Fides et ratio 75

Verschiedene Standorte der Philosophie


75 Wie sich aus der oben kurz angedeuteten Geschichte der Beziehungen von Glaube und Philosophie ergibt, lassen sich verschiedene Standorte der Philosophie in bezug auf den christlichen Glauben unterscheiden. Da ist zuerst der Status der von der Offenbarung des Evangeliums völlig unabhängigen Philosophie: Gemeint ist die Philosophie, wie sie geschichtlich in den der Geburt des Erlösers vorausgehenden Epochen und danach in den vom Evangelium noch nicht erreichten Regionen Gestalt angenommen hat. In dieser Situation bekundet die Philosophie das legitime Bestreben, eine Unternehmung zu sein, die autonom ist; das heißt: sie geht nach ihren eigenen Gesetzen vor und bedient sich ausschließlich der Kräfte der Vernunft. Dieses Bestreben muß man unterstützen und stärken, auch wenn man sich der schwerwiegenden, durch die angeborene Schwäche der menschlichen Vernunft bedingten Grenzen bewußt ist. Denn das philosophische Engagement als Suche nach der Wahrheit im natürlichen Bereich bleibt zumindest implizit offen für das Übernatürliche.

Mehr noch: Auch dann, wenn sich die theologische Argumentation philosophischer Begriffe und Argumente bedient, muß der Anspruch auf die rechte Autonomie des Denkens respektiert werden. Denn die nach strengen Vernunftkriterien entwickelte Argumentation ist Gewähr für das Erreichen allgemeingültiger Ergebnisse. Auch hier erfüllt sich das Prinzip, wonach die Gnade die Natur nicht zerstört, sondern vervollkommnet: Die Glaubenszustimmung, die den Verstand und den Willen verpflichtet, zerstört nicht die Willensfreiheit eines jeden Glaubenden, der das Geoffenbarte in sich aufnimmt, sondern vervollkommnet sie.

Von diesem korrekten Anspruch weicht ganz klar die Theorie von der sogenannten »getrennten« Philosophie ab, wie sie von einigen modernen Philosophen vertreten wird. Über die Bejahung der berechtigten Autonomie hinaus fordert sie eine Unabhängigkeit des Denkens, die sich klar als unzulässig erweist: Die aus der göttlichen Offenbarung kommenden Beiträge zur Wahrheit abzulehnen, bedeutet nämlich, sich zum Schaden der Philosophie den Zugang zu einer tieferen Wahrheitserkenntnis zu versperren.


76 Ein zweiter Standort der Philosophie ist jener, den viele mit dem Ausdruck christliche Philosophie bezeichnen. Die Bezeichnung ist an und für sich zulässig, darf aber nicht mißverstanden werden: Es wird damit nicht beabsichtigt, auf eine offizielle Philosophie der Kirche anzuspielen, da ja der Glaube an sich keine Philosophie ist. Vielmehr soll mit dieser Bezeichnung auf ein christliches Philosophieren, auf eine in lebendiger Verbundenheit mit dem Glauben konzipierte philosophische Spekulation hingewiesen werden. Man bezieht sich dabei also nicht einfach auf eine Philosophie, die von christlichen Philosophen erarbeitet wurde, die in ihrer Forschung dem Glauben nicht widersprochen haben. Wenn von christlicher Philosophie die Rede ist, will man damit alle jene bedeutenden Entwicklungen des philosophischen Denkens erfassen, die sich ohne den direkten oder indirekten Beitrag des christlichen Glaubens nicht hätten verwirklichen lassen.

Es gibt daher zwei Aspekte der christlichen Philosophie: einen subjektiven, der in der Läuterung der Vernunft durch den Glauben besteht. Als göttliche Tugend befreit er die Vernunft von der typischen Versuchung zur Anmaßung, der die Philosophen leicht erliegen. Schon der hl. Paulus, die Kirchenväter und Philosophen wie Pascal und Kierkegaard, die uns zeitlich näher sind, haben sie gebrandmarkt. Mit der Demut gewinnt der Philosoph auch den Mut, sich mit manchen Problemen auseinanderzusetzen, die er ohne Berücksichtigung der von der Offenbarung empfangenen Erkenntnisse kaum lösen könnte. Man denke zum Beispiel an die Probleme des Bösen und des Leides, an die Identität eines persönlichen Gottes und an die Frage nach dem Sinn des Lebens oder, direkter, an die radikale metaphysische Frage: »Warum gibt es etwas?«.

Daneben steht der objektive Aspekt, der die Inhalte betrifft: die Offenbarung legt klar und deutlich einige Wahrheiten vor, die von der Vernunft, obwohl sie ihr natürlich nicht unzugänglich sind, vielleicht niemals entdeckt worden wären, wenn sie sich selbst überlassen geblieben wäre. In diesem Blickfeld liegen Fragen wie der Begriff eines freien und schöpferischen persönlichen Gottes, der für die Entwicklung des philosophischen Denkens und insbesondere für die Philosophie des Seins so große Bedeutung gehabt hat. In diesen Bereich gehört auch die Realität der Sünde, wie sie im Lichte des Glaubens erscheint, der hilft, das Problem des Bösen in geeigneter Weise philosophisch anzugehen. Auch die Auffassung von der Person als geistiges Wesen ist eine besondere Eigenart des Glaubens: Die christliche Botschaft von der Würde, der Gleichheit und der Freiheit der Menschen hat sicher das philosophische Denken beeinflußt, das die Modernen vollzogen haben. Als Beispiel, das unserer Zeit näher ist, kann man die Entdeckung der Bedeutung des geschichtlichen Ereignisses für die Philosophie erwähnen, das die Mitte der christlichen Offenbarung bildet. Nicht zufällig ist es zur Grundlage einer Geschichtsphilosophie geworden, das sich als ein neues Kapitel der menschlichen Suche nach der Wahrheit darstellt.

Zu den objektiven Elementen der christlichen Philosophie gehört auch die Notwendigkeit, die Vernünftigkeit mancher von der Heiligen Schrift ausgesprochenen Wahrheiten zu erforschen, wie die Möglichkeit einer übernatürlichen Berufung des Menschen und eben auch die Erbsünde. Das sind Aufgaben, welche die Vernunft veranlassen anzuerkennen, daß es Wahres und Vernünftiges außerhalb der engen Grenzen gibt, in die sich einzuschließen sie geneigt wäre. Diese Themen erweitern tatsächlich den Bereich des Vernünftigen.

Im Nachdenken über diese Inhalte sind die Philosophen nicht Theologen geworden; denn sie haben nicht versucht, die Glaubenswahrheiten von der Offenbarung her zu verstehen und zu deuten. Sie setzten die Arbeit auf ihrem eigenen Gebiet und mit ihrer rein rationalen Methode fort, dehnten aber ihre Untersuchung auf neue Bereiche des Wahren aus. Man kann sagen, daß es ohne diesen stimulierenden Einfluß des Wortes Gottes einen beachtlichen Teil der modernen und zeitgenössischen Philosophie gar nicht gäbe. Der Befund bewahrt seine ganze Bedeutung auch angesichts der enttäuschenden Feststellung, daß nicht wenige Denker dieser letzten Jahrhunderte die christliche Rechtgläubigkeit aufgegeben haben.


77 Ein weiterer bedeutsamer Standort der Philosophie ergibt sich, wenn die Theologie selbst die Philosophie hineinzieht. In Wirklichkeit hat die Theologie immer den philosophischen Beitrag gebraucht. Sie braucht ihn auch weiterhin. Da die theologische Arbeit ein Werk der kritischen Vernunft im Lichte des Glaubens ist, ist für sie bei ihrem ganzen Forschen eine in begrifflicher und argumentativer Hinsicht erzogene und ausgebildete Vernunft Voraussetzung und Forderung. Darüber hinaus braucht die Theologie die Philosophie als Gesprächspartnerin, um die Verständlichkeit und allgemeingültige Wahrheit ihrer Aussagen festzustellen. Nicht zufällig wurden von den Kirchenvätern und von den mittelalterlichen Theologen nichtchristliche Philosophien für diese Erklärungsfunktion übernommen. Diese historische Tatsache weist auf den Wert der Autonomie hin, den die Philosophie auch in diesem dritten

Standort bewahrt, zeigt aber zugleich die notwendigen und tiefgreifenden Veränderungen auf, die sie auf sich nehmen muß.

Ganz im Sinne eines unerläßlichen und vortrefflichen Beitrags wurde die Philosophie seit der Väterzeit ancilla theologiae genannt. Der Beiname wurde nicht verwendet, um eine sklavische Unterwerfung oder eine rein funktionale Rolle der Philosophie gegenüber der Theologie zu bezeichnen. Er wurde vielmehr in dem Sinne gebraucht, in dem Aristoteles von den Erfahrungswissenschaften als »Mägden« der »ersten Philosophie« sprach. Der Ausdruck, der heute wegen der oben angeführten Autonomieprinzipien schwer anwendbar ist, diente im Laufe der Geschichte dazu, auf die Notwendigkeit der Beziehung zwischen den beiden Wissenschaften und auf die Unmöglichkeit ihrer Trennung hinzuweisen.

Würde sich der Theologe weigern, von der Philosophie Gebrauch zu machen, liefe er Gefahr, ohne sein Wissen Philosophie zu treiben und sich in Denkstrukturen einzuschließen, die dem Glaubensverständnis wenig angemessen sind. Der Philosoph wiederum würde sich, wenn er jeden Kontakt mit der Theologie ausschlösse, verpflichtet fühlen, sich eigenständig der Inhalte des christlichen Glaubens zu bemächtigen, wie das bei einigen modernen Philosophen der Fall war. Im einen wie im anderen Fall würde sich die Gefahr der Zerstörung der Grundprinzipien der Autonomie ergeben, deren Garantie jede Wissenschaft mit Recht für sich fordert.

Der hier besprochene Status der Philosophie steht wegen der Implikationen, die er im Verständnis der Offenbarung mit sich bringt, zusammen mit der Theologie unmittelbarer unter der Autorität des Lehramtes und seiner Prüfung; dies habe ich vorher dargelegt. Denn aus der Glaubenswahrheit ergeben sich bestimmte Forderungen, welche die Philosophie in dem Augenblick respektieren muß, wo sie mit der Theologie in Verbindung tritt.


78 Im Lichte dieser Überlegungen wird es wohl verständlich, warum das Lehramt wiederholt die Verdienste des Denkens des hl. Thomas gelobt und ihn als führenden Lehrmeister und Vorbild für das Theologiestudium herausgestellt hat. Es war dem Lehramt weder daran gelegen, zu eigentlich philosophischen Fragen Stellung zu nehmen noch die Zustimmung zu besonderen Auffassungen aufzuerlegen. Die Absicht des Lehramtes war und ist es weiterhin zu zeigen, daß der hl. Thomas ein authentisches Vorbild für alle ist, die nach der Wahrheit suchen. Denn in seinem Denken haben der Anspruch der Vernunft und die Kraft des Glaubens zur höchsten Zusammenschau gefunden, zu der das Denken je gelangt ist. Er hat es verstanden, das radikal Neue, das die Offenbarung gebracht hat, zu verteidigen, ohne je den typischen Weg der Vernunft zu demütigen.


79 Mit einer weiteren ausführlichen Darlegung der Inhalte des bisherigen Lehramtes möchte ich in diesem letzten Teil einige Forderungen aufzeigen, die heute die Theologie — und zuvor noch das Wort Gottes — an das philosophische Denken und die modernen Philosophien stellt. Wie ich bereits hervorgehoben habe, muß der Philosoph nach eigenen Regeln vorgehen und sich auf seine eigenen Prinzipien stützen; die Wahrheit kann jedoch nur eine sein. Die Offenbarung mit ihren Inhalten wird niemals die Vernunft bei ihren Entdeckungen und in ihrer legitimen Autonomie unterdrücken können; umgekehrt wird jedoch die Vernunft in dem Bewußtsein, sich nicht zu absoluter und ausschließlicher Gültigkeit erheben zu können, nie ihre Fähigkeit verlieren dürfen, sich fragen zu lassen und zu fragen. Indem die geoffenbarte Wahrheit von dem Glanz her, der von dem subsistenten Sein selbst ausgeht, volle Erhellung über das Sein gewährt, wird sie den Weg der philosophischen Reflexion erleuchten. Die christliche Offenbarung wird somit zum eigentlichen Ansatz- und Vergleichspunkt zwischen philosophischem und theologischem Denken, die zueinander in einer Wechselbeziehung stehen. Daher ist es wünschenswert, daß sich Theologen und Philosophen von der einzigen Autorität der Wahrheit leiten lassen und eine Philosophie erarbeiten, die im Einklang mit dem Wort Gottes steht. Diese Philosophie wird der Boden für die Begegnung zwischen den Kulturen und dem christlichen Glauben sein, der Ort der Verständigung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Sie wird hilfreich sein, damit sich die Gläubigen aus nächster Nähe davon überzeugen, daß die Tiefe und Unverfälschtheit des Glaubens gefördert wird, wenn er sich mit dem Denken verbindet und nicht darauf verzichtet. Und wieder ist es die Lehre der Kirchenväter, die uns zu dieser Überzeugung führt: »Dasselbe glauben ist nichts anderes als zustimmend denken [...]. Jeder, der glaubt, denkt; wenn er glaubt, denkt er, und wenn er denkt, glaubt er [...]. Wenn der Glaube nicht gedacht wird, ist er nichts«. (95) Und an anderer Stelle heißt es: »Wenn einer die Zustimmung aufgibt, gibt er den Glauben auf, denn ohne Zustimmung glaubt man überhaupt nicht«. (96)

KAPITEL VII


AKTUELLE FORDERUNGEN


UND AUFGABEN


Die unverzichtbaren Forderungen des Wortes Gottes


80 Die Heilige Schrift enthält sowohl in expliziter wie impliziter Form eine Reihe von Elementen, die uns zu einem Menschenbild und einer Weltsicht von beträchtlicher philosophischer Stärke gelangen lassen. Die Christen wurden sich allmählich des in heiligen Büchern enthaltenen Reichtums bewußt. Aus jenen Seiten ergibt sich, daß die Wirklichkeit, die wir erfahren, nicht das Absolute ist: sie ist weder ungeschaffen noch ist sie sich selbst geschaffen. Nur Gott ist das Absolute. Aus den Seiten der Bibel geht außerdem eine Sicht vom Menschen als imago Dei, Abbild Gottes, hervor, die genaue Hinweise auf sein Sein, seine Freiheit und die Unsterblichkeit seiner Seele enthält. Da die geschaffene Welt sich nicht selbst genügt, führt jede Illusion von Autonomie, welche die wesentliche Abhängigkeit übersieht, in der jedes Geschöpf — einschließlich der Mensch — vor Gott steht, zu Konflikten, welche die rationale Suche nach der Harmonie und dem Sinn des menschlichen Daseins zunichte machen.

Auch das Problem des sittlich Bösen — die tragischste Form des Bösen — wird in der Bibel aufgegriffen, die uns sagt, daß es nicht auf irgendeinen durch die Materie bedingten Mangel zurückzuführen ist, sondern auf eine Wunde, die von einem ungeordneten Sich-Äußern der menschlichen Freiheit herrührt. Schließlich zeigt das Wort Gottes das Problem auf, welchen Sinn das Dasein hat, und enthüllt seine Antwort, indem es den Menschen auf Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, hinweist, der das menschliche Dasein im Vollsinn verwirklicht. Weitere Aspekte lieben sich aus der Lektüre des heiligen Textes verdeutlichen; jedenfalls ergibt sich daraus die Zurückweisung jeder Form von Relativismus, Materialismus und Pantheismus.

Die Grundüberzeugung dieser in der Bibel enthaltenen »Philosophie« besteht darin, daß das menschliche Leben und die Welt einen Sinn haben und auf ihre Vollendung hin ausgerichtet sind, die sich in Jesus Christus erfüllt. Das Geheimnis der Menschwerdung wird immer der Mittelpunkt bleiben, auf den man sich beziehen muß, um das Rätsel vom menschlichen Dasein, der geschaffenen Welt und von Gott selber begreifen zu können. In diesem Geheimnis liegen extreme Herausforderungen für die Philosophie, weil die Vernunft aufgerufen ist, sich eine Logik zu eigen zu machen, welche die Schranken niederreißt, hinter denen sie sich zu verschanzen droht. Erst hier jedoch erreicht der Sinn des Daseins seinen Höhepunkt. Denn es wird das innerste Wesen Gottes und des Menschen verständlich: Im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes werden göttliche und menschliche Natur in ihrer je eigenen Autonomie bewahrt, und zugleich offenbart sich ein einziges Band, das sie unvermischt in gegenseitige Beziehung setzt. (97)


81 Wir müssen feststellen, daß eines der gewichtigsten Fakten in unserer derzeitigen Situation in der »Sinnkrise« besteht. Die häufig wissenschaftlich geprägten Ansichten über Leben und Welt haben eine derartige Vermehrung erfahren, daß wir wirklich erleben, wie das Phänomen der Bruchstückhaftigkeit des Wissens um sich greift. Genau das macht die Suche nach einem Sinn schwierig und oft vergeblich. Noch dramatischer ist es, daß sich in diesem wirren Geflecht aus Daten und Fakten, zwischen denen man lebt und die den eigentlichen Gang des Daseins auszumachen scheinen, nicht wenige fragen, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, eine Sinnfrage zu stellen. Die Mehrzahl der um eine Antwort streitenden Theorien bzw. die unterschiedlichen Sicht- und Interpretationsweisen in bezug auf die Welt und das Leben des Menschen verschärfen nur diesen radikalen Zweifel, der leicht auf einen Zustand des Skeptizismus und der Gleichgültigkeit oder auf die verschiedenen Äußerungen des Nihilismus hinausläuft.

Als Folge davon wird der menschliche Geist von einem zweideutigen Denken vereinnahmt, das ihn veranlaßt, sich noch mehr in sich selbst, in die Grenzen seiner Immanenz zu verschließen, ohne irgendeinen Bezug zur Transzendenz zu haben. Eine Philosophie, die nicht mehr die Frage nach dem Sinn des Daseins stellt, würde ernsthaft Gefahr laufen, die Vernunft zu rein instrumentalen Funktionen zu degradieren, ohne jegliche echte Leidenschaft für die Suche nach der Wahrheit.

Um sich in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes zu befinden, muß die Philosophie vor allem ihre Weisheitsdimension wiederfinden, die in der Suche nach dem letzten und umfassenden Sinn des Lebens besteht. Wenn man es recht betrachtet, stellt diese erste Forderung für die Philosophie einen sehr nützlichen Ansporn dazu dar, ihrem eigentlichen Wesen gerecht zu werden. Denn wenn sie das tut, wird sie nicht nur die entscheidende kritische Instanz sein, die die verschiedenen Seiten des wissenschaftlichen Wissens auf ihre Zuverlässigkeit und ihre Grenzen hinweist, sondern sie wird sich auch als letzte Instanz für die Einigung von menschlichem Wissen und Handeln erweisen, indem sie diese dazu veranlaßt, ein endgültiges Ziel und einen letzten Sinn anzustreben. Diese Weisheitsdimension ist heute um so unerläßlicher, weil die enorme Zunahme der technischen Macht der Menschheit ein erneuertes und geschärftes Bewußtsein für die letzten Werte verlangt. Sollten diese technischen Mittel ohne Hinordnung auf ein Ziel bleiben, das nicht bloß vom Nützlichkeitsstandpunkt her bestimmt wird, könnten sie sich sehr schnell als inhuman herausstellen, ja sich in potentielle Zerstörer des Menschengeschlechts verwandeln. (98)

Das Wort Gottes offenbart das letzte Ziel des Menschen und verleiht seinem Handeln in der Welt einen umfassenden Sinn. Deshalb lädt das Wort Gottes die Philosophie ein, sich für die Suche nach der natürlichen Grundlage dieses Sinnes einzusetzen; diese Grundlage besteht in der Religiosität, die jedem Menschen als Person eigen ist. Eine Philosophie, die die Möglichkeit eines letzten und umfassenden Sinnes leugnen wollte, wäre nicht nur unangemessen, sondern irrig.


82 Diese der Weisheit verpflichtete Rolle könnte allerdings nicht von einer Philosophie wahrgenommen werden, die nicht selbst echtes und wahres Wissen wäre; das heißt eine Philosophie, die nicht nur auf einzelne, bedingte — ob funktionale, formale oder utilitaristische — Aspekte des Wirklichen, sondern auf seine vollständige und endgültige Wahrheit, also auf das Sein des Erkenntnisgegenstandes selbst gerichtet ist. Daher gilt eine zweite Forderung: Überprüfung der Fähigkeit des Menschen, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen; eine Erkenntnis übrigens, die zur objektiven Wahrheit gelangt durch jene adaequatio rei et intellectus, (99) auf die sich die Gelehrten der Scholastik beziehen. Diese Forderung, die dem Glauben eigen ist, wurde vom II. Vatikanischen Konzil ausdrücklich neu bekräftigt: »Die Vernunft ist nämlich nicht auf die bloßen Phänomene eingeengt, sondern vermag geistig tiefere Strukturen der Wirklichkeit mit wahrer Sicherheit zu erreichen, wenn sie auch infolge der Sünde zum Teil verdunkelt und geschwächt ist«. (100)

Eine radikal phänomenalistische oder relativistische Philosophie würde sich als ungeeignet dafür erweisen, diese Hilfe zu leisten, wenn es um die Vertiefung der im Wort Gottes enthaltenen Fülle geht. Die Heilige Schrift setzt nämlich immer voraus, daß der Mensch, auch wenn er der Doppelzüngigkeit und Lüge schuldig ist, die reine und einfache Wahrheit zu erkennen und zu begreifen vermag. In den Heiligen Büchern und besonders im Neuen Testament finden sich Texte und Aussagen von wirklich ontologischer Tragweite. Die inspirierten Verfasser wollten nämlich wahre Aussagen formulieren, Aussagen also, welche die objektive Wirklichkeit ausdrücken sollten. Man kann nicht behaupten, die katholische Überlieferung habe einen Irrtum begangen, als sie einige Texte des hl. Johannes und des hl. Paulus als Aussagen über das Sein Christi selbst verstanden hat. Die Theologie braucht daher, wenn sie sich dem Verstehen und Erklären dieser Aussagen widmet, den Beitrag einer Philosophie, welche die Möglichkeit einer objektiv wahren, freilich immer vervollkommnungsfähigen Erkenntnis nicht leugnet. Das Gesagte gilt auch für die Urteile des sittlichen Gewissens, von denen die Heilige Schrift annimmt, daß sie objektiv wahr sein können. (101)


83 Die beiden obengenannten Forderungen ziehen eine dritte nach sich: Erforderlich ist eine Philosophie von wahrhaft metaphysischer Tragweite; sie muß imstande sein, das empirisch Gegebene zu transzendieren, um bei ihrer Suche nach der Wahrheit zu etwas Absolutem, Letztem und Grundlegendem zu gelangen. Das ist eine selbstverständliche Forderung, die sowohl für die auf Grund der Weisheit wie auch für die auf analytischem Wege gewonnenen Erkenntnis Geltung hat; es ist im besonderen eine Forderung an die Erkenntnis des sittlich Guten, dessen letzter Grund das höchste Gut, Gott selber, ist. Ich spreche hier nicht von der Metaphysik als einer bestimmten Schule oder einer besonderen geschichtlichen Strömung. Ich möchte nur bekräftigen, daß die Wirklichkeit und die Wahrheit das Tatsächliche und Empirische übersteigen. Zudem will ich die Fähigkeit des Menschen geltend machen, diese transzendente und metaphysische Dimension wahrhaftig und sicher, wenngleich auf unvollkommene und analoge Weise, zu erkennen. So verstanden, darf die Metaphysik nicht als Alternative zur Anthropologie gesehen werden, gestattet es doch gerade die Metaphysik, dem Begriff von der Würde der Person, die auf ihrer geistigen Verfaßtheit fußt, eine Grundlage zu geben. Besonders die Person stellt einen bevorzugten Bereich dar für die Begegnung mit dem Sein und daher mit dem metaphysischen Denken.

Wo immer der Mensch einen Hinweis auf das Absolute und Transzendente entdeckt, öffnet sich für ihn ein Spalt zur metaphysischen Dimension des Wirklichen: in der Wahrheit, in der Schönheit, in den sittlichen Werten, in der Person des anderen, im Sein selbst, in Gott. Eine große Herausforderung, die uns am Ende dieses Jahrtausends erwartet, besteht darin, daß es uns gelingt, den ebenso notwendigen wie dringenden Übergang vom Phänomen zum Fundament zu vollziehen. Wir können unmöglich bei der bloßen Erfahrung stehenbleiben; auch wenn diese die Innerlichkeit des Menschen und seine Spiritualität ausdrückt und verdeutlicht, muß das spekulative Denken die geistliche Mitte und das sie tragende Fundament erreichen. Ein philosophisches Denken, das jede metaphysische Öffnung ablehnte, wäre daher völlig ungeeignet, im Verständnis der Offenbarung als Vermittlerin wirken zu können.

Das Wort Gottes nimmt ständig auf das Bezug, was die Erfahrung und sogar das Denken des Menschen übersteigt; aber dieses »Geheimnis« könnte weder enthüllt werden noch wäre die Theologie imstande, es auf irgendeine Weise verständlich zu machen, (102) wenn die menschliche Erkenntnis streng auf die Welt der sinnlichen Erfahrung beschränkt wäre. Die Metaphysik stellt sich deshalb als bevorzugte Vermittlung in der theologischen Forschung dar. Einer Theologie ohne metaphysischen Horizont würde es nicht gelingen, über die Analyse der religiösen Erfahrung hinauszutreten; außerdem würde sie es dem intellectus fidei unmöglich machen, den universalen und transzendenten Wert der geoffenbarten Wahrheit auf kohärente Weise zum Ausdruck zu bringen.

Wenn ich so sehr auf der metaphysischen Komponente bestehe, dann deshalb, weil ich davon überzeugt bin, daß sie der unumgängliche Weg ist, um die Krisensituation, die heutzutage große Teile der Philosophie durchzieht, zu überwinden und auf diese Weise manche in unserer Gesellschaft verbreiteten abwegigen Verhaltensweisen zu korrigieren.


84 Die Bedeutung des metaphysischen Anspruchs wird noch offenkundiger, wenn man die heutige Entwicklung der hermeneutischen Wissenschaften und der verschiedenen Sprachanalysen unter die Lupe nimmt. Die Ergebnisse, zu welchen diese Forschungen gelangen, können für das Glaubensverständnis sehr nützlich sein, insofern sie die Struktur unseres Denkens und Sprechens und den in der Sprache enthaltenen Sinn deutlich machen. Es gibt jedoch Vertreter dieser Wissenschaften, die dazu neigen, in ihren Forschungen dabei stehenzubleiben, wie die Wirklichkeit zu verstehen und zu benennen ist, während sie davon absehen, die Möglichkeiten zu überprüfen, die der Vernunft eigen sind, um das Wesen der Wirklichkeit zu entdecken. Muß man in einer solchen Haltung nicht eine Bestätigung der Vertrauenskrise hinsichtlich der Fähigkeiten der Vernunft sehen, wie sie unsere Zeit durchmacht? Wenn sich dann auf Grund aprioristischer Annahmen diese Auffassungen dazu anschicken, die Glaubensinhalte zu verwischen oder ihre Allgemeingültigkeit zu leugnen, so unterdrücken sie nicht nur die Vernunft, sondern stellen sich selbst ins Abseits. Denn der Glaube setzt ganz klar voraus, daß die menschliche Sprache fähig ist, die göttliche und transzendente Wirklichkeit auf allgemeingültige Weise auszudrücken. Wenn die Worte auch analog gebraucht werden, so sind sie dennoch nicht weniger bedeutungsträchtig. (103) Träfe dies nicht zu, würde das Wort Gottes, das immer göttliches Wort in menschlicher Sprache ist, nicht imstande sein, irgendetwas über Gott auszusagen. Die Auslegung dieses Wortes darf uns nicht nur von einer Interpretation auf die andere verweisen, ohne uns je dahin zu bringen, ihm eine schlichtweg wahre Aussage zu entnehmen; andernfalls gäbe es Offenbarung Gottes nicht, sondern nur die Formulierung menschlicher Auffassungen über Ihn und über das, was Er wahrscheinlich von uns denkt.


85 Ich bin mir wohl bewußt, daß diese vom Wort Gottes an die Philosophie gestellten Forderungen vielen, die die heutige Situation philosophischer Forschung erleben, schwierig erscheinen mögen. Ich greife deshalb auf, was die Päpste seit Generationen unaufhörlich lehren und was auch das II. Vatikanische Konzil bekräftigt hat, und möchte mit aller Deutlichkeit der Überzeugung Ausdruck geben, daß der Mensch imstande ist, zu einer einheitlichen und organischen Wissensschau zu gelangen. Das ist eine der Aufgaben, deren sich das christliche Denken im Laufe des nächsten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung wird annehmen müssen. Da die Bruchstückhaftigkeit des Wissens eine fragmentarische Annäherung an die Wahrheit mit der sich daraus ergebenden Sinnzersplitterung mit sich bringt, verhindert sie die innere Einheit des heutigen Menschen. Sollte sich die Kirche etwa nicht darüber Sorgen machen? Diese der Weisheit geltende Aufgabe erwächst den Bischöfen direkt aus dem Evangelium; sie können sich der Verpflichtung nicht entziehen, dieser Aufgabe nachzukommen.

Ich meine, daß alle, die heute als Philosophen den Forderungen entsprechen wollen, die das Wort Gottes an das menschliche Denken stellt, ihre Argumentation auf der Grundlage dieser Postulate und in Kontinuität mit jener großen Tradition erarbeiten sollten, die bei den antiken Philosophen anfängt und über die Kirchenväter sowie die Meister der Scholastik führt, um schließlich die grundlegenden Errungenschaften des modernen und zeitgenössischen Denkens zu erfassen. Wenn der Philosoph aus dieser Tradition zu schöpfen und sich an ihr zu inspirieren vermag, wird er es nicht versäumen, sich als getreuer Anhänger des Autonomieanspruchs des philosophischen Denkens zu erweisen.

In diesem Sinne ist es um so bedeutsamer, daß im Zusammenhang mit unserer gegenwärtigen Situation einige Philosophen zu Initiatoren der Wiederentdeckung der entscheidenden Rolle werden, die der Überlieferung für eine richtige Erkenntnisform zukommt. Der Verweis auf die Tradition ist nämlich nicht bloß eine Erinnerung an die Vergangenheit; er stellt vielmehr die Anerkennung eines Kulturerbes dar, das der ganzen Menschheit gehört. Man könnte sogar sagen, wir gehören zur Tradition und können nicht einfach über sie verfügen, wie wir wollen. Gerade diese Einwurzelung in der Überlieferung erlaubt uns heute, ein originelles, neues und in die Zukunft weisendes Denken zum Ausdruck zu bringen. Dieser Hinweis gilt auch in hohem Maße für die Theologie — nicht nur, weil sie die lebendige Überlieferung der Kirche als Urquelle besitzt, (104) sondern auch weil sie dadurch fähig sein soll, sowohl die tiefe theologische Überlieferung, die die vorangegangenen Epochen geprägt hat, als auch die ununterbrochene philosophische Tradition zurückzugewinnen, die durch ihre wirkliche Weisheit die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden vermocht hat.


86 Das Bestehen auf der Notwendigkeit einer engen kontinuierlichen Beziehung des heutigen zu dem in der christlichen Tradition erarbeiteten philosophischen Denkens will der Gefahr zuvorkommen, die sich in manchen, heute besonders verbreiteten Denkrichtungen verbirgt. Ich halte es für angebracht, wenigstens kurz auf sie einzugehen, um ihre Irrtümer und die sich daraus für die philosophische Tätigkeit ergebenden Gefahren festzustellen.

Die erste dieser Denkrichtungen ist unter dem Namen Eklektizismus bekannt; ein Begriff, mit dem man die Haltung dessen bezeichnet, der in Forschung, Lehre und auch theologischer Argumentation einzelne, aus verschiedenen Philosophien stammende Ideen zu übernehmen pflegt, ohne sich um deren systematischen Zusammenhang und ihre Einbettung in einen geschichtlichen Kontext zu kümmern. Auf diese Weise gerät er in die Lage, den Wahrheitsanteil eines bestimmten Denkens nicht mehr von dem unterscheiden zu können, was an ihm möglicherweise irrtümlich oder unangemessen ist. Eine Extremform des Eklektizismus ist auch im rhetorischen Mißbrauch der philosophischen Begriffe erkennbar, der sich der eine oder andere Theologe bisweilen hingibt. Eine solche Instrumentalisierung dient nicht der Wahrheitssuche und erzieht weder die theologische noch die philosophische Vernunft zu ernsthafter, wissenschaftlicher Argumentation. Das konsequente und gründliche Studium der philosophischen Lehren, ihrer besonderen Sprache und des Umfeldes ihrer Entstehung hilft, die Gefahren des Eklektizismus zu überwinden, und erlaubt eine angemessene Integration dieser Lehren in die theologische Argumentation.


87 Der Eklektizismus ist ein methodischer Irrtum, könnte aber auch Auffassungen in sich bergen, die für den Historizismus typisch sind. Um eine Lehre aus der Vergangenheit richtig zu verstehen, muß man sie in ihren geschichtlichen und kulturellen Zusammenhang einordnen. Die Grundthese des Historizismus besteht hingegen darin, daß die Wahrheit einer Philosophie auf der Grundlage ihrer Angemessenheit für eine bestimmte Periode und eine bestimmte historische Aufgabe festgestellt wird. Auf diese Weise wird, wenigstens implizit, die ewige Gültigkeit des Wahren geleugnet. Was in einer Epoche wahr gewesen ist, so behauptet der Historist, braucht es in einer anderen Zeit nicht mehr zu sein. Die Geschichte des Denkens wird für ihn somit kaum mehr als ein archäologischer Fund, aus dem man schöpft, um Positionen der Vergangenheit herauszustellen, die nunmehr großenteils überholt und für die Gegenwart ohne Bedeutung sind. Dagegen gilt es zu bedenken, daß man in der Formulierung, auch wenn sie in gewisser Weise an die Zeit und die Kultur gebunden ist, die in ihr ausgedrückte Wahrheit oder den Irrtum trotz der räumlichen und zeitlichen Distanz auf jeden Fall erkennen und als solche bewerten kann.

Im theologischen Denken präsentiert sich der Historizismus meistens in einer Form des »Modernismus«. Mit der berechtigten Sorge, die theologische Argumentation zeitgemäß und für den heutigen Menschen annehmbar zu machen, bedient man sich nur jüngster Aussagen und des gängigen philosophischen Jargons; dabei werden die kritischen Ansprüche vernachlässigt, die im Lichte der Überlieferung eventuell erhoben werden müßten. Weil diese Form des Modernismus Aktualität mit Wahrheit verwechselt, erweist sie sich als unfähig, die Wahrheitsansprüche zu befriedigen, auf welche die Theologie Antwort zu geben berufen ist.


88 Eine weitere Gefahr, auf die es zu achten gilt, ist der Szientismus.Diese philosophische Auffassung weigert sich, neben den Erkenntnisformen der positiven Wissenschaften andere Weisen der Erkenntnis als gültig zuzulassen, indem sie sowohl die religiöse und theologische Erkenntnis als auch das ethische und ästhetische Wissen in den Bereich der reinen Phantasie verbannt. In der Vergangenheit äußerte sich diese Vorstellung im Positivismus und Neopositivismus, die Aussagen metaphysischen Charakters für sinnlos hielten. Die epistemologische Kritik hat diese Einstellung in Mißkredit gebracht; so ist sie jetzt dabei, im Gewand des Szientismus wiederzuerstehen. In dieser Sicht werden die Werte in einfache Produkte des Gefühls verbannt; die Erkenntnis des Seins wird zurückgestellt, um der reinen Tatsächlichkeit Platz zu machen. Die Wissenschaft bereitet sich also darauf vor, sämtliche Aspekte des menschlichen Daseins durch den technologischen Fortschritt zu beherrschen. Die unbestreitbaren Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung und der modernen Technologie haben zur Verbreitung der szientistischen Gesinnung beigetragen. Diese scheint grenzenlos zu sein in Anbetracht dessen, wie sie in die verschiedenen Kulturen eingedrungen ist und welche radikalen Umwälzungen sie dort herbeigeführt hat.

Man muß leider feststellen, daß alles, was die Frage nach dem Sinn des Lebens betrifft, vom Szientismus in den Bereich des Irrationalen oder Imaginären verwiesen wird. Nicht minder enttäuschend ist die Art, in der diese Denkströmung an die anderen großen Probleme der Philosophie herangeht. Sofern sie nicht ignoriert werden, begegnet man ihnen mit Analysen, die sich auf oberflächliche Analogien stützen, die einer rationalen Grundlage entbehren. Das führt zur Verarmung des menschlichen Denkens, dem jene Grundprobleme entzogen werden, die sich das animal rationale von Anbeginn seines Erdendaseins an ständig gestellt hat. Nachdem aus dieser Perspektive die aus der sittlichen Bewertung stammende Kritik zurückgestellt worden war, gelang es der szientistischen Denkart, viele zur Annahme der Vorstellung zu bringen, wonach das, was technisch machbar ist, eben dadurch auch moralisch annehmbar wird.


89 Von nicht geringeren Gefahren kündet der Pragmatismus, eine für diejenigen typische Denkhaltung, die es in ihren Entscheidungsprozessen ausschließen, auf theoretische Überlegungen zurückzugreifen oder auf ethischen Prinzipien gestützte Bewertungen vorzunehmen. Die praktischen Folgen aus dieser Denkrichtung sind beträchtlich. Insbesondere hat sich ein Demokratieverständnis durchgesetzt, das den Bezug zu wertorientierten und deshalb unwandelbaren Grundlagen unberücksichtigt läßt: Die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit eines bestimmten Verhaltens entscheidet sich auf Grund des Votums der parlamentarischen Mehrheit. (105) Welche Konsequenzen ein solcher Ansatz hat, liegt auf der Hand: Die großen moralischen Entscheidungen des Menschen werden in Wirklichkeit den Beschlüssen untergeordnet, die nach und nach von den institutionellen Organen an sich gezogen werden. Mehr noch: Die Anthropologie selbst gerät in massive Abhängigkeit durch das Angebot einer eindimensionalen Sicht vom Menschen, der die großen sittlichen Nöte und die existentiellen Analysen über den Sinn von Leiden und Opfer, von Leben und Tod fern sind.


90 Die bis jetzt untersuchten Anschauungen führen ihrerseits zu einer allgemeineren Auffassung, die heute für viele Philosophien, die sich vom Sinn des Seins verabschiedet haben, den gemeinsamen Horizont zu bilden scheint. Ich meine die nihilistische Deutung, die zugleich die Ablehnung jeder Grundlage und die Leugnung jeder objektiven Wahrheit ist. Der Nihilismus ist, ehe er noch im Gegensatz zu den Ansprüchen und Inhalten des Wortes Gottes steht, Verneinung der Humanität des Menschen und seiner Identität. Denn man darf nicht übersehen, daß die Seinsvergessenheit unvermeidlich den Kontaktverlust mit der objektiven Wahrheit und daher mit dem Grund zur Folge hat, auf dem die Würde des Menschen fußt. So wird der Möglichkeit Platz geschaffen, vom Angesicht des Menschen die Züge zu löschen, die seine Gottähnlichkeit offenbaren, um ihn fortschreitend entweder zu einem zerstörerischen Machtwillen oder in die Verzweiflung der Einsamkeit zu treiben. Wenn man dem Menschen einmal die Wahrheit genommen hat, ist die Behauptung, ihn befreien zu wollen, reine Illusion. Wahrheit und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam elend zugrunde. (106)


91 Wenn ich auf die eben erwähnten Denkrichtungen einging, war es nicht meine Absicht, ein vollständiges Bild von der aktuellen Situation der Philosophie zu bieten: Sie ließe sich im übrigen schwerlich auf eine einheitliche Sicht reduzieren. Ich möchte unterstreichen, daß das Erbe an Wissen und Weisheit tatsächlich auf verschiedenen Gebieten eine Bereicherung erfahren hat. Es seien genannt: die Logik, die Sprachphilosophie, die Epistemologie, die Naturphilosophie, die Anthropologie, die eingehende Analyse der affektiven Erkenntniswege, die existentielle Annäherung an die Analyse der Freiheit. Andererseits hat die Bejahung des Immanenzprinzips, die im Mittelpunkt des rationalistischen Anspruchs steht, seit dem vorigen Jahrhundert Reaktionen ausgelöst, die in bezug auf Postulate, die für unbestreitbar gehalten wurden, zu einem radikalen Verlust geführt haben. Auf diese Weise sind irrationale Strömungen entstanden, während die Kritik die Vergeblichkeit des absoluten Selbstbegründungsanspruchs der Vernunft hervorhob.

Unsere Zeit ist von einigen Denkern als die Epoche der »Post-Moderne« eingestuft worden. Dieser Begriff, der nicht selten in voneinander sehr weit entfernten Zusammenhängen verwendet wird, bezeichnet das Auftauchen einer Gesamtheit neuer Faktoren, die im Hinblick auf ihre Verbreitung und Wirksamkeit erkennen ließen, daß sie bedeutsame und dauerhafte Veränderungen zu verursachen vermögen. So ist der Begriff anfangs auf ästhetische, soziale und technologische Phänomene angewandt worden. Später wurde er in den philosophischen Bereich übertragen, wobei er jedoch eine gewisse Zweideutigkeit aufwies — sowohl deshalb, weil das Urteil über das, was als »postmodern« eingestuft wird, manchmal positiv und manchmal negativ ist, als auch daher, weil es kein Einvernehmen über das heikle Problem der Abgrenzung der verschiedenen Geschichtsepochen gibt. Eines steht jedoch außer Zweifel: Die Denkrichtungen, die sich auf die Post-Moderne berufen, verdienen entsprechende Aufmerksamkeit. Denn nach Ansicht einiger von ihnen wäre die Zeit der Gewißheiten hoffnungslos vorbei; nunmehr müßte der Mensch lernen, vor einem Horizont völliger Sinnferne im Zeichen des Vorläufigen und Vergänglichen zu leben. In ihrer zerstörerischen Kritik an jeder Gewibheit ignorieren zahlreiche Autoren die notwendigen Unterscheidungen und leugnen auch die Glaubensgewißheiten.

Dieser Nihilismus findet eine Art Bestätigung in der schrecklichen Erfahrung des Bösen, die unser Zeitalter gezeichnet hat. Der Dramatik dieser Erfahrung gegenüber vermochte der rationalistische Optimismus, der in der Geschichte den fortschreitenden Sieg der Vernunft als Quelle von Glück und Freiheit sah, nicht standzuhalten, so daß eine der ärgsten Bedrohungen am Ende dieses Jahrhunderts die Versuchung der Verzweiflung ist.

Es trifft jedoch zu, daß eine bestimmte positivistische Geisteshaltung weiterhin die Illusion glaubhaft macht, daß dank der naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Mensch als Weltenschöpfer von sich allein aus dahin gelangen könne, sich der völligen Herrschaft über sein Schicksal zu versichern.



Fides et ratio 75