Predigten 1978-2005 70


APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

WORTGOTTESDIENST MIT DEN GLÄUBIGEN IN MÜNSTER


Schlossplatz (Münster) - Freitag, 1. Mai 1987




Verehrter Herr Bischof,
liebe Brüder und Schwestern!

Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus freue ich mich von Herzen, heute in eurer Bischofsstadt Münster bei euch zu sein, mit euch zu beten und das Worte an euch richten zu können. Euch und allen, zu denen meine Worte gelangen, gilt mein brüderlicher Gruß.

1. Von Anfang an sind Rom und Münster eng miteinander verbunden gewesen. Euer erster Bischof, der heilige Ludgerus, ist im Jahre 784 zum Petrusgrab und zum Papst in Rom gepilgert, um dort den Auftrag für sein Missionswerk in eurer Heimat zu erhalten. Heute komme ich von Rom nach Münster; der Nachfolger des Petrus kommt zum Nachfolger des Ludgerus und zu euch allen hier im Bistum Münster, um euch im Glauben zu stärken, um zusammen mit euch zu erfahren, daß Rom und Münster, daß Petrus und Ludgerus zusammengehören und zusammenbleiben wollen im gemeinsamen Glauben.

Vom Tod des heiligen Ludgerus berichtet eine alte Chronik: In: der Stunde seines Hinscheidens sahen die Mitbrüder, ”wie vor ihnen ein helles Licht wie Feuer in die Höhe stieg und alle Finsternis der dunkeln Nacht vertrieb“. Das Dunkel der Nacht war hell geworden; das Dunkel der Nacht ist hell geblieben. Das Licht des katholischen Glaubens hat seine Leuchtkraft behalten durch die Jahrhunderte hindurch. Immer neu ist dieses Licht genährt worden durch die Zeugen der Wahrheit, die in eurem Land dieses Licht gehütet und weitergereicht haben.

Unter diesen Glaubenszeugen ragt durch seinen großen Bekennermut euer unvergeßlicher Bischof und Kardinal Clemens August Graf von Galen hervor - der ”Löwe von Münster“, wie ihn der Volksmund voller Bewunderung und Anerkennung nennt. Ich bin heute nach Münster gekommen, um sein Grab zu besuchen und dort zu beten.

2. Bischof von Galen stand in seinem mutigen Glaubenszeugnis damals jedoch nicht allein. Glauben geschieht ja in der Gemeinschaft der auf den dreifaltigen Gott getauften Mitchristen. Glauben geschieht in der Gemeinschaft der Zeugen der Wahrheit. Zu allen Zeiten habt ihr solche hier im Bistum Münster gehabt: Zeugen der Wahrheit, die wie Leuchtfeuer sind in dunkler Nacht und über allen Regionen eures Bistums aufstrahlen.

In Xanten am Niederrhein liegen sie in der alten Krypta unter dem Sankt-Viktors-Dom: Märtyrer aus der Zeit des Anfangs, die ihr Leben als Preis für ihren Glauben hingaben. Da liegen die Gebeine des Priesters Gerhard Storm und des Studenten Heinz Bello, die mit unerschütterlicher Treue am Credo der Kirche festhielten, gegen die Herrschenden und die Machthaber der damaligen Zeit. Dort liegt Karl Leisner begraben, der im Konzentrationslager Dachau zum Priester geweiht wurde, ein Mann, dessen junges Leben die Begeisterung für seinen Glauben ausstrahlt. Sein Lebensmotto hieß: ”Christus, du bist meine Leidenschaft!“; sein Gebet lautete: ”Christus, sei du mir Führer zum Licht!“.

71 Im Oldenburger Land finden wir die Grabstätte von Dominikanerpater Titus Hirten, dessen Leben die Güte und Menschenliebe Gottes in beispielhafter Weise widerspiegelte. Und hier in Münster habt ihr die Werkstätten und das Grab der Clemensschwester Maria Euthymia, zu den Scharen von Hilfesuchenden pilgern. An den scheinbar verborgenen Orten ihres aufopfernden Dienstes hat diese einfache Ordensfrau stellvertretend für viele gezeigt: Ein Leben aus dem Glauben und aus dem Evangelium hat weltverändernde Kraft. Aus der Kraft ihrer Christusnachfolge entstand in ihrer Nähe Heimat und Geborgenheit für kriegsgefangene Menschen, die ihr anvertraut waren. Liebe besiegte den Haß.

Noch viele andere Namen könnten genannt werden. Ich erinnere jedoch nur noch an Schwester Anna Katharina Emmerich, die uns mit ihrer besonderen mystischen Berufung den Wert des Opfers und Mitleidens mit dem gekreuzigten Herrn zeigt: und an Schwester Edith Stein, die ich heute morgen in Köln im Namen der Kirche seliggesprochen habe. Hier in Münster hat sie die Stunde ihrer Berufung erlebt. Von hieraus führte ihr Weg in den Karmel, von dort schließlich in den gewaltsamen Tod als Glaubenszeugin und so in die ewige Seligkeit Gottes.

3. Ihr Christen im Bistum Münster, ihr jungen Menschen, die ich hier besonders ansprechen möchte: Schaut auf diese ”Wolke von Zeugen“ (
He 12,1), wie die Heilige Schrift sagt. Hier sind sie - die Vorbilder! Hier wird kraftvoll und anschaulich gesagt, wie das geht: glauben. Hier wird deutlich, daß die Welt nur verändert wird durch ein Leben aus der Bindung an Gott und sein befreiendes Wort. So siegt die Liebe über die Bosheit; so überwindet Versöhnung den Haß; so erhebt sich die Großmut des Glaubens über die Enge und Selbstbezogenheit des Menschen.

Und ich frage euch Jugendliche: Sollten unter euch nicht auch solche sein, die bereit sind, die ”Alternative“ eines radikalen Lebens aus dem Glauben zu wählen? Als Schwester oder Bruder, als Priester im Ordensstand oder im Dienst des Bischofs dem Ruf des Herrn zu folgen? In der äußersten Entschlossenheit der Hingabe auf dem Weg der evangelischen Räte von Armut, Keuschheit und Gehorsam? Als Priester oder Diakone das ganze Leben dafür einsetzen, damit das Evangelium verkündet wird und die Sakramente gespendet werden, damit Christus lebt in eurem Land - heute und auch morgen?

Ich bin fest davon überzeugt: Auch unter euch gibt es zahlreiche Jungen und Mädchen, Männer und Frauen, die berufen sind zum Ordensleben und zum Priestertum. Gott selber ist es, der euch ruft. Faßt euch ein Herz, seid mutig! Wagt den Sprung über die Hürden eurer Einwände und Bedenken: Gott, der euch ruft, ist auch getreu. Fangt mit seiner Gnade an; er wird den ehrlichen Beginn zu` einem guten Ende bringen.

4. Liebe Brüder und Schwestern! Bischof von Galen hat gegen einen weltlichen Totalitätsanspruch deutlich und mutig die elementaren Wahrheiten christlicher Ethik: die zehn Gebote verkündet. Das ”Du sollst nicht . . .!“ des göttlichen Gebotes war seine Antwort auf die Herausforderung durch einen Diktator, der in seiner menschenverachtenden Machtausübung die Würde und die Grundrechte des Menschen sowie die unabdingbaren Normen eines menschenwürdigen Zusammenlebens auf das schwerste verletzte.

Als Bischof Clemens-August im Jahre 1941 in den bekannten drei großen Predigten seine Stimme erhob, hat er in einer Zeit der Lüge Zeugnis abgelegt für die Wahrheit. Gegen die Lehre von einer schrankenlosen Selbstbestimmung des Menschen, von einer Freiheit, die keine Grenzen mehr anerkennen will, hat er damals gesagt: Der Mensch ist von Gott geschaffen, von Gott geliebt, von ihm getragen. Diese Herkunft ist der Adel des Menschen und zugleich seine Aufgabe: Er wird wahrhaft Mensch, wenn er sich frei und treu an Gott bindet und sein Leben auf ihn als höchstes Gute ausrichtet. Wählt der Mensch für sein Leben aber ein geschaffenes Ziel und gibt sich ihm ausschließlich hin, so wird er zum Sklaven: Er verliert seine eigentliche Würde; Verwirrung, Chaos und Tod sind die tragischen Folgen.

Prophetisch sind die Worte, die Bischof von Galen als Kämpfer für die Menschenrechte ausgerufen hat, als die Nationalsozialisten anfingen. Geisteskranke als sogenannte unproduktive Volksgenossen zu verschleppen und zu töten. Er sagte damals: Eine Lehre macht sich breit, ”die behauptet, man dürfe sogenanntes “lebensunwertes” Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt . . . Hier handelt es sich aber um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern . . . Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind? Solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? . . . Du sollst nicht töten! Dieses Gebot Gottes, des einzigen Herrn, der das Recht hat, über Leben und Tod zu befinden, war von Anfang an in die Herzen der Menschen geschrieben . . . Gott hat dieses Gebot gegeben, unser Schöpfer und einstiger Richter!“ (Clemens-August von Galen, Predigt Am 3 Am 1941).

5. Diese Worte sollten keineswegs in Geschichtsbüchern und Archiven begraben bleiben; sie sind hochaktuell, auch in demokratischen Staaten, in denen gilt, daß das Volk selbst, also die Menschen gemeinsam ihr Zusammenleben in Würde und Freiheit gestalten sollten. Wieder gibt es heute in der Gesellschaft starke Kräfte, die das menschliche Leben bedrohen. Euthanasie, Gnadentod aus angeblichem Mitleid, ist erneut ein erschreckend häufig wiederkehrendes Wort und findet ihre neuen irregeleiteten Verteidiger. Auch kann die Kirche zur fast völligen Freigabe der Abtreibung in eurem Land und in zahlreichen anderen Ländern nicht schweigen. Gewiß wird sie durch ihre Seelsorger und verantwortlichen Laien jeder einzelnen schwangeren Frau, die sich in Schwierigkeiten fühlt, mit aufrichtiger Anteilnahme und Güte begegnen und ihrer Lage, soweit wie möglich, Verständnis und konkrete Hilfsbereitschaft entgegenbringen. Der Gesellschaft gegenüber darf die Kirche aber nicht schweigen; auch dann nicht, wenn schon eine ehrliche Erörterung der gegenwärtigen Abtreibungssituation als lästiges Rühren an ein Tabu abgelehnt wird. Von Politikern und Gestaltern der öffentlichen Meinung, die sich noch ethischen Grundsätzen oder sogar dem christlichen Glauben verpflichtet fühlen, erwartet die Kirche eine Hilfe, damit die wissenschaftlichen Ergebnisse von Embryologie und Psychologie im Bereich der Schwangerschaft und Abtreibung mehr zur Kenntnis genommen werden und die praktischen Entscheidungen der Menschen immer wirksamer mitbestimmen. Die gesetzliche Indikationsregelung selbst und ihre konkrete Handhabung sollten von den Verantwortlichen einmal unvoreingenommen daraufhin überprüft werden, ob sie nicht - statt Leben zu schützen - im Gegenteil viele Menschen geradezu in dem irrigen Eindruck bestärken, hier gehe es um ein fast belangloses, in sich sogar erlaubtes Tun, zumal man ja nicht einmal die finanziellen Ausgaben dafür persönlich zu tragen braucht.

Die Kirche muß auch heute mit Nachdruck, Klarheit und Geduld eintreten für das Lebensrecht aller Menschen, vor allem der noch ungeborenen und deshalb besonders schutzbedürftigen Kinder; sie muß eintreten für die uneingeschränkte Geltung des 5. Gebotes: Du sollst nicht töten. Entgegen aller Wortkosmetik und Reflexionsverweigerung ahnen doch wohl die allermeisten: Abtreibung ist bewußte Tötung von unschuldigen Menschenleben. Es ist ermutigend, daß bereits eine neue Nachdenklichkeit bei vielen Menschen einsetzt, weil sie immer stärker die Inkonsequenzen im heutigen moralischen Werten und Urteilen bemerken. Keine Friedensbewegung verdient doch diesen Namen, wenn sie nicht mit gleicher Kraft den Krieg gegen das ungeborene Leben anprangert und dagegen anzugehen versucht. Keine ökologische Bewegung kann ernstgenommen werden, wenn sie an der Mißhandlung und Vernichtung ungezählter lebensfähiger Kinder im Mutterschoß vorbeisieht. Keine emanzipierte Frau dürfte sich über ihre vermehrte Selbstbestimmung freuen, wenn diese erreicht worden wäre gegen ein menschliches Leben, das ihrem Schutz anvertraut war und auch bereits ein Recht auf Selbstbestimmung besaß. Nehmen wir doch endlich auch den Menschen selbst auf unter die Güter, die unseren höchsten Schutz verdienen und für die es sich lohnt, um breite Zustimmung unter der Bevölkerung zu werben! So müßte es gerade für Arzte und Sozialarbeiter, für Parlamentarier, Journalisten und Lehrer eine besondere Gewissenspflicht sein, für den Rechtsschutz des Lebens auch öffentlich einzutreten.

6. Gottes Sohn ist Mensch geworden; Christus will unser Bruder sein. Darum darf kein Mensch vom anderen gering denken, ihn mißhandeln oder sogar töten. Das Recht auf Leben ist das fundamentalste und heiligste aller Menschenrechte.

72 In der Osterzeit, in der wir stehen, erfahren wir in besonderer Weise: Unser Gott ist ein Gott des Lebens, der Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Gott Endet sich mit dem Tod nicht ab, und auch wir dürfen es nicht. Mit der Auferstehung Christi hat Gott eine neue Initiative für das Leben begonnen. Diese Initiative Gottes sollen wir mittragen. Sache der Christen ist es, mit Gottes Geist Partei zu ergreifen für Leben und Frieden, für Wahrheit und Gerechtigkeit.

Letztlich lebt unsere Welt von der Güte und Barmherzigkeit, die Gott uns schenkt und mit der die einzelnen Menschen einander begegnen. Warten wir nicht alle darauf, daß jemand gut zu uns ist, uns anerkennt, uns ermutigt oder tröstet, uns hilft, wo wir Unterstützung brauchen? Wo die Güte des Herzens das Leben prägt, ist Platz auch für den schwachen, den alten, den verletzten Menschen; dort ist auch Platz und Zukunft für den noch ungeborenen Menschen im Mutterleib. Die Erfahrung der Barmherzigkeit weckt in uns die Hoffnung, schließlich einmal einer letzten, unüberbietbaren Güte zu begegnen: der unendlichen und ewigen Menschenfreundlichkeit Gottes.

Gott ist der Erste; er ist auch der Letzte und Ewige. Von ihm kommt alles Leben; auf ihn geht unser Leben zu. Von Gott her - zu Gott hin: das ist der Weg des Menschen.

Wähle das Leben! Wähle das ganze Leben! Wähle damit auch dein ewiges Leben!

7. Liebe Brüder und Schwestern! Es gibt Lieder von bleibender Dauer und Schönheit. Es gibt Lieder, die nie verklingen. Unser Lied, das alles Toben der Weltgeschichte übertönen wird, ist das Credo, das Lied unseres Glaubens. In ihm bekennen wir unseren Glauben an den Vater, der uns zum Leben ruft, an unseren Bruder und Erlöser Jesus Christus, an den Heiligen Geist, der immer wieder neu Leben schafft. Dieses Lied unseres Glaubens laßt uns nun gemeinsam singen. Amen.





APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

VESPER VOR DEM DOM


Domplatz in Münster - Freitag, 1. Mai 1987




Liebe Brüder und Schwestern!

1. Unser gemeinsamer Vespergottesdienst findet nun seine Fortsetzung vor eurer herrlichen Bischofskirche. Dieser ehrwürdige Paulusdom, vor dem wir hier als Gemeinde Christi versammelt sind, ist schon kostbar in seiner kunstvoll gestalteten Architektur mit ihren wuchtigen Türmen und Bögen. Wer ein solches Gebäude zur Ehre Gottes und als geistige Heimat der Menschen zu errichten vermochte, lebte aus tiefen Überzeugungen und muß auch selbst ein starker, selbstbewußter und zugleich frommer Mensch gewesen sein. Dieses Gotteshaus ist ein würdiges Symbol des katholischen Glaubens, wie er im Münsterland seit mehr als tausend Jahren von dieser Mitte aus verkündet worden ist. Viele eurer Bischöfe und Priester haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden, nachdem sie für ihre jeweilige Zeit die Frohe Botschaft von Jesus Christus, unserem Herrn und Erlöser, in Wort und Tat den Menschen verkündet und vorgelebt hatten. Einer der bekanntesten unter ihnen, dessen Grab ich sogleich in Verehrung besuchen werde, ist euer unvergessener Bischof und Kardinal Clemens-August von Galen.

Als wir soeben die Lesung aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an seinen Schüler Timotheus hörten, war es mir, als spreche Bischof Clemens-August noch einmal zu uns: Ich beschwöre euch bei Gott und bei Christus Jesus: Verkündet das Wort; tretet dafür ein, ob man es hören will oder nicht! Kämpft den guten Kampf! Haltet die Treue! (2Tm 4,1-7)

Kardinal von Galen hat selbst unerschrocken das Wort Gottes verkündet. Zugleich aber hat er auch gelebt, was er verkündete. Sein Leben war ein Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi. Die ihm von Gott geschenkte Zeit seines Lebens hat er eingesetzt im Dienst für seinen Herrn und Meister und für die ihm anvertrauten Gläubigen. Als 70. Nachfolger des Gründerbischofs, des heiligen Ludgerus, hat er hier in Münster den Hirtenstab ergriffen und seine Diözese mutig geführt, als es dunkel wurde in Deutschland, als Menschen in gottlosem Hochmut sich selber zur letzten Instanz für das Menschenleben machten, worauf Blut, Tod und Untergang folgten.

2. Bischof Clemens-August war ein Mann des Glaubens. Er stand unerschütterlich fest im Glauben der heiligen Kirche. Wie die Eichen eurer Heimat feststehen im Sturm und tief verwurzelt sind in der Erde, so stand euer Oberhirte in den Stürmen der Zeit.

73 Der Glaube: Das ist nicht die jeweils neueste Nachricht, die heute Schlagzeilen macht und morgen schon vergessen ist. Der Glaube ist nicht eine Lehre, die man sich selber zurechtlegt nach eigenem Gutdünken und nach den jeweiligen Bedürfnissen. Er ist nicht unsere Erfindung, unsere Leistung. Der Glaube ist ein großes Geschenk Gottes an die Kirche durch Jesus Christus. Paulus sagt im Römerbrief: ”So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi“ (Rm 10,17). Der Glaubende steht auf dem Boden Jesu Christi, der in seiner Kirche weiterlebt durch die Jahrhunderte bis zum Ende der Welt.

”Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe“, bekräftigt derselbe Apostel (1Co 11,23) - ”Was sie von den Vätern empfangen haben, das haben sie den Söhnen überliefert“, sagt später Augustinus. ”So habe ich es im Elternhaus gelernt, so will ich es halten bis zum letzten Atemzug“, schreibt schließlich Bischof von Galen in seinem ersten Hirtenbrief an die Diözese und fährt fort: ”Und das bekenne ich heute vor euch, daß . . . der Gehorsam gegen den Papst, die vertrauensvolle Hingabe an die Leitung der heiligen Kirche und an die Weisungen des Heiligen Stuhls mir Leitstern und Richtschnur sein sollen für mein persönliches Leben und für mein Wirken für euch“. Der Glaube lebt aus der Tradition der Kirche. Dort allein können wir die Wahrheit Jesu Christi mit Gewißheit finden. Nur ein lebendiger Zweig am Baum der kirchlichen Gemeinschaft bleibt in Verbindung mit ihren kraftspendenden Wurzeln.

3. Haltet fest am Glauben der Kirche, so rufe ich euch heute zu. Eure Mütter und Väter haben es getan. Haltet auch ihr fest am Glauben und vermittelt ihn weiter an eure Kinder. Das ist der Grund meiner Pastoralreise zu euch: ”Ich erinnere euch, Brüder und Schwestern, an das Evangelium. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht“ (1Co 15,1).

Ohne einen starken Glauben seid ihr ohne Halt, umhergetrieben von den wechselnden Lehren der Zeit. Ja, auch heute gibt es Bereiche, wo man die gesunde Lehre nicht mehr erträgt, wo man sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln, wie Paulus es vorhergesagt hat. Laßt euch nicht täuschen. Fallt nicht herein auf die Propheten des Egoismus, der falsch verstandenen Selbstverwirklichung, der irdischen Heilslehren, die diese Welt ohne Gott gestalten wollen.

Es bedarf der Bereitschaft zur Hingabe, zum Sichverschenken, es bedarf auch der Bereitschaft zum Opfer und zum Verzicht, es bedarf eines großmütigen Herzens, um sagen zu können: Credo - Ich glaube. Wer aber diesen Mut hat, vor dem verschwinden die Dunkelheiten. Wer glaubt, hat den Leuchtturm gefunden, der ihm eine sichere Fahrt ermöglicht. Wer glaubt, kennt die Richtung, ist orientiert. Wer glaubt, hat den Sinn gefunden, und kein Unsinn falscher Lehrer kann ihn mehr in die Irre führen. Wer glaubt, hat einen Standpunkt und versteht, das Leben menschenwürdig und gottgefällig zu leben. Wer glaubt, kann sein Leben auch bewußt beschließen und ja sagen, wenn Gott ihn in der letzten Stunde ruft.

4. Aber diesen Schatz, unseren Glauben, tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen (2Co 4,7); unser Glaube ist oft nur schwach und klein. Der erste in der Reihe der Päpste, der heilige Petrus, hat das bereits schmerzlich erfahren müssen (Mc 9,24). Hochherzig und voll Begeisterung stieg er aus dem Schiff auf die Wasser des Sees. Denn der Herr hatte ihn gerufen: Komm! Und der Glaube trug den Petrus über die Wellen und Tiefen. Das ist ein Bild für unseren Glauben. Auch vor uns steht der Herr. Er blickt uns an und spricht zu jedem einzelnen dieses ”Komm“. Gegenüber dieser ermutigenden Einladung bleibt der Glaubende nicht sitzen oder liegen: Er steht auf, macht sich auf den Weg, über alle Hindernisse hinweg, hin zum Herrn.

Aber dann kommen Angst und Zweifel, damals für Petrus- und auch heute oft für uns. Da beginnt Petrus zu sinken und unterzugehen. Wenn der Glaube schwach wird, trägt er nicht mehr. Und was hat in dieser Situation Petrus, der erste Papst, damals getan? Mit aller Kraft und aus ganzem Herzen hat er zum Herrn gerufen: ”Herr, rette mich!“. Und der Herr streckt seine Hand aus: ”Du Kleingläubiger, was hast du gezweifelt?“ - Eine echte Glaubenskrise! Doch der Herr verläßt den nicht, der von ihm Hilfe erbittet.

Herr, ich glaube - Credo. Aber nicht selten ist es ehrlich, hinzuzufügen: ”Hilf meinem Unglauben!“. Diesen Rat möchte ich euch geben: Wenn Unglaube und Zweifel sich regen, hört nicht auf zu beten: Herr, ich glaube; und fügt ruhig hinzu: Hilf meinem Unglauben! Der Herr wird euch nicht im Stich lassen, euch nicht allein lassen in den Stürmen eures persönlichen Lebens und des Weltgeschehens.

5. Brüder und Schwestern! Wenn ich heute zu euch von Kardinal von Galen spreche, denke ich zugleich auch an die Gläubigen, für die er als Bischof bestellt war. Ich gedenke der unzähligen Frauen und Männer, der Jungen und Alten, die in Oldenburg, im Münsterland, am Niederrhein aufstanden in großer Einmütigkeit, die zusammen mit ihrem Bischof ein Bekenntnis ablegten für den Glauben - und für das Kreuz. Ebenso denke ich an die zahlreichen engagierten evangelischen Christen in der Bekennenden Kirche. Weil sich das gläubige Volk in Begeisterung und Liebe eng um seinen Bischof scharte, konnten es sich die Herrscher der damaligen Zeit nicht leisten, die Stimme des mutigen Oberhirten aus Münster zu überhören oder gar gewaltsam zum Schweigen zu bringen. Die Treue der Gläubigen war der Rückhalt des Bischofs. Wo der Bischof war, dort standen auch die Katholiken: mit ihm, hinter ihm und vor ihm, immer vereint im gemeinsamen Glauben. Ohne solche Treue seiner Gläubigen ist der Bischof schwach; er ist stark, wenn Herde und Hirt entschlossen zusammenstehen.

Auch heute liegt hier eure Verantwortung; werdet euch dessen wieder stärker bewußt! Sich heute zur Kirche Jesu Christi zu bekennen, ist nicht die bequemste Weise zu leben, das ist wohl wahr. Es mag billiger sein, sich anzupassen, unterzutauchen. Den Glauben zu bekennen und zu leben, heißt heute, gegen den Strom zu schwimmen. Das erfordert Kraft und Mut.

Die Kirche braucht heute mehr denn je auch das öffentliche Bekenntnis der Gläubigen. Nicht der Bischof allein, nicht nur die Priester und Diakone, nicht allein die hauptamtlichen Laien im Dienst der Kirche werden es schaffen. Nur mit euch allen zusammen, den Jungen und Alten, den Frauen und Männern kann die Botschaft Christi in seiner Kirche und in der Welt lebendig und anziehend bleiben! Helft dazu mit durch euer Bekenntnis, durch euren Einsatz, damit der Glaube in eurer Heimat weiterlebt, damit auch das dritte Jahrtausend eine christliche Epoche wird: für das Bistum Münster, für Deutschland, für Europa. Bildet darum eine Einheit mit eurem Bischof, mit dem Papst, mit der Kirche Christi in aller Welt!

74 6. Als der irdische Lebensweg eures Bischofs Clemens-August kurz nach seiner Kardinalserhebung zu seinem gottgewollten Ende kam, hat er diese letzten Worte gesprochen: ”Wie Gott es will. Gott lohne es euch. Er schütze das liebe Vaterland. Für ihn (Christus) weiterarbeiten“. Es ist, als wenn der sterbende Kardinal in diesem wenigen Worten die Grundhaltung seines Lebens noch einmal zusammenfassen wollte: eine tiefe Geborgenheit in der barmherzigen Vorsehung Gottes, eine selbstlose Dankbarkeit gegenüber allen, die ihm zur Seite standen, eine väterliche Sorge um das deutsche Volk und Vaterland, das er so liebte, sein mutiger Einsatz für das Reich Gottes, für seine Sendung als Christ und Bischof.

Für Christus weiterarbeiten: Das ist sein Testament, das ist sein Auftrag für alle, denen das Wohl dieses Landes und seiner Menschen, das irdische und ewige Glück der Jungen und Alten, der Gesunden und Kranken am Herzen liegt. Das ist seine Sendung für alle, die einen Weg suchen, um einen eigenen Beitrag zur geistigen und religiösen Lebendigkeit eures Volkes zu leisten. Für Christus weiterarbeiten, damit die Erde wohnlich und menschenwürdig bleibe, damit Gottes Reich immer mehr komme in Wahrheit und Gerechtigkeit.

7. Brüder und Schwestern! Heute beginnt der Maimonat. Er ist nach guter katholischer Tradition in besonderer Weise der Gottesmutter Maria gewidmet. Im Schmuck der Blumen und Kerzen sehen wir vor uns ihr Bild als Mutter der Glaubenden, als Beschützerin der Völker, als Königin des Friedens. ”Hilf, Maria, es ist Zeit - hilf, Mutter der Barmherzigkeit!“. So beten wir voll Vertrauen zu Maria, die Jesus am Kreuz uns allen zur Mutter gegeben hat. ”Hilf, Mutter der Barmherzigkeit“ -` Wie oft mögen eure Bischöfe, Priester und Mitchristen in stürmischen Zeiten der Vergangenheit so gerufen haben vor dem Bild der Schmerzhaften Mutter in Telgte, dem geistlichen Zufluchtsort vor den Toren dieser Stadt!

In kindlicher Liebe wollen auch wir uns der Mutter des Herrn anvertrauen. Wer sich an die Hand Maria begibt, wer sich von ihr führen läßt, der ist gut geleitet; der findet den Weg des Glaubens, den Maria so beispielhaft vorangegangen ist; der ist offen für die Botschaft Christi, ihres Sohnes und unseres Bruders; der ist niemals allein, auch nicht in Leiden und Tod. Zuversichtlich und entschlossen kann er seine irdischen Aufgaben erfüllen und voranschreiten auf dem Weg in die Zukunft: Für ihn und für alle Christen ist dies stets eine Zukunft in Gott Ihm sei Dank und Ehre. Amen.

APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

LOBPREIS


«Hülsparkstadion» in Kevelaer - Samstag, 2. Mai 1987




Sancta Maria, consolatrix afflictorum, ora pro nobis.

Heilige Maria, Trösterin der Betrübten, Mutter Gottes von Kevelaer, bitte für uns. Bitte für uns alle, die wir hier zum Morgengebet der Kirche, den Laudes, zum Gotteslob und zu deinem Lobpreis versammelt sind. Bitte für alle, die sich mit uns heute morgen durch Fernsehen und Rundfunk zu einer großen Gebetsgemeinschaft verbinden.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. In großer Freude bin ich heute zu euch nach Kevelaer gekommen. Mein erster Weg in diesem Wallfahrtsort führte mich zum Gnadenbild der Trösterin der Betrübten. Vor diesem Bild habe ich gebetet und euch alle und auch mich dem besonderen Schutz der Gottesmutter anempfohlen.

Ich komme als Pilger und Beter in der Reihe der ungezählten Menschen, die seit dem Jahre 1642 zur Gottesmutter in Kevelaer wallfahren. Heute eröffne ich selbst die diesjährige Wallfahrtszeit. Nun werden sie wieder nach Kevelaer ziehen: die großen Prozessionen, die kleinen Gruppen und Familien, die vielen Einzelpilger, Menschen aus allen Ständen und Schichten. Sie alle folgen den Spuren der Pilger durch die Jahrhunderte. Eine Prozession des Glaubens, die nicht abreißt. Unübersehbare Scharen von Menschen, die den Lobpreis Marias singen. Das Lied des Glaubens klingt über die Zeiten, über die Länder und die ganze Welt. Es klingt in dieser irdischen Zeit und findet seinen Widerhall in Gottes Ewigkeit.

Die wirklichen Zentren der Welt- und Heilsgeschichte sind nicht die betriebsamen Hauptstädte von Politik und Wirtschaft, von Geld und irdischer Macht. Die wahren Mittelpunkte der Geschichte sind die stillen Gebetsorte der Menschen. Hier vollziehen sich in besonders dichter Weise die Begegnung der irdischen Welt mit der überirdischen Welt, der pilgernden Kirche auf Erden mit der ewigen und siegreichen Kirche des Himmels. Hier geschieht Größeres und für Leben und Sterben Entscheidenderes als in den großen Hauptstädten, wo man meint, am Puls der Zeit zu sitzen und am Rad der Weltgeschichte zu drehen.

75 2. Bei dem Gnadenbild der Gottesmutter in Kevelaer versammelt, schauen wir heute auf Maria, die den König des Himmels und der Erde auf ihrem Arm trägt. Diese Begegnung mit Maria und Ihrem Sohn ist für uns ein neuer Anruf, eine Aufforderung zu Besinnung und geistlichem Aufbruch. Hier ist der Ort, wo uns die Botschaft des Evangeliums neu zugerufen wird: ”Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mc 1,15)

Kehrt um! Hört die Botschaft! Welches ist wohl das Wort, das die Menschen heute am meisten auf ihren Lippen führen? Welches Wort bestimmt am stärksten das Denken und Tun der Menschen? Es ist das kleine Wörtchen: ICH! Was habe ich davon? Was nützt mir das? Was geht das mich an? So fragen wir. Die Ich-Bezogenheit des Menschen beherrscht das private und öffentliche Leben. Ist nicht ”Selbstverwirklichung“ ein besonders oft wiederkehrendes und sehr beliebtes Wort unserer Tage? Ich möchte vor allem zu mir kommen, mich selbst entfalten.

Im Evangelium Christi steht jedoch der Satz: ”Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“ (Mc 8,34). Wie kann der ich-verhaftete Mensch diese Botschaft Christi überhaupt verstehen und sie befolgen? Er ist unfähig, sich selbst loszulassen und zu verzichten. Er hat keine Zeit für den Nächsten und für Gott, kein Brot für den Hungernden, keinen Platz für den Heimatlosen und Asylsuchenden. Er hat keine Liebe. ”Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Öffnen wir uns wieder neu dieser Botschaft!

3. Hier am Gnadenort der Mutter des Herrn hören wir das Wort, das Maria bei der Verkündigung des Engels gesprochen hat: ”Fiat. Mir geschehe, wie du es gesagt hast“. Marias Geschichte beginnt damit, daß sie DU sagt. Schon damals in Nazaret hat sie jene Satz gesprochen, den uns dann der Herr selber zu beten gelehrt hat: ”Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Maria hat sich bei der Botschaft des Engels nicht in sich verschlossen und verweigert. Sie hatte den Mut zur Hingabe; die Demut, Magd des Herrn zu werden. Und nur deshalb, weil Maria sich dem göttlichen DU geöffnet und seinen Ruf angenommen hat, wird ihr Schoß fruchtbar und darf sie Christus, den Sohn Gottes und Erlöser der Menschheit, gebären. Weil sie Ja zu Gott gesagt hat, wird sie die Mutter eines unendlich großen Volkes, Mutter der Kirche und auch unsere Mutter.

In unserer heutigen Begegnung bei ihrem Gnadenbild lädt uns Maria ein, sie nicht nur in unseren Gebeten anzurufen, sondern vor allem auch ihrem Wort und Beispiel zu folgen. Haben auch wir Mut, wie Maria DU zu sagen, unser Leben auf die Mitmenschen und auf Gott hin zu öffnen! Seid Menschen, die bereit sind, für andere da zu sein und in der Liebe zum Nächsten ihre Liebe zu Gott konkret zu leben (1Jn 4,20). Unsere Öffnung zum göttlichen DU verlangt notwendig unsere liebende Hinwendung zu unseren Brüdern und Schwestern. Erst der hingebende Dienst am Nächsten macht uns fähig zum würdigen und wohlgefälligen Gottesdienst.

4. Als Magd des Herrn war Maria bereit zur selbstlosen Hingabe, zu Verzicht und Opfer, zur Christusnachfolge bis unter das Kreuz. Sie verlangt von uns die gleiche Haltung und Bereitschaft, wenn sie uns auf Christus verweist und auffordert: ”Was er euch sagt, das tut!“ (Jn 2,5). Maria will uns nicht an sich binden, sondern ruft uns in die Nachfolge ihres Sohnes. Um aber wahrhaft seine Jünger zu werden, müssen wir - wie Christus selbst uns lehrt - von uns wegschauen, uns aus unserer eigenen Selbstgefälligkeit befreien und wie Maria ganz auf Christus einlassen; müssen wir seiner Wahrheit folgen, die er selbst uns als einzigen Weg zum wahren, zum unvergänglichen Leben anbietet.

”Was er euch sagt, das tut!“. Eine solche konkrete Nachfolge Christi verlangt von uns die gläubige Annahme seines Wortes, die Bereitschaft zu Gehorsam und Hingabe, die bewußte Bindung unserer Freiheit an seine Wahrheit, an seine Gebote. Wir müssen nach dem Vorbild und in der Haltung Marias unser ganz persönliches Fiat sprechen: ”Mir geschehe, wie du es gesagt hast“. Oder wie Christus selbst beten: ”Nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39). Nur ein solches bereites Eingehen auf Christus und seine Botschaft kann uns zu unserer wahren Selbstverwirklichung führen. Wahre Selbstverwirklichung geschieht nur, wenn wir die in uns grundgelegte Gottesebenbildlichkeit voll zur Entfaltung bringen. Nehmt als sicheren Wegweiser zu diesem Ziel das Wort der Heiligen Schrift und die verbindliche Lehre der Kirche. Hier in Kevelaer empfehle ich euch auch noch besonderes das wertvolle Buch der ”Nachfolge Christi“ des Augustiner-Chorherrn Thomas von Kempen, das hier in eurer näheren Heimat vor mehreren Jahrhunderten verfaßt wurde. Es ist ein geistlicher Wegweiser von bleibendem Wert.

Erbitten wir also für den Weg unserer Christusnachfolge in einer besonderen Weise die Fürsprache und Hilfe der Gottesmutter. Sie zeigt und führt uns mit sicherer Hand den Weg zu Christus und mit ihm zum Vater. Ich empfehle euch heute neu ihrer mütterlichen Sorge. Zugleich ermutige ich euch zu einer innigen Verehrung der Gottesmutter; jetzt im Monat Mai, der ja ihr geweiht ist, und dann im bald beginnenden Marianischen Jahr.

Liebe Brüder und Schwestern!

5. Als wir unser heutiges Morgenlob der Kirche begonnen haben, habe ich euch zugerufen: Pax vobis! Der Friede sei mit euch! Damit habe ich ein Wort gesagt, das eine Grundsehnsucht aller Menschen ausdrückt: Friede; Friede im eigenen Herzen und Friede in der Welt. In der Lauretanischen Litanei bekennen wir Maria auch als ”Königin des Friedens“ und bitten sie um ihren Beistand.

Um der Welt den Frieden zu schenken, nach dem sich die Menschheit sehnt, braucht es mehr als die Konferenzen der Politiker, braucht es mehr als Verträge, als von Menschen versuchte Politik der Entspannung - so wichtig und notwendig auch diese sind. Die vom Unfrieden heimgesuchte Welt braucht vor allem den Frieden Christi. Und dieser ist mehr als bloßer politischer Friede. Der Friede Christi kann nur dort einziehen, wo Menschen bereit sind, sich von der Sünde zu lösen. Die tiefste Ursache aller Zwietracht in der Welt ist die Abkehr des Menschen von Gott. Wer mit Gott nicht in Frieden lebt, der kann nur schwerlich mit seinen Mitmenschen in Frieden leben.

76 Wie das Gebetstreffen in Assisi im vergangenen Jahr deutlich unterstrichen hat, kommt bei den vielfältigen Friedensbemühungen vor allem dem Gebet eine große Bedeutung zu. Unsere Hoffnung für die Zukunft der Menschheit gründet dort, wo Menschen im Gebet um den Frieden ringen. Hier verbindet sich unsere menschliche Ohnmacht mit der Allmacht Gottes. Hier kommt unserer menschlichen Erbärmlichkeit das Erbarmen Gottes zu Hilfe. Hier betet mit uns die Mutter des Herrn und bringt unser Gebet um Frieden vor ihren Sohn, der gekommen ist, wie die Schrift sagt, den Frieden zu verkünden den Fernen und den Nahen (Ep 2,17).

6. Als Maria den Erlöser der Welt in Betlehem gebar, da öffnete sich der Himmel. Die Botschaft der Engel verkündete einer im Dunkel liegenden Welt: ”Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und aus Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lc 2,14). Die Botschaft des Friedens ist eng mit der Sendung Marias und der Heilsbotschaft ihres göttlichen Kindes verbunden. Die großen Botschaften der Gottesmutter an die Welt - wie zum Beispiel an die Kinder von Fatima - sprechen immer wieder vom Frieden und von der Notwendigkeit der Bekehrung der Menschen und Völker in Jesus Christus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Marienwallfahrtsorte Zentren, in denen sich die Angehörigen der durch den Krieg verfeindeten Völker zuerst wieder getroffen haben: zum gemeinsamen Gebet und zur gegenseitigen Versöhnung. In Lourdes wurde damals von Bischof Théas die Pax-Christi-Bewegung gegründet. In Deutschland ist sie hier in Kevelaer ins Leben gerufen worden. Die Pax-Christi-Kapelle am Wallfahrtsplatz erinnert in eindrucksvoller Symbolik daran.

7. Darum rufe ich euch heute an diesem Gnadenort der Mutter des Herrn zu einem verstärkten Einsatz für den Frieden auf. Der Friede ist vor allem eine moralische Verpflichtung und gründet in den Friedensbereitschaft aller Beteiligten. Als Jünger Christi sind wir in einer besonderen Weise aufgerufen, Friedensstifter zu sein: Überwindung der Ungerechtigkeiten, Verzicht auf Gewaltanwendung, Bereitschaft zur Verständigung und auch zum gegenseitigen Verzeihen. Jeder kann dadurch zum Frieden unter den Menschen einen entscheidenden und ganz persönlichen Beitrag leisten. Tretet ein für die internationale Völkerverständigung, für eine schrittweise Beseitigung aller Massenvernichtungswaffen und gemeinsame Anstrengungen aller Völker für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.

Prüft im konkreten Alltag, was euch als ”Fortschritt“ angeboten wird. Besondere Wachsamkeit ist geboten, wenn wir unsere Erde und das menschliche Leben auf ihr für die Zukunft wirksam verteidigen wollen. Es geht ja zum Beispiel beim Umweltproblem und beim Strahlenschutz längst nicht mehr nur um das Leben der heutigen Menschen, sondern auch um das der kommenden Generationen. Wir müssen aus den Grenzen und Gefahren des Wachstums die Konsequenzen ziehen. Wir dürfen nicht alles machen, was wir tatsächlich machen könnten. Askese, Selbstbeschränkung, Verzicht - diese alten Forderungen der Kirche werden plötzlich wieder sehr aktuell und modern; ja, weithin sogar lebensnotwendig, um das überleben der Menschheit auch morgen zu gewährleisten.

8. Wir tragen heute die Bitte um Frieden unter den Völkern und um eine gesicherte und menschenwürdige Zukunft vor Gott, der ein ”Gott des Friedens“ (Rm 15,33) ist. Dabei vertrauen wir auf die Fürsprache Marias. Sie wird uns helfen, vom Mißtrauen zum Verstehen zu finden, den Haß durch die Liebe zu überwinden. Sie wird uns helfen, Gleichgültigkeit in Solidarität zu verwandeln und Geist und Herz füreinander in weltweiter Brüderlichkeit zu öffnen.

Maria ist die Mutter aller Menschen, weil sie die Mutter des Sohnes Gottes ist. Gott ist ja Mensch und damit der Bruder aller Menschen geworden. Über alle Grenzen von Rassen, Nationen und Staaten hinweg reicht der schützende Mantel der Mutter des Herrn. Hier in Kevelaer wird das deutlich. Mit mir, dem Bischof von Rom, sind hier Gläubige aus den verschiedenen deutschen Ländern. Mit uns sind Gläubige aus den Niederlanden, aus Belgien und aus Luxemburg, aus Frankreich, aus Polen und aus zahlreichen anderen Nationen. Was vielen als Traum und Utopie erscheint, hier ist es wahr und wirklich: Grenzen fallen nieder. Menschen kommen zusammen. Fremdheit schwindet. Trennendes weicht. Weil der gemeinsame Glaube die Menschen eint. Weil gemeinsame Hoffnung uns trägt. Weil gemeinsame Liebe uns beseelt. Hier gibt es schon das einige Europa aus den vielen Völkern - das die Politiker mit so unzähligen Schwierigkeiten zu schaffen versuchen. Hier ist das Europa des Glaubens, das es bereits in vergangenen Jahrhunderten gegeben hat. Hier erhebt sich die Hoffnung, daß es ein solches auch künftig wieder geben kann. Liebe Brüder und Schwestern!

9. In der Apostelgeschichte wird berichtet, wie im Abendmahlssaal alle einmütig im Gebet verharrten ”zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern“ (Ac 1,14). In dieser Einmütigkeit sind wir heute zusammen mit Maria bei ihrem Gnadenbild in Kevelaer versammelt, um uns durch ihre Wort und Beispiel, durch ihr gesprochenes und gelebtes Fiat, den Weg zu Christus, unserem wahren Leben, zeigen zu lassen. Wir sind hier, um von ihr, der Königin des Friedens, den Frieden für die Welt zu erbitten. Laßt uns auch in Zukunft, in den Mühen und Pflichten unseres Alltags, in dieser einmütigen Gebetsgemeinschaft mit Maria verharren!

Möge der Internationale Marianische und Mariologische Kongreß, der im Herbst dieses Jahres unter dem Leitgedanken ”Maria, Mutter der Glaubenden“ hier in Kevelaer stattfinden wird, auch euch wertvolle Anregungen für eine weitere Vertiefung eurer Verehrung und Liebe zur Gottesmutter schenken. Ebenso soll das kommende Marianische Jahr uns helfen, uns zusammen mit der ganzen Kirche würdig auf die bevorstehende 2000-Jahrfeier der Geburt unseres Erlösers vorzubereiten, damit unter der Führung und dem Schutz Marias das Reich Gottes in der Welt immer mehr Wirklichkeit werde.

Maria mit dem Kinde lieb, uns allen deinen Segen gib! Amen.

Predigten 1978-2005 70