Predigten 1978-2005


1

                                                             1978



ANSPRACHE VON JOHANNES PAUL II. AM BEGINN DES PONTIFIKATS

Sonntag, 22. Oktober 1978



1. »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16,16).

Diese Worte hat Simon, der Sohn des Jona, in der Gegend von Cäsarea Philippi ausgerufen. Ja, er hat sie in seiner eigenen Sprache formuliert, aus einer tiefen, lebendigen und bewußten Überzeugung — und doch haben sie nicht in ihm ihre Quelle, ihren Ursprung, »… denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16,17). Das waren Worte des Glaubens.

Sie bezeichnen den Anfang der Sendung Petri in der Heilsgeschichte, in der Geschichte des Gottesvolkes. Damit, beginnend mit diesem Glaubensbekenntnis, sollte die Geschichte unserer Erlösung und die des Gottesvolkes eine neue Dimension erhalten: die Entfaltung der historischen Dimension der Kirche. Die ekklesiologische Dimension in der Geschichte des Gottesvolkes hat in diesem Glaubensbekenntnis ihren Ursprung und Anfang und ist mit jenem Menschen verknüpft, der gesagt hat: »Du bist Petrus — der Fels, der Stein —, und darauf, wie auf einem Felsen, werde ich meine Kirche bauen.«

2. Heute und an dieser Stelle müssen wir dieselben Worte von neuem aussprechen und hören: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.«

Ja, liebe Brüder, Söhne und Töchter, auf diese Worte kommt es an!

Ihr Inhalt öffnet unseren Augen das Geheimnis des lebendigen Gottes, ein Geheimnis, mit dem uns der Sohn vertraut gemacht hat. Niemand hat uns Menschen den lebendigen Gott so nahe gebracht, niemand ihn so offenbart, wie er es getan hat. Bei unserer Gotteserkenntnis, auf unserem Weg zu Gott sind wir völlig abhängig von der Kraft dieser Worte. »Wer mich sieht, sieht auch den Vater!« Der Unendliche, der Unergründliche, der Unfaßbare ist uns in Jesus Christus nahe gekommen, in seinem eingeborenen Sohn, geboren von der Jungfrau Maria im Stall von Betlehem.

– Ihr alle, die ihr schon das unschätzbare Glück des Glaubens habt,

– ihr alle, die ihr Gott noch sucht,

– und auch ihr, die ihr von Zweifeln geplagt seid:

2 nehmt noch einmal — heute und an dieser Stelle — jene Worte in euch auf, die Petrus ausgerufen hat. Diese Worte enthalten den Glauben der Kirche. In ihnen ist die neue Wahrheit, ja sogar die letzte und endgültige Wahrheit vom Menschen enthalten: Sohn des lebendigen Gottes. »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!«

3. Heute beginnt der Bischof von Rom mit dieser offiziellen Feier den Dienst seines Petrusamtes. Gerade in dieser Stadt hat Petrus den vom Herrn empfangenen Auftrag durchgeführt und vollendet.

Der Herr wandte sich einmal mit folgenden Worten an ihn: als du jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest; wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst« (
Jn 21,18).

Petrus ist nach Rom gekommen!

Nur der Gehorsam gegenüber dem Auftrag des Herrn hat seine Schritte geführt und ihn bis zu dieser Stadt gelangen lassen, dem Herzen des Römischen Reiches. Vielleicht wäre er lieber dort geblieben, an den Ufern des Sees von Gennesaret, bei seinem Boot mit den Fischernetzen. Aber unter der Führung des Herrn und seinem Auftrag getreu ist er hierhergekommen!

Nach einer alten Überlieferung (die auch eine wunderbare literarische Form in einem Roman von Henryk Sienkiewicz gefunden hat) wollte Petrus während der Verfolgung des Nero die Stadt Rom verlassen. Da aber griff der Herr ein: er ging ihm entgegen. Petrus sprach ihn an und fragte: »Quo vadis, Domine?« — »Wohin gehst du, Herr?« und der Herr antwortete sofort: »Ich gehe nach Rom, um dort ein zweites Mal gekreuzigt zu werden.« Da kehrte Petrus nach Rom zurück und ist dort bis zu seiner Kreuzigung geblieben.

Ja, liebe Brüder, Söhne und Töchter! Rom ist der Bischofssitz des Petrus. Im Laufe der Jahrhunderte sind ihm immer neue Bischöfe auf diesem Sitz nachgefolgt. Heute nimmt wieder ein neuer Bischof Besitz von der römischen Kathedra des Petrus, ein Bischof, erfüllt von Furcht und Zagen, seiner Unzulänglichkeit bewußt. Wie sollte er nicht erschrecken vor der Größe seiner Berufung, vor der universellen Sendung, die mit diesem römischen Bischofssitz verbunden ist!

Die Kathedra des Petrus hier in Rom besteigt heute ein Bischof, der kein Römer ist, ein Bischof, der aus Polen stammt. Aber von jetzt an wird auch er zum Römer. Ja, Römer! Auch schon deshalb, weil er Sohn eines Volkes ist, dessen Geschichte von Anfang an und in tausendjähriger Tradition geprägt ist von einer lebendigen, starken, ununterbrochenen, bewußten und gewünschten Bindung an den Sitz des hl. Petrus, eines Volkes, das dieser römischen Kathedra immer treu geblieben ist. Oh, wie unerforschlich ist der Plan der göttlichen Vorsehung!

4. In den vergangenen Jahrhunderten wurde der Nachfolger Petri, wenn er von seinem Bischofsstuhl Besitz ergriff, mit der Tiara gekrönt. Als letzter empfing sie Papst Paul VI. im Jahre 1963. Nach dem feierlichen Krönungsritus hat er jedoch die Tiara nicht mehr getragen, wobei er seinen Nachfolgern hierzu aber jede Entscheidungsfreiheit ließ.

Papst Johannes Paul I., dessen Andenken noch so lebendig in unseren Herzen ist, hat die Tiara nicht gewollt, und heute will sie auch sein Nachfolger nicht. Es entspricht nicht mehr der Zeit, einen Ritus wieder aufzugreifen, der (wenn auch unberechtigterweise) als Symbol der weltlichen Macht der Päpste angesehen worden ist.

Unsere Zeit lädt uns dazu ein, drängt und verpflichtet uns, auf den Herrn zu schauen und uns in eine demütige und ehrfürchtige Betrachtung des Geheimnisses der höchsten Gewalt Jesu Christi selbst zu vertiefen.

3 Er, der aus der Jungfrau Maria geboren wurde, der Sohn des Zimmermanns — wie man glaubte —, der Sohn des lebendigen Gottes — wie Petrus bekannte —, ist gekommen, um uns alle zu einem »königlichen Priestertum« zu machen.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat uns das Geheimnis dieser Herrschergewalt wiederum in Erinnerung gebracht und auch die Tatsache, daß die Sendung Christi als Priester, prophetischer Lehrer und König in der Kirche fortdauert. Alle, das ganze Volk Gottes, haben Anteil an dieser dreifachen Sendung. In der Vergangenheit hat man vielleicht dem Papst die Tiara, die dreifache Krone, aufs Haupt gesetzt, um durch diese symbolische Geste den Heilsplan Gottes für seine Kirche zum Ausdruck zu bringen, daß nämlich die ganze hierarchische Ordnung der Kirche Christi, die ganze in ihr ausgeübte »heilige Gewalt« nichts anderes ist als Dienst, ein Dienst, der nur das eine Ziel hat: daß das ganze Volk Gottes an dieser dreifachen Sendung Christi Anteil habe und immer unter der Herrschaft des Herrn bleibe, die ihre Ursprünge nicht in den Mächten dieser Welt, sondern im Geheimnis des Todes und der Auferstehung hat.

Die uneingeschränkte und doch milde und sanfte Herrschaft des Herrn ist die Antwort auf das Tiefste im Menschen, auf die höchsten Erwartungen seines Verstandes, seines Willens und Herzens. Sie spricht nicht die Sprache der Gewalt, sondern äußert sich in Liebe und Wahrheit.

Der neue Nachfolger Petri auf dem Bischofsstuhl in Rom betet heute innig, demütig und vertrauensvoll: »Christus! laß mich ganz Diener deiner alleinigen Herrschaft werden und sein! Diener deiner sanften Herrschaft! Diener deiner Herrschaft, die keinen Untergang kennt! Laß mich Diener sein! Mehr noch ein Diener deiner Diener!«

5. Brüder und Schwestern! Habt keine Angst, Christus aufzunehmen und seine Herrschergewalt anzuerkennen!

Helft dem Papst und allen, die Christus und mit der Herrschaft Christi dem Menschen und der ganzen Menschheit dienen wollen!

Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!

Öffnet die Grenzen der Staaten, die wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner rettenden Macht! Habt keine Angst! Christus weiß, »was im Innern des Menschen ist«. Er allein weiß es!

Heute weiß der Mensch oft nicht, was er in seinem Innern, in der Tiefe seiner Seele, seines Herzens trägt. Er ist deshalb oft im Ungewissen über den Sinn seines Lebens auf dieser Erde. Er ist vom Zweifel befallen, der dann in Verzweiflung umschlägt. Erlaubt also — ich bitte euch und flehe euch in Demut und Vertrauen an —, erlaubt Christus, zum Menschen zu sprechen! Nur er hat Worte des Lebens!

In der Tat, Worte ewigen Lebens! Gerade heute feiert die ganze Kirche ihren Weltmissionstag. Sie betet, meditiert und setzt sich dafür ein, daß die Worte des Lebens von Christus alle Menschen erreichen und von ihnen als Botschaft der Hoffnung, des Heils und der völligen Befreiung angenommen werden.

6. Ich danke allen Anwesenden, die an dieser feierlichen Messe zur Übernahme des Dienstamtes des neuen Nachfolgers Petri teilnehmen wollten.

4 Von Herzen danke ich den Staatsoberhäuptern, den Vertretern der Obrigkeit, den Regierungsdelegationen für ihre Anwesenheit, die mich sehr ehrt.

Dank euch, ehrwürdige Kardinäle der heiligen, römischen Kirche!

Dank euch, geliebte Brüder im Bischofsamt!

Dank euch, Priester!

Dank euch, Schwestern und Brüder, Ordensmänner und Ordensfrauen!

Dank euch Römern!

Dank euch Pilgern, die aus aller Welt hierhergekommen sind!

Dank allen, die durch Radio und Fernsehen mit dieser Liturgiefeier verbunden sind! [Der Papst fuhr in polnischer Sprache fort:]

7. Ich wende mich nun an euch, meine geliebten Landsleute, an die Pilger aus Polen, die Brüder im Bischofsamt unter der Leitung eures hervorragenden Primas, die Priester, Schwestern und Brüder, der polnischen Ordensgemeinschaften – euch, Vertreter Polens aus der ganzen Welt. Was sage ich euch, die ihr aus meiner Stadt Krakau hierhergekommen seid, vom Bischofssitz des hl. Stanislaus, dessen unwürdiger Nachfolger ich für 14 Jahre gewesen bin? Was sage ich? Alles, was ich euch sagen könnte, verblaßt im Vergleich zu dem, was mein Herz und eure Herzen in diesem Augenblick empfinden. Lassen wir also die Worte! Es bleibe einzig das große Schweigen vor Gott, das Schweigen, das sich in Gebet verwandelt. Ich bitte euch: Seid mit mir! In Jasna Góra und überall. Hört nicht auf, dem Papst beizustehen, der heute mit den Worten des Dichters betet: »Mutter Gottes, schütze Tschenstochau und Ostra Brama!« Und dieselben Worte richte ich in diesem besonderen Augenblick auch an euch. [Der Papst sagte dann wieder auf italienisch:]

Dies war ein Aufruf und eine Einladung zum Gebet für den neuen Papst, ein Aufruf in polnischer Sprache. Mit demselben Appell wende ich mich an alle Söhne und Töchter der katholischen Kirche. Gedenkt meiner, heute und immer, in euren Gebeten! [Nach Grußworten in englischer und französischer Sprache wandte sich der Papst an die Pilger aus den deutschsprachigen Ländern und sagte:]

Einen herzlichen Gruß richte ich an die hier anwesenden Vertreter und alle Menschen aus den Ländern deutscher Sprache. Verschiedene Male – und erst kürzlich durch meinen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland – hatte ich Gelegenheit, das segensreiche Wirken der Kirche und ihrer Gläubigen persönlich kennen – und schätzen zu lernen. Lassen Sie Ihren opferbereiten Einsatz für Christus auch weiterhin fruchtbar werden für die großen Anliegen und Nöte der Kirche in aller Welt. Darum bitte ich sie und empfehle meinen neuen Apostolischen Dienst auch Ihrem besonderen Gebet. [Es folgten Grußworte in Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Tschechisch, Ukrainisch und Litauisch. Wieder in italienischer Sprache schloß Johannes Paul II. seine Ansprache mit den Worten:]

5 Ich öffne das Herz für alle Brüder der christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Ich grüße insbesondere euch, die ihr hier zugegen seid, in der Hoffnung auf eine baldige persönliche Begegnung. Schon jetzt drücke ich euch meine aufrichtige Wertschätzung dafür aus, daß ihr dieser Feier beiwohnen wolltet.

Und schließlich wende ich mich an alle Menschen, an jeden Menschen (und mit welcher Ehrfurcht muß ein Apostel Christi dieses Wort »Mensch« aussprechen!):

betet für mich!

Helft mir, daß ich euch zu dienen vermag! Amen.



1979



APOSTOLISCHE REISE NACH POLEN

Siegerplatz in Warschau, 2. Juni 1979




Liebe Landsleute,
Brüder und Schwestern,
Teilnehmer am eucharistischen Opfer, das wir heute hier in Warschau auf dem Siegesplatz feiern!

1. Zusammen mit euch möchte ich ein Lied zum Dank an die göttliche Vorsehung anstimmen, die es mir erlaubt, als Pilger heute an dieser Stätte zu stehen.

Der verstorbene Papst Paul VI., der erste Pilger-Papst nach vielen Jahrhunderten, hatte gewünscht — wir wissen, wie groß sein Wunsch war —, seinen Fuß auf polnischen Boden zu setzen, vor allem auf die Jasna Góra. Bis zum Ende seines Lebens hat er diesen Wunsch im Herzen getragen und ihn mit ins Grab genommen. Doch dieser Wunsch war so mächtig, war so tief begründet, daß er die Spanne eines Pontifikates überstieg und — auf eine menschlich schwer vorhersehbare Weise — heute Wirklichkeit wird. Wir danken daher der göttlichen Vorsehung, daß sie Papst Paul VI. ein so starkes Verlangen gab. Wir danken für den neuen Stil eines Pilger-Papstes, wozu er im Zusammenhang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Anstoß gab. Wenn nämlich die ganze Kirche sich erneut bewußt geworden ist, Volk Gottes zu sein, ein Volk, das an der Sendung Christi teilhat, ein Volk, das mit dieser Sendung durch die Geschichte zieht, das pilgert, dann kann der Papst nicht länger »Gefangener des Vatikans« bleiben. Er mußte erneut zum pilgernden Petrus werden, wie jener erste Petrus, der von Jerusalem über Antiochia nach Rom gelangte, um dort für Christus Zeugnis zu geben und dieses mit seinem Blut zu besiegeln.

Mir ist es heute, geliebte Söhne und Töchter meines Vaterlandes, vergönnt, diesen Wunsch des verstorbenen Papstes Paul VI. in eurer Mitte zu erfüllen. Als ich nämlich — durch den unerforschlichen Ratschluß göttlicher Vorsehung — nach dem Tode Pauls VI. und nach dem kurzen, nur einige Wochen währenden Pontifikat meines direkten Vorgängers Johannes Paul I. mit den Stimmen der Kardinäle von der Kathedra des hl. Stanislaus in Krakau auf die des hl. Petrus in Rom berufen wurde, habe ich sogleich verstanden, daß es meine besondere Aufgabe ist, jenen Wunsch zu erfüllen, dem Paul VI. zur Tausendjahrfeier der Taufe Polens nicht nachkommen konnte.

6 Ist meine Pilgerfahrt ins Vaterland in dem Jahr, da die Kirche in Polen den 900. Jahrestag des Todes des hl. Stanislaus feiert, nicht zugleich ein besonderes Zeichen für unser polnisches Pilgern durch die Geschichte der Kirche — nicht nur auf den Pfaden unseres Vaterlandes, sondern auch auf denen Europas und der Welt? Ich lasse hier meine Person beiseite, muß mir aber dennoch zusammen mit euch allen die Frage nach den Gründen stellen, warum gerade im Jahr 1978 (nach so vielen Jahrhunderten einer in diesem Bereich festgefügten Tradition) auf den Bischofssitz des hl. Petrus ein Sohn polnischer Nation, polnischer Erde, berufen wurde. Von Petrus und den übrigen Aposteln forderte Christus, sie müßten seine »Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria und bis an die Grenzen der Erde« (Ac 1,8). Haben wir mit Bezug auf diese Worte Christi nicht das Recht, zu folgern, daß Polen in unserer Zeit das Land eines besonders verantwortungsvollen Zeugnisses wurde?

Daß gerade von hier — von Warschau, aber auch von Gnesen, von der Jasna Góra, von Krakau, von diesem ganzen geschichtlichen Pfad aus, den ich schon so oft in meinem Leben gegangen bin und in diesen Tagen erneut gehen darf — mit besonderer Demut, doch auch mit Überzeugung Christus verkündet werden muß? Daß man gerade hier, in diesem Land, auf diesem Pfad stehen muß, um das Zeugnis seines Kreuzes und seiner Auferstehung neu zu entziffern? Wenn wir nun all das, was ich in diesem Augenblick zu sagen wage, annehmen — welch große Aufgaben und Verpflichtungen ergeben sich daraus! Sind wir ihnen wirklich gewachsen?

2. Es ist mir heute, auf der ersten Etappe meiner päpstlichen Pilgerfahrt nach Polen, vergönnt, das eucharistische Opfer hier in Warschau, hier auf dem Siegesplatz, zu feiern. Die Liturgie des Samstagabends, der Vigil vor Pfingsten, versetzt uns in den Abendmahlssaal von Jerusalem, in dem die Apostel — um Maria, die Mutter Christi, versammelt — tags darauf den Heiligen Geist empfangen werden. Sie empfangen den Geist, den ihnen Christus durch das Kreuz erworben hat, damit sie in der Kraft dieses Geistes seinen Auftrag erfüllen können. »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe« (). Mit diesen Worten hat Christus, der Herr, ehe er die Welt verließ, den Aposteln seinen letzten Auftrag, seinen »Missionsbefehl«, hinterlassen. Und er fügte hinzu: Und ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt« (Mt 28,20).

Es trifft sich gut, daß meine Pilgerfahrt nach Polen zur 900-Jahrfeier des Martyriums des hl. Stanislaus in die Pfingstwoche fällt und das Fest der Heiligsten Dreifaltigkeit umfaßt. So kann ich posthum den Wunsch Pauls VI. erfüllen und noch einmal das erste Jahrtausend der Taufe Polens auf polnischem Boden erleben, kann das diesjährige Jubiläum des hl. Stanislaus in das Jahrtausend einschreiben, mit dem die Geschichte der Nation und der Kirche ihren Anfang nahm. Gerade die Feier des Pfingstfestes und der Heiligsten Dreifaltigkeit bringt uns an diesen Anfang heran. In den Aposteln, die am Pfingsttag den Heiligen Geist empfangen, sind gleichsam bereits alle ihre Nachfolger, alle Bischöfe, geistig gegenwärtig, auch jene, denen es seit 1000 Jahren zukam, das Evangelium auf polnischem Boden zu verkünden. Auch Stanislaus von Szczepanów, der vor 900 Jahren auf dem Krakauer Bischofsstuhl seine Sendung mit Blut bezahlt hat.

In diesen Aposteln und um sie sind am Pfingsttag nicht nur die Vertreter jener Völker und Sprachen versammelt, welche die Apostelgeschichte erwähnt. Schon damals waren sie von all den verschiedenen Völkern und Nationen umgeben, die durch das Licht des Evangeliums und durch die Kraft des Heiligen Geistes in den verschiedenen Epochen und Jahrhunderten zur Kirche gelangen sollten. Pfingsten ist der Geburtstag des Glaubens und der Kirche auch für unser polnisches Land. Er ist der Beginn der Verkündigung der Großtaten Gottes auch in unserer polnischen Sprache. Er ist der Beginn des Christentums auch im Leben unserer Nation: in ihrer Geschichte, ihrer Kultur, in ihren Prüfungen.

3. Die Kirche hat Polen Christus gebracht, das heißt den Schlüssel zum Verständnis jener großen und grundlegenden Wirklichkeit, die der Mensch ist. Man kann nämlich den Menschen letztlich nicht ohne Christus begreifen. Oder besser: der Mensch kann sich selbst nicht im letzten ohne Christus verstehen. Er kann weder begreifen, wer er ist, noch worin seine wahre Würde besteht, noch welches seine Berufung und was seine endgültige Bestimmung ist. Ohne Christus bleibt ihm das alles unverständlich.

Daher kann man Christus nirgendwo auf Erden aus der Geschichte des Menschen ausschließen, gleich, um welchen Längen- oder Breitengrad es sich handelt. Der Ausschluß Christi aus der Geschichte des Menschen ist ein gegen den Menschen selbst gerichteter Akt. Ohne Christus kann man auch nicht die Geschichte Polens begreifen, zumal nicht als die Geschichte der Menschen, die über dieses Land gingen und gehen. Eine Geschichte von Menschen!

Die Geschichte einer Nation ist vor allem die Geschichte ihrer Menschen. Und die Geschichte eines jeden Menschen vollzieht sich in Christus. In ihm wird sie zur Heilsgeschichte. Die Geschichte eines Volkes verdient eine entsprechende Würdigung nach dem Beitrag, den es für die Entwicklung des Menschen und der Menschlichkeit, für sein Bewußtsein sein Herz und sein Gewissen einbrachte. Das ist die tiefste Quelle der Kultur. Das ist ihr stärkster Halt, ihr Mark und ihre Kraft. Und wiederum kann man ohne Christus den Beitrag der polnischen Nation zur Entwicklung des Menschen und der Menschlichkeit nicht verstehen und werten — nicht für die Vergangenheit und nicht für die Gegenwart. »Diese alte Eiche ist so gewachsen, und kein Sturm hat sie entwurzeln können, denn ihre Wurzel ist Christus« (Piotr Skarga, Kazania Sejmowe IV, Biblioteka Narodowa I, 70, S. 92 — Sejm-Predigten IV, Nationalbibliothek, I, 70, S. 92). Man muß hier auf den Spuren dessen wandeln, was (oder besser wer) Christus über Generationen für die Söhne und Töchter dieses Landes war. Und das nicht nur für jene, die offen an ihn glaubten, die ihn mit dem Glauben der Kirche bekannten. Auch für jene, die dem Anschein nach fern, außerhalb der Kirche stehen. Für jene, die zweifeln oder ihm widersprechen.

Wenn es richtig ist, die Geschichte einer Nation auf Grund der Menschen in ihr zu begreifen, dann kann man den Menschen nur in der Gemeinschaft, die seine Nation bildet, verstehen. Bekanntlich ist sie nicht die einzige Gemeinschaft. Sie ist allerdings eine besondere Gemeinschaft, wohl die am engsten mit der Familie verbundene, die wichtigste für die geistige Geschichte des Menschen. Ohne Christus also kann man die Geschichte der polnischen Nation nicht verstehen. — Die Geschichte dieser großen, 100jährigen Gemeinschaft, die so tiefreichend über mich, über einen jeden von uns entscheidet. Wenn wir diesen Schlüssel zum Verständnis unserer Nation zurückweisen, begehen wir einen grundlegenden Fehler. Wir verstehen dann uns selber nicht mehr. Man kann diese Nation, die eine so glänzende, zugleich aber auch so schrecklich schwere Vergangenheit hatte, unmöglich verstehen ohne Christus. Es ist unmöglich, diese Stadt, Warschau, die Hauptstadt Polens, die sich im Jahre 1944 auf einen ungleichen Kampf gegen den Aggressor einließ — einen Kampf, bei dem die verbündeten Mächte sie im Stich ließen; einen Kampf, in dem sie unter ihren eigenen Trümmern begraben wurde —, zu verstehen, wenn man sich nicht daran erinnert, daß unter diesen gleichen Trümmern auch Christus, der Erlöser, mit seinem Kreuz lag, das sich heute vor der Kirche in Krakau-Vorstadt befindet. Man kann unmöglich die Geschichte Polens begreifen, von Stanislaus in Salka bis zu Maximilian Kolbe in Auschwitz, wenn man nicht auch auf sie dieses eine fundamentale Kriterium anwendet, das Jesus Christus heißt.

Das Jahrtausend der Taufe Polens, dessen erste reife Frucht der hl. Stanislaus ist — das Jahrtausend Christi in unserem Gestern und Heute ist das Hauptmotiv meiner Pilgerfahrt und meines Dankgebets, das ich zusammen mit euch, liebe Landsleute, verrichte, denen Jesus Christus unablässig die große Botschaft vom Menschen verkündet. Gemeinsam mit euch, denen Jesus Christus immer ein offenes Buch der Lehre vom Menschen ist, seiner Würde und seiner Rechte. Zugleich ein offenes Buch der Lehre von der Würde und den Rechten der Nation.

Heute bete ich auf diesem Siegesplatz in der Hauptstadt Polens mit euch allen im eucharistischen Hochgebet, daß Christus unaufhörlich für uns ein geöffnetes Buch bleibe, das Leben für die Zukunft verheißt. Für unser polnisches Morgen.

7 4. Wir befinden uns hier am Grab des Unbekannten Soldaten. In der Geschichte Polens — der alten wie der neueren — hat dieses Grab eine besondere Bestätigung gefunden. An wie vielen Orten der Heimat ist dieser Soldat gefallen! An wie vielen Orten Europas und der Welt hat er durch seinen Tod bezeugt, daß es ohne ein unabhängiges Polen auf der Karte Europas kein gerechtes Europa geben kann! Auf wie vielen Schlachtfeldern hat dieser Soldat für die Rechte des Menschen Zeugnis gegeben, die so tief eingeschrieben sind in die unveräußerlichen Rechte der Nation, als er fiel für »unsere und eure Freiheit «! »Wo sind ihre Gräber, Land der Polen? Wo sind sie nicht! Du weißt es besser als alle — und Gott weiß es im Himmel« (A. Oppman, Gebet für die Toten).

Die Geschichte des Vaterlandes wurde aufgezeichnet durch das Grab des Unbekannten Soldaten.

Ich möchte an diesem Grab niederknien, um jedes Samenkorn zu ehren, das, indem es in die Erde fällt und in ihr stirbt, Frucht bringt. Sei es der Same des Blutes eines Soldaten, das auf dem Schlachtfeld vergossen wurde, sei es das Opfer des Martyriums in Konzentrationslagern und Gefängnissen. Oder der Same harter täglicher Arbeit mit schweißtriefender Stirn: auf dem Feld, in der Werkstatt, im Bergwerk, in den Gießereien und Fabriken. Oder der Same der Elternliebe, die sich nicht weigert, einem neuen Menschen das Leben zu schenken und die gesamte Last der Erziehung zu tragen. Oder der Same schöpferischer Arbeit an den Universitäten, in den Bibliotheken und an den Stätten nationaler Kultur. Oder endlich der Same des Gebetes und des Dienstes an den Kranken, den Leidenden, den Verlassenen: »all das, was Polen bildet.« So wie das vom Primas und vom polnischen Episkopat auf der Jasna Góra zum Millennium abgelegte Gelöbnis lautet: »Alles, was Polen bildet.«

All das legen wir in die Hände der Gottesmutter — unter dem Kreuz auf Kalvaria und im Abendmahlssaal des Pfingstfestes.

All das: die Geschichte des Vaterlandes, wie sie seit 1000 Jahren von jedem seiner Söhne und Töchter geschaffen wurde — in dieser Generation und in den zukünftigen Generationen, und sei es nur ein namenloser, unbekannter Mensch wie dieser Soldat, vor dessen Grab wir stehen…

Alles das: auch die Geschichte der Völker, die mit uns und unter uns gelebt haben, wie jene, die zu Hunderttausenden in den Mauern des Warschauer Ghettos umkamen.

Das alles umfange ich in dieser Eucharistie mit Herz und Sinn und beziehe es ein in dieses eine heiligste Opfer Christi hier auf dem Siegesplatz.

Und ich rufe, ich, ein Sohn polnischer Erde und zugleich Papst Johannes Paul II., ich rufe aus der ganzen Tiefe dieses Jahrhunderts, rufe am Vorabend des Pfingstfestes: Sende aus deinen Geist!

Sende aus deinen Geist!

Und erneuere das Angesicht der Erde!

Dieser Erde!

Amen.





1980



APOSTOLISCHE REISE NACH BRASILIEN

Aparecida, 4. Juli 1980

8


„Sei gegrüßt, Mutter Gottes und unsere Mutter, ohne Sünde empfangen! Sei gegrüßt, Unbefleckte Jungfrau, Unsere Liebe Frau von Aparecida!

1. Seitdem ich meine Füße auf brasilianischen Boden setzte, habe ich dieses Lied in den einzelnen Orten, die ich durchquert habe, gehört. Es ist in der Einfalt und Einfachheit seiner Worte ein Ruf der Seele, ein Gruß, eine Anrufung voll kindlicher Verehrung und Vertrauen auf jene, die wahre Mutter Gottes war und uns durch ihren Sohn Jesus im letzten Augenblick seines Lebens (vgl.
Jn 19,26) zur Mutter gegeben wurde.

An keinem anderen Ort hat dieses Lied soviel Bedeutung und soviel Eindringlichkeit wie hier, wo die Jungfrau vor mehr als zwei Jahrhunderten eine einzigartige Begegnung mit dem brasilianischen Volk hatte. Mit Recht wendet sich seit damals das Volk mit seinen Sorgen hierher, und seit damals pulsiert hier das katholische Herz Brasiliens. Hier ist das Ziel unablässiger Wallfahrten aus ganz Brasilien, hier ist, wie jemand gesagt hat, die „geistliche Hauptstadt Brasiliens”.

Es ist ein besonders bewegender und glücklicher Augenblick meiner brasilianischen Reise, in dem ich mit euch zusammen, die ihr hier das ganze brasilianische Volk darstellt, meine erste ganze mit Unserer Liehen Frau von Aparecida habe.

2. Als ich mich innerlich auf diese Pilgerreise nach Aparecida vorbereitete, habe ich mit frommer Aufmerksamkeit die einfache und bezaubernde Erzählung von dem Heiligenbild, das wir hier verehren, gelesen. Die vergebliche Mühe der drei Fischer, die in jenem fernen Jahr 1717 in den Wassern des Paraiba zu fischen suchten. Der unerwartete Fund zunächst des Torsos und dann des Kopfes der kleinen, schlammverkrusteten Keramikstatue. Der überreiche Fischfang, der auf den Fund folgte. Die sofort einsetzende Verehrung Unserer Lieben Frau von der Unbefleckten Empfängnis unter der Gestalt jener dunklen Statue, die liebevoll die „Aparecida” (die Erschienene) genannt wurde. Die überreichen Gnaden Gottes für die, die hier zur Mutter Gottes beten.

Von dem einfachen und rohgezimmerten Altar - dem „Holzaltar” nach der Überlieferung - his zur Kapelle, die ihn ersetzte, den verschiedenen aufeinanderfolgenden Erweiterungen und der alten Basilika von 1908 waren die materiellen Gotteshäuser, die hier errichtet wurden, immer Werk und Symbol des Glaubens des brasilianischen Volkes und seiner Liebe zur seligen Jungfrau.

Die Wallfahrten sind bekannt, an denen im Verlauf der Jahrhunderte Leute aus allen sozialen Schichten und den verschiedensten und entferntesten Regionen des Landes teilnehmen. Im vergangenen Jahr waren es mehr als fünfeinhalb Millionen Pilger, die hierherkamen. Was suchten die früheren Wallfahrer? Was suchen die Pilger von heute? Das, was sie an ihrem mehr oder weniger fernen Tag der Taufe suchten: den Glauben und die Wege, ihn zu erhalten. Sie suchen die Sakramente der Kirche, vor allem die Versöhnung mit Gott und die eucharistische Speisung. Und sie kehren gekräftigt und voll Dankbarkeit für Unsere Liebe Frau, die Mutter Gottes und unsere Mutter, zurück.

Weil sich an diesem Ort die Gnaden und geistlichen Wohltaten Unserer Lieben Frau von der Unbefleckten Empfängnis häuften, wurde die Statuette 1904 feierlich gekrönt und vor genau fünfzig Jahren, 1930, zur Schutzpatronin Brasiliens erklärt. Später, 1967, kam es meinem ehrwürdigen Vorgänger Paul. VI. zu, diesem Heiligtum die goldene Rose zu schenken, wobei er mit dieser Geste die Jungfrau und diesen geweihten Platz ehren und die Marienverehrung fördern wollte.

Und wir kommen nun zu unseren Tagen: angesichts der Notwendigkeit eines größeren Gotteshauses, das der Aufnahme der immer zahlreicheren Wallfahrer mehr entspricht, entstand das kühne Projekt einer neuen Basilika. Jahre unermüdlicher Arbeit für das riesige und mutige Werk, das die Errichtung des eindrucksvollen Bauwerkes erfordert hat.

Und heute können wir seine großartige Verwirklichung betrachten, nachdem nicht wenige Schwierigkeiten überwunden wurden. Mit ihr werden viele Namen von Architekten und Ingenieuren, von schlichten Arbeitern und hochherzigen Gönnern, von Priestern, die dem Heiligtum dienen, verbunden bleiben. Ein Name zeichnet sich unter allen aus und versinnbildlicht alle: der meines Bruders Kardinal Carlos Carmelo de Vasconcelos Motta, des großen Initiators dieses neuen Gotteshauses, des Mutterhauses und geschichtlichen Erbes der Königin, Unserer Lieben Frau von Aparecida.

9 4. Ich komme nun hierher, diese Basilika zu weihen, Zeuge des Glaubens und der Marienverehrung des brasilianischen Volkes; und ich werde dies voll innerer Bewegung und Freude nach der Feier der Eucharistie tun.

Dieses Gotteshaus ist Wohnung des „Herrn der Herren und des Königs der Könige” (vgl.
Ap 17,14). In ihm wird die Unbefleckte Empfängnis genauso wie die Königin Ester, die - wie wir in der ersten Lesung gehört haben - das „Herz Gottes gewann” und in der die Allmacht „große Dinge” vollbrachte (vgl. Est Est 5,5 Lc 1,49), nicht aufhören, zahllose Söhne und Töchter zu erhören und für sie einzutreten: „Meinem Volk das Leber zu schenken, das ist meine Bitte und mein Wunsch” (vgl. Est Est 7,3).

Das irdische Bauwerk, wo der eucharistische Herr wahrhaft gegenwärtig ist und wo sich die Familie der Kinder Gottes versammelt, um gemeinsam mit Christus die „geistigen Opfer” anzubieten, die mit Freuden und Leiden, mit Hoffnungen und Kämpfen dargebracht werden, ist auch Symbol für ein anderes, ein geistliches Bauwerk, zu dem wir als lebendige Bausteine zu dienen aufgerufen sind (vgl. 1P 2,5). Wie der hl. Augustinus sagte: „Dies ist in der Tat das Haus unserer Gebete: aber wir selbst sind das Haus Gottes. Wir sind als das Haus Gottes auf dieser Erde erbaut und dazu bestimmt, ihm bis zum Ende der Zeiten zu dienen. Das Bauwerk oder besser sein Aufbau erfordert viel Mühe; die Weihe geschieht in Freude” (vgl. Aug., Sermo 336. 1.6: PL 38, ed. 1861, 1471-1472).

5. Dieses Gotteshaus ist Abbild der Kirche, die „in Nachahmung der Mutter unseres Herrn in der Kraft des Heiligen Geistes jungfräulich einen unversehrten Glauben, eine feste Hoffnung und eine aufrichtige Liebe bewahrt” (Lumen gentium, LG 64).

Bild dieser Kirche ist die Frau, die der Seher von Patmos im Text der Geheimen Offenbarung beschrieb, den wir eben in der zweiten Lesung gehört haben. In der mit zwölf Sternen gekrönten Frau sah die Volksfrömmigkeit aller Zeiten auch Maria, die Mutter Jesu. Im übrigen ist auch nach dem hl. Ambrosius und der dogmatischen Konstitution Lumen gentium Maria das wahre Abbild der Kirche. Ja, liebe Brüder und Schwestern, Maria - die Mutter Gottes - ist Vorbild der Kirche, ist die Mutter der Erlösten. Durch ihr entschlossenes und bedingungsloses Ja zum göttlichen Willen, der ihr offenbart wurde, wird sie die Mutter des Erlösers (vgl. Lc 1,32) mit einer inneren und ganz besonderen Teilhabe an der Heilsgeschichte. Durch die Verdienste ihres Sohnes ist sie die Unbefleckte, ohne Erbsünde Empfangene, bewahrt vor Sünde und voller Gnade. Angesichts des Hungers nach Gott, den man heute bei vielen Menschen findet, aber auch angesichts des Säkularismus, der manchmal kaum bemerkbar ist wie der Tau, ein anderes Mal gewalttätig wie ein mitreißender Wirbelsturm, sind wir berufen, die Kirche aufzubauen.

6. Die Sünde entfernt Gott aus dem Mittelpunkt, der ihm in der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte jedes einzelnen Menschen zukommt. Die erste Versuchung war: „Ihr werdet sein wie Gott” (vgl. Gn 3,5). Und nach dieser Ursünde, die auf Gott verzichtet, findet sich der Mensch der Spannung ausgesetzt bei seiner Wahl zwischen der Liebe, „die vom Vater kommt”, und „der Liebe, die nicht vom Vater kommt, sondern von der Welt” (vgl. 1Jn 2,15-16), und schlimmer noch, der Mensch entfremdet sich, wenn er den „Tod Gottes” wünscht, der in sich unabwendbar auch den Tod des Menschen nach sich zieht (vgl. Osterbotschaft 1980).

Indem sie sich als „Dienerin des Herrn” (vgl. Lc 1,38) bekennt und ihr „Ja” spricht, das Geheimnis des Erlösers Christus „in ihrem Herzen und in ihrem Schoß” empfängt (vgl. Aug. De Virginitate, 6: PL 40, 399), war Maria nicht bloß passives Werkzeug in den Händen Gottes, sondern wirkte in freiem Glauben und tiefem Gehorsam bei der Erlösung der Menschheit mit. Ohne etwas wegzunehmen oder zu vermindern und ohne etwas dem Werk desjenigen hinzuzufügen, der der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, Jesus Christus, zeigt uns Maria die Wege der Erlösung, die sich alle in Christus, ihrem Sohn, und in seinem Erlösungswerk treffen.

Maria führt uns zu Christus, wie das Zweite Vatikanische Konzil genau formuliert hat: „Mariens mütterliche Aufgabe gegenüber den Menschen verdunkelt oder vermindert diese einzige Mittlerschaft Christi in keiner Weise, sondern zeigt ihre Wirkkraft ... Die unmittelbare Vereinigung der Glaubenden mit Christus wird dadurch in keiner Weise gehindert, sondern vielmehr gefördert (Lumen gentium, LG 60).

7. Als Mutter der Kirche hat die seligste Jungfrau eine besondere Präsenz im Leben und im Wirken gerade der Kirche. Daher hält die Kirche ihre Augen auch immer auf jene gerichtet, die, obwohl sie Jungfrau blieb, durch das Werk des Heiligen Geistes das menschgewordene Wort zeugte. Was ist dann die Sendung der Kirche, wenn nicht die, Christus auch im Herzen der Gläubigen (vgl. ebd., LG 65) mit Hilfe desselben Heiligen Geistes durch die Evangelisierung lebendig werden zu lassen? So zeigt und erleuchtet Maria, der „Stern der Evangelisierung”, wie sie mein Vorgänger Paul IV. nannte, die Wege zur Verkündigung des Evangeliums. Die Botschaft von Christus, dem Erlöser, darf nicht auf rein menschliche Planung zur Wohlfahrt und zum zeitlichen Glück beschränkt bleiben. Es gibt sicherlich solche Fälle in der kollektiven und individuellen menschlichen Geschichte, aber grundlegend ist die Verkündigung der Befreiung von der Sünde durch die Gemeinschaft mit Gott in Jesus Christus. Aber die Gemeinschaft mit Gott verhindert nicht die Gemeinschaft der Menschen untereinander, denn die sich zu Christus bekennen, dem Urheber des Heils und Prinzip der Einheit, sind berufen, sich in Sakrament dieser heilbringenden Einheit (vgl. ebd., LG 9).

Durch all dies wünschen wir alle, die wir die heutige Generation der Jünger Christi bilden, in ganzer Liebe zur alten Tradition und in ganzer Ehrfurcht und Liebe zu den Mitgliedern aller christlichen Gemeinden, uns mit Maria zu vereinen, „veranlaßt von dem tiefen Bedürfnis des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe” (vgl. Redemptor hominis, RH 22). Als Jünger Christi in diesem wichtigen Moment menschlicher Geschichte, in voller Liebe zur ununterbrochenen Tradition und zur ständigen Gesinnung der Kirche, bewegt von einem inneren Imperativ des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, wünschen wir uns mit Maria zu vereinen. Und wir wollen das durch die Ausdrucksformen marianischer Frömmigkeit der Kirche in allen Zeiten tun.

8. Die Liebe und Verehrung Mariens, grundlegende Elemente der lateinamerikanischen Kultur (vgl. Predigt in Zapopan, Mexiko: AAS 71, 1979; 228; Dokument von Puebla, Nr. 283), sind einer der charakteristischen Züge der Religiosität des brasilianischen Volkes. Ich bin sicher, daß die Hirten der Kirche diesen besonderen Wesenszug zu achten, zu pflegen und zu unterstützen wissen, um den besten Weg zu finden, „durch Maria zu Jesus” zu kommen. Dabei wäre es nützlich, daran zu denken, daß die Verehrung der Mutter Gottes eine Seele hat, etwas Besonderes, das sich in vielen äußeren Formen verkörpert. Das Wesentliche ist fest und unveränderlich, bleibt inneres Element des christlichen Kultes und ist, wenn richtig verstanden und verwirklicht, in der Kirche, wie mein Vorgänger Paul VI. hervorhob, „ein hervorragendes Zeugnis ihrer lex orandi (Gebetsordnung) und eine Aufforderung, in ihrem Gewissen ihre lex credendi (Glaubensordnung) wiederzubeleben. Die äußeren Formen sind natürlich der Abnutzung durch die Zeit unterworfen und brauchen, wie Paul VI. erklärte, eine dauernde zeitgemäße Erneuerung, aber in voller Achtung der Tradition (vgl. Apostolisches Schreiben über die rechte Weise und Förderung der Marienverehrung, Nr. 24).

10 9. Und ihr, Verehrer und Wallfahrer Unserer Lieben Frau von Aparecida, die ihr hier anwesend seid und die, die uns über Rundfunk und Fernsehen verfolgen: bewahrt sorgfältig diese von euch gehegte zarte und vertrauliche Liebe zur Jungfrau. Lagt sie niemals erkalten! Möge sie keine abstrakte Liebe sein, sondern eine konkrete. Bleibt den traditionellen Überzeugungen marianischer Frömmigkeit in der Kirche treu: dem Gebet des Angelus, dem Marienmonat und besonders dem Rosenkranz. Wolle der Himmel, daß der schöne, früher so verbreitete, heute noch in einigen brasilianischen Familien gepflegte Brauch des gemeinsamen Rosenkranzgebetes wieder auflebe.

Ich weiß, daß vor kurzem durch einen bedauerlichen Zwischenfall die kleine Statue Unserer Lieben Frau von Aparecida zerbrach. Man sagte mir, daß unter den vielen Bruchstücken die zwei zum Gebet gefalteten Hände der Jungfrau unversehrt gefunden wurden. Das ist wie ein Symbol: die Hände Mariens, inmitten der Reste sichergestellt, sind eine Aufforderung an ihre Söhne und Töchter, in ihrem Leben dem Gebet Raum zu geben, dem Gebet zum Absoluten Gott, ohne den alles übrige Sinn, Wert und Wirkung verliert. Das wahre Kind Mariens ist ein Christ, der betet.

Die Marienverehrung ist Quelle eines tiefen christlichen Lebens, ist Quelle der Verpflichtung gegenüber Gott und den Brüdern. Bleibt in der Schule Mariens, hört auf ihre Stimme, folgt ihrem Beispiel. Wie wir im Evangelium gehört haben, verweist sie uns auf Jesus: „Was er euch sagt, das tut” (
Jn 2,5). Und wie damals in Kana in Galiläa macht sie den Sohn auf die Nöte der Menschen aufmerksam und erhält von ihm die erbetenen Gnaden. Wir beten mit und durch Maria: Sie ist immer die „Mutter Gottes und unsere Mutter”

Unsere Liebe Frau von Aparecida, Dein Sohn, der Dir ohne Einschränkung gehört - „Ganz Dein!” -, / berufen durch den geheimnisvollen Plan der Vorsehung, / Stellvertreter Deines Sohnes auf Erden zu sein, / wendet sich in diesem Augenblick an Dich. / Er erinnert sich mit Bewegung / durch die dunkle Farbe Deines Bildes / an ein anderes Bild von Dir, / die Schwarze Jungfrau von Jasna Gora! / Mutter Gottes und unsere Mutter, / beschütze die Kirche, den Papst, die Bischöfe, die Priester / und das ganze gläubige Volk; / nimm unter Deinen Schutzmantel / die Ordensspänner, die Ordensfrauen, die Familien, die Kinder, die Jugendlichen und ihre Erzieher! / Heil der Kranken und Trösterin der Betrübten, / stärke die an Leib und Seele leiden; / erleuchte die, die Christus suchen, den Erlöser des Menschen; j zeige allen Menschen, daß Du die Mutter unserer Zuversicht bist. / Königin des Friedens und Spiegel der Gerechtigkeit, / erwirke der Welt den Frieden, / schenke Brasilien dauerhaften Frieden, / daß die Menschen immer wie Brüder zusammenleben / als Kinder Gottes! / Unsere Liebe Frau von Aparecida, / segne Dein Heiligtum und die, die daran arbeiten; / segne das Volk, das hier betet und singt; / segne all Deine Kinder; segne Brasilien! Amen.





Predigten 1978-2005