Generalaudienz 1999 36

36 Angesichts der Schwierigkeit, Gerechtigkeit bei den Menschen und in ihren Einrichtungen zu finden, bahnt sich in der Bibel ein Weg zu der Sichtweise an, daß die Gerechtigkeit sich nur in der Zukunft vollkommen realisieren wird, und zwar durch das Werk einer geheimnisvollen Persönlichkeit, die allmählich deutlicher »messianische« Züge annehmen wird: ein König oder Königssohn (vgl. Ps 72,1), ein Reis, das »aus dem Baumstumpf Isais« hervorwächst (vgl. Is 11,1), ein »gerechter Sproß« aus dem Hause Davids (vgl. Jer Jr 23,5).

2. Die Gestalt des Messias, die in vielen Texten vor allem in den Büchern der Propheten angedeutet wird, nimmt vom Gesichtspunkt des Heils aus die Funktionen der Regierung und des Gerichts für das Wohlergehen und das Wachstum der Gemeinschaft und ihrer einzelnen Bestandteile an.

Die richterliche Funktion wird gegenüber Guten und Bösen ausgeübt, die zusammen vor Gericht erscheinen werden, wo der Triumph der Gerechten sich in Schrecken und Verwunderung für die Gotteslästerer verwandelt (vgl. Weish 4,20-5,23; vgl. auch Da 12,1-3). Das dem »Menschensohn« anvertraute Gericht hat in der apokalyptischen Anschauung des Buches Daniel die Wirkung eines Sieges des Volkes der Heiligen des Höchsten über die Ruinen der Reiche dieser Erde (vgl. Dan Da 7, besonders VV. 18 und 27).

Aber auch wer sich ein wohlwollendes Urteil erwarten darf, ist sich seiner Grenzen bewußt. So wächst das Bewußtsein, daß es ohne die Gnade Gottes unmöglich ist, gerecht zu sein, wie der Psalmist bestätigt: »Herr, […] erhöre mich in deiner Gerechtigkeit! Geh mit deinem Knecht nicht ins Gericht; denn keiner, der lebt, ist ger echt vor dir« (Ps 143,1-2).

3. Die gleiche, grundlegende Logik findet sich im Neuen Testament wieder, wo das Gottesgericht an das Heilswerk Christi gebunden ist. Jesus ist der Menschensohn, dem der Vater die Macht zu richten übertragen hat. Er wird die richten, die aus den Gräbern hervorkommen, und dabei diejenigen, die zum Leben auferstehen, von denen absondern, die zum Gericht auferstehen (vgl. Jn 5,26-30). Der Evangelist Johannes weist aber auch darauf hin, daß »Gott seinen Sohn nicht in die Welt gesandt hat, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (vgl. 3,17). Nur wer das von Gott in seinem grenzenlosen Erbarmen angebotene Heil ablehnt, wird verurteilt werden, weil er sich schon selbst verurteilt haben wird.

4. Paulus vertieft den Begriff der »Gerechtigkeit Gottes«, die durch den »Glauben an Jesus Christus, offenbart für alle, die glauben«, verwirklicht wird, im heilsgeschichtlichen Sinn. Die Gerechtigkeit Gottes ist ganz eng mit dem Geschenk der Versöhnung verbunden: Wenn wir uns durch Christus mit dem Vater versöhnen lassen, können auch wir in ihm Gerechtigkeit Gottes werden (vgl. 2Co 5,18-21).

Gericht und Erbarmen werden auf diese Weise als zwei Dimensionen desselben Liebesgeheimnisses verstanden: »Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen« (Rm 11,32). Die Liebe, die der göttlichen Einstellung zugrunde liegt und zu einer Haupttugend des Gläubigen werden muß, bringt uns also dazu, mit Vertrauen auf den Tag des Gerichts zu blicken und jede Angst auszuschließen (vgl. 1Jn 4,18). In Nachahmung dieses göttlichen Gerichts muß auch das menschliche nach einem Gesetz der Freiheit ausgeübt werden, in dem die Barmherzigkeit vorherrschen muß: »Darum redet und handelt wie Menschen, die nach dem Gesetz der Freiheit gerichtet werden. Denn das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat. Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht« (Jak 2,12-13).

5. Gott ist der Vater des Erbarmens und allen Trostes. In der fünften Bitte des Gebets schlechthin, nämlich des Vater Unser, beginnt »unsere Bitte mit einer ››Beichte‹, in der wir zugleich unser Elend und Gottes Barmherzigkeit bekennen« (Katechismus der Katholischen Kirche CEC 2839). Jesus hat uns die Fülle des Erbarmens des Vaters offenbart und uns auf diese Weise gelehrt, daß man zu diesem so gerechten und barmherzigen Vater nur durch die Erfahrung der Barmherzigkeit, die unsere Beziehungen zu den Nächsten auszeichnen muß, Zugang hat. »Diese Barmherzigkeit kann nicht in unser Herz eindringen bevor wir nicht unseren Schuldigern vergeben haben […] Wenn wir uns weigern, den Brüdern und Schwestern zu vergeben, verschließt sich unser Herz und seine Härte wird undurchdringbar für die barmherzige Liebe des Vaters« (CEC 2840).

Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind das Thema unserer heutigen Katechese. Auf den ersten Blick sind diese beiden Begriffe schwer miteinander in Einklang zu bringen. Das Alte Testament lehrt vor allem Gottes Gerechtigkeit. Besonders ausgeprägt ist dabei der Gedanke von der Gerechtigkeit des Messias. Dieser ist es, der richten wird über Lebende und Tote. Kein Mensch ist dieser Gerechtigkeit gewachsen. So lesen wir in den Psalmen (vgl. Ps 143,1-2).

Im Neuen Testament wird diese Sicht fortgeführt, der göttliche Richterdienst gehört zum Erlösungswerk Christi. Aber der Blick weitet sich, wie Johannes betont: “Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.” (Jn 3,17) Das Heil wird gesehen als Werk der Barmherzigkeit Gottes. Derjenige, der dieses Heil zurückweist, richtet sich selbst.

Die Gerechtigkeit Gottes steht im engen Zusammenhang mit der Versöhnung: Wenn wir durch Christus mit dem Vater versöhnt werden, können wir auch in ihm Gerechtigkeit Gottes werden (vgl. 2 Cor 5, 18-21).
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37 Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Besonders heiße ich eine Gruppe der Katharinenschwestern willkommen. Zusammen mit ihrer Generaloberin sind sie nach Rom gekommen, um in einem Triduum für die Seligsprechung ihrer Gründerin Regina Protmann zu danken. Euch, Euren lieben

Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 21. Juli 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Wenn diese Welt vergangen sein wird, werden sich die, die Gott in ihrem Leben angenommen haben und für seine Liebe - zumindest in der Todesstunde - aufrichtig offen gewesen sind, an jener Fülle der Gemeinschaft mit Gott erfreuen können, die das Ziel des menschlichen Daseins ist.

Wie der Katechismus der Katholischen Kirche lehrt, wird »dieses vollkommene Leben mit der allerheiligsten Dreifaltigkeit, diese Lebens- und Liebesgemeinschaft mit ihr, mit der Jungfrau Maria, den Engeln und allen Seligen ›der Himmel‹ genannt. Der Himmel ist das letzte Ziel und die Erfüllung der tiefsten Sehnsüchte des Menschen, der Zustand höchsten, endgültigen Glücks« (CEC 1024).

Wir wollen heute versuchen, den biblischen Sinn von »Himmel« zu erfassen, um die Wirklichkeit besser begreifen zu können, auf die dieser Ausdruck verweist.

2. Im biblischen Sprachgebrauch ist der »Himmel «, wenn er mit der »Erde« verbunden ist, ein Teil des Universums. In Bezug auf die Schöpfung sagt die Schrift: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gn 1,1).

Im übertragenen Sinn wird der Himmel verstanden als Wohnung Gottes, der sich dadurch von den Menschen unterscheidet (vgl. Ps 104,2 f.; 115,16 ; Is 66,1). Von der Höhe des Himmels schaut er herab und richtet er (vgl. Ps 113,4-9) und steigt herab, wenn er angerufen wird (vgl. Ps 18,7 Ps 18,10 Ps 144,5). Dennoch macht die biblische Metaphorik gut verständlich, daß Gott sich weder mit dem Himmel identifiziert noch daß er in den Himmel eingeschlossen werden kann (vgl. 1R 8,27); und das ist wahr, auch wenn in einigen Textabschnitten des ersten Buches der Makkabäer »der Himmel« einfach ein Name Gottes ist (1M 3,18 1M 3,19 1M 3,50 1M 3,60 1M 4,24 1M 4,55).

Zu der Darstellung des Himmels als transzendenter Aufenthaltsort des lebendigen Gottes tritt auch diejenige hinzu von einem Ort, zu dem auch die Gläubigen durch Gnade aufsteigen können, wie aus dem Alten Testament durch das Leben Henochs (vgl. Gn 5,24) und Elijas (vgl. 2R 2,11) hervorgeht. Der Himmel wird so zum Bild für das Leben in Gott. In diesem Sinn spricht Jesus vom »Lohn im Himmel« (Mt 5,12) und fordert auf, »Schätze im Himmel zu sammeln« (ebd., 6,20; vgl. 19,21).

3. Das Neue Testament vertieft die Vorstellung vom Himmel auch in Bezug auf das Mysterium Christi. Um zu zeigen, daß das Opfer des Erlösers vollkommenen und endgültigen Wert annimmt, bestätigt der Brief an die Hebräer, daß Christus »die Himmel durchschritten hat« (He 4,14) und »nicht in ein von Menschenhand errichtetes Heiligtum hineingegangen [ist], in ein Abbild des wirklichen, sondern in den Himmel selbst« (ebd., 9,24). Die Glaubenden, die auf eine besondere Weise vom Vater geliebt werden, werden mit Christus auferstehen und Bewohner des Himmels werden. Es lohnt sich zu hören, was diesbezüglich der Apostel Paulus uns in einem sehr eindringlichem Text mitteilt: »Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet. Er hat uns mit Christus Jesus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben. Dadurch, daß er in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte er den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum seiner Gnade zeigen« (Ep 2,4-7). Die Menschen erfahren das Vatersein Gottes, das reich an Erbarmen ist, durch die Liebe des Gottessohnes, der gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Er sitzt als Herr im Himmel zur Rechten des Vaters.

38 4. Die Teilhabe am erfüllten Vertrautsein mit dem Vater nach Ablauf unseres irdischen Lebens geschieht durch die Einbeziehung in das österliche Geheimnis Christi. Der hl. Paulus betont diesen unseren Gang zu Christus in den Himmel am Ende des Leidens mit lebendiger, räumlicher Bildhaftigkeit: »Dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein. Tröstet also einander mit diesen Worten« (1Th 4,17-18).

In dem Bild der Offenbarung wissen wir, daß der »Himmel« oder die »Seligkeit«, in der wir sein werden, weder abstrakte Begriffe noch physische Orte zwischen den Wolken sind, sondern eine lebendige und persönliche Beziehung zur Heiligen Dreifaltigkeit. Es ist die Begegnung mit dem Vater, die sich im auferstandenen Christus durch die Gemeinschaft des Heiligen Geistes verwirklicht.

Es ist nötig, immer eine gewisse Nüchternheit beizubehalten, wenn man diese »letzten Wirklichkeiten « beschreibt, weil ihre Wiedergabe immer unangemessen bleibt. Heutzutage gelingt es der personalistischen Sprache auf weniger unangemessene Weise, die Situation der Glückseligkeit und des Friedens auszudrücken, in der sich die endgültige Gemeinschaft mit Gott festigen wird.

Der Katechismus der Katholischen Kirche faßt die kirchliche Lehre bezüglich dieser Wahrheit zusammen und bekräftigt, daß »durch seinen Tod und seine Auferstehung […] uns Jesus Christus den Himmel ›geöffnet‹ [hat]. Das Leben der Seligen besteht im Vollbesitz der Früchte der Erlösung durch Christus. Dieser läßt jene, die an ihn geglaubt haben und seinem Willen treu geblieben sind, an seiner himmlischen Verherrlichung teilhaben. Der Himmel ist die selige Gemeinschaft all derer, die völlig in ihn eingegliedert sind« (CEC 1026).

5. Diese endgültige Situation kann allerdings in gewisser Weise heute vorweggenommen werden, sei es im sakramentalen Leben, dessen Zentrum die Eucharistie ist, oder sei es in der Hingabe seiner selbst durch die brüderliche Nächstenliebe. Wenn wir uns an den Gütern recht erfreuen können, die uns der Herr jeden Tag schenkt, werden wir gewiß diese Freude und diesen Frieden erfahren, deren wir uns eines Tages vollkommen erfreuen werden. Wir wissen, daß in diesem irdischen Lebensabschnitt alles im Zeichen der Grenze steht. Dennoch hilft uns der Gedanke an die »letzte« Wirklichkeit, um gut in der »vorletzten« Wirklichkeit zu leben. Wir sind uns bewußt, daß wir, während wir in dieser Welt unterwegs sind, berufen sind, »nach dem [zu suchen], was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt« (Col 3,1), um mit ihm in der eschatologischen Er füllung zu sein, wenn er im Geist »alles im Himmel und auf Erden« (Col 1,20) mit dem Vater wieder vollkommen vereinigen wird.

Heute möchte ich zu Euch über den Begriff “Himmel” in der Bibel sprechen. Zunächst ist damit ein Teil des Universums gemeint. Im übertragenen Sinn aber umschreibt dieses Wort die Wohnung Gottes. Dann wird es zum umfassenderen Bild für das Leben des Menschen in Gott.

Im Neuen Testament wird dieser Begriff weiter vertieft und in Zusammenhang mit der Menschwerdung und der Sendung Jesu Christi gebracht. Die Menschen erfahren das Vatersein Gottes durch die Liebe seines Sohnes, der gekreuzigt wurde und in den Himmel aufgefahren ist. Jetzt sitzt er dort zur Rechten des Vaters.

Durch die Einbeziehung in das österliche Geheimnis, gelangen auch wir Menschen nach unserem irdischen Dasein zur vollen Teilhabe an der Liebe des Vaters.

“Himmel” meint also eine lebendige und persönliche Beziehung zur Heiligen Dreifaltigkeit. Dieser Begriff beschreibt die Begegnung mit dem Vater, die im auferstandenen Christus geschieht durch die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Dieses ist unser aller Ziel.
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Sehr herzlich grüße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Insbesondere heiße ich die Schülerinnen und Schüler willkommen und wünsche ihnen schöne und erholsame Ferien. Gern erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die über Radio Vatikan oder das Fernsehen mit uns verbunden sind, den Apostolischen Segen.



39

Mittwoch, 28. Juli 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Gott ist ein unendlich guter und barmherziger Vater. Aber der Mensch, berufen, ihm in Freiheit zu antworten, kann sich leider dafür entscheiden, dessen Liebe und Vergebung zurückzuweisen. Er entzieht sich so für immer der freudvollen Gemeinschaft mit ihm. Tatsächlich ist dieser tragische Augenblick von der christlichen Glaubenslehre dargelegt, wenn sie vom Verderben oder von der Hölle spricht. Es handelt sich nicht um eine von außen verhängte Strafe Gottes, sondern um eine Entwicklung von Voraussetzungen, die schon vom Menschen in diesem Leben geschaffen wurden. Dieselbe Dimension an Unglück, die dieser dunkle Zustand mit sich bringt, kann in bestimmter Weise durch das Licht einiger unserer schrecklichen Erfahrungen erahnt werden, die das Leben, wie man gewöhnlich sagt, zur »Hölle« machen.

Im theologischen Sinn ist die Hölle dennoch etwas anderes: es ist die letzte Auswirkung der Sünde selbst, die wieder auf den zurückfällt, der sie begangen hat. Es ist die Situation, in die sich endgültig der stellt, der die Barmherzigkeit des Vaters auch im letzten Augenblick seines Lebens zurückweist.

2. Um diese Wirklichkeit zu beschreiben, bedient sich die Heilige Schrift einer symbolischen Sprache, die sie nach und nach präzisieren wird. Im Alten Testament war der Zustand der Toten noch nicht ganz durch die Offenbarung erhellt. Tatsächlich dachte man häufig, daß die Toten im »Sheol« [Totenreich] aufgenommen werden würden, ein Ort der Finsternis (vgl. Ez 28,8 Ez 31,14 Jb 10,21 f; Jb 38,17 Ps 30,10 Ps 88,7 Ps 88,13), eine Versenkung, aus der man nicht aufsteigt (vgl. Ijob Jb 7,9), ein Ort, an dem es unmöglich ist, Gott zu preisen (vgl. Is 38,18 Ps 6,6).

Das Neue Testament wirft ein neues Licht auf den Zustand der Toten, vor allem durch seine Verkündigung, daß Christus durch seine Auferstehung den Tod besiegt und seine erlösende Macht auch im Reich der Toten verbreitet hat.

Die Erlösung bleibt dennoch ein Heilsangebot, das dem Menschen zukommt, es in Freiheit aufzunehmen. Darum wird jeder »nach seinen Werken« (Ap 20,13) beurteilt werden. Das Neue Testament greift auf Bilder zurück und stellt den für die Urheber des Bösen bestimmten Ort als ein glühendes Feuer dar, wo »sie heulen und mit den Zähnen knirschen werden« (Mt 13,42 vgl. Mt 25,30 Mt 25,41), oder als »Gehenna« [Strafstätte] vom »nie erlöschenden Feuer« (Mc 9,43). Dies alles ist erzählerisch im Gleichnis vom reichen Verschwender ausgedrückt, in dem verdeutlicht wird, daß die Unterwelt ein Ort endgültiger Strafe ist, ohne Möglichkeit zurückzukehren oder den Schmerz zu mildern (vgl. Lc 16,19-31).

Auch die Offenbarung stellt anschaulich in einem »Feuersee« jene dar, die sich dem Buch des Lebens entziehen und so »dem zweiten Tod« (Ap 20,13 f) entgegengehen. Wer also darauf besteht, sich nicht dem Evangelium zu öffnen, stellt sich auf »ewiges Verderben, fern vom Angesicht des Herrn und von seiner Macht und Herrlichkeit« (2Th 1,9) ein.

3. Die Bilder, durch welche die Heilige Schrift uns die Hölle darstellt, müssen richtig gedeutet werden. Sie zeigen die ganze Vereitelung und Leere eines Lebens ohne Gott. Die Hölle stellt mehr als einen Ort dar, nämlich die Situation, in der sich jener wiederfinden wird, der sich freiwillig und endgültig von Gott, Quelle des Lebens und der Freude, entfernt. So faßt der Katechismus der Katholischen Kirche die Aussagen des Glaubens über dieses Thema zusammen: »In Todsünde sterben, ohne diese bereut zu haben und ohne die barmherzige Liebe Gottes anzunehmen, bedeutet, durch eigenen freien Entschluß für immer von ihm getrennt zu bleiben. Diesen Zustand der endgültigen Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seligen nennt man ›Hölle‹« (CEC 1033).

Das »Verderben« wird deshalb nicht der Veranlassung Gottes zugeschrieben, weil er in seiner barmherzigen Liebe nichts anderes als das Heil derer will, die von ihm geschaffen wurden. In Wirklichkeit ist es die Kreatur, die sich seiner Liebe verschließt. Die »Verdammnis« besteht wirklich aus der endgültigen Entfremdung von Gott, die vom Menschen gewählt und mit dem Tod bestärkt wurde, der jene freie Wahl für im-mer besiegelt. Das Gottesurteil bestätigt diesen Zustand.

4. Der christliche Glaube lehrt, daß in dem Wagnis des »Ja« und des »Nein«, welche die Freiheit der Geschöpfe kennzeichnet, schon einer nein gesagt hat. Es handelt sich um geistige Kreaturen, die sich der Liebe Gottes widersetzen und Dämonen genannt werden (vgl. 4. Laterankonzil: DS 800-801). Für uns menschliche Wesen klingt ihr Schicksal wie eine Ermahnung: es ist ein beständiger Aufruf, die Tragödie zu vermeiden, in welche die Sünde mündet, und unsere Existenz nach der von Jesus zu formen, die sich im Zeichen des »Ja« zu Gott entfaltet.

40 Die Verdammnis bleibt eine wirkliche Möglichkeit. Aber uns ist es nicht bestimmt, sie zu kennen, ohne besondere göttliche Offenbarung, welche menschlichen Wesen wirklich darin verwickelt sind. Die Vorstellung von der Hölle - um so weniger der unangebrachte Gebrauch der biblischen Bilder - darf keine Psychosen oder Ängste her vorrufen, sondern stellt eine notwendige und heilsame Ermahnung an die Freiheit dar, an das Innere der Verkündigung, daß der auferstandene Jesus den Satan besiegt hat und uns den Geist Gottes gegeben hat, der uns rufen läßt: »Abba, Vater« (Rm 8,15 Ga 4,6).

Diese hoffnungsvolle Aussicht überwiegt in der christlichen Verkündigung. Sie spiegelt sich eindrucksvoll in der liturgischen Überlieferung der Kirche wider, wie zum Beispiel die Worte des Römischen Meßkanons bezeugen: »Nimm gnädig an, o Gott, diese Gaben deiner Diener und deiner ganzen Gemeinde … rette uns vor dem ewigen Verderben und nimm uns auf in die Schar deiner Erwählten.«

Gott ist ein unendlich guter und barmherziger Vater. Aber der Mensch in seiner Freiheit kann seine Liebe und seine Vergebung endgültig ablehnen und sich somit seiner Gemeinschaft für immer entziehen. Diese tragische Situation wird von der christlichen Lehre als ”Verdammnis” oder ”Hölle” bezeichnet.

Die Bilder, mit denen die Heilige Schrift die Hölle darstellt, müssen richtig interpretiert werden. Sie wollen die völlige Leere eines Lebens ohne Gott aufzeigen. Die Hölle meint nicht so sehr einen bestimmten Ort, sondern vielmehr die Situation dessen, der sich frei und endgültig von Gott entfernt hat.

Der Gedanke an die Hölle soll uns nicht in Angst versetzen, denn wir sind aufgerufen, unseren Lebensweg frohgemut mit Jesus Christus zu gehen, der den Satan und den Tod für immer besiegt hat. Dieser Glaube voller Hoffnung ist der Kern der christlichen Verkündigung.
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Sehr herzlich grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Gern erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die über Radio Vatikan und das Fernsehen mit uns verbunden sind, den Apostolischen Segen.



                                                                                August 1999

Mittwoch, 4. August 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Wie wir in den beiden vorangegangenen Katechesen gesehen haben, steht der Mensch wegen der endgültigen Entscheidung für oder gegen Gott vor einer Alternative: entweder lebt er mit dem Herrn in ewiger Glückseligkeit oder er bleibt dessen Gegenwart fern.

41 Von denen, die sich in einem Zustand des Offenseins für Gott befinden, jedoch in einer unvollkommenen Weise, fordert der Weg zur vollen Glückseligkeit eine Läuterung, die der Glaube der Kirche durch die Lehre vom »Purgatorium« [Fegefeuer] verdeutlicht (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 1030-1032).

2. In der Heiligen Schrift kann man einige Elemente finden, die hilfreich sind, den Sinn dieser Lehre zu erfassen, auch wenn sie nicht auf formale Weise dargelegt ist. Sie drücken die Überzeugung aus, daß man nicht zu Gott gelangen kann, ohne irgendeine Läuterung durchzumachen.

Nach der religiösen Gesetzgebung des Alten Testaments muß nämlich jeder, der für Gott bestimmt ist, vollkommen sein. Folglich ist vor allem auch die körperliche Unversehrtheit gefordert für die Wirklichkeiten, die mit Gott auf der Ebene des Opfers in Berührung kommen, wie zum Beispiel die Opfertiere (vgl. Lev Lv 22,22), oder auf der institutionellen Ebene, wie im Fall der Priester und der Kultdiener (vgl. Lev Lv 21,17-23). Dieser körperlichen Unversehrtheit muß eine völlige Hingabe der einzelnen und der Gemeinschaft (1R 8,61) entsprechen zu dem Gott des Bündnisses auf der Linie der großen Lehren des Deuteronomiums (vgl. 6,5). Es geht darum, Gott mit seinem ganzen Dasein, mit der Reinheit des Herzens und mit dem Zeugnis der Werke zu lieben (vgl. ebd., 10,12f).

Die Notwendigkeit der Unversehrtheit nach dem Tod zum Eintritt in die vollkommene und endgültige Gemeinschaft mit Gott ist offensichtlich vorausgesetzt. Wer diese Unversehrtheit nicht hat, muß die Läuterung durchmachen. Eine Schrift des hl. Paulus bestätigt diese Meinung. Der Apostel spricht über den Wert des Werkes eines jeden, das an dem Tag des Gerichts offenbar wird, und sagt: »Hält das stand, was er [auf Christus] aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muß er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch« (1Co 3,14-15).

3. Um einen Zustand vollkommener Unversehrtheit zu erreichen, ist manchmal die Fürsprache oder die Vermittlung durch eine Person notwendig. Zum Beispiel erhält Moses die Vergebung für das Volk durch ein Gebet, in dem er das Heilswerk, von Gott in der Vergangenheit erfüllt, benennt und seine Treue gegenüber dem Eid, den dieser den Vätern gegeben hat, anruft (vgl. Ex 32,30 und V. 11-13). Die Gestalt des Gottesknechtes, beschrieben im Buch Jesaja, steht auch für die Funktion des Fürsprechens und des Büßens zugunsten vieler; am Ende seiner Leiden »wird er das Licht erblicken« und »viele gerecht machen«, indem er sich ihrer Sünden annimmt (vgl. Is 52,13-53,12, bes. 53,11).

Psalm 51 kann nach der Sichtweise des Alten Testamentes als eine Zusammenfassung des Reintegrationsprozesses gesehen werden: Der Sünder bekennt und gesteht die eigene Schuld ein (V. 6), verlangt beharrlich gereinigt oder »gewaschen « (V. 4.9.12.16) zu werden, um den göttlichen Ruhm verkünden zu können (V. 17).

4. Im Neuen Testament ist Christus als Fürsprecher dargestellt, der in sich die Funktionen des Hohenpriesters am Versöhnungstag aufnimmt (vgl. He 5,7 He 7,25). Aber in ihm stellt das Priestertum eine neue und endgültige Form dar. Er tritt ein einziges Mal in das himmlische Allerheiligste ein mit der Absicht, vor Gottes Angesicht für uns Fürsprache einzulegen (vgl. He 9,23-26, bes. 24). Er ist zugleich Priester und »Sühne für unsere Sünden« für die Sünden der ganzen Welt (vgl. 1Jn 2,2).

Als großer Fürsprecher, der für uns büßt, wird Jesus sich am Ende unseres Lebens ganz offenbaren, wenn er sich durch das Angebot der Barmherzigkeit äußert, aber auch durch das unvermeidliche Urteil über denjenigen, der die Liebe und die Vergebung des Vaters ablehnt.

Das Angebot der Barmherzigkeit schließt nicht die Pflicht aus, daß wir rein und unversehrt vor Gottes Angesicht hintreten, reich an jener Liebe, die Paulus »das Band [nennt], das alles zusammenhält und vollkommen macht« (Col 3,14).

5. Indem wir der Aufforderung im Geist des Evangeliums, vollkommen wie der Vater im Himmel zu sein (vgl. Mt 5,48), während unseres irdischen Lebens folgen, sind wir berufen, in der Liebe zu wachsen, um untadelig und unerschütterlich vor Gottvater zu stehen, »wenn Jesus, unser Herr, mit allen seinen Heiligen kommt« (1Th 3,12f). Auf der anderen Seite sind wir aufgefordert, »uns von aller Unreinheit des Leibes und des Geistes zu reinigen« (2Co 7,1 vgl. 1Jn 3,3), weil die Begegnung mit Gott eine vollkommene Reinheit verlangt.

Jede Spur der Bindung an das Böse muß ausgelöscht, jede Unförmigkeit der Seele ausgeglichen werden. Die Läuterung muß abgeschlossen sein, und dies ist es eben, was die Lehre der Kirche mit Fegefeuer bezeichnet. Dieser Begriff weist nicht auf einen Ort hin, sondern auf einen Lebenszustand. Diejenigen, die nach dem Tod in einem Zustand der Reinigung leben, sind schon in der Liebe Christi, der sie von den Resten der Unvollkommenheit befreit (vgl. Konzil von Florenz, Decretum pro Graecis: DH 1304 Konzil von Trient, Decretum de iustificatione: DH 1580 Decretum de purgatorio DH DH 1820).

42 Man muß sich klar machen, daß der Zustand der Reinigung keine Fortsetzung des irdischen Lebens ist, als wäre nach dem Tod eine letzte Möglichkeit gegeben, das eigene Schicksal zu ändern. Die Lehre der Kirche ist in dieser Beziehung unmißverständlich und ist durch das II. Vatikanische Konzil bekräftigt worden, das genauso lehrt: »Da wir aber weder Tag noch Stunde wissen, so müssen wir nach der Mahnung des Herrn standhaft wachen, damit wir am Ende unseres einmaligen Erdenlebens (vgl. He 9,27) mit ihm zur Hochzeit einzutreten und den Gesegneten zugezählt zu werden verdienen und nicht wie böse und faule Knechte ins ewige Feuer weichen müssen, in die Finsternis draußen, wo ›Heulen und Zähneknirschen sein wird‹ (Mt 22,13 und 25,30)« (Lumen gentium LG 48).

6. Ein letzter wichtiger Aspekt, den die kirchliche Überlieferung immer hervorgehoben hat, wird heute aufgegriffen: Es ist die Dimension der Gemeinschaft. Tatsächlich sind die, die sich im Zustand der Läuterung befinden, sowohl an die Glücklichen gebunden, die sich ganz des ewigen Lebens erfreuen, als auch an uns, die wir in dieser Welt zum Haus des Vaters gehen (vgl. KKK CEC 1032).

Wie im irdischen Leben sind die Gläubigen untereinander im einzigen mystischen Leib vereint. So erfahren nach dem Tod jene, die im Zustand der Läuterung leben, dieselbe Solidarität der Kirche, die im Gebet, in den Fürbitten und in der Liebe der anderen Brüder im Glauben wirkt. Die Läuterung wird im wesentlichen Band erfahren, das zwischen diesen entsteht, die das Leben der gegenwärtigen Zeit leben, und jenen, die sich schon ewiger Glückseligkeit erfreuen.

In den letzten beiden Katechesen haben wir die Alternative beleuchtet, die den Menschen vor die Wahl stellt: entweder mit dem Herrn in Ewigkeit zu leben oder seiner Gegenwart fern zu bleiben. Anders gesagt: Der Mensch hat die Wahl zwischen Himmel und Hölle.
Viele haben sich zwar Gott geöffnet, aber das Leben mit Gott blieb unvollkommen. Um die volle Seligkeit zu erlangen, bedarf der Mensch einer Art "Reinigung", die der Glaube der Kirche mit dem Begriff "Fegefeuer" umschreibt. Diese Bezeichnung meint keinen Ort, sondern einen Zustand. Alle, die nach dem Tod für die Begegnung mit Gott noch "gereinigt" werden, sind schon in der Liebe Christi. Dabei ist das Fegfeuer nicht die Verlängerung des irdischen Lebens. Der Mensch kann sich nicht noch einmal neu entscheiden. Er kann im Fegfeuer nicht nachholen, was er einst auf Erden versäumt hat.
Gleichzeitig bleibt ihm aber die Solidarität der Kirche nicht versagt. Die pilgernde Kirche tritt für ihn ein durch Gebet und Werke der Liebe. So wird die Reinigung von einem Band gehalten, das besteht zwischen denen, die noch auf dieser Welt leben, und jenen, die schon die ewige Seligkeit genießen dürfen.
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Einen herzlichen Gruß richte ich an die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, die sich in diesen Sommertagen in Rom aufhalten. Mögt Ihr mit Erfahrungen beschenkt werden, die Euch in Eurer Entscheidung für Gott bestärken. Dazu erteile ich Euch, Euren Angehörigen daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, gern den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 11. August 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Nach unseren Betrachtungen über das eschatologische Ziel unseres Daseins, nämlich über das ewige Leben, wollen wir nun über den Weg nachdenken, der zu ihm hin führt. Entwickeln wir deshalb die Sichtweise, die im Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente dargestellt wird: »Das ganze christliche Leben ist wie eine große Pilgerschaft zum Haus des Vaters, dessen unbedingte Liebe zu jedem menschlichen Geschöpf und besonders zum ›verlorenen Sohn‹ man jeden Tag wiederentdeckt (vgl. Lc 15,11-32). Diese Pilgerschaft involviert das Innerste der Person, erweitert sich dann auf die gläubige Gemeinschaft, um schließlich die ganze Menschheit zu erreichen« (TMA 49).

43 In Wirklichkeit ist in gewisser Weise schon heute das vor weggenommen, was der Christ eines Tages in Fülle leben wird. Das Ostern des Herrn ist tatsächlich Eröffnung des Lebens der Welt, das kommen wird.

2. Das Alte Testament bereitet die Ankündigung dieser Wahrheit durch die umfassende Thematik des Buches Exodus vor. Der Weg des auserwählten Volkes in das versprochene Land (
Ex 6,8) ist wie eine herrliche Ikone des Weges des Christen zum Haus des Vaters. Offensichtlich ist der Unterschied grundlegend: Während im altüberlieferten »Auszug« die Befreiung auf den Landbesitz ausgerichtet war, vorläufiges Geschenk wie alle menschlichen Wirklichkeiten, ist der neue »Auszug« der Weg zum Haus des Vaters in der die menschliche und kosmische Geschichte übersteigenden Sichtweise von Endgültigkeit und Ewigkeit. Das im Alten Testament versprochene Land ging tatsächlich durch den Fall der beiden Reiche und durch das babylonische Exil verloren. In ihrer Folge entwickelte sich die Idee einer Rückkehr als neuer »Auszug«. Manchmal verlief dieser Weg nicht eindeutig zu einem anderen Seßhaftwerden geographischer oder politischer Art, sondern öffnete sich einer »eschatologischen« Vorstellung, die schon die volle Offenbarung in Christus ankündigte. In diese Richtung bewegen sich eben die weltumfassenden Bilder, die im Buch Jesaja den Weg des Volkes und der Geschichte zu einem neuen Jerusalem, dem Mittelpunkt der Welt, beschreiben (vgl. Is 56-66).

3. Das Neue Testament kündigt die Erfüllung dieser großen Erwartung an und weist auf Christus, den Erlöser der Welt, hin: »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen« (Ga 4,4-5). Im Licht dieser Verkündung steht das gegenwärtige Leben schon unter dem Vorzeichen des Heils. Das wird im Geschehen des Jesu von Nazaret Wirklichkeit. Es erreicht mit Ostern seinen Höhepunkt, wird aber seine volle Verwirklichung in der »Parusie«, in der letzten Ankunft Christi, haben.

Nach dem Apostel Paulus ist dieser Weg des Heils, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, indem er sie in die Zukunft projiziert, Frucht eines Planes Gottes, der ganz auf das Mysterium Christi gegründet ist. Es handelt sich um »das Geheimnis seines Willens, wie er es gnädig im voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist« (Ep 1,9-10 vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 1042 f. ).

In diesem göttlichen Plan ist die Gegenwart die Zeit des »schon und noch nicht«, die Zeit des bereits wirklich gewordenen Heils und des Weges zu seiner vollkommenen Verwirklichung: »So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen« (Ep 4,13).

4. Das Reifen hin zu einer solchen Vollkommenheit in Christus und deshalb zur Erfahrung des Mysteriums der Dreifaltigkeit beinhaltet, daß Ostern sich in seiner Fülle im eschatologischen Reich Gottes (vgl. Lc 22,16) verwirklicht und gefeiert wird. Aber das Geschehen der Menschwerdung, des Kreuzes und der Auferstehung stellt schon die endgültige Offenbarung Gottes dar. Das Angebot der Erlösung, das dieses Ereignis mit sich bringt, tritt in die Geschichte unserer menschlichen Freiheit ein, die berufen ist, dem Aufruf zum Heil zu antworten.

Das christliche Leben ist Teilnahme am Ostergeheimnis wie Kreuzweg und Auferstehung. Kreuzweg, weil unser Dasein beständig einer läuternden Prüfung unterliegt, die zur Überwindung der alten, von der Sünde gekennzeichneten Welt führt. Weg der Auferstehung, weil Gott durch den auferstandenen Christus die Sünde besiegt hat und dadurch für den Gläubigen das »Kreuzesurteil« zur »Gerechtigkeit Gottes« wird, das heißt Triumph seiner Wahrheit und seiner Liebe über die Niederträchtigkeit der Welt.

5. Das christliche Leben ist letztlich ein Reifen zum Mysterium des ewigen Ostern. Darum erfordert es, den Blick fest auf das Ziel zu richten, auf die letzten Wirklichkeiten, aber sich gleichzeitig um die »vorletzten« Wirklichkeiten zu bemühen: Zwischen diesen Wirklichkeiten und dem eschatologischen Ziel besteht kein Gegensatz, sondern im Gegenteil eine Beziehung gegenseitigen Befruchtens. Wenn auch immer die Vorrangstellung der Ewigkeit bekräftigt wird, hindert das nicht daran, daß wir in rechter Weise im Licht Gottes die geschichtlichen Wirklichkeiten leben (vgl. KKK CEC 1048 f).

Es geht darum, jeden Ausdruck des Menschlichen und jedes irdische Wirken zu reinigen, damit in ihnen immer mehr das Ostermysterium des Herrn erstrahlt. Wie uns das Konzil wirklich in Erinnerung gerufen hat, wird das menschliche Wirken, das immer das Zeichen der Sünde mit sich bringt, gereinigt und durch das Ostergeheimnis zur Vollendung erhoben, so daß »alle guten Erträgnisse der Natur und unserer Bemühungen, nämlich die Güter menschlicher Würde, brüderlicher Gemeinschaft und Freiheit im Geist des Herrn und gemäß seinem Gebot, auf Erden vermehrt werden; dann werden wir sie wiederfinden, gereinigt von jedem Makel, lichtvoll und verklärt, dann nämlich, wenn Christus dem Vater ein ewiges, allumfassendes Reich übergeben wird« (Gaudium et spes GS 39).

Dieses Licht der Ewigkeit erhellt das Leben und die ganze Geschichte des Menschen auf der Erde.

In den letzten Katechesen haben wir uns mit den eschatologischen Wirklichkeiten beschäftigt, besonders mit dem ewigen Leben. Heute wollen wir über den Weg nachdenken, der zum ewigen Leben führt.

44 Die Erwartungen, die das Alte Testament in Bilder wie den Exodus oder das neue Jerusalem gekleidet hatte, wurden in Jesus Christus Wirklichkeit. Mit dem Kommen des Erlösers steht die Geschichte endgültig unter dem Vorzeichen des Heils. Es bleibt jedoch eine Spannung: Wir leben in der Zeit zwischen "Schon" und "Noch nicht". Einerseits ist das Heil schon da, andererseits sind wir noch auf dem Weg zu seiner vollen Verwirklichung. Denn wir warten auf die Wiederkunft Christi.

Diese Spannung prägt auch unsere Sendung. Der Blick auf das Geheimnis vom "ewigen Ostern" ist gleichsam das Wasserzeichen für unseren Einsatz auf dieser Erde. Wer auf die letzten Dinge hinlebt, dem werden auch die vorletzten wichtig. Und wer sich in rechter Weise um die vorletzten Dinge müht, der tut es, weil er um die letzten weiß. So besteht zwischen Himmel und Erde, zwischen unserer Hoffnung auf das ewige Leben und unserem Einsatz in dieser Welt keineswegs ein Gegensatz. Im Gegenteil: Beide befruchten einander.
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Diese Gedanken lege ich Euch heute ans Herz, liebe Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders grüße ich die jungen Christen: Euer Aufenthalt in Rom möge eine Kraftquelle sein, aus der Ihr für Euer Glaubenszeugnis schöpfen könnt! Euch allen, Euren Lieben daheim und den über Radio Vatikan und das Fernsehen mit uns verbundenen Gläubigen erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.



Generalaudienz 1999 36