Generalaudienz 2002 9

Februar 2002


Mittwoch, 6. Februar 2002



Liebe Schwestern und Brüder!

1. In einer der vorhergegangenen Generalaudienzen kommentierten wir den Psalm, der dem vorausgeht, den wir soeben gesungen haben, und sagten, daß er mit dem nachfolgenden Psalm eng verbunden ist. Die Psalmen 42 und 43 bilden tatsächlich ein einziges Lied, das vom selben Kehrvers dreigeteilt wird: »Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so unruhig in mir. Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue« (Ps 42,6 Ps 42,12 Ps 43,5).

10 Diese Worte klingen wie ein Monolog und drücken die tiefen Gefühle des Psalmisten aus. Er ist weit weg vom Zion, dem Bezugspunkt seines Daseins und bevorzugten Sitz der Gegenwart Gottes und des Kultes der Gläubigen. Er fühlt sich deshalb einsam, weil ihn die Ungläubigen nicht verstehen und sogar angreifen; dieses Gefühl der Verlassenheit wird noch verstärkt durch das Schweigen Gottes. Aber der Psalmist bekämpft die Traurigkeit, indem er sich selbst Mut macht und die Hoffnung bekräftigt: Er rechnet damit, daß er Gott, »auf den er schaut«, noch lobpreisen wird.

In Psalm 43 spricht der Psalmist nicht zu sich selbst wie im vorhergehenden Psalm, sondern wendet sich an Gott mit der Bitte, ihn gegen seine Feinde zu schützen. Der Bittende wiederholt fast wörtlich eine im anderen Psalm angekündigte Anrufung (vgl. 42, 10) und schreit diesmal tatsächlich verzweifelt zu Gott: »Du bist mein starker Gott. Warum hast du mich verstoßen?« (
Ps 43,2).

2. Er ahnt schon, daß die dunkle Zeit des Fernseins zu Ende geht und drückt seine Zuversicht auf die Rückkehr nach Zion aus, wo er die göttliche Wohnstatt wiederfindet. Die Heilige Stadt ist nicht mehr die verlorene Heimat, wie es in der Klage des vorhergehenden Psalms hieß (vgl. Ps 42,3 - 4), sondern das glückliche Ziel, auf das man zugeht. Auf der Rückkehr nach Zion wird man geführt von der »Wahrheit« Gottes und seinem »Licht« (vgl. Ps 43,3). Der Herr selbst ist das Endziel des Weges. Er wird als Richter und Verteidiger angerufen (vgl. V. 1 - 2). Drei Verben kennzeichnen den Bittruf: »Verschaff mir Recht«, »führe meine Sache«, »rette mich« (V. 1). Es sind gleichsam drei Sterne der Hoffnung, die am dunklen Horizont der Prüfung erscheinen und die bevorstehende Morgenröte der Erlösung ankündigen.

Bedeutsam ist, daß der hl. Ambrosius diese Erfahrung des Psalmisten auf Jesus, der am Ölberg betet, bezieht: »Ich möchte nicht, daß du dich darüber wunderst, wenn der Prophet sagt, daß seine Seele betrübt war, denn der Herr Jesus selbst sagte: ›Meine Seele ist zu Tode betrübt.‹ Denn wer unsere Schwachheit auf sich genommen hat, hat auch unsere Empfindsamkeit auf sich genommen, so daß er zu Tode, aber nicht wegen des Todes betrübt war. Ein freiwillig angenommener Tod, von dem die Seligkeit aller Menschen abhing, hätte keine Trauer erwecken können … Er war deshalb zu Tode betrübt in der Erwartung, daß die Gnade zur Vollendung gelangt. Das bezeugen auch seine Worte, als er von seinem Tod spricht: ›Ich muß mit einer Taufe getauft werden, und ich bin sehr bedrückt, solange sie nicht vollzogen ist‹« (Le rimonstranze di Giobbe e di Davide, VII, 28, Roma 1980, S. 233).

3. In der Fortsetzung von Psalm 43 taucht nun vor dem Psalmisten die so heiß ersehnte Lösung auf:die Rückkehr zum Quell des Lebens und der Gemeinschaft mit Gott. Die »Wahrheit«, das heißt die liebende Treue des Herrn, und das »Licht«, das heißt die Offenbarung seiner Güte, werden als Boten dargestellt, die Gott vom Himmel senden wird, um den Glaubenden bei der Hand zu nehmen und zum ersehnten Ziel zu führen (vgl. Ps 43,3).

Sehr bedeutsam ist der etappenmäßige Weg zum Zion und seiner geistlichen Mitte. Zuerst erscheint der heilige Berg, der Hügel, auf dem sich der Tempel und die Zitadelle Davids erheben. Dann tauchen die »Wohnstätten« auf, das Heiligtum Zions mit seinen verschiedenen Räumen und Bauten, aus denen es zusammengesetzt ist. Es folgt der Altar Gottes, der Ort der Opferdarbringung und des offiziellen Kultes des ganzen Volkes. Letztes und endgültiges Ziel ist der Gott der Freude, die Umarmung, die wiedergewonnene Vertrautheit mit Ihm, der zuvor weit weg und schweigsam war.

4. Jetzt wird alles Gesang, Freude, Fest (vgl. V. 4). Im hebräischen Original ist die Rede vom »Gott der Freude meines Jubels«. Es handelt sich um eine semitische Redewendung, die den Superlativ ausdrückt: Der Psalmist will unterstreichen, daß der Herr der Urheber aller Freude ist, die höchste Freude, die Fülle des Friedens.

Die griechische Übersetzung der Septuaginta hat offenbar einen gleichbedeutenden aramäischen Ausdruck zu Hilfe genommen, der die Jugend bezeichnet, und hat übersetzt: »zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf«, so daß man hier an die Frische und Intensität der Freude denkt, die der Herr schenkt. Der lateinische Psalter der Vulgata, einer Übersetzung aus dem Griechischen, lautet: »Ad Deum qui laetificat juventutem meam.« Früher wurde der Psalm in dieser Form in der Eucharistiefeier an den Altarstufen als einführendes Gebet vor der Begegnung mit dem Herrn gebetet.

5. Die anfängliche Klage des Kehrverses der Psalmen 42 - 43 erklingt ein letztes Mal (vgl. Ps 43,5). Der Beter hat den Tempel Gottes noch nicht erreicht, er ist noch in die Dunkelheit der Prüfung eingehüllt, aber vor seinen Augen strahlt schon das Licht der bevorstehenden Begegnung, und seine Lippen kennen bereits die Melodie des Freudengesanges. Der Anruf ist hier hauptsächlich von der Hoffnung gekennzeichnet. Der hl. Augustinus kommentierte unseren Psalm: »Auf Gott hoffen entspricht der Seele dessen, der voll Hoffnung ist … Lebe jetzt in der Hoffnung. Die Hoffnung, die sichtbar ist, ist keine Hoffnung; aber wenn wir auf das hoffen, was wir nicht sehen, warten wir darauf, weil wir Geduld haben« (vgl. Rm 8,24 - 25) (Erklärung der Psalmen I, Rom 1982, S. 1019).

Der Psalm wird dann zum Gebet des Menschen, der noch auf dem irdischen Pilgerweg ist und mit dem Bösen und dem Leiden in Berührung kommt, aber die Gewißheit hat, daß das Endziel der Geschichte nicht der Abgrund des Todes ist, sondern die heilbringende Begegnung mit Gott. Diese Gewißheit wird noch verstärkt für die Christen, denn der Hebräerbief verkündet: »Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind, zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten, zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels« (He 12,22 - 24).

„Verschaff mir Recht, o Gott, und rette mich!" - Recht und Rettung gehören zusammen: Gott, der den Menschen aus Not und Verzweiflung rettet, verhilft ihm auch zu seinem Recht in der Gemeinschaft.

11 Aus dieser Erfahrung erwächst dem Beter von Psalm 43 neue Kraft und die Sicherheit des Ziels: Böse Zeitgenossen haben keine Chance; ihre schlechten Absichten können dem gläubig vertrauenden Menschen nicht schaden, weil Gottes Licht und Wahrheit ihn sicher leiten. Sein ganzes Leben ist ein Pilgern zum „heiligen Berg", zum „Haus Gottes". Für den Beter der Psalmen ist das Lebensziel, damals wie heute, die unzerstörbare Teilhabe an der Gegenwart Gottes. In ihr hat er die unversiegbare Quelle eines tiefen inneren Friedens und den Brunnen höchster Glückseligkeit gefunden. Unser Weg als Christen mag heute zuweilen steinig sein, aber er ist bestimmt vom frohen und sicheren Blick auf das Ziel unseres Lebens: „So will ich zum Altar Gottes treten, zum Gott meiner Freude" (Ps 43,4).
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Herzlich begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Möge die Erfahrung des rettenden und gerechten Gottes Eure Schritte sicher machen auf dem Weg zum Ziel Eures Lebens! Dazu erteile ich Euch, Euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, von Herzen den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 13. Februar 2002

1.Die Generalaudienz am heutigen Aschermittwoch ist geprägt von einem besonderen Geist des Gebets, der Reflexion und der Buße. Zusammen mit der ganzen Kirche beginnen wir einen vierzigtägigen Weg der Vorbereitung auf Ostern mit dem strengen Zeichen der Auflegung des Aschenkreuzes, das begleitet wird von der Aufforderung Christi: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium« (vgl. Mk Mc 1,15). Jedem Menschen wird so sein Seinszustand als Sünder zusammen mit seinem Bedürfnis nach Buße und Umkehr in Erinnerung gerufen.

Der christliche Glaube lehrt uns, daß diese dringliche Einladung, dem Bösen zu widerstehen und das Gute zu tun, ein Geschenk Gottes ist, von dem jede gute Wirklichkeit für das Leben des Menschen kommt. Alles hat seinen Ursprung in der unentgeltlichen Initiative Gottes, der uns für die Glückseligkeit geschaffen hat und alles zum wahren Guten lenkt. Er kommt selbst unserem Verlangen nach Umkehr mit seiner Gnade zuvor und begleitet unsere Anstrengungen bis zur vollen Zustimmung zu seinem Heilswillen.

2. In der Botschaft zur diesjährigen Fastenzeit, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, wollte ich alle Katholiken auf das Thema der Unentgeltlichkeit der Initiative Gottes in unserem Leben hinweisen, die ein wesentliches Element ist, das die gesamte biblische Offenbarung durchzieht. Die Fastenzeit ist eine »providentielle Gelegenheit zur Umkehr«, gerade weil sie uns hilft, »dieses wunderbare Geheimnis der Liebe zu betrachten«, in deren Licht Jesus mahnt: »Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben« (Mt 10,8). Die Fastenzeit erweist sich in ihrer tiefsten Wirklichkeit als eine »Rückkehr zu den Wurzeln des Glaubens. Wenn wir das Geschenk der unermeßlichen Erlösungsgnade bedenken, geht uns auf, daß wir alles der liebevollen Initiative Gottes verdanken« (Botschaft zur Fastenzeit, in: O.R. dt., Nr. 7, 15. 2. 2002, S. 7).

Der Apostel Paulus beschreibt die Unentgeltlichkeit der Gnade Gottes, der uns aus Liebe mit sich versöhnt hat, mit eindringlichen und heute noch gültigen Worten: »Dabei wird nur schwerlich jemand für einen Gerechten sterben; vielleicht wird er jedoch für einen guten Menschen sein Leben wagen. Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren« (Rm 5,7 - 8). Gott, der uns in seiner grenzenlosen Liebe geschaffen und uns zugleich aus Liebe zur vollen Gemeinschaft mit sich bestimmt hat, erwartet von uns eine ebenso großzügige, freie und bewußte Antwort.

3. Der Weg der Umkehr, den wir heute vertrauensvoll beginnen, fügt sich sehr gut in diesen ursprünglichen Kontext der Liebe und Unentgeltlichkeit ein. Ist nicht das Almosengeben und die Gesten der Nächstenliebe, zu denen wir in dieser Bußzeit besonders aufgerufen sind, eine Antwort auf die Unentgeltlichkeit der göttlichen Gnade? Wenn wir umsonst empfangen haben, müssen wir umsonst geben (vgl. Mt 10,8).

Die heutige Gesellschaft hat ein tiefes Bedürfnis,den Wert der Unentgeltlichkeit wiederzuentdecken, besonders weil in unserer Welt oft eine Logik vorherrscht, die ausschließlich von der Suche nach Gewinn und Nutzen um jeden Preis geprägt ist. Angesichts der verbreiteten Meinung, daß jede Entscheidung und Geste von der Logik von Angebot und Nachfrage des Marktes beherrscht werde und sich das Gesetz des größtmöglichen Profits durchsetze, bietet der christliche Glaube das Ideal der Unentgeltlichkeit an, das auf der bewußten Freiheit der Personen gründet, die von wahrer Liebe beseelt sind.

Wir empfehlen diese vierzig Tage des intensiven Gebets und der Buße der Jungfrau Maria, der »Mutter der schönen Liebe«. Sie möge uns begleiten und führen, daß wir das tiefe Geheimnis des Ostern Christi würdig feiern, die höchste Offenbarung der unentgeltlichen und barmherzigen Liebe des himmlischen Vaters.

12 Allen eine gesegnete Fastenzeit!


Liebe Schwestern und Brüder!


Heute, am Aschermittwoch, beginnt die Fastenzeit. Sie ist der Weg der 40-tägigen Vorbereitung auf Ostern, eine Zeit des Fastens, des Gebets und der Werke der Nächstenliebe.

In Gemeinschaft mit der ganzen Kirche beginnen wir nun diese vorösterliche Bußzeit. Wir lassen uns das Aschenkreuz zum Zeichen unserer Umkehrbereitschaft auflegen. Dabei hören wir die Worte Christi : "Kehrt um und glaubt an das Evangelium!" (
Mc 1,15)

Umkehr und Liebe gehören zusammen. Diese Fastenzeit lädt uns ein, die Gesinnung unseres Herzens nach dem Willen Gottes zu erneuern und gute Werke zu vollbringen. Hierbei leitet uns das Wort Jesu: "Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben. " (Mt 10,8)
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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Diese Fastenzeit sei für uns alle eine fruchtbare Vorbereitung auf Ostern! Euch, Euren Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gern den Apostolischen Segen.






Mittwoch 27. Februar 2002




Liebe Schwestern und Brüder!

1. Unter den verschiedenen Gesängen, die die Psalmen begleiten, gibt es im Stundengebet auch einen Dankhymnus mit dem Titel: »Das Danklied Hiskijas« (Is 38,9). Es ist in einen Abschnitt des Buches des Propheten Jesaja in der Art einer geschichtlichen Erzählung eingeschoben (vgl. Is 36 -39), deren Angaben - mit einigen Abweichungen - denen aus dem Zweiten Buch der Könige gleichen (vgl. cc. 18 -20).

Im Anklang an die Laudes haben wir soeben in Gebetsform zwei eindrucksvolle Strophen dieses Liedes gehört, die die beiden für das Dankgebet typischen Aspekte beschreiben: Einerseits wird an den Alptraum des Leidens erinnert, von dem der Herr den Gläubigen befreit hat, andererseits wird die Dankbarkeit über das Leben und die wiedererlangte Rettung voll Freude besungen.

13 König Hiskija, ein gerechter Herrscher und Freund des Propheten Jesaja, war von einer schweren Krankheit heimgesucht worden, die der Prophet Jesaja als tödlich bezeichnet hatte (vgl. Is 38,1). »Da drehte sich Hiskija mit dem Gesicht zur Wand und betete zum Herrn: Ach Herr, denk daran, daß ich mein Leben lang treu und mit aufrichtigem Herzen meinen Weg vor deinen Augen gegangen bin und daß ich immer getan habe, was dir gefällt. Und Hiskija begann laut zu weinen. Da erging das Wort des Herrn an Jesaja: Geh zu Hiskija, und sag zu ihm: So spricht der Herr, der Gott deines Vaters David: Ich habe dein Gebet gehört und deine Tränen gesehen. Ich will zu deiner Lebenszeit noch fünfzehn Jahre hinzufügen« (Is 38,2 -5).

2. Da stimmt der König aus tiefstem Herzen ein Danklied an. Wie bereits gesagt, ist es zunächst eine Erinnerung an Vergangenes. Nach der alten Auffassung Israels führte der Tod in eine Unterwelt, in Hebräisch »Scheol« genannt, in der das Licht erlosch, das Dasein schwand und gleichsam geisterhaft wurde, die Zeit stehenblieb, die Hoffnung erlosch und man keine Möglichkeit mehr hatte, den Herrn im Gottesdienst anzurufen und ihm zu begegnen.

Hiskija erinnert sich vor allem der bitteren Worte, die er gesprochen hatte, als sein Leben dem Tod nahe war: »Ich darf den Herrn nicht mehr schauen im Land der Lebenden« (V. 11). Auch der Psalmist betete so, als er erkrankt war: »Denn bei den Toten denkt niemand mehr an dich. Wer wird dich in der Unterwelt noch preisen?« (Ps 6,6). Der Todesgefahr entronnen, kann Hiskija kraftvoll und froh ausrufen: »Nur die Lebenden danken dir, wie ich am heutigen Tag« (Is 39,19).

3. Das Lied des Hiskija über dieses Thema bekommt einen neuen Akzent, wenn es im Blick auf Ostern gelesen wird. Schon im Alten Testament eröffneten sich in den Psalmen helle Lichtblicke, wenn der Betende seine Gewißheit aussprach, daß »du mich nicht der Unterwelt preisgibst; du läßt deinen Frommen das Grab nicht schauen. Du zeigst ir den Pfad zum Leben. Vor deinem Angesicht herrscht Freude in Fülle, zu deiner Rechten Wonne für alle Zeit« (Ps 16,10 -11; vgl. Ps 49 und 73). Der Autor des Buches der Weisheit zögert seinerseits nicht, zu bekräftigen, daß die Hoffnung der Gerechten »voll Unsterblichkeit« ist (Sg 3,4), denn er ist davon überzeugt, daß die während seines irdischen Daseins gelebte Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott nicht zerstört wird. Wir werden nach dem Tod immer vom ewigen und unendlichen Gott gestützt und beschützt, weil »die Seelen der Gerechten in Gottes Hand sind und keine Qual sie berühren kann« (Sg 3,1),

Vor allem durch den Tod und die Auferstehung des Gottessohnes Jesus Christus wurde in unsere sterbliche Vergänglichkeit ein Same der Ewigkeit gelegt und zum Keimen gebracht, so daß wir die auf dem Alten Testament gründenden Worte des Apostels wiederholen können: »Wenn sich aber dieses Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1Co 15,54 -55; vgl. Is 25,8 Os 13,14).

4. Aber das Lied des Königs Hiskija lädt uns auch ein, über unsere kreatürliche Hinfälligkeit nachzudenken. Die Bilder sind beeindruckend. Das menschliche Leben wird mit dem Symbol des Zeltes der Nomaden beschrieben: Wir sind immer Pilger und Gast auf Erden. Es wird auch der Vergleich mit dem gewebten Tuch verwandt, das unvollendet bleiben kann, wenn der Faden abgeschnitten und die Arbeit unterbrochen wird (vgl. Is 12). Der Psalmist hat das gleiche Gefühl: »Du machtest meine Tage nur eine Spanne lang, meine Lebenszeit ist vor dir wie ein Nichts. Ein Hauch nur ist jeder Mensch. Nur wie ein Schatten geht der Mensch einher, um ein Nichts macht er Lärm « (Ps 39,6 -7). Man muß sich seiner Grenzen bewußt werden, man muß wissen, daß »unser Leben siebzig Jahre währt - sagt der Psalmist -, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin« (Ps 90,10).

5. Am Tag der Krankheit und des Leidens ist es immer recht, zu Gott die eigene Klage zu erheben, wie uns Hiskija lehrt, der mit poetischen Bildern seine Klage als das Zwitschern einer Schwalbe und das Gurren einer Taube beschreibt (vgl. Is 39,14). Und obwohl er nicht zögert zu bekennen, daß er Gott als einen Gegner empfindet, fast als einen Löwen, der alle Knochen zermalmt (vgl. V. 13), hört er nicht auf zu rufen: »Ich bin in Not, Herr. Steh mir bei!« (V. 14).

Der Herr bleibt nicht gleichgültig gegenüber den Tränen des Leidenden, und auf Wegen, die nicht immer mit unseren Erwartungen übereinstimmen, antwortet, tröstet und heilt er. Das bekennt Hiskija am Ende, wenn er alle einlädt zu hoffen, zu beten und voller Zuversicht darauf zu vertrauen, daß Gott seine Geschöpfe nicht verläßt: »Der Herr war bereit, mir zu helfen; wir wollen singen und spielen im Haus des Herrn, solange wir leben« (V. 20).

6. Von diesem Lied des Königs Hiskija bewahrt die mittelalterliche lateinische Tradition einen geistlichen Kommentar des Bernhard von Clairvaux, eines der bedeutendsten Mystiker des westlichen Mönchtums. Es handelt sich um die dritte der Predigten, in denen Bernhard, indem er das vom König von Juda durchlebte Drama auf das Leben jedes Menschen überträgt und dessen Inhalt nach innen kehrt, folgendes schreibt: »Den Herrn will ich preisen zu aller Zeit, das heißt von Morgen bis zum Abend, wie ich es zu tun gelernt habe, und nicht wie diejenigen, die dich loben, wenn du ihnen Gutes tust, und auch nicht wie diejenigen, die für eine gewisse Zeit glauben, aber in der Stunde der Versuchung abfallen; ich werde wie die Heiligen sagen: Wenn wir von Gott das Gute empfangen haben, warum sollen wir nicht auch das Böse annehmen?… So werden diese beiden Augenblicke des Tages eine Zeit des Dienstes für Gott sein, denn am Abend bleibt die Klage, und am Morgen kehrt die Freude wieder. Ich überlasse mich am Abend dem Schmerz, um dann die Freude des Morgens genießen zu können« (Scriptorium Claravallense, Sermo III, Nr. 6, Milano 2000, SS. 59 -60).

Die Bitte des Königs wird vom hl. Bernhard als Beispiel des gesungenen Gebets des Christen gelesen, das mit gleicher Festigkeit und Gelassenheit in der Finsternis der Nacht und Prüfung wie im Licht des Tages und der Freude erklingt.

Wer vor einem Abgrund steht, kann sich vorstellen, was es heißt, vor dem Hinabstürzen bewahrt zu werden. Aus einer ähnlichen Erfahrung ist das Danklied Hiskijas im Buch Jesaja entstanden. Dank kommt aus dem Wissen, daß Gott an uns handelt. Auch in unserer Zeit stehen Menschen schon „in der Mitte ihrer Tage" vor dem Aus - sei es durch Krankheit oder ein sonstiges Unglück, und fürchten um „den Rest der Jahre" ihres Lebens. Doch Gottes Treue verwandelt den Alptraum des Leidens in ein Lied des Dankes. Den demütigen Beter gibt Gott nicht preis! Er rettet aus den Nöten des Daseins und bewahrt uns vor dem tödlichen Abgrund von Schuld und Sünde. Schon uns Lebende tröstet die Zusage: „Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren" (Sg 3,1).
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14 Herzlich begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. In den Wirrnissen der Zeit gebe Euch der ewige Gott die Gewissheit seiner Gegenwart und den Frieden des Herzens! Dazu erteile ich Euch, Euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.





März 2002


Mittwoch, 6. März 2002

Lesung: Psalm 65, 2 -3. 9. 12 -13


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Bei unserer Betrachtung der Psalmen des Stundengebets kommen wir nun zu einem Hymnus, der uns vor allem wegen des bezaubernden frühlingshaften Bildes im letzten Teil gefällt (vgl. Ps 65,10 -14), einer Szene voller Frische, bunt ausgeschmückt und durchdrungen von Freudenrufen.

Der Psalm 65 hat in Wirklichkeit eine weitgefaßte Struktur, die sich aus der Verflechtung von zwei verschiedenen Schattierungen ergibt: Zunächst erscheint das geschichtliche Thema der Sündenvergebung und der Aufnahme bei Gott (vgl. V. 2 - 5); dann wird das kosmische Thema von Gottes Handeln am Meer und Gebirge angedeutet (vgl. V. 6 - 9a); zum Schluß wird der Frühling beschrieben (vgl. V. 9b - 14): Vor dem sonnigen und trockenen Horizont des Nahen Ostens ist der befruchtende Regen Zeichen der Treue des Herrn gegenüber der Schöpfung (vgl. Ps 105,13 -16). Für die Bibel ist die Schöpfung der Sitz der Menschheit, und die Sünde ist ein Angriff auf die Ordnung und Vollkommenheit der Welt. Die Umkehr und Vergebung stellen deshalb die Ganzheit und Harmonie des Kosmos wieder her.

2. Im ersten Teil des Psalms befinden wir uns im Tempel auf dem Zion. Dorthin kommt das Volk mit seiner Last an moralischen Verfehlungen, um die Befreiung vom Bösen zu erbitten (vgl. Ps 65,2 - 4a). Wenn sie den Sündennachlaß erhalten haben, fühlen sich die Gläubigen als Gäste Gottes, die ihm nahe sind, bereit, um zu seinem Gastmahl zugelassen zu werden und am Fest der Freundschaft mit Gott teilzuhaben (vgl. V. 4b -5).

Der Herr, der im Tempel in Erscheinung tritt, wird dann in ruhmvollen und kosmischen Zügen beschrieben. Denn es heißt, daß er die »Zuversicht aller Enden der Erde und der fernsten Gestade« ist: »Du gründest die Berge in deiner Kraft, du gürtest dich mit Stärke, du stillst das Brausen der Meere, das Brausen ihrer Wogen … Alle, die an den Enden der Erde wohnen, erschauern vor deinen Zeichen; Ost und West erfüllst du mit Jubel« (V. 6 -9).

3. In diesem Lobpreis Gottes, des Schöpfers, stoßen wir auf ein Ereignis, das wir hervorheben wollen: Der Herr ist imstande, auch das Brausen der Meere zu zähmen und zu stillen, die in der Bibel das Symbol für das Chaos sind, das der Schöpfungsordnung Widerstand leistet (vgl. Ijob Jb 38,8 -11). Es ist eine Weise, nicht nur den göttlichen Sieg über das Nichts, sondern auch über das Böse zu preisen: Aus diesem Grund kommt zum »Brausen der Meere« und zum »Brausen ihrer Wogen« auch »das Tosen der Völker« (vgl. Ps 65,8), das heißt der Aufstand der Hochmütigen.

Augustinus kommentiert sehr eindrucksvoll: »Das Meer versinnbildlicht die heutige Welt: Es ist bitter und salzig, unruhig und stürmisch; die Menschen mit ihren verkehrten und ungeordneten Begierden gleichen den Fischen, die sich gegenseitig auffressen. Schaut auf dieses böse Meer, dieses bittere, grausame Meer und seine Wogen!…Wir dürfen nicht so handeln, Brüder, denn der Herr ist die Zuversicht aller Enden der Erde« (Esposizione sui Salmi II , Roma 1990, S. 475).

15 Die Folgerung, die uns der Psalm darlegt, ist einfach: Gott, der dem Chaos und dem Bösen in der Welt und Geschichte ein Ende setzt, kann die Bosheit und Sünde, die der Betende in sich hat und mit der Gewißheit der göttlichen Reinigung im Tempel darbringt, besiegen und vergeben.

4. An dieser Stelle treten die anderen Wasserflüsse auf: die des Lebens und der Fruchtbarkeit, die die Erde im Frühling bewässern und das neue Leben des Gläubigen versinnbildlichen, der Vergebung erlangt hat. Die Schlußverse des Psalms (vgl.
Ps 65,10 -14) sind, wie gesagt, von außerordentlicher Schönheit und Bedeutsamkeit. Gott tränkt das von Hitze und Kälte rissig gewordene Erdreich, indem er es mit Regen bewässert. Der Herr ähnelt einem Landwirt (vgl. Jn 15,1), der durch seine Arbeit das Korn wachsen und das Gras sprießen läßt. Er bereitet das Erdreich, bewässert die Furchen, glättet die Schollen, begießt jeden Teil seines Feldes.

Der Psalmist verwendet zehn Verben, um dieses liebevolle Handeln des Schöpfers an der Erde zu beschreiben, die als ein lebendiges Geschöpf dargestellt wird. In der Tat, »sie jauchzt und singt« (vgl. Ps 65,14). Anschaulich sind hier auch die drei Verben, die auf die Symbolik der Bekleidung verweisen: »Die Höhen umgürten sich mit Jubel. Die Weiden schmücken sich mit Herden, die Täler hüllen sich in Korn« (V. 13 -14).

Das Bild stellt eine Weide dar, weißgepunktet mit Schafen; die Hügel gürten sich mit den Weinbergen, dem Zeichen der Freude an ihrem Erzeugnis, dem Wein, »der das Herz des Menschen erfreut« (Ps 103,15); die Hügel umhüllen sich mit dem goldenen Mantel der Ernte. Vers 12 erinnert auch an die Krone, die an die Kränze denken läßt, die sich die Gäste beim Festmahl auf das Haupt setzen (vgl. Is 28,1 Is 28,5).

5. Alle Geschöpfe wenden sich gemeinsam wie in einer Prozession an ihren Schöpfer und Herrn, wobei sie tanzen, singen, lobpreisen und beten. Die Natur wird wiederum zu einem deutlichen Zeichen des göttlichen Handelns; sie ist ein offenes Buch für alle, bereit, die ihr vom Schöpfer eingeprägte Botschaft zu offenbaren, denn »von der Größe und Schönheit der Geschöpfe läßt sich auf ihren Schöpfer schließen« (Sg 13,5 vgl. Rm 1,20). In dieser Lyrik verschmelzen theologische Betrachtung und poetischer Überschwang miteinander und werden zu Anbetung und Lobpreis.

Aber die eindringlichste Begegnung, auf die der Psalmist mit seinem ganzen Lied abzielt, ist die Verbindung der Schöpfung mit der Erlösung. Wie die Erde im Frühling durch das Tun des Schöpfers aufersteht, so steht der Mensch durch das Handeln des Erlösers aus seiner Sünde wieder auf. Schöpfung und Geschichte stehen auf diese Weise unter der heilbringenden Vorsehung des Herrn, der die unruhigen und zerstörerischen Wasser besiegt und das Wasser schenkt, das reinigt, befruchtet und den Durst stillt. In der Tat, der Herr »heilt die gebrochenen Herzen und verbindet ihre schmerzenden Wunden«, aber er bedeckt auch »den Himmel mit Wolken, spendet der Erde Regen und läßt Gras auf den Bergen sprießen« (Ps 147,3 Ps 147,8).

So wird der Psalm ein Lobpreis an die göttliche Gnade. Wieder ist es Augustinus, der unseren Psalm kommentiert und auf dieses transzendente und einzige Geschenk hinweist. »Gott der Herr spricht in deinem Herzen: Ich bin dein Reichtum. Kümmere dich nicht um das, was die Welt verspricht, sondern um das, was der Schöpfer der Welt verheißt! Achte auf das, was Gott dir verheißt, wenn du auf die Gerechtigkeit achtest; und verachte das, was dir der Mensch verspricht, der dich von der Gerechtigkeit abbringen will. Achte also nicht auf das, was die Welt verspricht! Achte vielmehr auf das, was der Schöpfer der Welt verheißt« (L.c. , S. 481).

Das Psalmengebet bekräftigt die Haltung eines christlichen Realismus: Als Menschen stehen wir, wie in Psalm 65, staunend vor dem Wunder der Schöpfung und danken Gott für das Geschenk der Rettung. Dabei bleibt uns die Wirklichkeit der Sünde bewußt, die unsere Lebensumwelt verformt.

Gott ist Herr über seine Schöpfung und ihre Geschichte. Er kann und will die Schuld aus den Herzen der Menschen entfernen, wenn sie ihre Taten bereuen und sich ihm vertrauens-voll neu zuwenden. Die von Gott gegebene Ordnung der Natur verlangt nach Wiederherstellung. Die Erfahrung der Erneue-rung umschreibt der Psalmist im Bild: „In der Steppe prangen die Auen, die Höhen umgürten sich mit Jubel“ (65, 13).
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Der Heilige Vater herzlich begrüßt alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders willkommen heißt er die freiwilligen Helfer des Malteserordens aus Österreich und die von ihnen begleiteten Kranken, eine Studiengruppe von Kirchenrechtlern, Soldaten der deutschen Bundeswehr sowie die Teilnehmer am Romseminar des Bistums Hildesheim.




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Mittwoch, 13. März 2002

Liebe Schwestern und Brüder!


1. Die Liturgie nimmt den Psalm 77, den wir soeben gehört haben, in das Morgengebet mit hinein: Sie will uns dadurch daran erinnern, daß der Tagesanfang nicht immer schön ist. Wie es dunkle Tage geben kann, in denen der Himmel mit Wolken bedeckt ist und ein Unwetter heraufzieht, so kennt unser Leben Tage, die mit Sorgen und Angst angefüllt sind. Dann wird schon das Beten am Morgen ein Klagen, Bitten und um Hilfe Rufen.

Unser Psalm ist eine beharrliche Bitte, die zum Herrn aufsteigt und von tiefem Vertrauen, ja von der Gewißheit der göttlichen Hilfe beseelt ist. Denn für den Psalmisten ist der Herr kein teilnahmsloser Herrscher, der in die himmlische Herrlichkeit verbannt ist und unserem Schicksal gleichgültig gegenübersteht. Aber eine solche Haltung macht uns mitunter das Herz schwer, und dann steigen bittere Fragen auf, die den Glauben ins Wanken bringen: »Verweigert Gott jetzt seine Liebe und seine Erwählung? Hat er die Vergangenheit vergessen, in der er uns stützte und beglückte?« Wir werden sehen, daß solche Fragen durch ein neues, gestärktes Vertrauen auf Gott, den Erlöser und Retter, ausgeräumt werden.

2. Verfolgen wir also den Verlauf dieses Gebets, das in einem dramatischen Ton, voller Angst beginnt, sich aber nach und nach der Gelassenheit und Hoffnung öffnet. Vor uns haben wir zunächst die Klage über die traurige Gegenwart und über das Schweigen Gottes (vgl. V. 2 -11). Ein Hilfeschrei wird an einen scheinbar stummen Himmel gerichtet, die Hände erheben sich bittend, das Herz ist schwer von tiefen Seufzern. In der schlaflosen Nacht der Traurigkeit und des Betens »grüble ich, sinne ich nach«, wie es in Vers 7 heißt, und erforsche ich mein Inneres.

Wenn der Schmerz den Höhepunkt erreicht und man wünscht, daß der Kelch des Leidens vorübergehen möge (vgl. Mt 26,39), überstürzen sich die Worte, und man stellt quälende Fragen, wie dies bereits oben erwähnt wurde (vgl. Ps 76,8 -11). Dieser Schrei möchte das Geheimnis Gottes und sein Schweigen ergründen.

3. Der Psalmist fragt sich, warum ihn der Herr abweist, warum er sein Antlitz und sein Handeln geändert hat, ob er die Liebe, die Heilsverheißung und die barmherzige Zärtlichkeit vergessen hat. »Die Rechte des Höchsten«, die die rettenden Wunder des Exodus vollbracht hatte, scheint nun gelähmt (vgl. V. 11). Und das ist der wahre und eigentliche »Schmerz«, der den Glauben des Betenden ins Wanken bringt.

Wenn es so wäre, dann wäre Gott nicht mehr zu erkennen, er wäre ein grausames Wesen oder eine Präsenz wie die der Götzen, die nicht retten können, weil sie unfähig, gleichgültig und ohnmächtig sind. In diesen Versen des ersten Teils des Psalms 77 wird das ganze Drama des Glaubens in der Zeit der Prüfung und des göttlichen Schweigens deutlich.

4. Aber es gibt Gründe zur Hoffnung. Das geht aus dem zweiten Teil der Bitte hervor (vgl. V. 12-21), die einem Hymnus gleicht, der die mutige Bekräftigung des eigenen Glaubens auch am dunklen Tag des Schmerzes anbietet. Man besingt die frühere Rettung, die ihre lichtvolle Epiphanie in der Schöpfung und in der Befreiung von der Knechtschaft in Ägypten hatte. Die bittere Gegenwart wird von der vergangenen Heilserfahrung erhellt, die ein in die Geschichte eingepflanztes Samenkorn ist: Es ist nicht tot, sondern nur begraben, damit es später wieder keimt (Jn 12,24).

Der Psalmist nimmt also einen wichtigen biblischen Begriff zu Hilfe, den des »Gedächtnisses«, das nicht nur eine schwache tröstliche Erinnerung ist, sondern die Gewißheit eines göttlichen Handelns, das nicht ausbleiben wird: »Ich denke an die Taten des Herrn, ich will denken an deine früheren Wunder« (Ps 77,12). Den Glauben an die Heilswerke der Vergangenheit zu bekennen führt zum Glauben an das, was der Herr ständig und auch zu diesem Zeitpunkt ist. »Gott, dein Weg ist heilig …du allein bist der Gott, der Wunder tut« (V. 14 -15). So wird die Gegenwart, die auswegslos und ohne Licht zu sein schien, vom Glauben an Gott erhellt und für die Hoffnung geöffnet.

5. Um diesen Glauben zu stützen, zitiert der Psalmist wahrscheinlich einen älteren Hymnus, der vielleicht in der Liturgie des Tempels auf dem Zion gesungen wurde (vgl. V. 17 -20). Es ist eine einzigartige Theophanie, in der der Herr in die Geschichte eintritt, indem er die Natur und ganz besonders die Wasser, das Symbol des Chaos, des Bösen und des Leidens, erschüttert. Sehr schön ist das Bild Gottes, der auf dem Wasser geht, dem Zeichen seines Triumphes über die negativen Kräfte: »Durch das Meer ging dein Weg, dein Pfad durch gewaltige Wasser, doch niemand sah deine Spuren« (V. 20). Und man denkt an Christus, der auf dem Wasser geht zum deutlichen Zeichen seines Sieges über das Böse (vgl. Jn 6,16 -20).


Generalaudienz 2002 9