Predigten 1978-2005 82


APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Dom zu Augsburg - Sonntag, 3. Mai 1987




Verehrte Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt, liebe Brüder und Schwestern!

83 Vor allem auch Ihr lieben Gläubigen, die Ihr der heiligen Messe im Freien beiwohnen wolltet!

Ich begrüße Euch besonders herzlich, da Ihr Euch nun durch das Fernsehen mit unserer Eucharistiefeier im Gebet verbindet. Möge der unerwartete Regen ein Zeichen sein für den reichen Segen, den Gott unserer heutigen Gebetsgemeinschaft und der ganzen Diözese Augsburg schenken möge.

1. Für den Bischof von Rom, den Nachfolger des heiligen Petrus, ist es eine große Freude, euch bei dieser abendlichen Stunde zusammen mit eurem verehrten Oberhirten, Bischof Josef Stimpfle, und seinen Mitarbeitern im Dienstamt Christi zur Feier der österlichen Geheimnisse hier versammelt zu sehen und gemeinsam mit euch allen diesen festlichen Gottesdienst zu erleben und in Lob und Dank dem Herrn darzubringen. Es ist heute genau der Tag, an dem vor 205 Jahren Papst Pius VI., diese Stadt besucht und in ihr die heilige Eucharistie gefeiert hat.

Wie ihr wißt, war es schon seit langem mein Wunsch, auch einmal nach Augsburg zu kommen. Diese Stadt ist nicht nur durch ihren Namen und ihre Entstehung unter Kaiser Augustus vor 2000 Jahren in einer besonderen Weise mit Rom verbunden, sondern mehr noch durch ihre christliche Geschichte: Die Märtyrerin Afra hat nicht weit von hier im Jahre 304 für Christus den Feuertod erlitten; der heilige Bischof Ulrich hat mehrmals die damals beschwerliche Reise nach Rom unternommen, um die Einheit dieses Bistums mit dem Herzen der Kirche zu bestärken. Eure heiligen Bistumspatrone Ulrich, Simpert und Afra zeugen zusammen mit anderen Heiligen von der Leuchtkraft des christlichen Glaubens in eurer Heimat, einer Geschichte von Tod und Auferstehung, einer Geschichte des siegreichen Kreuzes. Sie ermutigen euch durch ihr heroisches Beispiel, mit derselben Glaubenskraft nach vorne zu schauen, die Zeichen unserer Zeit zu erkennen und der Welt von heute Zeugnis zu geben vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn, den wir jetzt in unserer Mitte wissen.

2. Liebe Brüder und Schwestern! Auch wir bitten den Herrn in dieser Stunde: ”Bleib bei uns; es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt“ (
Lc 24,29). Diese Einladung der Jünger von Emmaus soll über unserer heutigen festlichen Liturgie stehen; das Evangelium von diesem 3. Ostersonntag führt uns ja auf den Weg nach Emmaus. Es ist dies ein wichtiger Ort im Zusammenhang der österlichen Ereignisse: ein Ort der Begegnung mit Christus, ein Ort der Erscheinung des auferstandenen Herrn.

Im Glaubensverständnis des alttestamentlichen Gottesvolkes erinnert das Osterfest an den ”Vorübergang“ des Herrn, an den Auszug der Israeliten aus dem ”Haus der Knechtschaft“ in Ägypten auf den Weg zum verheißenen Land. Gott selbst ist es, der sein Volk führt, befreit und errettet. Am Beginn jenes Auszuges hatte das Zeichen des Lammes gestanden. Sein Blut hatte die Häuser der Israeliten gekennzeichnet und die Bewohner vor der Strafe des Todes verschont; sein Fleisch stärkte sie beim letzten Familienmahl vor dem Aufbruch.

Von diesem Glauben ihres Volkes beseelt, hatten die beiden Emmausjünger am Paschafest der Juden in Jerusalem teilgenommen und auch die Kreuzigung Jesu Christi erlebt. Als ihnen auf ihrem Heimweg der auferstandene Herr erschien, ohne daß sie ihn sogleich erkannten, erklärte er ihnen, wie das Osterfest des Neuen Bundes in den Ereignissen und Schriften des Alten Testaments vorausverkündet worden ist: im Auszug aus der Knechtschaft in die Freiheit. Dieser vollzieht sich nun im Übergang vom Tod zum Leben, von der Sünde zur Freundschaft mit Gott. Und wiederum geschieht es mit Hilfe eines Lammes: durch das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt, durch Jesus Christus, unseren Erlöser. Von ihm und seinem Schicksal sprechen schon Mose und die Propheten, ja die ”ganze Schrift“. Deshalb konnte der auferstandene Herr zu Recht fragen: ”Mußte nicht der Messias all das erleiden, um so in sein Herrlichkeit zu gelangen?“ (Lc 24,25 f.).

3. In der Tat, viele Aussagen des Alten Testamentes deuten im voraus auf das Geschehen im Abendmahlssaal und auf Golgota hin. Diese Ankündigungen wären jedoch nicht erfüllt worden, wenn sich die österlichen Ereignisse nicht in der von Gott vorherbestimmten Zeit und Weise in Jerusalem zugetragen hätten. Und dennoch haben die Jünger Jesu das so dramatische und bewegende Geschehen mit ihrem Meister während des Paschafestes der Juden nicht sogleich in seiner wahren Bedeutung und tieferen Wahrheit erkannt. Es fiel ihnen schwer, ”alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben“. So schwierig war für sie diese Wahrheit, die ein anderes Verständnis der Heiligen Schriften gewohnt waren. Warum sollte der Messias leiden müssen, verurteilt werden und am Kreuz sterben, verachtet und verspottet wie ein Ausgestoßener? So sind sie zunächst wie von Blindheit geschlagen, mutlos und traurig, wie gelähmt. Dem Menschen war es und bleibt es unbegreiflich, warum der Weg zum Heil über das Leiden führt.

Darum ist diese Begegnung auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus so bedeutsam; nicht nur im Zusammenhang der österlichen Ereignisse von damals, sondern für immer, für alle Zeiten- auch für uns. Auf diesem Weg haben die Jünger von Jesus gelernt, die Heiligen Schriften neu zu lesen und in ihnen ein prophetisches Zeugnis über ihn, eine Vorankündigung auf ihn, auf seine Botschaft und Heilssendung zu entdecken. Dadurch werden die Jünger vom Herrn selber vorbereitet, seine Zeugen zu werden. So gibt Petrus in den Lesungen der heutigen Liturgie aus diesem neuen, tieferen Verständnis des Ostergeschehens vor den Menschen Zeugnis für die Auferstehung des Herrn. In diesem Lichte Christi, des Auferstandenen, versteht und verkündigt er auch das Psalmenwort aus dem Munde Davids: ”Du gibst mich nicht der Totenwelt preis, noch läßt du deinen Heiligen die Verwesung schauen“ (Ac 2,27).

Als Jesus den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus den wahren Sinn der Heiligen Schrift erschließt, wissen die Apostel in Jerusalem schon, daß dieses Psalmwort sich bereits konkret erfüllt hat: ”Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen“ (Lc 24,26).

4. Die Begegnung auf dem Weg nach Emmaus ist ferner auch deshalb von großer Bedeutung, weil Jesus nach seinem Tod am Kreuz seinen Jüngern dadurch bekräftigt hat, daß er bei ihnen bleibt. Er ist trotz oder gerade wegen des Karfreitags bei ihnen und wird für immer bei seiner Kirche bleiben gemäß seiner Verheißung: ”Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch“ (Jn 14,18).

84 Christus ist nicht nur derjenige, der war, sondern er ist mehr noch derjenige, der ist. Er war gegenwärtig auf dem Weg nach Emmaus, er ist auch gegenwärtig auf allen Straßen der Welt, auf denen durch die Generationen und Jahrhunderte hin seine Jünger wandern.

5. Liebe Brüder und Schwestern! Aus der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn auf dem Weg nach Emmaus fiel für die beiden Junger neues Licht auf die Heiligen Schriften und auf das Geschehen von Kalvaria, es fiel Licht in das Dunkel ihres eigenes Lebens. Es fällt daraus Licht auch auf die Geschichte und Geschicke der Menschheit und der Kirche, so auch der Kirche von Augsburg. Christus weist nach, daß der Messias leiden ”mußte“, um seine Heilssendung zu vollbringen. Läßt sich nicht vielleicht in diesem selben Licht auch manches Dunkle und Leidvolle sehen und verstehen, das den Jüngern Christi und der Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte begegnet? Dadurch läßt sich oft in Prüfung und Leid Gottes gütige und sorgende Hand erkennen, der durch die Erfahrung des Kreuzes zu Heil und Auferstehung führt.

So wurde am Beginn des geschichtlichen Weges der Kirche von Augsburg die Herausforderung der heidnischen Umwelt für die Jungfrau Afra nicht zur Versuchung zum Glaubensabfall, sondern Anruf zum Blutzeugnis für Christus. ”Mußte“ nicht, so können wir fragen, das Blut von Märtyrern zum Samen für ein lebendiges und kraftvolles Christentum werden, von den ersten Jahrhunderten der Kirche bis in unsere Tage? Die Kirche von Uganda, die mit eurer Diözese in einem engen partnerschaftlichen Austausch steht, ist ein eindrucksvolles Beispiel aus nicht allzu ferner Vergangenheit dafür. ”Mußte“ es vielleicht sogar - so wagen wir hier in Augsburg zu fragen - nach Gottes unergründlichem Ratschluß zu Kirchenspaltung und Religionskriegen in Europa kommen, um die Kirche zu Besinnung und Erneuerung zu führen? Oder ”mußten“ etwa Männer und hauen wie der heilige Maximilian Kolbe, die selige Edith Stein, ein Max Josef Metzger oder Dietrich Bonhoeffer ihr Leben hingeben, damit durch ihr Opfer neues christliches Leben in diesem Land erwachse und Versöhnung zwischen verfeindeten benachbarten Völkern wieder möglich werden konnte? Gott, der Herr der Geschichte, der Christus durch Kreuz und Tod zur Auferstehung und Herrlichkeit geführt hat, hält auch die Geschicke der Kirche und der Menschheit in seiner Hand und führt sie nach seiner gütigen Vorsehung durch Gericht zu Läuterung und Heil. Wir dürfen hoffen, daß die Orte des Leidens und der Schuld zugleich auch Orte besonderer Gnade gewesen sind.

Gott hat auch heute mit der Kirche, auch mit der Kirche von Augsburg, seinen Plan. Er läutert und erneuert sie, damit das Antlitz Christi in ihr klarer erstrahle. Er sendet sie, damit sie der Welt den Auferstandenen verkünde und vermittle.

6. Christus selbst erschließt den Jüngern von Emmaus das tiefere Verständnis alles Geschehens als Heilsgeschehen durch das Wort der Heiligen Schrift: ”Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten . . .“ (
Lc 24,27). Zu allen Zeiten hat Gott durch das Wort seiner Offenbarung Menschen bewegt und die Kirche erneuert. Trauen wir auch heute Gottes Wort die Kraft zu, neues Leben in der Kirche zu wecken und Menschen neu für die Nachfolge Christi zu begeistern! Glauben wirkt dort überzeugend, wo er treu gelebt und mit anderen geteilt wird. Wagt also das Glaubensgespräch, teilt eure Glaubenserfahrung einander mit, sucht euch gläubige Vorbilder! Sie leben mitten unter euch! Erneuert so euer Leben aus der Quelle der Heiligen Schrift, wie sie in Treue zur Überlieferung geglaubt und ausgelegt wird; lest sie, wenn möglich, täglich; meditiert darüber; gebt dem Wort Gottes in eurem Leben eine überzeugende und gewinnende Gestalt. Durch sein Wort wird Christus selbst in euch lebendige Gegenwart. Das Wort des Evangeliums ist uns mit allen Christen gemeinsam über noch bestehende Grenzen hinweg. Gebt also zusammen mit euren getrennten Brüdern und Schwestern gemeinsam Zeugnis von der uns darin geschenkten christlichen Hoffnung, auf das gerade hier in Augsburg, wo man sich in der Reformationszeit um des Wortes willen voneinander abgewandt hat, dieses lebenschaffende Wort die christlichen Gemeinschaften und Kirchen wieder zusammenführt.

Die von unseren Brüdern und Schwestern evangelisch-lutherischen Bekenntnisses auf dem Reichstag in Augsburg eingereichte Schrift, um ihren Glauben an ”die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ zu bezeugen, hat damals leider nicht zu der ersehnten Versöhnung geführt. Doch hat uns gerade die Jubiläumsfeier dieses Dokumentes, das als Confessio Augustana in der Kirchengeschichte eingegangen ist, vor einigen Jahren in einer besonderen Weise daran erinnert, wie breit und fest noch die gemeinsamen Fundamente unseres christlichen Glaubens sind. Der Geist wahrer Ökumene ruft uns deshalb auf, vor allem das alle Christen schon jetzt zutiefst Verbindende des apostolischen Erbes und das gemeinsame Glaubensgut neu zu entdecken und zu fördern. Wenn auch noch keine volle eucharistische Gemeinschaft zwischen uns möglich ist, so gibt es doch schon vieles, was wir gemeinsam tun können. Warum noch getrennte Wege gehen dort, wo wir sie schon jetzt gemeinsam gehen können? In diesem Geist treffen sich morgen Vertreter und Gläubige der verschiedenen christlichen Kirchen zu einem ökumenischen Gebetsgottesdienst in der Kirche der Heiligen Afra und Ulrich. Im Gehorsam gegenüber dem Drängen des Heiligen Geistes und dem Willen Christi wollen wir den Weg zur Einheit unter allen Christen mit Geduld und Ausdauer weitergehen. Das Vermächtnis Jesu Christi verpflichtet uns!

7. Liebe Mitchristen! Der auferstandene Herr hat den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus die Augen geöffnet für das Handeln Gottes in der Geschichte zum Heil der Menschen und ihr Herz entflammt, als er ihnen die Schrift erschloß. Erkannt haben sie ihn jedoch erst am Zeichen des Brotbrechens. Unter diesem Zeichen hatte er am Abend vor seinem Leiden seine Liebe bis zum letzten, bis zur Hingabe am Kreuz, zum Ausdruck gebracht und das bleibende Gedächtnis an seinen Tod gestiftet. ”Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn“ (Lc 24,31). Wir erkennen Christus vor allem, wenn er mit uns wird in der Gemeinschaft des österlichen Mahles.

Von den Straßen dieser Welt und aus der Zerstreuung eures Alltags dürft ihr euch immer wieder zum Opfermahl mit dem auferstandenen Herrn treffen, als Volk Gottes zu einer lebendigen Glaubensgemeinschaft vereint. In dieser gemeinsamen Begegnung mit Christus in der Eucharistie voller Glaube, Hoffnung und Liebe kann schon jene österliche Wirklichkeit aufleuchten und für uns erfahrbar werden, die den neuen Himmel und die neue Erde ankündigt. Erwarten die Menschen nicht zu Recht von der Kirche und den Christen den Lebensraum, in dem die ”Zivilisation der Liebe“ sichtbar und erlebbar wird, die Christus als Keim in diese Welt eingestiftet hat? Vielen Menschen ist der tiefere Sinn ihres alltäglichen Tuns abhanden gekommen; unserer Gesellschaft fehlt weithin die Herzmitte. Zu allen Jahrhunderten war es gerade das besondere Merkmal der Christen, den Sonntag, den Herrentag, in Gebet und gemeinsamem Gottesdienst zu begehen; manche sind dafür in der Zeit der Verfolgung sogar in den Tod gegangen. Die Versammlung der Gemeinde am Sonntag mit ihrem Höhepunkt in der Eucharistiefeier ist die Mitte des Lebens einer Pfarrei. Bleibt darum der sonntäglichen Messe ganz besonders treu! Sie ist nach dem Konzil ”der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“ (Sacrosanctum Concilium SC 10).

8. Nach der Begegnung mit Christus im Gedenken der Heiligen Schrift und im Brotbrechen heißt es dann von den Emmausjüngern: ”Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück“ (Lc 24,33). Ihre persönliche Christuserfahrung drängt sie zum Aufbruch und zum Zeugnis. Hier beginnt der ”neue Weg“, der Weg der Kirche, die voll Hoffnung bis an die Grenzen der Erde Zeugnis gibt vom auferstandenen Herrn: ”Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach“ (ebd. 24, 35).

Wie sehr braucht der heutige Mensch die bewußte Begegnung mit Christus! Wie sehr braucht er als Suchender, Zweifelnder und Fragender die Entdeckung der vollen Wahrheit der österlichen Wirklichkeit des Herrn, der vollen Wahrheit seines Lebens und Sterbens und seiner Auferstehung. Die Welt braucht dafür unser christliches Zeugnis! Auch wenn Menschen oft leben, als gäbe es Gott nicht, so sehnen sie sich doch im Tiefsten auf ihrer Suche nach Glück und Geborgenheit ständig nach ihm. Euer Zeugnis in der Familie, im Berufsleben, in der Schule, in den Büros und Fabriken, in der Öffentlichkeit und im politischen Leben entscheidet darüber, ob die befreiende Botschaft Christi auch heute die Menschen an eurer Seite, in eurem Lebensraum erreicht. Alle Bereiche unseres Lebens und unserer Gesellschaft können in ihm wahrer und reicher werden. Durch das gläubige Zeugnis der Christen könnte es gelingen, nach manchen tragischen Brüchen zwischen Kirche und Welt, zwischen Glaube und Vernunft zu einer neuen Begegnung von Evangelium und Kultur zu kommen, gerade auch in diesem offensichtlich gealterten Europa. Hier hat jeder Christ schon aufgrund seiner Taufe ein weites Feld für sein Apostolat. Nehmt nach den Jahren einer notwendigen Besinnung auf die Fragen des Aufbaus eurer Pfarrgemeinden und Diözesen jetzt wieder mehr eure Weltverantwortung wahr und bleibt nicht eingeschlossen im Innenraum der Kirche: ”Noch in derselben Stunde brachen sie auf!“.

Um einen solchen neuen Aufbruch zu lebendigen Pfarrgemeinden in einer missionarischen Ortskirche geht es ja auch in der Diözesansynode, die euer Bischof für das Jahr 1990 angesagt hat. Die Weltbischofssynode im Jahre 1985 in Rom nennt die Durchführung einer solchen Synode innerhalb einer Diözese ausdrücklich einen Weg zur Anwendung des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Ortskirche. Ich ermutige euch alle, euch in einem solidarischen Prozeß auf dieses wichtige Ereignis vorzubereiten, und bete zu Gott, daß die Synode die Grundlagen zu einer neuen Evangelisierung in Stadt und Bistum Augsburg lege. Macht euch so gemeinsam auf den Weg in das dritte christliche Jahrtausend eurer Stadt. Nützt die besondere Gnade dieser Zeit! Laßt euer Leben verwandeln durch das Wort des Herrn und euer Herz brennen durch seine Gegenwart! Werdet eures Glaubens froh, damit ihr ein Zeugnis der Freude und Ermutigung geben könnt!

85 9. So hat, liebe Brüder und Schwestern, der Weg nach Emmaus im Zusammenhang des Ostergeschehens in Jerusalem auch für uns eine vielfältige Bedeutung. Wir kehren als Jünger Christi, als seine Kirche immer wieder auf ihn zurück. Er ist ja nicht nur der Weg der Enttäuschung und des Zweifels, sondern vor allem der Weg der Begegnung mit dem auferstandenen Herrn, der Weg der Besinnung und der Umkehr. Er ist der Weg, auf dem die Herzen der Menschen ”entbrennen“, wenn sie die Worte jener Wahrheit hören, die von Gott kommt: ”Brannte uns nicht das Herz, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erklärte?“ (Lc 24,32), Wie notwendig bedürfen wir und alle Menschen nicht immer wieder der Erfahrung einer solcher wärmenden und erhellenden Nähe Jesus Christi!

Öffnen wir dem auferstandenen Herrn weit unsere Herzen und unser Leben, der sich uns in dieser Eucharistiefeier erneut durch das Brotbrechen zu erkennen gibt. Möge er auch unsere Herzen durch das Feuer seiner Liebe entzünden und uns heute neu als seine Zeugen aussenden.



APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

ÖKUMENISCHE WORTFEIER


Katholische Kirche St. Ulrich und Afra, Augsburg

Sonntag, 4. Mai 1987



Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Unser Herr Jesus Christus sagt: ”Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). In dieser Stunde sind wir im Namen des Herrn versammelt: seine Gnade hat uns zusammengeführt, sein Geist verbindet uns. Wir suchen seine Hilfe und wollen sein Wort hören: wir sind bereit zu tun, was er uns aufträgt. So dürfen auch wir dessen sicher sein: Er selbst ist in unserer Mitte: er spricht zu uns, wie er es bei seinem Abschied getan hat, von dem die Apostelgeschichte berichtet.

Wie seine Jünger damals, so werden auch wir von der Frage bedrängt: Was wird aus uns? Was wird aus unserer Welt? Was muß geschehen, damit inmitten aller Gefahren das Reich Gottes anbricht, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens? ”Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ (Mt 18,6). Grundsätzlich sind die Jünger bereits davon überzeugt, daß Jesu Person und Wirken für das Anbrechen des Gottesreiches entscheidend sind. Aber ihre Frage zeigt doch auch, daß sie mit ihren Erwartungen noch weit hinter dem zurückbleiben, was der Herr mit ihnen und der Welt vorhat.

Gleich dreimal sprengt er die Grenzen, die ihr Leben und Denken einengen. Sie sprechen von Israel als dem Ort des Reiches. Er aber führt über die räumliche Beschränkung hinaus und sagt: Nicht nur hier, ”in Jerusalem und in ganz Judäa, sondern auch im euch fremden Samarien kommt des Reich; bis an die Grenzen der Erde“ (ebd. 18, 8) wird es sich erstrecken.

Die Jünger reden von ”dieser Zeit“ (ebd. 18, 6). Unverzüglich möchten sie ihre Wünsche erfüllt sehen. Er entgegnet: ”Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat“ (ebd. 18, 7). Sie wollen Daten und Termine, Greifbares und Begreifbares. Er verweist sie auf den Vater und seinen unerforschlichen Willen. Seine Liebe überschreitet unsere Maße. Sie beschränkt sich nicht auf einzelne Heilsmomente: sie eröffnet vielmehr eine Heilszeit, die nicht aufhört, solange die Erde besteht. Für immer sollen die Jünger eine unvergängliche Heilsgabe empfangen, seinen Heiligen Geist.

”Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird, und ihr werdet meine Zeugen sein“ (ebd. 18, 8). Fortan soll in jedem Augenblick Gottes Geist in den Jüngern und durch sie in der Welt sein und wirken. Damit werden alle Möglichkeiten und Grenzen des Menschen vollends überschritten. Gottes Reich soll durch Gottes Geist im Innersten der Seinen beginnen und sich von dort ausbreiten. Das soll nicht wie ein Naturereignis über sie hereinbrechen; ganz persönlich sollen sie in dieses Geschehen einbezogen werden; durch das bewußte Zeugnis jedes einzelnen und aller miteinander sollen die Gläubigen in das persönliche Tun des dreifaltigen Gottes hineingenommen werden.

Mit großer Dankbarkeit bekennen wir, daß sich diese Worte des Herrn am ersten Pfingstfest erfüllt haben und sich seither immer wieder neu erfüllen. In der Kraft des Heiligen Geistes ist die Kette der Zeugen Christi nicht abgerissen. Wir alle leben von ihr. Daß wir glauben können, verdanken wir nach dem Hebräerbrief einer ”Wolke von Zeugen“ (He 12,1). Stellvertretend für die unermeßlich große Zahl der Zeugen Christi rücken die beiden Patrone dieser Kirche in unseren Blick: die heiligen Afra und Ulrich, eine Frau, die in der diokletianischen Verfolgung in Augsburg für den Herrn in den Tod ging, und der Bischof, dessen Leben an die Rettung Mitteleuropas aus größter Gefahr erinnert und dessen Gestalt für immer mit dem siegreichen Kreuz verbunden ist. Vergessen wir es nicht: Wir leben vom geistgewirkten Zeugnis Ungezählter vor uns und neben uns.

86 Bedenken wir aber zugleich: Wir leben auch für das Zeugnis. Uns allen gilt die Verheißung Christi: ”Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen“. Sein Auftrag nimmt uns alle in Pflicht: ”Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Mt 18,8). Wer immer den Glauben empfängt, ist auch gehalten, ihn mitzuteilen. Das Licht des Herrn, das in unsere Finsternis hineinleuchtet, ist das Licht für die Welt. Wir schulden es allen unseren Mitmenschen. Unser Leben steht unter dem Wort des Völkerapostels: ”Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde“ (1Co 9,16). Jeder ist zu einem ganz persönlichen Zeugnis gerufen. Zugleich ist jeder verpflichtet, das gemeinsame Zeugnis anzustreben.

Jesus Christus verheißt den Heiligen Geist ja der Gemeinschaft der Jünger: ”Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen“. Ebenso überträgt er die Zeugnisaufgabe allen zusammen: ”Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Mt 18,8). Wenn vor Gericht ein wichtiger Tatbestand zu ermitteln ist, braucht man mehrere Zeugen. Erst wenn ihre Aussagen übereinstimmen, kommt Licht ins Dunkel. Bei den wichtigsten Fakten im Prozeß der Welt kommt es entscheidend auf das einhellige gemeinsame Zeugnis an. Deshalb fleht der Herr im Blick auf den Glauben und auf das Heil aller: ”Alle sollen eins sein, . . . damit die Welt glaubt“ (Jn 17,21).

Wenn wir der Weisung des Herrn gehorchen und Zeugnis von ihm geben wollen, müssen wir alles daran setzen, um immer mehr eins zu werden. Dabei dürfen wir auf den Heiligen Geist vertrauen. Der Geist der Wahrheit kann in alle Wahrheit einführen; der Geist der Liebe kann alle Trennung überwinden. Seit dem ersten Pfingstfest ist er am Werk. Danken wir für alle Einheitsgnaden, die er uns bereits geschenkt hat. Bitten wir um Verzeihung dafür, daß wir uns nur unzulänglich von diesen Gnaden haben ergreifen, beseelen und bewegen lassen. Danken wir für alle Schritte, die uns in den letzten Jahren der größeren Einheit nähergebracht haben. Insbesondere sollten wir denen danken, die sich in intensivem ökumenischem Gespräch darum bemüht haben, die Trennungen, die zu wechselseitigen Verurteilungen geführt haben, nach kräftigen überwinden zu helfen. Lohnen wir der hierfür nach meiner ersten Pastoralreise eingesetzten Dialogkommission die sorgfältige und verantwortungsbewußte Arbeit, indem wir alle auf der Ebene unserer jeweiligen Kompetenz ihre Ergebnisse ernsthaft und zügig studieren, werten und einem möglichen kirchlichen Konsens zuführen.

Was immer man uns in unserem Bemühen um die Einheit aller Christen skeptisch entgegenhält -werden wir nicht müde auf dem Weg zum gemeinsamen Herrn; er ist auch der geradeste Weg zueinander. Erstreben wir das gemeinsame Zeugnis, wo immer es geht. Je mehr wir es versuchen, um so mehr werden wir weitere mögliche Schritte zur vollen Einheit entdecken; je mehr wir eins werden, um so bessere Zeugen des Herrn können wir sein.

Liebe Schwestern und Brüder! Nicht weit von hier sind im Jahre 1518 Martin Luther und Kardinal Cajetan zusammengetroffen. Was wäre geworden, wenn am Ende ihrer Gespräche die erneuerte, vertiefte und verstärkte Einheit im Glauben gestanden hätte? Um 1530 waren viele hier in Augsburg noch um Versöhnung und Gemeinschaft bemüht. Welchen Weg hätte die Geschichte genommen welche missionarischen Möglichkeiten hätten sich doch für die neuentdeckten Erdteile ergeben, wenn damals die Überbrückung des Trennenden und die verständnisvolle Klärung der Streitpunkte gelungen wären! Es ist nicht unsere Sache, über Wenn und Aber zu spekulieren. Auch hierfür gilt wohl die Mahnung Jesu: ”Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren“ (Mt 18,6). Uns ist aufgetragen, heute zu tun, was heute fällig ist, damit morgen geschehen kann, was morgen; vonnöten ist. ”Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht“ (He 3, 7s.), sagt uns der Herr. Laßt uns sein Wort und seinen Geist aufnahmen. ”Laß uns eins sein, Jesu Christi, wie du mit dem Vater bist.“ Laß uns einmütig und ohne Unterlaß beten: ”Sende aus deinen Geist, und alles wird neu geschaffen“: unser Zeugnis, unsere Kirche, unsere Welt! Das schenke uns Gott in seiner Barmherzigkeit und Güte! Amen.



APOSTOLISCHE REISE IN DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Dom zu Speyer - Sonntag, 4. Mai 1987




”Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!“ (Ph 1,2). Mit diesem Segenswunsch des Apostels Paulus grüße ich euch alle von Herzen, woher auch immer ihr vor diesem gewaltigen europäischen Dom hier in Speyer zusammengekommen seid: Laienchristen und Ordensleute, Priester und Diakone, Bischöfe und Kardinäle. Mein brüderlicher Gruß gilt in besonderer Weise dem gastgebenden Oberhirten dieser Diözese, Bischof Anton Schlembach; herzlich grüße ich auch die Gäste aus den Nachbardiözesen diesseits und jenseits der Landesgrenzen, die Repräsentanten aus Staat und Gesellschaft sowie aus der Stadt Speyer. Mit besonderer Wertschätzung grüße ich schließlich die verehrten Vertreter der christlichen Bruderkirchen. Wir sind hier versammelt, um Gott die Ehre zu geben, um unsere Gemeinschaft mit der weltweiten Kirche Jesu Christi zu bekunden und uns in Glaube, Hoffnung und Liebe gegenseitig zu bestärken und zu erneuern.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. ”Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ (Ac 16,9). Diese Worte der heutigen ersten Lesung hörte der Apostel Paulus in einer Vision auf einer Missionsreise an der Küste Kleinasiens, gegenüber der griechischen Provinz Mazedonien. Jenseits der Meeresenge lag Europa, das der Völkerapostel bisher noch nie betreten hatte. Und nun dieser Ruf: Paulus, komm herüber nach Europa und hilf uns; verkünde uns die Wahrheit über Gott und den Menschen!

Paulus und seine Gefährten erkannten in diesen Ereignissen die Führung des Heiligen Geistes; er selbst sagt es uns: ”Auf diese Vision hin wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, daß Gott uns dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden“ (ebd. 16, 10). So haben die Füße des Apostels zum erstenmal europäischen Boden, diesen unseren Kontinent, betreten. An jener Stelle in Nordgriechenland hat die Evangelisierung Europas begonnen.

2. Worüber mag der Völkerapostel zu unseren fernen Vorfahren vor fast zweitausend Jahren gesprochen haben? Ganz gewiß auch über das Goldene Gesetz der Bergpredigt, die acht Seligpreisungen, wie sie uns soeben im Evangelium verkündet worden sind: ”Selig, die arm sind vor Gott - Selig, die Barmherzigen - die ein reines Herz haben - die Frieden stiften. - Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“ (Mt 5,1-12).

87 Vor allem aber hat Paulus auf denjenigen hingewiesen, der diese Seligpreisungen verkündet und mit seinem eigenen Leben bezeugt hat und sich für ihre Erfüllung hat kreuzigen lassen: unser Herr Jesus Christus, ”der lebendige Stein“ . . ., von Gott auserwählt und geehrt, wie es heute in der zweiten Lesung heißt. Er ist der ”Eckstein“, der denjenigen nicht zugrunde gehen läßt, der ihm glaubt (1 Pt 2, 4-8).

3. So hat die Frohe Botschaft der Bergpredigt, von Gott besiegelt durch den Tod und die Auferstehung Christi, die Grenzen Europas überschritten. Zugleich begann Paulus damals, diesem ”Eckstein“ auf dem neuen Kontinent weitere ”lebendige Steine“ durch neue Gläubige hinzuzufügen zu einem ”geistigen Haus“, der Kirche Jesu Christi.

Dieser hat sein Leben am Kreuz und sakramental schon im Abendmahlssaal zur Sühne für die Schuld der Welt dem Vater dargeboten; so ist er zum Hohenpriester des Neuen Bundes geworden. Seinem erlösenden Opfer dürfen sich nun alle anschließen, die Gottes Barmherzigkeit aus der Dunkelheit in das Licht seiner Gnade und Wahrheit gerufen hat. Deshalb zögert der erste Petrusbrief nicht, alle Jünger Christi ”eine heilige Priesterschaft“ zu nennen, die - eingefügt in das eine Opfer Jesu Christi - nun auch selbst imstande sind, ”geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen“ (ebd. 2, 5).

Der ”Eckstein“ Jesus Christus, seine Jünger als die ”lebendigen Stein“ des geistigen Hauses der Kirche, der Heilige Geist mit seiner steten unsichtbaren Führung: Das sind die Grundkräfte, die das Reich Gottes im Leben der Menschen und der Völker im Verlauf der Geschichte heranreifen lassen.

4. Die grundlegenden Wahrheiten über die Ausbreitung der Frohen Botschaft, die uns die heutige festliche Liturgie aus der Heiligen Schrift vor Augen stellt, lassen uns an jenen langen geschichtlichen Weg zurückdenken, den diese Botschaft seit der Zeit der Apostel Petrus und Paulus unter den Völkern Europas bis zu uns heute zurückgelegt hat.

Die Evangelisierung Europas im ersten Jahrtausend nach Christi Geburt ging von zwei ehrwürdigen Zentren aus: von Rom und von Konstantinopel. Von Rom aus gelangte die Frohe Botschaft Christi durch beauftragte Missionare wie auch durch missionarisch gesinnte Laien - Soldaten, Kaufleute, Politiker - nach den Wirren der großen germanischen Völkerwanderung vor allem zu den Franken im Westen und zu den Angelsachsen im Norden und besonders früh auch schon in dieses Rheintal. Wie ihr wißt, stammt die erste gesicherte Nachricht über einen Bischofssitz hier in Speyer aus dem Jahre 614. Wenige Jahrzehnte später wird eine erste Domkirche urkundlich bezeugt.

Die nächsten Jahrhunderte erleben vor allem die Ausbreitung des Evangeliums bei den verschiedenen Slawenvölkern. Sie erfolgt zugleich von Rom und von Konstantinopel aus. In diesem Zusammenhang erinnere ich besonders an die Taufe des hl. Wladimir, des Großfürsten von Kiew, im Jahre 988, deren Tausendjahrfeier wir im nächsten Jahr zusammen mit den orthodoxen Brüdern und Schwestern in dankbarem Gebet und Lobpreis begehen wollen. Jene Taufe bedeutete den Anfang des Christentums in der Gegend des damaligen ”Rus“-Reiches, im Bereich des heutigen Rußlands.

Den vorläufigen Abschluß der Christianisierung Europas bildet wohl die Taufe des Großfürsten Jagiello von Litauen im Nordosten Europas und seine Verbindung mit dem damaligen polnischen Reich. Das war im Jahre 1387, so daß wir gegenwärtig in tiefer geistiger Einheit mit den Christen Litauens die 600 Jahrfeier dieser Bekehrung begehen.

Hier in Speyer hatte unterdessen Kaiser Konrad II. aus dem berühmten Geschlecht der Salier um das Jahr 1030 den Grundstein zu diesem mächtigen romanischen Dom gelegt, der dann im Jahre 1061 seine kirchliche Weihe empfing. Von da an begleitet dieses eindrucksvolle Meisterwerk mittelalterlicher Architektur die weitere Geschichte Speyers, Deutschlands und Europas.

5. Der Dom zu Speyer, einmal das größte Gotteshaus des christlichen Abendlandes, ist wie kaum ein anderes Bauwerk Europas mit der Geschichte dieses Kontinents verwachsen. In den mehr als neunhundert Jahren seines Bestehens hat er die großen Zeiten einer gemeinsamen Kultur Europas im Bereich des Glaubens, der Wissenschaft und der Kunst miterlebt. Et hat aber auch Zeiten endloser Kriege mit ihren Zerstörungen, Zeiten der Zerrissenheit Europas miterlitten. So ist dieser Dom ein Zeuge der Größe des christlichen Europas und zugleich Zeuge seines selbstverschuldeten Niedergangs. Das reiche menschliche und geistliche Erbe, das er in sich birgt, verkündet er noch immer als mahnende Botschaft an uns Europäer von heute und von morgen. Nur wenn wir unsere wahrhaft große christliche Aufgaben erschließen, kann es gelingen, als geistig geeintes Europa der Welt eine befreiende Botschaft anzubieten, die den Menschen und Völkern die Zukunft erstrebenswert machen kann und ihnen hilft, sie menschenwürdig zu gestalten und ihre Prüfungen zu bestehen. - Welche Bausteine bietet uns dafür das Vermächtnis dieser Domkirche?

6. Aus dem Erbe des Domes erschallt vor allem der Ruf nach einer neuen Transzendenz des europäischen Geisteslebens, nach einer neuen Verankerung des menschlichen Herzens und Verstandes in jenem höchsten Wesen und Urgrund, den wir Gott nennen und den wir Christen als unseren liebenden Vater und gerechten Richter anbeten dürfen. Die kostbare Krone der salischen Kaiser, die dieses Gotteshaus im wesentlichen erbauten, schmückt ein Bildnis Christi, des Weltenrichters, mit der Inschrift: ”Per me reges regnant“ - ”Durch mich - euren Herrn und Gott - regieren die Könige“. Diese Herrscher wußten noch, daß sie ihre Vollmacht über andere Menschen nicht aus sich selbst hatten, sondern daß diese ihnen letztlich von Gott anvertraut war. Für ihr Leben und ihre Regierung schuldeten sie ihm Rechenschaft.

88 Absolutistische Herrscher der Neuzeit beanspruchten hingegen eine Regierungsgewalt, die von Gott völlig losgelöst war und einzig ihrem eigenen Machtwillen entsprang. Echte oder vermeintliche Demokratien unserer Gegenwart leiten die Vollmacht ihrer gewählten Regierungen vor allem aus der Volkssouveränität ab. Dennoch binden zahlreiche von ihnen die Ausübung der Staatsgewalt sowie die Gestaltung des öffentlichen Lebens darüber hinaus - wenigstens dem Buchstaben nach - an eine Reihe von Grundwerten und Grundrechten, die sie in ihre Verfassungen aufnehmen. Oft wird in diesem Zusammenhang auch die Verantwortung vor Gott und seinen grundlegenden Geboten noch ausdrücklich genannt. Solche Beteuerungen haben jedoch nur Wert, wenn sie nicht toter Buchstabe bleiben! Seid euch deshalb bewußt, daß solche Grundsätze, die sich auch in eurer deutschen Verfassung finden, sowohl von den Verantwortlichen, aber auch von jedem einzelnen hochgeschätzt und gelebt werden müssen, damit sie sich für die Gestaltung eures Gemeinwesens sinnstiftend und richtungweisend auswirken können.

Es mehren sich heute nachdenkliche Stimmen, die in der sittlichen und religiösen Ungebundenheit der Menschen und in der sich immer säkularisierter gebärdenden Gesellschaft einen Weg ins Scheitern und zu wachsendem Chaos erblicken. Der Mensch ist eben von Natur aus nicht sich selbst Anfang und Ziel. Der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge! Er muß einsehen, daß es über ihm etwas Unverfügbares gibt: Gott, sein Schöpfer, sein Vater und Richter. Nur wenn wir gemeinsam bereit sind, an Ihm wieder neu Maß zu nehmen in all unseren Lebensbereichen, können wir Tiefstes und Höchstes wagen, können wir unsere vollen Möglichkeiten entfalten und einsetzen. Es wird dann immer zum Besten und zum Heil der Mitmenschen und dieser Erde gereichen und nicht zu ihrer Unterjochung oder gar Vernichtung.

7. Liebe Brüder und Schwestern! Der letzte große Baumeister am Dom von Speyer war der hl. Otto, der spätere Bischof von Bamberg. Von ihm ist bekannt, daß er in Gnesen den Frieden vermittelte zwischen Polen und dem Mecklenburgern und Pommern. Zugleich führte er diese beiden Stämme in wenigen Jahren zum Christentum, wobei er dem Grundsatz folgte, keine Missionierung mit Zwang und Gewalt durchzuführen. Von ihm stammt das groß-artige Wort: ”Gott will keinen erzwungenen, sondern einen freiwilligen Dienst.“.

Wie aktuell ist doch dieses Wort über die Zeiten hinweg für Europa und für die Welt von heute! Wie ein Leuchtturm sei es über die Probleme der Gegenwart gestellt, über die Konflikte und harten Fronten innerhalb einzelner Staaten. Nicht Polizei- oder Militärmacht, nicht diktatorische Maßnahmen vermögen die grundsätzlichen Fragen zu beantworten, die Klagen zu beheben, eine gerechte Ordnung des Gemeinschaftslebens herbeizuführen. Auf weite Sicht gesehen sind Wege in eine bessere Zukunft, in eine befriedete Welt, zu fruchtbarer Zusammenarbeit aller Gesellschaftsschichten nur möglich unter diesem allgemein anzuerkennenden Leitwort: ”Gott will keinen erzwungenen, sondern einen freiwilligen Dienst“. Unter dieser Idee allein werden auch die bedrohlichen internationalen Gegensätze zwischen den Staaten und Machtblöcken überwunden werden können, kann ein neues, geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural geschaffen werden.

Bei gewissenhafter Beachtung dieses Grundsatzes werden vor allem die Grundrechte des Menschen in der Gesellschaft und gegenüber der staatlichen Gewalt am besten gesichert sein. Eines der höchsten und heiligsten von diesen ist die Freiheit, Gott verehren und die eigene Religion ohne Zwang oder Behinderung ausüben zu dürfen. Dieser Dom hat es erlebt, wie blinder Haß gegen Gott und den christlichen Glauben ihn entweihte, den Gottesdienst verbot und seine Heiligtümer den Flammen preisgab. Darum erheben wir gerade von hieraus unsere Stimme, um alle Verantwortlichen in den einzelnen Ländern zu bitten, dahin zu wirken, daß in Gesamteuropa die Einschränkung und Unterdrückung der freien Religionsausübung für Personen und Gemeinschaften sowie für das Wirken der Kirchen endlich ein Ende Enden. Zusammen mit dem Recht auf Religionsfreiheit muß die Achtung aller Grundrechte der Einzelperson sowie aller Grundwerte für ein menschenwürdiges Zusammenleben das unabdingbare Fundament für die Zukunft Europas sein.

8. Das Zeugnis der Christen für die Menschenwürde und die unantastbaren Grundrechte des Menschen würde natürlich klarer und wirkungsvoller sein, wenn es mit gemeinsamer Stimme und von einer geeinten Kirche vorgetragen werden könnte. Das große Hauptportal dieser Kathedrale zeigt, in Erz gegossen, den Ruf Jesu Christi aus dem hohepriesterlichen Gebet: ”Ut unum sint“ - ”Sie sollen eins sein!“. Als man in Jahre 1030 den Dombau begann, waren Rom und Byzanz, West- und Ostkirche, noch geeint. Als er jedoch dreißig Jahre später geweiht wurde, war der Bruch zwischen beiden Bruderkirchen bereits traurige Wirklichkeit geworden. Fünfhundert Jahre später fand im Ratssaal dieser Stadt, im Schatten dieser Domtürme, jener Reichstag statt, auf dem die Anhänger der Reformbewegung Martin Luthers ihre bekannte Gegenerklärung, ihre ”Protestatio“, vorgebracht haben. Von da an tragen sie den Namen ”Protestanten“.

Das Leid der gespaltenen Christenheit ist das Leid dieses Gotteshauses. Es ist ein Denkmal der Einheit, die einmal gewesen ist, und ein Mahnmal zur Einheit, wie sie wieder kommen muß, wenn wir dem Vermächtnis Jesu treu bleiben wollen. Auf diesem mühsamen Weg zur Einheit wollen wir alles wahrnehmen und hochschätzen, was zwischen den getrennten Christen noch gemeinsam ist, und alles vermeiden, was Gräben erneut vertiefen könnten. Vor allem an die orthodoxen Kirchen richten wir von dieser ehrwürdigen Stätte gemeinsamer europäischer Geschichte aus die eindringliche Bitte zur baldigen Wiedervereinigung in dankbarer Bewunderung ihrer Christustreue und ihres Bekennermutes in den Bedrängnissen, die diese unsere Brüder und Schwestern in der Vergangenheit erleiden mußten und heute noch erleiden.

9. Liebe Mitchristen! Mancher von euch wird vielleicht in diesem Augenblick bei sich denken: Christliche Wurzeln Europas, Weltfriede, Religionsfreiheit, Wiedervereinigung der Christen, das alles sind wichtige und große Herausforderungen unserer Zeit; aber was kann ich, der einzelne, dafür tun? Kann ich überhaupt etwas dazu beitragen? Darauf gebe ich euch zur Antwort: Ja, du, der einzelne, kannst etwas in Bewegung setzen; denn jeder gute Entschluß, jede bereite Übernahme einer Aufgabe beginnt immer beim einzelnen Menschen. So sehr die Einzelbemühungen dann auch gebündelt werden müssen, um sich im Großen auswirken zu können, so bleibt doch bestehen: Das Ja einer einzelnen Person, mit Hochherzigkeit gegeben und im eigenen Lebensbereich treu durchgehalten, kann tatsächlich tiefgreifende Veränderungen zum Guten auf kirchlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene einleiten und wirksam fordern.

Diese Möglichkeiten von einzelnen Menschen bezeugen uns vor allem die großen Heiligen Europas. Sie sind ja die wahren Realisten. Sie sehen das Ringen der Mächte des Bösen inmitten allen Geschehens; sie sehen aber auch den Heiligen Geist am Werk. So ahnen sie oft, wie das Zukünftige bereits im Gegenwärtigen heranwächst. Einige dieser bedeutenden Heiligen Europas zeigt das Bronzetor des Domes: Hugo von Cluny, Bruno von Köln, Norbert von Xanten, Bernhard von Clairvaux. Ihr Werk setzen fort die Heiligen Franz von Assisi, Dominikus, Ignatius. Sie und ihre Orden haben einen bleibenden Anteil am Wesen, an der Kultur und Geschichte Europas. Drei dieser Heiligen bezeugen als offizielle Patrone Europas dessen ganze Spannweite von West bis Ost: Benedikt von Nursia sowie Cyrill und Methodius, die beiden Slawenapostel.

10. Gott hat auch unserer Zeit heilige Menschen gesandt, die uns helfen sollen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, die Möglichkeiten des Menschen im Licht seines Schöpfers und Erlösers voll auszumessen und den Weg ins ewige Vaterhaus auch durch Nebel und Dunkelheit hindurch zu finden. Für sie alle nenne ich die soeben seliggesprochenen Pater Rupert Mayer aus dem Jesuitenorden und die dem jüdischen Volk angehörende Karmelitin Edith Stein. Sie besaßen ganz gewiß die Gabe der Unterscheidung der Geister, weil sie an Gott selbst Maß genommen haben; sie durchschauten den Massenwahn und die verführerische Propaganda ihrer Zeit.

Die selige Edith Stein, Sr. Teresia Benedicta vom Kreuz, hat wichtige Situationen ihres Lebens und ihres langsamen Aufstiegs zur Höhe einer christlichen Philosophin und Mystikerin hier in dieser Stadt Speyer verbracht. Seid treue Hüter ihrer Botschaft und ihres Lebenszeugnisses! Edith Stein ist mit ihrem Werk und Leben Nachfolgerin der großen heiligen Frauen, Bekennerinnen, Mystikerinnen und Beterinnen des alten Europa, von denen hier stellvertretend nur die heilige Hildegard von Bingen genannt sei. Gerade die Frau von heute könnte in der neuen Seligen ein echtes Leitbild finden, um zu wahrer Selbstverwirklichung und Selbständigkeit aus der reinen Quelle unbeirrbarer Gottverbundenheit zu gelangen.

89 11. Paulus, ”komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“. Gibt es im heutigen Europa noch diesen Schrei nach Hilfe, nach geistigem Brot und nach Licht auf der Suche nach dem Wesentlichen, nach dem reinen Wasser der Wahrheit und Gerechtigkeit? Sollte dieser Ruf wirklich verstummt sein unter der scheinbaren ”Selbstgenügsamkeit“ und Sattheit vieler heutiger Europäer, in ihrer ständigen Versuchung, so zu leben, als gebe es keinen Gott?

So könnte man wirklich manchmal meinen. Und doch gibt es trotz allem gegenteiligen Anschein-Gott Dank! auch heute noch diesen Ruf: Eure Priester und Bischöfe setzen dafür ihre ganze Lebenskraft ein; der Papst reist gerade dafür in die verschiedenen Länder, auch dieses Kontinents. Vor allem aber erschallt dieser Ruf aus dem Leben und Werk der Heiligen und Seligen, der großen und bekannten wie auch der stillen und namenlosen. Sie alle weisen hin auf das Licht aus den Seligpreisungen der Bergpredigt, auf Jesus Christus, den ”Eckstein“.

Wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. Wer ihm nachfolgt, geht den Weg in die Zukunft mit jenem Optimismus, der immer wieder zum nächsten Schritt ermutigt, aber auch mit jenem Realismus, der auf dieser Erde noch keine utopischen Paradiese erwartet. Wer in Treue und Liebe dem Herrn nachfolgt, wird auch stets bereit sein, seiner europäischen Heimat zu helfen, ihre christliche Seele wiederzuentdecken und dafür gemeinsam Zeugnis zu geben.

Heilige Maria, Königin des Friedens, Mutter Gottes und unsere Mutter, erbitte uns den Segen deines Sohnes für Europa und für alle Völker in der Welt! -Amen.



Predigten 1978-2005 82