Generalaudienz 1999 44


Mittwoch, 18. August 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Unter den Themen, die dem Gottesvolk in diesem dritten Vorbereitungsjahr auf das Große Jubeljahr 2000 zur besonderen Betrachtung vorgeschlagen werden, finden wir auch die Umkehr, die die Befreiung vom Bösen einschließt (vgl. Tertio millennio adveniente TMA 50). Das ist ein Thema, das unsere persönliche Erfahrung ganz tief berührt, denn unsere gesamte persönliche und gemeinschaftliche Geschichte stellt sich zum großen Teil als Kampf gegen das Böse dar. Die flehentliche Bitte »Erlöse uns von dem Bösen« oder vom »Übel«, die im »Vater unser« enthalten ist, prägt unser Gebet, weil wir uns von der Sünde entfernen und von jeder Mittäterschaft mit dem Bösen frei sind. Sie verweist uns auf den täglichen Kampf, aber vor allem erinnert sie uns an das Geheimnis zum Sieg über das Böse: die Kraft Gottes, die sich in Christus offenbart hat und uns in ihm angeboten wird (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 2853).

2. Das sittliche Übel erzeugt Leid, das - besonders im Alten Testament - dargestellt wird als Strafe für Verhaltensweisen, die dem Gesetz Gottes entgegenstehen. Die Heilige Schrift weist aber auch darauf hin, daß man nach begangener Sünde Gott um sein Erbarmen, das heißt um die Vergebung der Schuld und um das Ende der dadurch verursachten Qualen, bitten kann. Die aufrichtige Rückkehr zu Gott und die Befreiung vom Bösen sind zwei Aspekte eines einzigen Vorgangs. So fordert beispielsweise Jeremia das Volk auf: » Kehrt um, ihr abtrünnigen Söhne, ich will eure Abtrünnigkeit heilen« (Jr 3,22). Im Buch der Klagelieder wird die Aussicht der Rückkehr zum Herrn (vgl. Lm 5,21) sowie die Erfahrung seiner Barmherzigkeit besonders herausgestellt: »Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen; groß ist seine Treue« (3,22-23; vgl. V. 32).

Die gesamte Geschichte Israels wird im Lichte der Dialektik »Sünde Strafe Reue - Erbarmen« neu ausgelegt (vgl. z.B. Ri Jg 3,7-10): Das ist der eigentliche Kern der deuteronomistischen Überlieferung. Sogar der dramatische Niedergang des Reiches und der Stadt Jerusalem wird als Strafe Gottes für mangelnde Treue gegenüber dem Bund gedeutet.

3. In der Bibel ist die Klage des vom Leid gepeinigten Menschen zu Gott immer begleitet von der Erkenntnis der begangenen Sünde und vom Vertrauen auf Gottes befreiendes Eingreifen. Das Schuldbekenntnis ist eines der Elemente, wodurch dieses Vertrauen zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Psalmen besonders bedeutsam, denn sie stellen das Bekenntnis der Schuld und den Schmerz für die eigene Sünde eindrucksvoll dar (vgl. Ps 38,19 Ps 41,5). Eine solche Erkenntnis der Schuld, die in Psalm 51 eindringlich beschrieben wird, ist Grundvoraussetzung für den Beginn eines neuen Lebens. Die Beichte der eigenen Sünden bringt die Gerechtigkeit Gottes noch stärker zum Strahlen: »Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir mißfällt. So behältst du recht mit deinem Urteil, rein stehst du da als Richter« (V. 6). An zahlreichen Stellen in den Psalmen finden wir die Bitte um Hilfe und das vertrauensvolle Warten auf die Befreiung Israels (vgl. Ps 88 Ps 130). Jesus selbst betete am Kreuz mit Psalm 22, um in seiner Todesstunde die liebevolle Zuneigung des Vaters zu erfahren.

4. Wenn Jesus so zum Vater spricht, verleiht er der Erwartung nach Befreiung vom Bösen Ausdruck; in der biblischen Perspektive vollzieht sie sich durch eine Gestalt, die das Leid mit seinem Wert als Sühne auf sich nimmt: Dies ist der Fall der geheimnisvollen Gestalt des Knechts Gottes im Buch Jesaja (vgl. 42,1-9; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53.12). Auch andere Personen können diese Funktion übernehmen, so z.B. der Prophet, der die Schuld Israels büßt und sühnt (vgl. Ez 4,4-5), der Durchbohrte, zu dem die Menschen ihre Blicke erheben (werden) (vgl. Sach Za 12,10-11 und Jn 19,37 vgl. auch Ap 1,7), oder die Märtyrer, die ihr Leid als Sühne für die Sünden ihres Volkes auf sich nehmen (vgl. 2M 7,37-38).

45 Jesus faßt alle diese Personen zusammen und gibt ihnen eine neue Ausrichtung. Nur in Ihm und durch Ihn wird uns das Böse bewußt, und wir können uns an den Vater wenden, um davon befreit zu werden.

Im Gebet des »Vater unser« wird das Böse ausdrücklich erwähnt: Der Begriff »ponerós« (
Mt 6,13), der an sich eine adjektivische Form hat, kann hier als Personifizierung des Bösen verstanden werden. In der Welt wird das Böse von jenem geistigen Wesen gewirkt, das von der biblischen Offenbarung als Teufel oder Satan bezeichnet wird und das sich willentlich Gott entgegen gesetzt hat (vgl. KKK CEC 2851 f.). Die menschliche »Bösartigkeit«, die auf dem Teuflischen beruht oder durch dessen Einfluß erweckt wird, zeigt sich auch in unseren Tagen in verlockender Form. Sie verführt Verstand und Herz, so daß man sogar den Sinn für das Böse und die Sünde verliert. Es handelt sich um die »geheime Macht der Gesetzwidrigkeit« (2Th 2,7), von der Paulus spricht und die sicherlich mit der menschlichen Freiheit verknüpft ist, »aber innerhalb dieser menschlichen Realität wirken Faktoren mit, durch welche die Sünde über den Menschen hinausragt in den Grenzbereich, wo Bewußtsein, Wille und Empfinden in Kontakt mit den dunklen Kräften stehen, die nach dem hl. Paulus in der Welt fast bis zu deren Beherrschung wirken« (Reconciliatio et paenitentia RP 14).

Leider können die Menschen sich großer Bosheit fähig zeigen, das heißt sie werden zu einer »bösen und treulosen Generation« (vgl. Mt 12,39).

5. Wir glauben, daß Jesus den Satan endgültig überwunden und uns auf diese Weise der Angst ihm gegenüber entrissen hat. Jeder Generation stellt die Kirche das befreiende Bild Jesu von Nazaret vor Augen - wie der Apostel Petrus es damals in seinen Worten an Kornelius getan hatte -: »wie dieser [Jesus] umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm« (Ac 10,38).

Wenn sich in Jesus die Überwindung des Bösen vollzog, so muß doch sein Sieg von jedem von uns freiwillig akzeptiert werden, bis das Böse endgültig ausgerottet sein wird. Der Kampf gegen das Böse erfordert also ständigen Einsatz und stete Wachsamkeit. Die endgültige Befreiung ist nur in einer eschatologischen Perspektive erkennbar (vgl. Ap 21,4).

Jenseits all unserer Mühen und sogar unseres Versagens bleibt uns dieses tröstende Wort Christi: »In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt« (Jn 16,33).

In diesem dritten Jahr der Vorbereitung auf das Große Jubiläum sind wir eingeladen, über die Umkehr, die metanoia, nachzudenken. Umkehr bedeutet zugleich Befreiung vom Bösen (vgl. TMA TMA 50). Es geht dabei um ein Thema, das uns tiefstens berührt. Die ganze Geschichte kann man umschreiben als Kampf gegen das Böse. Die Vaterunser-Bitte "erlöse uns von dem Bösen" kehrt in unseren Gebeten immer wieder. Der Mensch will sich vom Bösen entfernen und von all seinen Machenschaften frei werden. Dies bedeutet für uns einen tagtäglichen Kampf. Zugleich ist uns der Sieg verheißen - in der Kraft Gottes, die sich in Jesus offenbart.

Wir dürfen fest daran glauben, daß Jesus den Satan endgültig besiegt und uns von der Angst vor ihm befreit hat. In allen Generationen kann die Kirche immer wieder die erlösende Gestalt Jesu Christi in Erinnerung rufen. Schon der Apostel Petrus hat in seinem Gespräch mit Kornelius darauf Bezug genommen: Jesus zog umher, tat Gutes und heilte alle, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm (vgl. Ac 10,38).
******


Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Besonders heiße ich willkommen: die Leitung und Delegierten der Franziskanerinnen von Dillingen, die in La Storta am Generalkapitel teilnehmen, sowie die Kolpingsfamilie Westhausen, die aus Anlaß des 50jährigen Bestehens nach Rom gepilgert ist. Euch, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.






Mittwoch, 25. August 1999



Liebe Schwestern und Brüder!

46 1. Wir denken weiter über den Weg der Umkehr nach und wollen heute, von der Gewißheit der väterlichen Liebe getragen, unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Sünde richten, sei sie personal oder sozial. Betrachten wir vor allem das Verhalten Jesu, der gekommen ist, um die Menschen von der Sünde und dem Einfluß Satans zu befreien.

Das Neue Testament betont sehr die Macht Jesu über die Dämonen, die er »durch den Finger Gottes« (
Lc 11,20) austreibt. In der Vorstellung des Evangeliums besitzt die Heilung der Besessenen (vgl. Mc 5,1-20) eine größere Bedeutung als die einfache körperliche Heilung, weil das körperliche Übel mit einem inneren Übel in Zusammenhang steht. Die Krankheit, von der Jesus befreit, ist vor allem die der Sünde. Jesus selbst erklärt es bei der Heilung des Gelähmten: »Ihr sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben. Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh nach Hause!« (Mc 2,10-11) Noch vor den Heilungen hat Jesus die Sünde besiegt, indem er selbst den »Versuchungen« widerstand, vor die der Teufel ihn in der Zeit stellte, die er nach der von Johannes empfangenen Taufe in der Wüste verbrachte (vgl. Mc 1,12-13 Mt 4,1-11 Lc 4,1-13). Um die Sünde zu bekämpfen, die sich in und um uns festsetzt, müssen wir den Spuren Jesu folgen und die Vorliebe für das »Ja« erlernen, das er ständig auf die Vorgabe der Vaterliebe aussprach. Dieses »Ja« verlangt unseren vollen Einsatz, aber wir könnten es nicht ohne die Hilfe der Gnade aussprechen, die Jesus selbst durch sein Erlösungswerk für uns erworben hat.

2. Bei einem Blick auf die gegenwärtige Welt müssen wir feststellen, daß in ihr das Sündenbewußtsein beträchtlich nachgelassen hat. Auf Grund einer weit verbreiteten religiösen Gleichgültigkeit und der Ablehnung dessen, was uns die rechte Vernunft und die Offenbarung über Gott sagen, verlieren viele Männern und Frauen das Bewußtsein eines Bundes mit Gott und seinen Geboten. Sehr oft wird die menschliche Verantwortung durch den Anspruch auf eine absolute Freiheit getrübt, die man bedroht und eingeschränkt sieht durch Gott, den höchsten Gesetzgeber.

Das Drama der heutigen Zeit, die einige grundlegende moralische Werte aufzugeben scheint, ist größtenteils durch den Verlust des Sündenbewußtseins bedingt. In diesem Augenblick spüren wir, wie großartig der Weg der »Neuevangelisierung« sein muß. Es ist notwendig, dem Bewußtsein den Sinn für Gott, für seine Barmherzigkeit und für die Unentgeltlichkeit seiner Gaben zurückzugeben, damit es die Schwere der Sünde begreift, die den Menschen gegen seinen Schöpfer stellt. Denn der Tatbestand der persönlichen Freiheit muß als kostbares Geschenk Gottes wiedererkannt und geschützt werden gegen das Bestreben, sie in die Kette der gesellschaftlichen Bedingungen aufzulösen oder sie von der unverzichtbaren Beziehung zu Gott abzutrennen.

3. Es ist auch richtig, daß die persönliche Sünde immer einen gesellschaftlichen Stellenwert hat. Während der Sünder Gott verletzt und sich selbst schadet, ist er weiterhin für das schlechte Zeugnis und die mit seinem Verhalten verbundenen negativen Auswirkungen verantwortlich. Auch wenn die Sünde im Inneren ist, verursacht sie ein Verschlechtern des menschlichen Zustandes und führt zu einem Sinken des Beitrages, zu dem jeder Mensch für den geistigen Fortschritt der menschlichen Gemeinschaft berufen ist.

Darüber hinaus festigen die Sünden der einzelnen jene Formen der sozialen Sünde, die eben die Folge des Anhäufens vieler persönlicher Sünden sind. Die wirkliche Verantwortung jedoch haben offensichtlich die Personen unter der Voraussetzung, daß die soziale Struktur als solche nicht Subjekt moralischer Handlungen ist. Wie das nachsynodale apostolische Schreiben Reconciliatio et paenitentia sagt: »Wenn die Kirche von Situationen der Sünde spricht oder bestimmte Verhältnisse und gewisse kollektive Verhaltensweisen von mehr oder weniger breiten sozialen Gruppen oder sogar von ganzen Nationen und Blöcken von Staaten als soziale Sünden anklagt, dann weiß sie und betont es auch, daß solche Fälle von sozialer Sünde die Frucht, die Anhäufung und die Zusammenballung vieler personaler Sünden sind …Die wirkliche Verantwortung liegt also bei den Personen« (RP 16).

Es ist dennoch eine unbestreitbare Tatsache, daß - wie ich mehrmals zu betonen Gelegenheit hatte - die gegenseitige Abhängigkeit der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme in der heutigen Welt vielfältige Strukturen der Sünde schafft (vgl. Sollicitudo rei socialis SRS 36 Katechismus der Katholischen Kirche, 1869). Es besteht eine erschreckende Anziehungskraft des Bösen, das viele Verhaltensweisen als »normal« und »unvermeidlich« beurteilt. Das Böse nimmt zu und bedrängt mit verheerenden Folgen das Bewußtsein, das orientierungslos zurückbleibt und nicht einmal in der Lage ist zu unterscheiden. Wenn man dann an die Strukturen der Sünde denkt, die die Entwicklung der benachteiligten Völker unter dem ökonomischen und politischen Aspekt hemmen (vgl. Sollicitudo rei socialis SRS 37), müßte man sich beinahe ergeben angesichts eines scheinbar unabwendbaren moralischen Übels. Viele Menschen nehmen die Machtlosigkeit und die Verwirrung angesichts der erdrückenden und aussichtslos erscheinenden Lage wahr. Aber die Verkündung des Sieges Christi über das Böse gibt uns Gewißheit, daß auch die vom Bösen am meisten gefestigten Strukturen von den »Strukturen des Guten« besiegt und ersetzt werden können (vgl. ebd., 39).

4. Die »Neuevangelisierung« stellt sich dieser Herausforderung. Sie muß sich ihrer annehmen, damit alle Menschen wieder das Bewußtsein erlangen, daß in Christus das Böse durch das Gute besiegt werden kann. Es muß im Sinne einer persönlichen Verantwortung gebildet werden, das eng mit den moralischen Anforderungen und dem Sündenbewußtsein verbunden ist. Der Weg der Umkehr beinhaltet den Ausschluß jeder Mitwisserschaft von Strukturen der Sünde, die heutzutage die Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen besonders prägen.

Das Jubiläum kann eine günstige Gelegenheit darstellen, damit die einzelnen und die Gemeinschaft in diese Richtung gehen. Es soll eine echte »metanoia« fördern, das heißt eine Mentalitätsänderung, die einen Beitrag leistet zur Bildung von gerechteren und menschlicheren Strukturen zum Vorteil des Gemeinwohls.

Ein Zauberwort unserer Zeit heißt Freiheit. Aber was ist Freiheit?

Das Drama des Menschen besteht darin, daß er seine Freiheit absolut setzt und nicht mehr sieht, was sie eigentlich ist: Geschenk des Himmels, Gabe Gottes. Freiheit ist verbunden mit Verantwortung. Freiheit schließt auch die Möglichkeit der Sünde ein.

47 Manchmal höre ich die Klage: Die Menschen haben kein Sündenbewußtsein mehr. Aber die Klage allein ist kein guter Ratgeber. Wer für die Sünde sensibilisieren will, muß anderswo ansetzen: bei Gott und seiner Zuwendung zum Menschen. Denn die Sünde bekommt erst dort ihre wahre Bedeutung, wo wir sie im Licht der Barmherzigkeit Gottes anschauen. Das gibt der neuen Evangelisierung eine positive Perspektive.

Noch etwas liegt mir sehr am Herzen. Die Sünde hat Konsequenzen für die Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen. Heute spricht man so viel von Globalisierung. Dieser Begriff gilt nicht nur für wirtschaftliche Prozesse, sondern auch für die Strukturen des Bösen. Sie drohen, die ganze Welt zu durchsetzen. Die Verlierer dabei sind die Armen. Ich lade deshalb zu einer echten Umkehr ein. Wenn immer mehr Menschen mit Gottes Gnade bereit sind, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, dann zerbrechen die Strukturen des Bösen an den Strukturen des Guten. Gebe Gott, daß unsere Welt immer gerechter und menschlicher werde. Fangen wir an mit der "Globalisierung im Guten"!
*********


Mit dem Wunsch, immer bewußter vor Gott zu leben, grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Euer Aufenthalt in Rom möge Euch Gott näher bringen! Dazu erteile ich Euch, Euren Lieben daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, von Herzen den Apostolischen Segen.



September 1999


Mittwoch, 1. September 1999

Liebe Schwestern und Brüder!


1. »Gepriesen und gelobt bist du, Herr, Gott unserer Väter […] wir haben gesündigt und durch Treuebruch gefrevelt und haben in allem gefehlt. Wir haben deinen Geboten nicht gehorcht …« (Da 3,26 Da 3,29). So beteten die Juden nach dem Exil (vgl. Bar Ba 2,11-13), indem sie für die Schuld ihrer Väter einstanden. Die Kirche folgt ihrem Beispiel und bittet auch für die historische Schuld ihrer Kinder um Vergebung.

In der Tat hat in unserem Jahrhundert das Ereignis des II. Vatikanischen Konzils einen bedeutsamen Anstoß zur Erneuerung der Kirche gegeben, damit sie als Gemeinschaft der Erlösten immer mehr lebendige Transparenz der Botschaft Jesu in der Welt werde. In Treue zur Lehre des letzten Konzils ist sich die Kirche immer mehr bewußt, daß nur in einer fortwährenden Läuterung ihrer Mitglieder und Institutionen sie der Welt ein konsequentes Zeugnis für den Herrn bieten kann. Daher geht sie, »zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, […] immerfort den Weg der Buße und Erneuerung« (Lumen gentium LG 8).

2. Die Anerkennung der gemeinschaftlichen Verflechtungen von Schuld drängt die Kirche, für die »historische« Schuld ihrer Kinder um Vergebung zu bitten. Anlaß dazu bietet die kostbare Gelegenheit des Großen Jubiläums des Jahres 2000, das in der Spur der Lehre des II. Vatikanums eine neue Seite der Geschichte aufschlagen will in der Überwindung der Hindernisse, welche die Menschen, und besonders die Christen, noch untereinander trennen.

Daher habe ich im Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente dazu aufgerufen, die Kirche möge sich am Ende dieses zweiten Jahrtausends »mit stärkerer Bewußtheit der Schuld ihrer Söhne und Töchter« annehmen, »eingedenk aller jener Vorkommnisse im Laufe der Geschichte, wo diese sich vom Geist Christi und seines Evangeliums dadurch entfernt haben, daß sie der Welt statt eines an den Werten des Glaubens inspirierten Lebenszeugnisses den Anblick von Denk- und Handlungsweisen boten, die geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten« (TMA 33).

48 3. Die Anerkennung historischer Schuld setzt eine Stellungnahme gegenüber den Ereignissen voraus, so wie sie wirklich geschehen sind, was allein unparteiische und vollständige historische Rekonstruktionen ans Licht bringen können. Zum anderen kann das Urteil über historische Ereignisse nicht absehen von einer realistischen Betrachtung der durch die einzelnen kulturellen Kontexte gebotenen Bedingtheiten, bevor man den einzelnen bestimmte moralische Verantwortlichkeiten zuweist.

Die Kirche fürchtet gewiß nicht die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt, und ist bereit, Fehler anzuerkennen, wo diese festgestellt sind, vor allem, wenn es um die den Personen und den Gemeinschaften geschuldete Achtung geht. Sie ist nicht geneigt, den verallgemeinernden Urteilen des Freispruchs oder der Verurteilung verschiedener Zeitabschnitte der Geschichte Glauben zu schenken. Sie vertraut die Untersuchung der Vergangenheit geduldiger, sachlicher wissenschaftlicher Rekonstruktion an, frei von konfessionellen und ideologischen Vorurteilen, sowohl was die ihr gemachten Anschuldigungen als auch das von ihr erlittene Unrecht betrifft.

Wenn durch ernsthafte historische Untersuchung eine Schuld ihrer Mitglieder festgestellt ist, verspürt die Kirche die Pflicht, diese anzuerkennen und Gott und die Mitmenschen dafür um Vergebung zu bitten. Diese Vergebungsbitte darf nicht als Zur-Schau-Stellung vorgetäuschter Demut verstanden werden noch als Verleugnung einer zweitausendjährigen Geschichte, die zweifellos reich ist an Verdiensten auf den Gebieten der Caritas, der Kultur und des Sanitätswesens. Sie entspricht hingegen einem unverzichtbaren Anspruch der Wahrheit, außer positiven Gesichtspunkten auch Grenzen und menschliche Schwächen von verschiedenen Generationen der Jünger Christi anzuerkennen.

4. Das herannahende Jubiläum lenkt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Arten von Schuld in Vergangenheit und Gegenwart, für die es in besonderer Weise das Erbarmen des Vaters anzurufen gilt.

Hier denke ich vor allem an die schmerzliche Wirklichkeit der Spaltung unter den Christen. Die Entzweiungen der Vergangenheit, gewiß nicht ohne Schuld auf beiden Seiten, bleiben vor der Welt ein Ärgernis. Ein weiterer Akt der Reue betrifft die Nachgiebigkeit gegenüber Methoden der Intoleranz oder gar Gewalt im Dienst an der Wahrheit (vgl. TMA
TMA 35). Auch wenn viele in gutem Glauben so gehandelt haben, entsprach es gewiß nicht dem Evangelium, zu meinen, daß die Wahrheit mit Gewalt aufzudrängen sei. Dazu kommt die fehlende Erkenntnis nicht weniger Christen hinsichtlich Situationen von Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Die Bitte um Vergebung gilt für das, was unterlassen oder verschwiegen wurde, sei es aus Schwäche oder aus Fehleinschätzung; für das, was unentschlossen und in wenig geeigneter Weise getan und gesagt wurde.

In diesen und in anderen Fällen »[entbindet] die Berücksichtigung der mildernden Umstände […] die Kirche nicht von der Pflicht, zutiefst die Schwachheit so vieler ihrer Söhne zu bedauern, die das Antlitz der Kirche dadurch entstellten, daß sie sie hinderten, das Abbild ihres gekreuzigten Herrn als eines unübertrefflichen Zeugen geduldiger Liebe und demütiger Sanftmut widerzuspiegeln« (ebd.).

Die Reuegesinnung der Kirche unserer Zeit an der Schwelle des dritten Jahrtausends will also kein bequemer Geschichts-Revisionismus sein, was ebenso verdächtig wie nutzlos erschiene. Vielmehr ist es ein Blick in die Vergangenheit im Eingeständnis von Schuld, damit es Lehre sei für eine Zukunft eines klareren Zeugnisses.

Die Kirche “ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig. Sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung” (vgl. LG LG 8). Besonders fühlen wir dies an der Schwelle des dritten Jahrtausends. Denn das große Jubiläum des Jahres 2000 lädt uns ein, für die “historischen” Sünden der Kirche um Vergebung zu bitten.

Um zu den Sünden zu stehen, muß man die Geschichte genau kennen und gründlich analysieren. Wer die historischen Ereignisse beurteilen will, muß zudem beachten, wie sie in den geschichtlichen Kontext eingebettet sind. Erst dann ist es erlaubt, Verantwortung zuzuweisen.

Die Kirche hat sicherlich keine Angst vor der historischen Wahrheit und ist gern bereit, eventuelle Fehltritte anzuerkennen. Doch es liegt ihr fern, generelle Verurteilungen auszusprechen.
******


49 Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Euch, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 8. September 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Indem wir fortfahren, den Sinn der Bekehrung weiter zu ergründen, wollen wir heute auch die Bedeutung der Sündenvergebung zu verstehen suchen, die uns von Christus durch die sakramentale Vermittlung der Kirche angeboten ist.

Und an erster Stelle wollen wir uns die biblische Botschaft von der Vergebung Gottes zu Bewußtsein bringen: eine Botschaft, die im Alten Testament weitgehend entwickelt und im Neuen in Fülle zum Ausdruck gebracht wird. Die Kirche hat diesen Inhalt ihres Glaubens sogar ins Credo aufgenommen, wo sie die Vergebung der Sünden bekennt: »Credo …in remissionem peccatorum

2. Das Alte Testament spricht in unterschiedlicher Weise von der Vergebung der Sünden. Diesbezüglich finden wir eine abwechslungsreiche Terminologie vor: Die Sünde wird »genommen« (vgl. Ex 32,32), »getilgt«, »gesühnt« (vgl. Is 6,7), »hinter den Rücken geworfen« (vgl. Is 38,17). In Psalm 103 zum Beispiel heißt es, daß Gott »all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt« (v. 3), und weiter: »Er handelt an uns nicht nach unsern Sünden und vergibt uns nicht nach unsrer Schuld …Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten« (v. 10 und v. 13).

Eine solche Bereitschaft Gottes zur Vergebung mindert die Verantwortung des Menschen und die Notwendigkeit seines Einsatzes zur Bekehrung nicht. Aber wenn, wie der Prophet Ezechiel hervorhebt, der Übeltäter von seinem ruchlosen Verhalten Abstand nimmt, wird seiner Sünde nicht mehr gedacht werden, und er wird leben (vgl. Ez Ez 18, bes. v. 19-22).

3. Im Neuen Testament wird die Vergebung Gottes durch die Worte und Taten Jesu offenbar. Jesus vergibt Sünden und zeigt damit das Antlitz Gottes, des barmherzigen Vaters. Er stellt sich bestimmten religiösen Tendenzen entgegen, die von heuchlerischer Strenge gegenüber den Sündern gekennzeichnet waren, und macht bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich, wie groß und tief das Erbarmen des Vaters für alle seine Kinder ist (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche CEC 1443).

Als Höhepunkt dieser Offenbarung kann das unübertref fliche Gleichnis - üblicherweise »vom verlorenen Sohn« genannt -, das aber eigentlich vom »barmherzigen Vater« heißen sollte, gelten (vgl. Lc 15,11-32). Hier wird die Haltung Gottes in wahrlich überwältigenden Worten angesichts menschlicher Maßstäbe und Erwartungen beschrieben. Das Verhalten des Vaters wird in dem Gleichnis in seiner ganzen Natürlichkeit verstanden, wenn wir bedenken, daß es im gesellschaftlichen Umfeld der Zeit Jesu üblich war, daß die Söhne im väterlichen Gut arbeiteten wie die beiden Söhne des Herrn des Weinbergs, von denen Jesus in einem anderen Gleichnis (vgl. Mt 21,28-31) spricht. Diese Regelung sollte bis zum Tod des Vaters gelten. Dann erst teilten die Söhne die Güter auf, die ihnen als Erbe zustanden. In unserem Fall hingegen kommt der Vater dem Wunsch des jüngeren Sohnes nach, der ihn bittet, ihm sein Erbteil auszuzahlen, und teilt das Vermögen zwischen ihm und dem älteren Sohn auf (vgl. Lc 15,12).

4. Die Entscheidung des jüngeren Sohnes, der sich emanzipieren will, indem er das vom Vater erhaltene Vermögen verschleudert und ein zügelloses Leben führt (vgl. ebd., 15,13), ist eine ungezogene Absage an die familiäre Gemeinschaft. Das Weggehen vom väterlichen Haus bringt die Bedeutung der Sünde mit ihrem Charakter undankbarer Auflehnung und ihren auch menschlich leidhaften Folgen gut zum Ausdruck. Angesichts der Wahl dieses Sohnes würde menschliches Vernunftdenken, wie es in gewisser Weise im Protest des älteren Sohnes zum Ausdruck kommt, die Strenge einer angemessenen Strafe vor der Wiederaufnahme in die Familie geraten sein lassen.

Der Vater aber, der ihn schon von weitem kommen sieht, wird von Mitleid erfüllt (eigentlich: »in seinem Innersten bewegt«, wie es im griechischen Text bei Lc 15,20 wörtlich heißt), läuft ihm entgegen, drückt ihn in liebender Umarmung an sich und will, daß alle ein Fest für ihn feiern.

50 Das väterliche Erbarmen tritt noch deutlicher zutage, als dieser Vater den älteren Sohn, der ihm seine Rechte vorhält (vgl. ebd., 15,29 f.), unter sanftem Tadel zum gemeinsamen Freudenmahl einlädt. Die reine Gesetzlichkeit wird von der weitherzigen und unentgeltlichen Liebe des Vaters übertroffen, welche die menschliche Gerechtigkeit übersteigt und beide Brüder auffordert, sich wieder an den väterlichen Tisch zu setzen.

Die Vergebung besteht nicht nur in einer erneuten Aufnahme des Sohnes, der weggegangen ist, unter dem väterlichen Dach, sondern auch in seinem Empfang in der Freude wiederhergestellter Gemeinschaft, die vom Tod zum Leben führt. Daher »müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern« (
Lc 15,13).

Der barmherzige Vater, der den verlorenen Sohn in seine Arme schließt, ist das endgültige Bild des durch Christus offenbarten Gottes. Er ist zuerst und vor allem Vater: Gottvater, der seine segnenden und erbarmenden Arme ausstreckt, immer wartet, keines seiner Kinder drängt. Seine Hände tragen, stützen und stärken, zugleich ermutigen, trösten und liebkosen sie. Es sind zu gleicher Zeit Hände eines Vaters und einer Mutter.

Der barmherzige Vater des Gleichnisses trägt alle Merkmale der Vaterschaft und der Mutterschaft an sich und übersteigt sie. Wenn er dem Sohn um den Hals fällt, zeigt er die Züge einer Mutter, die ihr Kind liebkost und es mit ihrer Wärme umgibt. Im Licht dieser Offenbarung des Antlitzes und Herzens Gottes, des Vaters, kann man den Ausspruch Jesu begreifen, der die menschliche Logik erschüttert: Es wird »im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren« (Lc 15,7). Und weiter: Es herrscht »bei den Engeln Gottes Freude über einen einzigen Sünder, der umkehrt« (ebd., 15.10).

5. Das Geheimnis der »Heimkehr« drückt wunderbar die Begegnung des Vaters mit der Menschheit, des Erbarmens mit der Armseligkeit aus in einem Kreis der Liebe, der nicht nur den verlorenen Sohn betrifft, sondern sich auf alle erstreckt.

Die Einladung zum Festmahl, die der Vater an den älteren Sohn richtet, enthält die Ermahnung des himmlischen Vaters an alle Glieder der Menschheitsfamilie, ihrerseits barmherzig zu sein.

Die Erfahrung der Vaterschaft Gottes bedeutet auch Annahme der »Brüderlichkeit«, gerade weil Gott Vater aller ist, und daher auch des Bruders, der einen Fehler begeht.

Jesus, der dieses Gleichnis erzählt, spricht nicht nur vom Vater, sondern gibt auch seine eigenen Gefühle zu erkennen. Vor den Pharisäern und Schriftgelehrten, die ihn beschuldigen, mit Sündern zu verkehren und mit ihnen zu essen (vgl. Lc 15,2), macht er seine Vorliebe für die Sünder und Zöllner, die mit Vertrauen zu ihm kommen (vgl. ebd., 15,1), deutlich und zeigt damit, daß er gesandt ist, die Barmherzigkeit des Vaters zu offenbaren. Es ist die Barmherzigkeit, die vor allem auf Golgota erstrahlt in dem von Christus zur Vergebung der Sünden (vgl. Mt 26,28) dargebrachten Opfer.

Leben und Glauben sind in erster Linie ein Weg. Eine der schönsten Weggeschichten der Heiligen Schrift erzählt Jesus im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Eigentlich müßte es besser heißen: Gleichnis vom barmherzigen Vater.

Die Dramatik der Erzählung kennen wir alle. Besonders einprägsam ist der Augenblick, in dem der barmherzige Vater den "verlorenen Sohn" in seine Arme schließt. Diese Szene ist gleichsam die Ikone Gottes, wie Christus sie offenbart.

Gottes Hände sind gute Hände: weit geöffnet und voller Erwartung. Gleichzeitig sind Gottes Hände stark: Mit Kraft können sie tragen und trösten. Es sind väterliche und mütterliche Hände zugleich. So hat der barmherzige Vater sowohl väterliche als auch mütterliche Züge, wobei er beide gleichzeitig übersteigt.

51 Der Heimweg des verlorenen Sohnes ins Vaterhaus und die Einladung des älteren Sohnes zum Festmahl der Freude sind ein wunderbares Bild für die Begegnung Gottes des Vaters mit der Menschheit. Es malt gleichsam den Kreislauf der Liebe Gottes, der nicht nur den verlorenen Sohn betrifft, sondern uns alle angeht.
* * * * *


Herzlich grüße ich die vielen Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders möchte ich heute die folgenden Gruppen erwähnen: die Leser des "Paulinus" aus dem Bistum Trier und Pilger aus dem Frankenwald in der Erzdiözese Bamberg sowie Stipendiaten der Deutschen Bischofskonferenz. Nicht vergessen möchte ich die Ordensschwestern, die in La Storta an einer geistlichen Erneuerung teilnehmen. Gern erteile ich Euch, Euren Lieben daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 15. September 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Der Weg zum Vater, der uns in diesem Jahr der Vorbereitung auf das Große Jubiläum zu besonderem Nachdenken vorgestellt ist, beinhaltet auch die Wiederentdeckung des Bußsakramentes in seiner tiefen Bedeutung einer Begegnung mit Ihm, der vergibt durch Christus im Geist (vgl. TMA TMA 50).

Aus verschiedenen Gründen erscheint in der Kirche ein ernsthaftes Nachdenken über dieses Sakrament dringlich. Das erfordert vor allem die Botschaft von der Liebe des Vaters als Grundlage christlichen Lebens und Handelns im Umfeld der heutigen Gesellschaft, wo die ethische Sicht des menschlichen Daseins oft verdeckt ist. Wenn vielen die Dimension von Gut und Böse abhanden gekommen ist, so liegt das daran, daß sie den Sinn für Gott verloren haben und Schuld nur nach psychologischen oder soziologischen Perspektiven interpretieren. An zweiter Stelle muß die Seelsorge neue Impulse für einen Weg des Wachstums im Glauben vermitteln, der die Bedeutung des Geistes und der Praxis der Buße über das ganze christliche Leben hinweg betont.

2. Die Botschaft der Bibel präsentiert diese »Buß«-Dimension als ein ständiges Bemühen um Umkehr. Werke der Buße zu tun setzt eine Wandlung des Gewissens voraus, die Frucht der Gnade Gottes ist. Vor allem im Neuen Testament wird Umkehr als Grundentscheidung von denen gefordert, an die die Verkündigung vom Reich Gottes ergeht: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mc 1,15 vgl. Mt 4,17). Mit diesen Worten beginnt Jesus sein Wirken, verkündet er die Erfüllung der Zeit und die Nähe des Gottesreiches. Das »Kehrt um« (auf griechisch: »metanoéite«) ist eine Aufforderung, Denk- und Verhaltensweisen zu ändern.

3. Dieselbe Aufforderung zur Umkehr bildet den vitalen Schlußpunkt der Predigt der Apostel nach Pfingsten. Der Gegenstand der Verkündigung wird dabei ganz klargelegt: nicht mehr allgemein das »Reich«, sondern das Wirken Jesu selbst, eingebettet in den göttlichen Plan, der von den Propheten vorausgesagt wurde. Auf die Verkündigung des Geschehens in Jesus Christus, des Gestorbenen und Auferstandenen, der in der Herrlichkeit des Vaters lebt, folgt die dringliche Ermahnung zur »Umkehr«, an sie ist auch die Vergebung der Sünden geknüpft. All dies kommt in der Rede, die Petrus in der Halle Salomons hält, deutlich zum Ausdruck: »Gott aber hat auf diese Weise erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten im voraus verkündigt hat: daß sein Messias leiden werde. Also kehrt um, und tut Buße, damit eure Sünden getilgt werden« (Ac 3,18-19).

Diese Vergebung der Sünden wird im Alten Testament von Gott im Rahmen des »neuen Bundes« versprochen, den er mit seinem Volk schließen will (vgl. Jer Jr 31,31-34). Gott schreibt das Gesetz ins Herz hinein. In dieser Sicht ist die Umkehr ein Erfordernis des endgültigen Bundes mit Gott und zugleich eine fortwährende Haltung des Menschen, der mit der Annahme des Wortes, der Botschaft des Evangeliums, eingetreten ist ins Reich Gottes in seiner historischen und eschatologischen Dynamik.

4. Das Sakrament der Versöhnung vermittelt diese vom Wort Gottes verkündeten Grundwerte und macht sie im Mysterium sichtbar. Es stellt den Menschen wieder in den Heilskontext des Bundes und öffnet ihn neu für das trinitarische Leben, welches Dialog der Gnade, Kreislauf der Liebe, Geschenk und Aufnahme des Heiligen Geistes ist.


Generalaudienz 1999 44