und die Wissenschaften schweifen im Bereich der natürlichen Vernunft umher, während der vom Geist erleuchtete und geleitete Glaube in der Heilsbotschaft die »Fülle von Gnade und Wahrheit« (vgl. Jn 1,14) erkennt, die Gott in der Geschichte endgültig durch seinen Sohn Jesus Christus offenbart hat (vgl. 1Jn 5,9 Jn 5,31-32).


10 Die Konzilsväter des II. Vatikanums haben den Blick fest auf den offenbarenden Jesus gerichtet und dabei den Heilscharakter der Offenbarung Gottes in der Geschichte dargelegt. Das Wesen der Offenbarung haben sie so formuliert: »In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Col 1,15 1Tm 1,17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33,11 Jn 15,14-15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Ba 3,38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind: die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist«. (8)


11 So ist die Offenbarung Gottes eingebettet in Zeit und Geschichte. Ja, die Menschwerdung Jesu Christi geschieht in der »Fülle der Zeit« (Ga 4,4). Zweitausend Jahre nach jenem Ereignis sehe ich es als meine Pflicht an, nachdrücklich hervorzuheben, daß »im Christentum der Zeit eine fundamentale Bedeutung« zukommt. (9) Denn in ihr kommt das ganze Werk der Schöpfung und der Erlösung an den Tag; vor allem wird sichtbar, daß wir durch die Menschwerdung des Gottessohnes schon jetzt die zukünftige Vollendung der Zeit erleben und vorwegnehmen (vgl. He 1,2).

Die Wahrheit, die Gott dem Menschen über sich und über sein Leben übergeben hat, ist daher eingebettet in Zeit und Geschichte. Sie ist natürlich ein für allemal im Geheimnis des Jesus von Nazaret verkündet worden. Das sagt mit ausdrucksvollen Worten die Konstitution Dei Verbum: »Nachdem Gott viele Male und auf viele Weisen durch die Propheten gesprochen hatte, “hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns gesprochen im Sohn” (He 1,1-2). Er hat seinen Sohn, das ewige Wort, das Licht aller Menschen, gesandt, damit er unter den Menschen wohne und ihnen vom Innern Gottes Kunde bringe (vgl. Jn 1,1-18). Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, als “Mensch zu den Menschen” gesandt, “redet die Worte Gottes” (Jn 3,34) und vollendet das Heilswerk, dessen Durchführung der Vater ihm aufgetragen hat (vgl. Jn 5,36 Jn 17,4). Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Jn 14,9). Er ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt«. (10)

Die Geschichte stellt also für das Volk Gottes einen Weg dar, der ganz durchlaufen werden muß, so daß die geoffenbarte Wahrheit dank des unablässigen Wirkens des Heiligen Geistes ihre Inhalte voll zum Ausdruck bringen kann (vgl. Jn 16,13). Das lehrt wiederum die Konstitution Dei Verbum, wenn sie feststellt: »Die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis sich an ihr Gottes Worte erfüllen«. (11)


12 Die Geschichte wird daher zu dem Ort, an dem wir Gottes Handeln für die Menschheit feststellen können. Er erreicht uns in dem, was für uns am vertrautesten und leicht zu überprüfen ist, weil es sich um unsere tägliche Umgebung handelt, ohne die wir uns nicht zu begreifen vermöchten.

Die Menschwerdung Gottes erlaubt es, die ewige und endgültige Synthese vollzogen zu sehen, die sich der menschliche Geist von sich aus nicht einmal hätte vorstellen können: das Ewige geht ein in die Zeit, das Ganze verbirgt sich im Bruchstück, Gott nimmt die Gestalt des Menschen an. Die in der Offenbarung Christi zum Ausdruck gekommene Wahrheit ist somit nicht mehr in einen engen territorialen und kulturellen Bereich eingeschlossen, sondern öffnet sich jedem Mann und jeder Frau, der/die sie als ein für allemal gültiges Wort annehmen will, um dem Dasein Sinn zu geben. Nun haben alle Menschen in Christus Zugang zum Vater; durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er das göttliche Leben geschenkt, das der erste Adam ausgeschlagen hatte (vgl.
Rm 5,12-15). Mit dieser Offenbarung wird dem Menschen die letzte Wahrheit über sein Leben und über das Schicksal der Geschichte angeboten: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf«, stellt die Konstitution Gaudium et spes (12) fest. Außerhalb dieser Sicht bleibt das Geheimnis der menschlichen Person ein unlösbares Rätsel. Wo sonst als in dem Licht, das vom Geheimnis der Passion, des Todes und der Auferstehung Christi ausstrahlt, könnte der Mensch die Antwort auf so dramatische Fragen suchen wie die des Schmerzes, des Leidens Unschuldiger und des Todes?

Die Vernunft vor dem Geheimnis


13 Es soll freilich nicht vergessen werden, daß die Offenbarung bis heute etwas Geheimnisvolles bleibt. Gewiß enthüllt Jesus durch sein Leben das Antlitz des Vaters, denn er ist ja gekommen, »damit er vom Innern Gottes Kunde bringe«; (13) doch die Erkenntnis, die wir von diesem Antlitz haben, ist stets von der Bruchstückhaftigkeit und Begrenztheit unseres Begreifens gezeichnet. Einzig und allein der Glaube gestattet es, in das Innere des Geheimnisses einzutreten, dessen Verständnis er in angemessener Weise begünstigt.

Das Konzil lehrt, daß »dem offenbarenden Gott der Gehorsam des Glaubens zu leisten« ist. (14) Mit dieser kurzen, aber wichtigen Aussage wird auf eine fundamentale Wahrheit des Christentums hingewiesen. Es heißt darin vor allem, daß der Glaube gehorsame Antwort an Gott ist. Das aber setzt voraus, daß dieser in seiner Gottheit, Transzendenz und höchsten Freiheit anerkannt wird. Der Gott, der sich zu erkennen gibt, bringt in der Autorität seiner absoluten Transzendenz die Glaubwürdigkeit der von ihm geoffenbarten Inhalte mit. Durch den Glauben gibt der Mensch seine Zustimmung zu diesem göttlichen Zeugnis. Das heißt, er anerkennt voll und ganz die Wahrheit dessen, was geoffenbart wurde, weil Gott selbst sich zu ihrem Garanten macht. Diese dem Menschen geschenkte und von ihm nicht einforderbare Wahrheit fügt sich in den Horizont der interpersonalen Kommunikation ein. Sie drängt die Vernunft, sich der Wahrheit zu öffnen und ihren tiefen Sinn anzunehmen. Darum ist der Akt, mit dem man sich Gott anvertraut, von der Kirche stets als ein grundlegender Entscheidungsvorgang angesehen worden, in den die ganze Person eingebunden ist. Verstand und Wille setzen bis zum äußersten ihre geistige Natur ein, um dem Subjekt den Vollzug eines Aktes zu erlauben, in dem die persönliche Freiheit im Vollsinn gelebt wird. (15) Im Glauben ist also die Freiheit nicht einfach nur da; sie ist gefordert. Ja, der Glaube ermöglicht es einem jeden, seine Freiheit bestmöglich zum Ausdruck zu bringen. Mit anderen Worten, die Freiheit verwirklicht sich nicht in Entscheidungen gegen Gott. In der Tat, wie könnte die Weigerung, sich dem zu öffnen, was die Selbstverwirklichung ermöglicht, als ein glaubwürdiger Gebrauch der Freiheit angesehen werden? Im Glauben vollzieht der Mensch den bedeutsamsten Akt seines Daseins; denn die Freiheit gelangt zur Gewißheit der Wahrheit und entschließt sich, in ihr zu leben.

Der Vernunft, die das Geheimnis zu verstehen sucht, kommen auch die in der Offenbarung vorhandenen Zeichen zur Hilfe. Sie dienen dazu, die Wahrheitssuche gründlicher vorzunehmen und dem Verstand selbständige Erkundungen auch innerhalb des Geheimnisses zu ermöglichen. Diese Zeichen geben zwar einerseits der Vernunft größeres Gewicht, weil sie ihr erlauben, mit den ihr eigenen Mitteln, auf die sie zu Recht stolz ist, das Geheimnis von innen her zu ergründen; andererseits sind die Zeichen für die Vernunft Ansporn, über ihre zeichenhafte Wirklichkeit hinauszugehen, um deren jenseitige Bedeutung, die sie tragen, zu erfassen. In ihnen ist also eine verborgene Wahrheit bereits gegenwärtig, auf die der Verstand verwiesen wird und von der er nicht absehen kann, ohne das ihm angebotene Zeichen selbst zu zerstören.

Man wird gewissermaßen auf den sakramentalen Horizont der Offenbarung und insbesondere auf das Zeichen der Eucharistie verwiesen, wo es die unauflösliche Einheit zwischen der Wirklichkeit und ihrer Bedeutung erlaubt, die Tiefe des Geheimnisses zu erfassen. Christus ist in der Eucharistie wahrhaftig gegenwärtig und lebendig, er wirkt und handelt durch seinen Geist, doch wie der hl. Thomas richtig gesagt hatte: »Du siehst nicht, du begreifst nicht, aber der Glaube bestärkt dich jenseits der Natur. Was da erscheint, ist ein Zeichen: es verbirgt im Geheimnis erhabene Wirklichkeiten«. (16) Ihm pflichtet der Philosoph Pascal bei: »Wie Jesus Christus unter den Menschen unerkannt geblieben ist, so unterscheidet sich seine Wahrheit äußerlich nicht von den allgemeinen Meinungen. Und so ist die Eucharistie gewöhnliches Brot«. (17)

Die Glaubenserkenntnis hebt also das Geheimnis nicht auf; sie macht es nur einsichtiger und offenbart es als für das Leben des Menschen wesentliche Tatsache: »Christus der Herr ... macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«, (18) nämlich teilzuhaben am Geheimnis des dreifaltigen Lebens Gottes. (19)


14 Die Lehre der beiden Vatikanischen Konzilien eröffnet auch für das philosophische Wissen einen Horizont echter Neuerung. Die Offenbarung führt in die Geschichte einen Bezugspunkt ein, von dem der Mensch nicht absehen kann, wenn er dahin gelangen will, das Geheimnis seines Daseins zu verstehen; andererseits verweist diese Erkenntnis ständig auf das Geheimnis Gottes, das der Verstand nicht auszuschöpfen vermag, sondern nur im Glauben empfangen und annehmen kann. Innerhalb dieser beiden Momente hat die Vernunft ihren besonderen Platz, der ihr das Erkunden und Begreifen erlaubt, ohne von etwas anderem eingeschränkt zu werden als von ihrer Endlichkeit angesichts des unendlichen Geheimnisses Gottes.

Die Offenbarung führt also in unsere Geschichte eine universale und letzte Wahrheit ein, die den Verstand des Menschen dazu herausfordert, niemals stehenzubleiben; ja, sie spornt ihn an, den Raum seines Wissens ständig zu erweitern, bis er gewahr wird, ohne jegliche Unterlassung alles in seiner Macht Stehende getan zu haben. Bei dieser Überlegung kommt uns eine der geistreichsten und bedeutendsten schöpferischen Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu Hilfe, auf die sich sowohl die Philosophie als auch die Theologie beziehen: der hl. Anselm. In seinem Proslogion schreibt der Bischof von Canterbury: »Während ich häufig und voll Eifer meine Gedanken auf dieses Problem richtete, schien es mir zuweilen, als könnte ich das, wonach ich suchte, schon ergreifen; ein anderes Mal hingegen entglitt es vollständig meinem Denken; bis ich schließlich die Hoffnung, es je finden zu können, verlor und die Suche nach etwas, das sich unmöglich finden ließ, aufgeben wollte. Als ich aber jene Gedanken aus mir vertreiben wollte, damit sie nicht meinen Geist beschäftigten und mich von anderen Problemen abhalten würden, aus denen ich irgendeinen Gewinn ziehen konnte, da stellten sie sich mit immer größerer Aufdringlichkeit ein [...]. Was aber habe ich Armseliger, einer von Evas Söhnen, fern von Gott, was habe ich zu unternehmen begonnen und was ist mir gelungen? Wonach ging meine Neigung und wohin bin ich gelangt? Wonach strebte ich und wonach sehne ich mich noch immer? [...] O Herr, du bist nicht nur das Größte, das man sich denken kann (non solum es quo maius cogitari nequit), sondern du bist größer als alles, was man sich denken kann (quiddam maius quam cogitari possit) [...]. Wenn du nicht so beschaffen wärest, könnte man sich etwas Größeres als dich vorstellen, aber das ist unmöglich«. (20)


15 Die Wahrheit der christlichen Offenbarung, der wir in Jesus von Nazaret begegnen, ermöglicht jedem, das »Geheimnis« des eigenen Lebens anzunehmen, sie achtet zutiefst die Autonomie des Geschöpfes und seine Freiheit, verpflichtet es aber im Namen der Wahrheit, sich der Transzendenz zu öffnen. Hier erreicht das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit seinen Höhepunkt, und man versteht voll und ganz das Wort des Herrn: »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien« (Jn 8,32).

Die christliche Offenbarung ist der wahre Leitstern für den Menschen zwischen den Bedingtheiten der immanentistischen Denkweise und den Verengungen einer technokratischen Logik; sie ist die äußerste von Gott angebotene Möglichkeit, um den ursprünglichen Plan der Liebe, der mit der Schöpfung begonnen hat, vollständig wiederzufinden. Dem Menschen, der sich nach Erkenntnis des Wahren sehnt, wird, sofern er noch imstande ist, den Blick über sich selbst und die eigenen Pläne hinaus zu erheben, die Möglichkeit gegeben, das natürliche Verhältnis zu seinem Leben dadurch wiederzugewinnen, daß er den Weg der Wahrheit geht. Die Worte aus dem Buch Deuteronomium lassen sich gut auf diese Situation anwenden: »Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, so daß du sagen müßtest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, so daß du sagen müßtest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten« (30, 11-14). Diesem Text stimmt der heilige Augustinus, Philosoph und Theologe, mit dem berühmten Gedanken zu: »Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas« [Geh nicht nach draußen, kehre zu dir selbst zurück. Im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit]. (21)

Im Lichte dieser Überlegungen drängt sich eine erste Schlußfolgerung auf: Die Wahrheit, welche die Offenbarung uns erkennen läßt, ist nicht die reife Frucht oder der Höhepunkt eines von der Vernunft aufbereiteten Denkens. Sie erscheint hingegen mit dem Wesensmerkmal der Ungeschuldetheit, bringt Denken hervor und fordert, als Ausdruck der Liebe angenommen zu werden. Diese geoffenbarte Wahrheit ist in unsere Geschichte gelegte Vorwegnahme jener letzten und endgültigen Anschauung Gottes, die denen vorbehalten ist, die an ihn glauben oder ihn mit aufrichtigem Herzen suchen. Das letzte Ziel des menschlichen Daseins als Person ist also Forschungsobjekt sowohl der Philosophie als auch der Theologie. Beide führen uns, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln und Inhalten, diesen »Pfad zum Leben« (Ps 16,11) vor Augen, der schließlich, wie uns der Glaube sagt, in die volle und ewig währende Freude der Anschauung des dreieinigen Gottes einmündet.


Fides et ratio