Predigten 1978-2005 309

HEILIGSPRECHUNGEN AUF DEM PETERSPLATZ

Sonntag, 1. Oktober 2000

1.»Dein Wort, o Herr, ist Wahrheit; heilige uns in der Wahrheit!« (Ruf vor dem Evangelium: vgl. Jn 17,17). Dieser Bittruf, der den Widerhall jenes Gebetes bildet, das Christus nach dem Letzten Abendmahl an den Vater richtete, scheint von den Scharen der Heiligen und Seligen auszugehen, die der Heilige Geist von Generation zu Generation in seiner Kirche erweckt.

Nachdem nunmehr zweitausend Jahre seit Beginn der Erlösung vergangen sind, machen wir uns heute diese Worte zu eigen und richten unsere Aufmerksamkeit auf jene Vorbilder in der Heiligkeit, Agostino Zhao Rong und seine 119 Gefährten, Märtyrer in China, María Josefa del Corazón de Jesús Sancho de Guerra, Katherine Mary Drexel und Giuseppina Bakhita. Gott-Vater hat sie »in der Wahrheit geheiligt«, womit er der Bitte seines Sohnes nachkam. Jener hatte, um ihm ein heiliges Volk zu erwerben, sterbend die Arme am Holze des Kreuzes ausgebreitet. Er hat die Macht des Todes gebrochen und die Auferstehung kundgetan (vgl. Zweites Hochgebet, Präfation).

An euch alle, liebe Brüder und Schwestern, die ihr hier zusammengekommen seid, um eure Verehrung gegenüber diesen lichtvollen Zeugen des Evangeliums zum Ausdruck zu bringen, richte ich meinen herzlichen Gruß.

2. »Die Befehle des Herrn sind richtig; sie erfreuen das Herz« (Antwortpsalm). Diese Worte des Antwortpsalms vermögen gut die Erfahrung von Agostino Zhao Rong und seinen 119 Gefährten, Märtyrern in China, widerzuspiegeln. Die Zeugenberichte, die uns zugekommen sind, lassen erkennen, daß sich ihr Gemütszustand auszeichnete durch tiefe Ausgeglichenheit und Freude.

Die Kirche blickt heute voller Dankbarkeit auf ihren Herrn, der ihr seinen Segen zukommen läßt und sie durch den Glanz der Heiligkeit dieser Söhne und Töchter Chinas überreich mit Licht erfüllt. Bildet das Heilige Jahr etwa nicht den geeigneten Augenblick, um ihre heldenhafte Zeugnisgabe aufstrahlen zu lassen? Das junge Mädchen Anna Wang widersteht den Drohungen des Scharfrichters, der sie dazu bringen möchte, ihrem Glauben abzuschwören. Als sie sich auf ihre Enthauptung vorbereitet, erklärt sie mit strahlendem Gesicht: »Die Himmelspforte steht allen offen!« und spricht dreimal hintereinander leise »Jesus«. Der achtzehnjährige Chi Zhuzi, dem gerade der rechte Arm abgeschnitten worden war und der bei lebendigem Leib enthäutet werden sollte, rief unerschrocken aus: »Jedes Stückchen meines Fleisches, jeder Tropfen meines Blutes werden euch daran erinnern, daß ich Christ bin.«

Für dieselbe Überzeugung und Freude legten die übrigen 85 Chinesen Zeugnis ab, Männer und Frauen jeden Alters und Lebensstandes, Priester, Ordensleute und Laien, die ihre unverbrüchliche Treue zu Christus und zur Kirche mit dem Geschenk des Lebens besiegelt haben. Diese Ereignisse erstreckten sich über den Zeitraum mehrerer Jahrhunderte in komplexen und schwierigen Zeiten der chinesischen Geschichte. Die heutige Feier ist nicht der angemessene Augenblick, um Urteile über jene Zeitabschnitte der Geschichte zu fällen: dies wird an anderer Stelle geschehen können und müssen. Heute möchte die Kirche durch diese feierliche Verkündigung der Heiligkeit schlicht und einfach anerkennen, daß jene Märtyrer für uns alle ein Vorbild im Mut und in der Konsequenz im Glaubensleben sind und dem edelmütigen chinesischen Volk zur Ehre gereichen.

310 Zu dieser Schar von Märtyrern gehören auch 33 Missionare und Missionarinnen, die ihr Land verließen und versuchten, sich in die chinesische Wirklichkeit einzugliedern. Hierbei wollten sie sich in Liebe deren Eigenschaften zu eigen machen, beseelt vom Wunsch, Christus zu verkünden und dem chinesischen Volk zu dienen. Ihre Gräber befinden sich dort, um gleichsam ihre endgültige Zugehörigkeit zu China zum Ausdruck zu bringen, das sie trotz aller menschlicher Unzulänglichkeiten aufrichtig geliebt und für das sie ihre ganze Kraft aufgebracht haben. »Wir haben niemals anderen Böses getan«, antwortete Bischof Francesco Fogolla dem Gouverneur, der ihn mit seinem Schwert niederstrecken wollte. »Im Gegenteil, wir haben Gutes getan.« [In chinesischer Sprache sagte der Papst:]

Gott läßt Glück auf euch herabkommen.

3. Sowohl die erste Lesung als auch das Evangelium der heutigen Liturgie verdeutlichen, daß der Geist dort weht, wo er will. Sie zeigen uns, daß Gott sich zu allen Zeiten Menschen erwählt, um seine Liebe zu den Menschen kundzutun, und Institutionen ins Leben ruft, die dazu bestimmt sind, zu bevorzugten Werkzeugen seines Wirkens zu werden. So geschah es bei der hl. María Josefa del Corazón de Jesús Sancho Guerra, der Gründerin der »Barmherzigen Schwestern Dienerinnen Jesu«.

Im Leben der neuen Heiligen, der ersten Baskin, die heiliggesprochen wird, zeigt sich auf einzigartige Weise das Wirken des Geistes. Er veranlaßte sie dazu, sich in den Dienst an den Kranken zu stellen, und bereitete sie darauf vor, zur Mutter einer neuen religiösen Kongregation zu werden.

Die hl. María Josefa lebte ihre Berufung als wahrhaftiger Apostel im Bereich des Gesundheitswesens, denn ihre Art der Betreuung wollte die Aufmerksamkeit für das Materielle und das Geistliche miteinander vereinen, wobei sie mit allen Mitteln nach dem Heil der ihr anvertrauten Seelen strebte. Trotz der Krankheit, an der sie in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens litt, scheute sie keine Mühen und Leiden und widmete sich voll und ganz dem karitativen Dienst am Kranken in einem Klima kontemplativen Geistes. Sie erinnerte daran, daß »die Pflege nicht nur darin besteht, dem Kranken Medizin und Nahrung zu geben. Vielmehr gibt es eine andere Art der Pflege… nämlich jene des Herzens, indem man versucht, sich an den leidenden Menschen auszurichten. [Der Papst sagte hierauf auf baskisch:]

Das Beispiel und die Fürsprache der hl. María Josefa del Corazón de Jesús mögen dem baskischen Volk dabei helfen, für immer von der Gewalt Abstand zu nehmen. Das Baskenland werde zu einem gesegneten Land und einem Ort friedvollen und brüderlichen Zusammenlebens, wo stets die Rechte aller Menschen respektiert werden und niemals das Blut unschuldiger Menschen vergossen werden möge. [Johannes Paul II. fuhr auf englisch fort:]

4. »Noch in den letzten Tagen sammelt ihr Schätze« (
Jc 5,3).

In der zweiten Lesung der heutigen Liturgie tadelt der Apostel Jakobus die Reichen, die ihr Vertrauen in ihren Reichtum setzen und die Armen ungerecht behandeln.

Mutter Katherine Drexel wurde in eine wohlhabende Familie in Philadelphia in den Vereinigten Staaten hineingeboren. Sie lernte jedoch von ihren Eltern, daß der Besitz ihrer Familie nicht für sie allein bestimmt war, sondern daß sie ihn mit den weniger Begüterten teilen mußte. Als junge Frau war sie zutiefst erschüttert von der Armut und den hoffnungslosen Bedingungen so vieler Amerikaner und Afroamerikaner. Sie begann, ihr Vermögen für die missionarische und erzieherische Arbeit zugunsten der ärmsten Mitglieder der Gesellschaft zu verwenden. Später verstand sie, daß sie noch mehr tun mußte. Mit großem Mut und Vertrauen auf die Gnade Gottes entschied sie sich dafür, nicht nur ihr Hab und Gut, sondern ihr ganzes Leben dem Herrn zu weihen.

Der von ihr gegründeten religiösen Gemeinschaft der »Schwestern vom Heiligsten Sakrament« vermittelte sie eine Spiritualität, deren Grundlagen die durch das Gebet getragene Vereinigung mit dem eucharistischen Herrn sowie der Dienst an den Armen und den Opfern von Rassendiskriminierung sind. Ihr Apostolat trug dazu bei, daß man noch deutlicher die Notwendigkeit erkannte, alle Formen des Rassismus durch Erziehung und soziale Dienste zu bekämpfen. Katherine Drexel ist ein herausragendes Beispiel für jene gegenüber den weniger Begünstigten geübte Nächstenliebe und großherzige Solidarität, durch die sich die amerikanischen Katholiken seit jeher auszeichnen.

Ihr Beispiel möge vor allem den jungen Menschen dabei helfen, zu verstehen, daß es keinen größeren Schatz auf Erden gibt, als Christus mit ungeteiltem Herzen nachzufolgen und großherzig jene Gaben zu gebrauchen, die wir erhalten haben, um den anderen zu dienen und eine gerechtere und brüderlichere Welt aufzubauen.

311 5. »Die Weisung des Herrn ist vollkommen, …den Unwissenden macht es weise« (Ps 19,8).

Diese Worte aus dem heutigen Antwortpsalm finden ihren Widerhall im Leben von Schwester Josephine Bakhita.

Sie wurde im zarten Alter von sieben Jahren als Sklavin verkauft und hatte unter grausamen Herren schwere Leiden zu ertragen. Dennoch verstand sie die tiefe Wahrheit, daß Gott, und nicht der Mensch, der wahre Herr eines jeden Menschen und Menschenlebens ist. Diese Erfahrung wurde für diese demütige Tochter Afrikas zur Quelle großer Weisheit. Auch in unserer heutigen Welt werden selbst in den hochentwickelten modernen Gesellschaften noch immer unzählige Frauen ungerecht behandelt.

In der hl. Josephine Bakhita erblicken wir eine lichtreiche Anwältin einer wahrhaftigen Emanzipation. Die Geschichte ihres Lebens legt uns nahe, die Dinge nicht tatenlos hinzunehmen, sondern mit Entschiedenheit tätig zu werden, um Mädchen und Frauen von Unterdrückung und Gewalt zu befreien und ihnen ihre Würde durch die freie Ausübung ihrer Rechte zurückzugeben.

Meine Gedanken gehen in das Land der neuen Heiligen, das in den vergangenen siebzehn Jahren von einem grausamen Krieg heimgesucht wurde, für dessen Lösung wir bislang nur wenige Zeichen erkennen können. Im Namen der leidenden Menschen möchte ich mich nochmals an die Verantwortlichen wenden: öffnet eure Herzen für die Schreie von Millionen unschuldiger Opfer, und sucht den Weg der Verhandlungen! Ich bitte die internationale Gemeinschaft: ignoriert nicht weiterhin diese unermeßliche menschliche Tragödie! Die gesamte Kirche lade ich dazu ein, die Fürsprache der hl. Bakhita zu erbitten für alle verfolgten Brüder und Schwestern, besonders in Afrika und in ihrem Heimatland, dem Sudan, damit sie zu Frieden und Versöhnung finden mögen. [Der Papst beendete seine Predigt in italienischer Sprache:]

Schließlich richte ich einen herzlichen Gruß an die Canossianerinnen, die sich heute darüber freuen können, daß ihre Mitschwester zur Ehre der Altäre erhoben wurde. Sie mögen aus dem Beispiel der hl. Josephine einen neuen Anreiz für ihre großherzige Hingabe im Dienst an Gott und am Nächsten gewinnen.

6. Liebe Brüder und Schwestern, von der Gnadenzeit des Jubiläums erfüllt, erneuern wir unsere Bereitschaft, uns vom Geist zutiefst reinigen und heiligen zu lassen. Auf diesen Weg führe uns auch die Heilige, deren Gedenktag wir heute begehen: die hl. Thérèse vom Kinde Jesu. Ihr, der Patronin der Missionen, vertrauen wir heute zu Beginn des dritten Jahrtausends die Sendung der Kirche an.

Maria, die Königin aller Heiligen, helfe den Christen und allen, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, auf ihrem Weg, damit sich in allen Teilen der Welt das Licht Christi, des Erlösers, ausbreite.



HEILIGJAHRFEIER DER BISCHÖFE

Sonntag, 8. Oktober 2000

1.»Sättige uns, Herr, mit deiner Huld!« (Antwortpsalm)

Der Petersplatz gleicht heute einem großen Abendmahlssaal: Bischöfe aus allen Teilen der Welt sind zu Gast, die nach Rom gekommen sind, um ihre Heiligjahrfeier zu begehen. Die Erinnerung an den Apostel Petrus, die sein Grab unter dem Altar der großen Vatikanbasilika in uns wachruft, lädt uns dazu ein, im Geiste zum ersten Sitz des Apostelkollegiums zurückzukehren, in jenen Abendmahlssaal von Jerusalem, wo ich zu meiner großen Freude während meiner kürzlich unternommenen Pilgerfahrt ins Heilige Land die Eucharistie feiern konnte.

312 Eine ideelle Brücke, die sich über die Jahrhunderte und Kontinente erstreckt, verbindet heute den Abendmahlssaal mit diesem Platz, auf dem diejenigen zusammengekommen sind, die im Heiligen Jahr 2000 die Nachfolger jener ersten Apostel Christi sind. Euch allen, liebe und verehrte Brüder, gilt meine herzliche Umarmung, die ich mit gleicher Zuneigung auf all jene ausweite, die nicht hierherkommen konnten und von ihren Bischofssitzen aus in geistlicher Weise mit uns verbunden sind.

Machen wir uns gemeinsam den Bittruf des Psalms zu eigen: »Sättige uns, Herr, mit deiner Huld!« In der »sapientia cordis« [Weisheit des Herzens], die ein Geschenk Gottes ist, läßt sich die Frucht unseres Zusammentreffens im Jubiläumsjahr zusammenfassen. Sie besteht in einer inneren Angleichung an Christus, die Weisheit des Vaters, durch das Wirken des Heiligen Geistes. Um diese Gabe zu erhalten, die für eine gute Leitung der Kirche unerläßlich ist, müssen in erster Linie wir Hirten Ihn, die »Tür zu den Schafen« (
Jn 10,7), durchschreiten. Wir sollen Ihm, dem »guten Hirten« (Jn 10,11 Jn 10,14), nachfolgen, damit die Gläubigen, wenn sie uns hören, Ihn hören, und wenn sie uns nachfolgen, Ihm nachfolgen, dem einzigen Erlöser, gestern, heute und in Ewigkeit.

2. Gott schenkt uns die Weisheit des Herzens durch sein lebendiges und wirkmächtiges Wort, das das Innerste des Menschen offenlegen kann – wie uns der Verfasser des Hebräerbriefes (vgl. He 4,12) in dem soeben vorgelesenen Abschnitt aufgezeigt hat. Nachdem das göttliche Wort »viele Male und auf vielerlei Weise […] einst zu den Vätern gesprochen [hat] durch die Propheten« (He 1,1), wandte es sich in der Endzeit in der Person des Sohnes an die Menschen (He 1,2).

Wir Hirten sind kraft unseres »munus docendi« [Lehramtes] dazu berufen, qualifizierte Verkünder dieses Wortes zu sein. »Wer euch hört, der hört mich …« (Lc 10,16). Dies ist eine erhebende Aufgabe, es stellt aber zugleich ein große Verantwortung dar! Uns wurde ein lebendiges Wort anvertraut: daher sollen wir es mehr mit dem Leben als mit dem Mund verkünden. Es handelt sich um ein Wort, das mit der Person Christi selbst übereinstimmt, dem »fleischgewordenen Wort« (vgl. Jn 1,14): wir müssen den Menschen daher das Antlitz Christi zeigen und ihnen sein Kreuz verkünden, was wir mit jener Stärke tun sollen, die für Paulus bezeichnend war: »Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten« (1Co 2,2).

3. »Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt« (Mc 10,28). Diese Worte des Petrus bringen die Radikalität jener Entscheidung zum Ausdruck, die vom Apostel abverlangt wird. Eine Radikalität, die im Lichte jenes anspruchsvollen Dialogs erhellt wird, den Jesus mit dem reichen Jüngling führt. Als Bedingung für das ewige Leben hatte ihm der Meister die Befolgung der Gebote genannt. In Anbetracht seines Wunsches nach noch größerer Vollkommenheit hatte er mit einem liebevollen Blick geantwortet und mit einem radikalen Vorschlag: »Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!« (Mc 10,21). Angesichts dieses Wortes überkommt ihn, so als würde sich plötzlich der Himmel verdunkeln, das traurige Gefühl der Ablehnung. Damals vernahmen wir von Jesus eine seiner strengsten Aussagen: »… wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu kommen!« (Mc 10,24). Ein Satz, den er angesichts der Bestürzung der Apostel im Vertrauen auf die Macht Gottes abschwächte: »… denn für Gott ist alles möglich« (Mc 10,28).

Die Worte des Petrus bringen die Gnade zum Ausdruck, mit der Gott den Menschen verwandelt und ihn zu einer vollkommene Hingabe befähigt: »…wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt (Mc 10,28). Auf diese Weise wird man Apostel. Und auf diese Weise erfährt man, wie die Verheißung Christi hinsichtlich des »Hundertfachen « Wirklichkeit wird: Der Apostel, der alles verlassen hat, um Christus nachzufolgen, erlebt bereits hier auf Erden, trotz der unausbleiblichen Prüfungen, ein erfülltes und freudvolles Leben.

Verehrte Brüder, wie könnten wir in diesem Augenblick nicht unsere Dankbarkeit gegenüber dem Herrn bekunden für das Geschenk der Berufung, zunächst zum Priestertum und dann zu seiner Fülle im Bischofsamt? Wenn wir auf die Ereignisse unseres Lebens zurückblicken, so wird unser Herz von Ergriffenheit erfaßt, da wir erkennen, auf wievielerlei Art Gott uns seine Liebe und Barmherzigkeit gezeigt hat. In der Tat, »misericordias Domini in aeternum cantabo!« [Von den Taten deiner Huld, Herr, will ich ewig singen…] (Ps 88,2).

4. Der Bischof als Nachfolger der Apostel ist jemand, für den Christus alles bedeutet. So kann er jeden Tag mit Paulus wiederholen: »Denn für mich ist Christus das Leben…« (Ph 1,21). Hierfür muß er mit seinem ganzen Dasein Zeugnis ablegen. Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt: »Ihrer apostolischen Aufgabe sollen sich die Bischöfe zuwenden als Zeugen Christi vor allen Menschen « (Dekret Christus Dominus CD 11).

Wenn von den Bischöfen als Zeugen gesprochen wird, kann ich nicht umhin, während dieser feierlichen Jubiläumsfeier an die vielen Bischöfe zu erinnern, die im Laufe von zweitausend Jahren Christus das höchste Zeugnis des Martyriums dargebracht haben. Sie hielten sich an das Vorbild der Apostel und befruchteten die Kirche durch das Vergießen ihres Blutes.

Das zwanzigste Jahrhundert war besonders reich an solchen Zeugen, die ich selbst zu meiner großen Freude zur Ehre der Altäre erheben durfte. Vor einer Woche habe ich vier Bischöfe, die in China das Martyrium erlitten haben, ins Verzeichnis der Heiligen eingeschrieben: Gregorio Grassi, Antonino Fantosati, Francesco Fogolla und Luigi Versiglia. Als Selige verehren wir Michael Kozal, Antoni Julian Nowowiejski, Leon Wetmanski und Wladuslaw Goral, die in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ungekommen sind. Zu ihnen scharen sich Diego Ventaja Milán, Manuel Medina Olmos, Anselmo Polanco und Florentino Asensio Barroso, die während des Spanischen Bürgerkrieges umgebracht wurden. Während des langen Winters des kommunistischen Totalitarismus lebten in Osteuropa die seligen Märtyrer Wilhelm Apor, Vinzenz Eugen Bossilkov und Alojzije Stepinac.

Es ist unsere freudige Pflicht, Gott auch für all jene weisen und großherzigen Hirten Dank zu sagen, die im Laufe der Jahrhunderte die Kirche durch ihre Lehre und ihr Beispiel breichert haben. Wie viele heilige und selige Bekenner finden wir unter den Bischöfen! So denke ich beispielsweise an die lichtreichen Gestalten Karl Borromäus und Franz von Sales sowie an die Päpste Pius IX. und Johannes XXIII., die ich zu meiner großen Freude vor kurzem seligsprechen konnte.

313 Liebe Mitbrüder, »da uns eine solche Wolke von Zeugen umgibt« (He 12,1), erneuern wir unsere Antwort auf das Geschenk Gottes, das wir durch die Bischofsweihe erhalten haben. »…auch wir [wollen] alle Last und die Fesseln der Sünde abwerfen. Laßt uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist, und dabei auf Jesus blicken« (), den Hirten der Hirten. Einsatz für Neuevangelisierung

5. Als das Zweite Vatikanische Konzil seine Betrachtungen dem Geheimnis der Kirche und ihrer Sendung zuwandte, verspürte es die Notwenigkeit, dem pastoralen Dienst der Hirten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Heute, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, rückt die Herausforderung der Neuevangelisierung das Bischofsamt noch weiter in den Vordergrund: an erster Stelle trägt der Bischof die Verantwortung, und er belebt die kirchliche Gemeinschaft sowohl im Streben nach Gemeinschaft als auch in ihren missionarischen Vorhaben. Angesichts des Relativismus und Subjektivismus, die so weite Bereiche der gegenwärtigen Kultur verschmutzen, sind die Bischöfe dazu berufen, die Einheit ihrer Gläubigen in der Lehre zu verteidigen und zu fördern. Für alle Situationen Sorge tragend, in denen der Glaube verlorengeht oder unbeachtet bleibt, setzen sich die Bischöfe mit aller Kraft für die Evangelisierung ein. Sie bereiten Priester, Ordensleute und Laien auf diese Aufgabe vor und stellen die hierfür nötigen Mittel zur Verfügung (vgl. Dekret Christus dominus ).

Der Lehre des Konzils eingedenk (vgl. ebd., 7), wollen wir heute von diesem Platz aus unsere brüderliche Solidarität gegenüber jenen Bischöfen bekunden, die Verfolgungen ausgesetzt, in Gefängnissen inhaftiert sind oder an der Ausübung ihres Dienstes gehindert werden. Im Namen des sakramentalen Bandes weiten wir dieses Erinnern und unser Gebet auf unsere Mitbrüder im Priesteramt aus, die dieselben Prüfungen erleiden müssen. Die Kirche dankt ihnen für all das unschätzbare Gute, das sie dem mystischen Leib durch ihr Gebet und ihr Opfer erweisen.

6. »Es komme über uns die Güte des Herrn, unsres Gottes. Laß das Werk unsrer Hände gedeihen, ja, laß gedeihen das Werk unsrer Hände!« (Ps 90,17).

Liebe Brüder im Bischofsamt, während dieser unserer Heiligjahrfeier ist die Güte des Herrn in Überfülle über uns herabgekommen. Das Licht und die Kraft, die von ihr ausgehen, werden mit Sicherheit das »Werk unserer Hände« gedeihen lassen, d.h. die Arbeit, die uns gegenüber Gott und der Kirche anvertraut ist.

Zu unserer Hilfe und unserem Trost wollten wir in diesen Tagen des Jubiläums die Gegenwart der allerseligsten Jungfrau Maria, unsere Mutter, unter uns besonders hervorheben. Dies taten wir gestern abend beim gemeinsamen Gebet des Rosenkranzes. Dies tun wir heute durch den Weiheakt, den wir zum Abschluß der Messe vornehmen werden. Diesen Akt werden wir in kollegialem Geist begehen, da wir wissen, daß uns zahlreiche Bischöfe nahe sind, die sich von ihrem jeweiligen Bischofssitz aus unserer Feier anschließen und gemeinsam mit ihren Gläubigen eben diesen Weiheakt beten. Das verehrte Gnadenbild der Muttergottes von Fatima, das wir zu unserer großen Freude bei uns zu Gast haben, helfe uns dabei, die Erfahrungen des ersten Apostelkollegiums, das im Abendmahlssaal mit Maria, der Mutter Jesu, im Gebet vereint war, von neuem mitzuerleben.

Königin der Apostel, bete mit uns, und bitte für uns, damit der Heilige Geist in Fülle auf die Kirche herabkomme und sie immer einiger, heiliger, katholischer und apostolischer in der Welt erstrahle. Amen.



WEIHEAKT AN DIE GOTTESMUTTER GEBET VON JOHANNES PAUL II.


Sonntag, 8. Oktober 2000

1."Frau, siehe, dein Sohn!" (Jn 19,26).
Das Heilige Jahr geht dem Ende zu.
Du, Mutter, hast uns während dieses Jubiläums Jesus gezeigt,
314 die gebenedeite Frucht deines reinen Leibes,
das Wort, das Fleisch geworden ist, den Erlöser der Welt.
Sein Wort, das uns auf dich hinweist und
dich zu unserer Mutter macht, klingt wohl in unseren Ohren:
"Frau, siehe, dein Sohn!".
Indem er dir den Apostel Johannes und mit ihm
die Söhne und Töchter der Kirche, ja alle Menschen anvertraute,
verringerte Christus seine ausschließliche Rolle
als Erlöser der Welt nicht, sondern bekräftigte sie.
Du bist der Glanz, der das Licht Christi nicht mindert,
denn du lebst in ihm und durch ihn.
315 Dein ganzes Sein ist Zustimmung: "fiat". Du bist die Unbefleckte,
du bist die Fülle und der Widerschein der Gnade.
Sieh da, deine Söhne und Töchter, die beim Anbruch
des neuen Jahrtausends hier um dich versammelt sind.
Durch die Stimme des Nachfolgers Petri
im Verein mit den Stimmen der Bischöfe,
die aus allen Teilen der Welt hier zusammengekommen sind,
sucht die Kirche heute bei dir Zuflucht.
Sie stellt sich unter deinen mütterlichen Schutz.
Sie bittet vertrauensvoll um deine Fürsprache
angesichts der Herausforderungen der Zukunft.

316 2. In diesem Gnadenjahr erlebten und erleben noch viele Menschen
die überströmende Freude des Erbarmens,
das der Vater uns in Christus geschenkt hat.
In den Teilkirchen, die über die ganze Erde verstreut sind,
und mehr noch hier, im Zentrum der Christenheit,
haben Menschen aller Klassen
dieses Geschenk in Empfang genommen.
Hier glühten die Jugendlichen vor Begeisterung.
Hier beteten und flehten die Kranken.
Hierher kamen Priester und Ordensleute,
Künstler und Journalisten,
317 Menschen aus der Welt der Arbeit, der Technik und Wissenschaft,
Kinder und Erwachsene.
Alle erkannten in deinem geliebten Sohn
das Wort Gottes, das in deinem Schoß Fleisch geworden ist.
Erflehe, o Mutter, durch deine Fürsprache,
daß die Früchte dieses Jahres nicht verloren gehen,
und daß die Samenkörner der Gnade
sich bis zum Vollmaß der Heiligkeit entwickeln,
zu der wir alle berufen sind.

3. Wir wollen dir heute die Zukunft anvertrauen, die vor uns liegt.
Wir bitten dich, uns auf unserem Weg zu begleiten.
318 Wir Männer und Frauen leben in einer außergewöhnlichen Zeit,
die zugleich verheißungsvoll und schwierig ist.
Die Menschheit besitzt heute nie dagewesene Mittel zur Macht:
Sie ist imstande, diese Welt zu einem blühenden Garten zu machen
oder sie völlig zu zerstören.
Die Menschheit hat die außerordentliche Fähigkeit erlangt,
sogar in die Anfänge des Lebens einzugreifen.
Sie kann dies zum Wohl aller im Rahmen des Moralgesetzes nutzen
oder dem kurzsichtigen Hochmut einer Wissenschaft nachgeben,
die keine Grenzen anerkennt und
sogar die gebührende Achtung vor jedem Menschenleben verweigert.
319 Die Menschheit steht heute
an einem Scheideweg wie nie zuvor.
Die Rettung, o heiligste Jungfrau,
ist wiederum dein Sohn Jesus allein.

4. Deshalb wollen wir dich, Mutter, wie der Apostel Johannes
bei uns aufnehmen (vgl.
Jn 19,27),
um von dir zu lernen, deinem Sohn ähnlich zu werden.
"Frau, siehe, deine Söhne und Töchter!"
Wir stehen hier vor dir
und wollen uns selbst, die Kirche und die ganze Welt
deinem mütterlichen Schutz anvertrauen.
320 Bitte deinen Sohn für uns,
daß er uns den Heiligen Geist in Fülle schenke,
den Geist, der Wahrheit, aus dem das Leben hervorgeht.
Empfange ihn für uns und mit uns
wie in der Urgemeinde von Jerusalem,
die sich am Pfingsttag um dich geschart hat (vgl.
Ac 1,14).
Der Geist Gottes öffne die Herzen für die Liebe und Gerechtigkeit.
Er wecke in den Personen und Nationen gegenseitiges Verständnis
und den festen Willen zum Frieden.
Wir vertrauen dir alle Menschen an, zuerst die schutzlosesten:
die Kinder, die noch nicht zur Welt gekommen sind,
321 und die Kinder, die in Armut und Leid geboren werden;
die Jugendlichen, die auf der Suche nach einem Lebensziel sind;
die Menschen ohne Arbeit
und diejenigen, die Hunger und Krankheit erleiden.
Wir vertrauen dir die zerrütteten Familien an,
die Alten, denen niemand beisteht,
und alle, die verlassen und ohne Hoffnung sind.

5. Mutter, du kennst die Leiden und
Hoffnungen der Kirche und der Welt.
Steh deinen Söhnen und Töchtern in den Prüfungen bei,
die der Lebensalltag für jeden bereithält.
322 Gib, daß dank des gemeinsamen Bemühens aller
die Finsternis nicht über das Licht siegt.
Dir, Morgenröte der Erlösung, vertrauen wir
unseren Weg ins neue Jahrtausend an,
damit alle Menschen unter deiner Führung Christus finden,
das Licht der Welt und den einzigen Erlöser,
der herrscht mit dem Vater und dem Heiligen Geist
in Ewigkeit. Amen.



HEILIGJAHRFEIER DER FAMILIEN

Sonntag, 15. Oktober 2000

1.Der Herr, »Quelle des Lebens«, segne uns! Dieser Bittruf, den wir im Antwortpsalm wiederholt haben, liebe Brüder und Schwestern, bietet eine gute Zusammenfassung des täglichen Gebets jeder christlichen Familie. Heute, in dieser Eucharistiefeier während des Jubiläumsjahres, bringt er den Sinn unseres Treffens klar zum Ausdruck.

Ihr habt euch hier nicht nur als Einzelpersonen, sondern als Familien versammelt. Aus allen Teilen der Welt seid ihr in Rom zusammengekommen, getragen von der tiefen Überzeugung, daß die Familie ein großes Geschenk Gottes ist, ein ursprüngliches Geschenk, auf dem sein Segen ruht.

323 In der Tat liegt seit Anbeginn der Schöpfung der segnende Blick Gottes auf der Familie. Gott schuf Mann und Frau als sein Ebenbild und gab ihnen den besonderen Auftrag, zur Entwicklung der Menschheitsfamilie beizutragen: »Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde« (Gn 1,28).

Eure Heiligjahrfeier, liebe Familien, ist ein Lobgesang auf diesen ursprünglichen Segen. Er ist auf euch christliche Eheleute herabgekommen, als ihr eure Eheschließung gefeiert und euch dabei vor Gott ewige Liebe geschworen habt. Heute werden ihn die acht Paare aus verschiedenen Teilen der Welt empfangen, die gekommen sind, um im festlichen Rahmen dieses Jubiläumsritus ihre Hochzeit zu feiern.

Ja, der Herr, »Quelle des Lebens«, segne uns! Seid offen für die immer neuen Ströme dieses Segens. Er trägt in sich eine schöpferische, regenerierende Kraft, die alle Müdigkeit zu beseitigen und eurem Geschenk ewige Frische zu schenken vermag.

2. Dieser ursprüngliche Segen ist an einen bestimmten Plan Gottes geknüpft, der uns durch sein Wort soeben in Erinnerung gerufen wurde: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht« (Gn 2,18).

So umreißt der heilige Verfasser im Buch Genesis das grundlegende Bedürfnis, auf dem der Ehebund zwischen Mann und Frau – und damit das Leben der daraus hervorgehenden Familie – beruht. Es handelt sich um das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Das menschliche Wesen ist nicht für die Einsamkeit geschaffen; es trägt in sich die Berufung zur Beziehung, die sogar in seiner spirituellen Wesensart wurzelt. Durch diese Berufung wächst der Mensch in dem Maße, wie er zu den anderen in Beziehung tritt und sich »durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst« vollkommen wiederfindet (Gaudium et spes GS 24).

Dem menschlichen Wesen reichen rein zweckorientierte Beziehungen nicht aus. Es braucht zwischenmenschliche Beziehungen, die reich an Innerlichkeit, Selbstlosigkeit und Hingabe sind. Darunter sind diejenigen, die sich in der Familie – im Verhältnis zwischen den Eheleuten wie in dem zwischen ihnen und den Kindern – realisieren, von wesentlicher Bedeutung. Das gesamte, große Netz menschlicher Beziehungen entsteht und regeneriert sich ständig auf der Grundlage jener Beziehung, durch die Mann und Frau anerkennen, füreinander geschaffen zu sein, und entscheiden, ihre Existenzen in einem einzigen Lebensprojekt zu verschmelzen: »Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an eine Frau, und sie werden ein Fleisch« (Gn 2,24).

3. Ein Fleisch! Wie könnte man nicht die Ausdruckskraft dieser Worte verspüren! Der biblische Begriff »Fleisch« evoziert nicht nur die Körperlichkeit des Menschen, sondern seine umfassende Identität bestehend aus Geist und Leib. Was die Eheleute vollziehen, ist nicht nur eine körperliche Begegnung, sondern eine echte Einheit ihrer Personen. Diese Einheit ist so tiefgehend, daß sie die Ehepartner gewissermaßen zu einem Widerschein des »Wir« der drei göttlichen Personen in der Geschichte macht (vgl. Brief an die Familien LF 8).

Auf diese Weise wird auch verständlich, wieviel in dem Gespräch zwischen Jesus und den Pharisäern aus dem Markusevangelium, das vorhin vorgelesen wurde, auf dem Spiel steht. Für die Gesprächspartner Jesu handelte es sich um ein Problem der Auslegung des mosaischen Rechts, das die Verstoßung erlaubte; so entwickelte sich eine Debatte über die Gründe, die sie rechtfertigen konnten. Jesus läßt diese legalistische Anschauung vollständig hinter sich und dringt zum Mittelpunkt des Planes Gottes vor. In der mosaischen Regel erkennt er ein Zugeständnis an die »sklerokardia«, die »Härte des Herzens «. Doch gerade mit dieser Härte möchte Jesus sich nicht abfinden. Und wie könnte er auch, da er ja eben deshalb gekommen ist, um sie zu lösen und um dem Menschen, durch die Erlösung, die Kraft zur Überwindung der von der Sünde verursachten Widerstände zu geben? Er fürchtet sich nicht davor, auf den ursprünglichen Plan zu verweisen: »Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen« (Mc 10,6).

4. Am Anfang! Nur er, Jesus, kennt den Vater »von Anfang an«, und er kennt auch den Menschen »von Anfang an«. Er ist zugleich der Offenbarer des Vaters und der Offenbarer des Menschen für den Menschen (vgl. Gaudium et spes GS 22). Deshalb hat die Kirche – seinem Beispiel folgend – die Aufgabe, diesen ursprünglichen Plan in der Geschichte zu bezeugen, indem sie dessen Wahrheit und Durchführbarkeit darlegt.

Wenn sie dies tut, verschweigt die Kirche dennoch nicht die Schwierigkeiten und Tragödien, die die konkrete geschichtliche Erfahrung im Leben der Familien vorfindet. Sie weiß aber auch, daß der Wille Gottes, der mit ganzem Herzen aufgenommen und umgesetzt wird, nicht eine Kette ist, die zu Sklaven macht, sondern die Voraussetzung für eine wahre Freiheit, die ihre Erfüllung in der Liebe findet. Die Kirche ist sich darüber hinaus bewußt – und die tägliche Erfahrung bestätigt dies –, daß die Gesellschaft einen unermeßlichen Schaden erleidet, wenn sich dieser ursprüngliche Plan im menschlichen Gewissen verdunkeln würde.

Natürlich gibt es Schwierigkeiten. Aber Jesus hat die Eheleute mit ausreichenden Gnadengaben ausgestattet, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Nach seinem Willen hat die Ehe für die Getauften den Wert und die Kraft eines sakramentalen Zeichens bekommen, das ihre Eigenschaften und Vorrechte festigt. In der sakramentalen Ehe verpflichten sich nämlich die Eheleute – wie es auch die jungen Paare, deren Vermählung ich in Kürze segnen werde, tun werden –, einander die starke und unauflösliche Liebe, mit der Christus die Kirche liebt, zum Ausdruck zu bringen und sie auch vor der Welt zu bezeugen. Dies ist das »tiefe Geheimnis«, wie es der Apostel Paulus nennt (vgl. Ep 5,32).

324 5. Der Herr, »Quelle des Lebens«, segne uns! Der Segen Gottes steht am Ursprung nicht nur der ehelichen Gemeinschaft, sondern auch der verantwortungsvollen und großzügigen Aufgeschlossenheit gegenüber dem Leben. Die Kinder sind wahrlich der »Frühling der Familie und der Gesellschaft«, wie das Motto eurer Heiligjahrfeier besagt. In den Kindern erreicht die Ehe ihre Blüte: In ihnen findet sich die Krönung jener »Gemeinschaft des ganzen Lebens« (»totius vitae consortium «: CIC 1055,1), die aus den Eheleuten »ein Fleisch« macht, und zwar sowohl bei den Kindern, die aus der natürlichen Beziehung zwischen den Ehepartnern geboren werden, als auch bei adoptierten Kindern. Kinder sind im Plan eines Ehelebens keine »Nebensache«. Sie sind kein einfaches »Zubehör«, sondern die »vorzüglichste Gabe« (Gaudium et spes GS 50), die in die Struktur des Ehebundes selbst eingeschrieben ist.

Die Kirche lehrt bekanntermaßen die Ethik der Achtung dieser wesentlichen Struktur in ihrer zugleich einenden als auch prokreativen Bedeutung. In all dem bringt sie die gebührende Hochachtung vor dem Plan Gottes zum Ausdruck, indem sie ein Netz von Beziehungen zwischen den Eheleuten vorzeichnet, die auf eine vorbehaltlose gegenseitige Annahme ausgerichtet sind. Außerdem entspricht es dem Recht der Kinder, in einem liebevollen und vollkommen menschlichen Umfeld geboren zu werden und aufzuwachsen. Wenn sie nach dem Wort Gottes lebt, wird die Familie zu einem Laboratorium der Menschlichkeit und wahren Solidarität.

6. Zu dieser Aufgabe sind sowohl die Eltern als auch die Kinder berufen, doch – wie ich schon 1994 anläßlich des Jahres der Familie schrieb – bleibt folgendes festzuhalten: »Das ›Wir‹ der Eltern, des Ehemannes und der Ehefrau, entfaltet sich durch die Erziehung im ›Wir‹ der Familie, die sich in die voraufgehenden Generationen einfügt, aber offen ist für eine schrittweise und fortschreitende Erweiterung« (Brief an die Familien LF 16). Wenn die Rollenverteilung respektiert wird, so daß die Beziehung zwischen den Ehepartnern und zwischen Eltern und Kindern sich erfüllt und spannungslos gestaltet, ist es nur natürlich, daß für die Familie auch die anderen Angehörigen Bedeutung und Wichtigkeit erlangen, so zum Beispiel Großeltern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Oft spielt die Familie in diesen von aufrichtiger Zuneigung und gegenseitiger Hilfe geprägten Beziehungen eine unersetzliche Rolle, damit die Menschen in Schwierigkeiten, die Unverheirateten, die Witwer und Witwen und die Waisen einen Ort der Wärme und Aufnahmebereitschaft finden können. Die Familie darf sich nicht in sich selbst verschließen. Ein liebevolles Verhältnis zu den Angehörigen ist ein erster Bereich jener Aufgeschlossenheit, die die Familie in die ganze Gesellschaft hineinträgt.

7. Liebe christliche Familien! Nehmt daher die Gnade des Heiligen Jahres, die in dieser Eucharistiefeier im Überfluß ausgegossen wird, vertrauensvoll auf. Nehmt sie auf und orientiert euch dabei am Vorbild der Familie von Nazaret, die zwar zu einer unvergleichlichen Sendung berufen war, aber dennoch den gleichen Weg wie ihr ging, zwischen Freude und Leid, zwischen Gebet und Arbeit, zwischen Hoffnung und quälenden Prüfungen, immer in der Treue zum Willen Gottes verankert. Eure Familien seien immer mehr echte »Hauskirchen«, aus denen sich jeden Tag das Lob zu Gott erhebt und ein positiver und regenerierender Strom der Liebe auf die Gesellschaft ausstrahlt.

Der Herr, »Quelle des Lebens«, segne uns! Möge diese Heiligjahrfeier der Familien für euch alle, die ihr sie erlebt, eine bedeutungsvolle Zeit der Gnade sein. Sie sei auch für die Gesellschaft eine Aufforderung, über die Bedeutung und den Wert dieses großen Geschenks nachzudenken, das die nach dem Herzen Gottes begründete Familie ist. Maria, »Königin der Familie«, begleite euch allezeit mit ihrer mütterlichen Führung.




Predigten 1978-2005 309