Predigten 1978-2005 295


HOCHFEST DER HLL. APOSTEL PETRUS UND PAULUS

Donnerstag, 29. Juni 2000



1. »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« (Mt 16,15)

Diese Frage nach seiner Identität richtet Jesus an die Jünger, als er sich mit ihnen im oberen Galiläa aufhält. Mehrere Male waren es die Jünger, die ihm Fragen stellten: nun ist er es, der sie befragt. Seine Frage ist unmißverständlich und verlangt eine Antwort. Simon Petrus ergreift für alle das Wort: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Mt 16,16)

Diese Antwort ist von außergewöhnlicher Klarheit. In ihr spiegelt sich in vollkommener Weise der Glaube der Kirche wider. Vor allem spiegelt sich in den Worten des Petrus der Bischof von Rom wider, der nach göttlichem Willen sein unwürdiger Nachfolger ist. Und um ihn herum und mit ihm spiegelt ihr euch in diesen Worten wider, liebe Metropolitanerzbischöfe, die ihr aus vielen Teilen der Welt hier zusammengekommen seid, um am Hochfest der hll. Petrus und Paulus das Pallium zu empfangen.

Einem jeden von euch entbiete ich meinen herzlichen Gruß. Diesen Gruß weite ich gerne auf all jene aus, die euch nach Rom begleitet haben, sowie auf eure Gemeinden, die bei diesem feierlichen Anlaß in geistlicher Weise mit uns verbunden sind.

2. »Du bist der Messias!« Auf das Bekenntnis des Petrus gibt Jesus zur Antwort: »Selig bist du, Simon Barjona; denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16,17).

Selig bist du, Petrus! Selig, denn diese Wahrheit, die die Mitte des Glaubens der Kirche darstellt, konnte deinem menschlichen Erfassungsvermögen allein durch das Wirken Gottes entspringen. »Niemand«, so sagte Jesus, »kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will« (Mt 11,27).

Wir denken über diese einzigartig inhaltsreiche Stelle aus dem Evangelium nach: das menschgewordene Wort hatte seinen Jüngern den Vater offenbart. Nun ist der Augenblick gekommen, in dem der Vater selbst ihnen seinen eingeborenen Sohn offenbart. Petrus nimmt diese innere Erleuchtung an und bekennt mutig: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!«

Diese Worte aus dem Munde des Petrus entstammen dem Wesensinneren des göttlichen Mysteriums. Sie enthüllen die innerste Wahrheit, das Leben Gottes selbst. Und Petrus wird durch das Wirken des Geistes Gottes zum Zeugen und Bekenner dieser den Menschen übersteigenden Wahrheit.Sein Bekenntnis des Glaubens bildet somit das feste Fundament des Glaubens der Kirche: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen…« (Mt 16,18). Die Kirche Christi wurde auf dem Glauben und der Treue des Petrus errichtet.

Dessen war sich die erste christliche Gemeinde sehr wohl bewußt, die – wie in der Apostelgeschichte berichtet wird – inständig für Petrus zu Gott betete, als er im Gefängnis festgehalten wurde (Ac 12,5). Dieses Gebet wurde erhört, denn die Gegenwart des Petrus war für die im Entstehen begriffene Gemeinde noch unerläßlich: der Herr schickte seinen Engel, um ihn aus den Händen der Verfolger zu befreien (vgl. ebd., 12,7–11). Es war Gottes Plan, daß Petrus, nachdem er über lange Zeit seine Brüder im Glauben gestärkt hatte, hier in Rom das Martyrium erleiden sollte, gemeinsam mit Paulus, dem Völkerapostel, der ebenso mehrere Male dem Tod entronnen war.

296 3. »Aber der Herr stand mir zur Seite und gab mir Kraft, damit durch mich die Verkündigung vollendet wird und alle Heiden sie hören« (2Tm 4,17). Dies sind die Worte des Paulus an den treuen Jünger Timotheus, die wir in der zweiten Lesung gehört haben. Sie legen Zeugnis ab von dem Werk, das der Herr in ihm vollbracht hat. Er hatte Paulus zum Diener des Evangeliums erwählt, indem er ihn auf dem Weg nach Damaskus »ergriffen« hat.

Von gleißendem Licht umstrahlt, zeigte der Herr sich ihm und sprach: »Saul, Saul, warum verfolgst du mich? (Ac 9,4), während ihn eine geheimnisvolle Kraft zu Boden warf (vgl. Ac 9,5). »Wer bist du, Herr?«, hatte Paulus gefragt. »Ich bin Jesus, den du verfolgst« (Ac 9,5). Dies war die Antwort Christi. Saulus verfolgte die Anhänger Jesu, und Jesus teilte ihm mit, daß Er selbst in ihnen verfolgt wurde. Er, Jesus von Nazaret, der Gekreuzigte, von dem die Christen behaupteten, er sei auferstanden. Wenn Saulus nun es offenkundig, daß Gott ihn wahrhaftig von den Toten auferweckt hatte. Er war der Messias, den Israel erwartete, er war der Christus, der in seiner Kirche und in der Welt lebt und gegenwärtig ist!

Hätte Saulus mit seiner bloßen Verstandeskraft all das erfassen können, was ein derartiges Ereignis mit sich bringen würde? Mit Sicherheit nicht! Er war nämlich ein Teil des geheimnisvollen Planes Gottes. Der Vater wird Paulus die Gnade verleihen, das Geheimnis der Erlösung zu erkennen, die in Christus gewirkt wurde. Gott wird es ihm ermöglichen, die wunderbare Wirklichkeit der Kirche zu verstehen, die für Christus, mit Christus und in Christus lebt. Und er, der dieser Wahrheit teilhaftig wurde, wird sie unablässig und unermüdlich bis an die Enden der Erde verkünden.

Von Damaskus aus wird Paulus seinen apostolischen Weg aufnehmen, der ihn das Evangelium in so weiten Teilen der damals bekannten Welt verbreiten lassen wird. Sein missionarischer Eifer wird somit zur Verwirklichung des Auftrages beitragen, den Christus seinen Aposteln gegeben hatte: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern…« (Mt 28,19).

4. Liebe Brüder im Bischofsamt, die ihr hierhergekommen seid, um das Pallium entgegenzunehmen: eure Anwesenheit unterstreicht auf beredte Weise die universale Dimension der Kirche, die auf die Weisung des Herrn zurückgeht: »Darum geht …und macht alle Menschen zu meinen Jüngern …« (Mt 28,19).

In der Tat kommt ihr aus fünfzehn Ländern, verteilt auf vier Kontinente. Ihr seid vom Herrn dazu berufen, als Oberhirten von Metropolitansitzen tätig zu sein.

Liebe Brüder, jedesmal wenn ihr euch diese Pallien umlegt, seid dessen eingedenk, daß wir als Hirten dazu berufen sind, die Reinheit des Evangeliums und die Einheit der Kirche Christi zu bewahren, die auf dem »Felsen« des Glaubens Petri gegründet ist. Hierzu beruft uns der Herr. Hierin besteht unsere unabdingbare Sendung als fürsorgende Führer der Herde, die der Herr uns anvertraut hat.

5. Die volle Einheit der Kirche! Diesen Auftrag Christi höre ich in mir widerhallen. Ein Auftrag, der jetzt zu Beginn des neuen Jahrtausends besonders dringlich ist. Hierfür beten wir, und hierauf wirken wir hin, ohne je in der Hoffnung nachzulassen.

Mit diesen Empfindungen umarme und grüße ich die Delegation des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel, die hierhergekommen ist, um mit uns das liturgische Gedenken der hll. Petrus und Paulus zu feiern. Danke, verehrte Brüder, für eure Anwesenheit und für eure herzliche Teilnahme an dieser festlichen Liturgiefeier. Gott möge uns gewähren, daß wir möglichst bald zur vollen Einheit aller an Christus Glaubenden gelangen.

Dieses Geschenk mögen uns die hll. Apostel Petrus und Paulus erwirken, derer die Kirche von Rom am heutigen Tag gedenkt. Am heutigen Tag wird das Gedächtnis ihres Martyriums und somit ihrer Geburt in das Leben in Gott begangen. Um des Evangeliums willen nahmen sie Leid und Tod an und wurden so der Auferstehung des Herrn teilhaftig. Ihr Glaube, der durch das Martyrium bekräftigt wurde, kommt dem Glauben Mariens gleich, der Mutter der Gläubigen, der Apostel, der heiligen Männer und Frauen aller Jahrhunderte.

Heute bekennt die Kirche von neuem ihren Glauben. Es ist unser Glaube, der unabänderliche Glaube der Kirche an Jesus, den einzigen Heiland der Welt: an Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, der für uns und alle Menschen gestorben und auferstanden ist.





HEILIGJAHRFEIER IN DEN GEFÄNGNISSEN


297

Sonntag, 9. Juli 2000



1. »Ich war im Gefängnis …« (). Diese Worte Christi konnten wir heute im Abschnitt aus dem Evangelium vernehmen, das soeben vorgetragen wurde. Sie führen vor unser geistiges Auge das Bild Christi, der wirklich im Gefängnis saß. Es scheint, als könnten wir ihn wieder am Abend des Gründonnerstags in Getsemani sehen: er, die personifizierte Unschuld, der wie ein Verbrecher von den Schergen des Hohen Rates umringt, festgenommen und vor das Tribunal des Hannas und Kajaphas gebracht wurde. In der Nacht darauf folgen die langen Stunden des Wartens auf den Urteilspruch des römischen Tribunals unter Pilatus. Das Urteil wird am Morgen des Karfreitags im Prätorium gefällt: Jesus steht vor dem römischen Statthalter, der ihn verhört. Über seinem Haupt schwebt die Forderung nach Todesstrafe durch Kreuzigung. Daraufhin sehen wir ihn zur Geißelung an eine Säule gebunden. Später wird er mit Dornen gekrönt… »Ecce homo« – »Seht, da ist der Mensch.« Pilatus sprach diese Worte und rechnete hierbei vielleicht mit einer menschlichen Reaktion von seiten der Anwesenden. Die Antwort lautete: »Kreuzige ihn, kreuzige ihn« (Lc 23,21). Und als sie ihm schließlich die Fesseln von den Händen nahmen, taten sie dies, um seine Hände ans Kreuz zu nageln.

2. Liebe Brüder und Schwestern, es stellt sich uns, die wir hier versammelt sind, Jesus Christus vor – der Gefangene. »Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen« (Mt 25,40). Er bittet uns darum, Ihm in euch zu begegnen, ebenso wie in den vielen anderen Personen, die von verschiedenen Formen des menschlichen Leids getroffen werden: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Diese Worte enthalten gewissermaßen das »Programm« der Heiligjahrfeier in den Gefängnissen, die wir heute begehen. Sie laden uns ein, uns durch diese Feier einzusetzen für die Würde aller, jene Würde, die der Liebe Gottes zu jedem Menschen entspringt.

Ich danke allen, die an diesem Ereignis des Jubiläums teilnehmen. Meinen aufrichtigen Gruß möchte ich an die hier anwesenden Autoritäten richten: an den Herrn Justizminister, den Chef der Abteilung für den Strafvollzug, den Direktor dieser Strafanstalt sowie an die Vollzugsbeamten, die mit ihm zusammenarbeiten.

Vor allem möchte ich mit brüderlicher Herzlichkeit einen jeden von euch Strafgefangenen begrüßen. Ich stelle mich euch als Zeuge der Liebe Gottes vor. Durch meinen Besuch möchte ich euch sagen, daß Gott euch liebt, und sich wünscht, daß ihr einen Weg der Rehabilitation und des Verzeihens, der Wahrheit und Gerechtigkeit mit ihm beschreitet. Gerne würde ich den persönlichen Anliegen eines jeden einzelnen zuhören können. Das, was mir nicht möglich ist, können jedoch die Gefängnisgeistlichen tun, die euch im Namen Christi zur Seite stehen. Ihnen gilt mein herzlicher Gruß und meine Ermutigung. Meine Gedanken gehen auch zu all jenen, die diesen so anspruchsvollen Auftrag in allen Gefängnissen Italiens und der ganzen Welt erfüllen. Zudem halte ich es für meine Pflicht, den Freiwilligen meine Wertschätzung auszusprechen, die mit den Gefängnisgeistlichen zusammenarbeiten, um euch durch angemessene Initiativen nahe zu sein. Nicht zuletzt durch ihre Hilfe kann das Gefängnis menschliche Züge bekommen und durch eine spirituelle Dimension bereichert werden, die für euer Leben außerordentlich wichtig ist. Diese Dimension, die im freien Ermessen eines jeden steht, muß als bedeutsamer Bestandteil der Projekte erachtet werden, die menschenwürdigere Haftstrafen erreichen wollen.

3. Eben ein solches Projekt erhellt der Abschnitt aus der ersten Lesung, in der der Prophet Jesaja mit Hilfe einiger charakteristischer Wesensmerkmale das Bild eines zukünftigen Messias zeichnet: »Er schreit nicht und lärmt nicht und läßt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja er bringt wirklich das Recht. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat« (). Im Mittelpunkt dieses Jubiläums steht Christus, der Gefangene.Zugleich ist da Christus, der Gesetzgeber. Er ist es, der das Gesetz festlegt, es verkündet und bekräftigt. Doch hierbei geht er nicht mit Rücksichtslosigkeit vor, sondern mit Milde und in Liebe. Heile, was krank ist, stärke, was gebrochen ist. Dort, wo noch ein kleines Flämmchen Güte brennt, belebt er es wieder durch den Hauch seiner Liebe. Verkünde kraftvoll die Gerechtigkeit, doch heile die Wunden mit dem Balsam der Barmherzigkeit.

Im Buch des Jesaja eröffnet eine weitere Reihe von Bildern die Perspektive des Lebens, der Freude und der Freiheit: der künftige Messias wird kommen um den Blinden die Augen zu öffnen und die Gefangenen aus dem Kerker zu holen (vgl. Jes Is 42,7). Liebe Brüder und Schwestern, ich kann mir vorstellen, daß vor allem letzteres Bild in euren Herzen unmittelbaren Widerhall findet und euch mit Hoffnung erfüllt.

4. Die Botschaft des Wortes Gottes muß in ihrer ganzheitlichen Bedeutung aufgenommen werden. Der »Kerker«, aus dem der Herr uns zu befreien kommt, ist in erster Linie der, in dem der Geist gefangen ist. Das Gefängnis des Geistes ist die Sünde. Wie könnte man diesbezüglich nicht an jene tiefsinnigen Worte Jesu denken: »Amen amen, das sage ich euch: Wer die Sünde tut, ist Sklave der Sünde« (Jn 8,34). Dies ist die Sklaverei, aus der er uns in erster Linie befreien wollte. Denn er sagte: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien« (Jn 8,31).

Die vom Propheten Jesaja gesprochenen Worte der Befreiung müssen daher im Lichte der ganzen Heilsgeschichte verstanden werden, die ihren Höhepunkt in Christus findet, dem Erlöser, der die Sünde der Welt hinweggenommen hat (vgl. Jn 1,29). Gott liegt die ganzheitliche Befreiung des Menschen am Herzen. Eine Befreiung, die nicht nur körperliche und äußerliche Wirklichkeiten betrifft, sondern vor allem die Befreiung des Herzens.

5. Die Hoffnung auf diese Befreiung – so ruft uns der Apostel Paulus in der zweiten Lesung in Erinnerung – durchzieht die ganze Schöpfung: »Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt« (Rm 8,22). Unsere Sünde warf den Heilsplan Gottes durcheinander, und hierunter leidet nicht nur das menschliche Leben, sondern die Schöpfung selbst. Diese kosmische Dimension der Auswirkungen der Sünde wird in den Naturkatastrophen geradezu »handgreiflich« offenbar. Nicht weniger besorgniserregend sind die Schäden, die die Sünde in der menschlichen Psyche, ja in Menschennatur selbst hervorruft. Die Sünde hat verheerende Auswirkungen. Sie raubt dem Herzen den Frieden und schafft eine Kette von Leiden in den Beziehungen der Menschen untereinander. Ich kann mir vorstellen, wie häufig ihr diese Wahrheit feststellen könnt, wenn ihr euch mit euren persönlichen Lebensgeschichten auseinandersetzt oder die eurer Mitgefangenen anhört.

Der Geist Gottes ist gekommen, um uns aus eben dieser Sklaverei zu befreien. Er, der das herausragendste Geschenk ist, das Christus für uns erwirken konnte, »nimmt sich […] unserer Schwachheit an« und »tritt […] für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können« (Rm 8,26). Wenn wir seinen Eingebungen folgen, schenkt er uns ganzheitliches Heil, damit »wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden« (Rm 8,23).

298 6. Daher muß er, der Geist Jesu Christi, in euren Herzen wirken, liebe inhaftierte Brüder und Schwestern. Der Heilige Geist muß dieses Gefängnis, in dem wir uns befinden sowie alle Gefängnisse der Welt durchdringen. Christus, der Sohn Gottes, machte sich zum Gefangenen, ließ sich die Hände fesseln und ans Kreuz schlagen, damit sein Geist das Herz eines jeden Menschen erreichen könne. Auch dort, wo Menschen hinter Gefängnistoren eingeschlossen sind, muß – gemäß der Logik einer notwendigen menschlichen Gerechtigkeit – der Geist Christi, des Erlösers der Welt, wehen. Die Strafe darf nämlich nicht auf eine bloße Abgeltungsmaßnahme verkürzt werden, und sie darf erst recht nicht zu einer Art von sozialer Vergeltung oder institutionalisierter Rache gemacht werden. Strafe und Gefängnis haben einen Sinn, wenn sie zur Erneuerung des Menschen beitragen, wobei sie die Notwendigkeit der Gerechtigkeit bekräftigen und von Verbrechen abhalten müssen. Hierbei müssen sie denjenigen, die einen Fehler begangen haben, die Möglichkeit geben, nachzudenken und das eigene Leben zu ändern, um sich wieder voll und ganz in die Gesellschaft eingliedern zu können.

Gestattet mir daher, euch darum zu bitten, mit all euren Kräften nach einem neuen Leben zu streben, das gekennzeichnet ist durch die Begegnung mit Christus. Über einen solchen Weg wird die ganze Gesellschaft erfreut sein. Vielleicht werden dieselben Personen, denen ihr Schmerz zugefügt habt, verspüren, daß sie durch eure innere Wandlung mehr Gerechtigkeit erfahren haben, als durch das bloße Verbüßen eurer Haftstrafe.

Einem jeden von euch wünsche ich, daß ihr die Erfahrung der befreienden Liebe Gottes macht. Auf euch und alle Gefangenen der Welt komme der Geist Jesu Christi herab, der alles neu macht (vgl.
Ap 21,5) und der euren Herzen Zuversicht und Hoffnung schenke.

Es begleite euch der Blick von Maria, »Regina Caeli«, der Himmelskönigin, deren mütterlicher Zärtlichkeit ich euch und eure Familien anempfehle.

Zum Abschluß der Eucharistiefeier im römischen Gefängnis »Regina Coeli« am 9. Juli richtete Papst Johannes Paul II. folgende Grußworte an die Anwesenden:

Mein Dank gilt dem Herrn Minister, dem Gefängnisdirektor und eurem Vertreter für die Worte, die sie an mich gerichtet haben. Durch sie danke ich den hier anwesenden Autoritäten, indem ich allen meine tiefempfundene Anerkennung für den herzlichen Empfang ausspreche, der mir bereitet wurde.

Beim Abschiednehmen von euch möchte ich meinen Gruß erneuern, den ich auch auf eure Familienangehörigen ausweite. Ich weiß sehr genau, daß jeder von euch auf den Tag hinblickt, an dem er, nach Verbüßung seiner Strafe, die Freiheit wiedererlangen und zur eigenen Familie zurückkehren kann.

Dessen eingedenk habe ich in der Botschaft, die ich anläßlich dieses Jubiläumstages – im Einklang mit meinen Vorgängern und im Geiste des Heiligen Jahres – an die ganze Welt sandte, ein Zeichen der Milde durch »Strafnachlaß« für euch gefordert. Ich bat darum in der tiefen Überzeugung, daß eine solche Maßnahme ein Zeichen der Sensibilität gegenüber euren Lebensbedingungen bedeutet, die dazu beitragen kann, eure Bereitschaft zur Reue und eure persönliche Einsicht zu fördern und zu ermutigen. Vor diesem Hintergrund ergeht an einen jeden einzelnen mein herzlichster Gruß.





EUCHARISTIEFEIER MIT DEM KLERUS DER DIÖZESE AOSTA


Les Combes, 22. Juli 2000

1.Liebe Priester der Diözese Aosta, es ist mir eine besondere Freude, am Ende meines Aufenthaltes hier in den Bergen gemeinsam mit euch diese Heilige Messe zu feiern. Mein herzlicher Gruß geht an euch alle. Besonders grüße ich euren Bischof, dem ich von Herzen danken möchte für die große Zuvorkommenheit, mit der man mir und meinen Mitarbeitern in den vergangenen Tagen begegnete.

Wir feiern das Fest der hl. Maria Magdalena, und die heutige Liturgie ist geprägt durch eine Art »Bewegung«, einen »Lauf« des Herzens und Geistes, die von der Liebe Christi beseelt werden. Die Worte des hl. Paulus: »caritas Christi urget nos« [die Liebe Christi drängt uns] (2Co 5,14), die wir gleich in der ersten Lesung hören werden, können und müssen auf das Leben eines jeden Priesters einwirken, so wie sie das Leben der Maria von Magdala beeinflußt haben. Maria

299 Magdalena folgte dem, der sie geheilt hatte, bis zum Kalvarienberg. Sie war bei der Kreuzigung anwesend, beim Tod und bei der Bestattung Jesu. Gemeinsam mit seiner allerseligsten Mutter und dem Jünger, den er liebte, vernahm sie seinen letzten Atemzug und das stille Zeugnis seiner durchstoßenen Seite. Nach dem Bericht des heutigen Evangeliums wollte der Auferstandene in seinem verherrlichten Leib vor allem ihr begegnen, die seinen Tod so tief beweint hatte. Ihr wollte er die »Verkündigung der österlichen Freude« (vgl. Tagesgebet)anvertrauen, gewissermaßen um uns daran zu erinnern, daß denen, die ihren Blick voller Glaube und Liebe auf das Geheimnis des Leidens und Todes des Herrn richten, die strahlende Herrlichkeit seiner Auferstehung offenbart wird.

2. Maria Magdalena lehrt uns auf diese Weise, daß die Wurzeln unserer Berufung als Apostel in unserer persönlichen Erfahrung mit Christus gründen. Aus der Begegnung mit ihm erwächst eine neue Art, nicht mehr nur für sich selbst zu leben, sondern für Ihn, der für uns gestorben und auferstanden ist (vgl.
2Co 5,15). Hierbei müssen wir den alten Menschen hinter uns lassen, um uns immer vollkommener Christus, dem neuen Menschen anzugleichen.

Diese Lebenserfahrung gilt in besonderer Weise für uns Hirten der Kirche, die wir dazu berufen sind, das Volk Gottes mit dem Wort, vor allem jedoch durch unser Lebenszeugnis zu führen. Daher sind wir zu einer engeren Vertrautheit mit Christus berufen, der uns zu seinen Freunden erwählt hat: »vos autem dixi amicos« […ich (habe) euch Freunde genannt] (Jn 15,15).

Liebe Mitbrüder im Priesteramt, ich wünsche mir, daß ein jeder von euch seine Gemeinschaft mit Christus immer lebendig halten möge. Seine Liebe sei euch Ansporn in eurem Apostolat, nicht nur in den großen Angelegenheiten, sondern vielmehr in den alltäglichen Wechselfällen des Lebens. Die innige Gemeinschaft mit Gott, die aus der Heiligen Messe, dem Stundengebet und dem persönlichen Gebet Kraft schöpft, motiviert den Priester, seinen Dienst in Glaube und Liebe zu tun. Eben in dieser Vertrautheit zu Jesus liegt das Geheimnis seiner Sendung.

Beten wir in dieser Eucharistiefeier darum, daß uns der Herr zu würdigen Dienern seiner Gnade mache. Bitten wir ihn auf die Fürsprache der hl. Maria Magdalena darum, daß durch euch, liebe Priester, die stete Verkündigung des Todes und der Auferstehung Christi zu den Bewohnern und Feriengästen dieser Region gelangen möge. Gott, der das Aosta-Tal durch wundervolle Naturschönheiten bereichert hat, stärke mit seinem Geist den Glauben derer, die hier wohnen. Die hl. Jungfrau Maria schenke euch und dem apostolischen Dienst, den ihr mit beständiger Großherzigkeit ausüben mögt, mütterlichen Schutz und mache ihn überreich an Früchten des Guten.



HEILIGJAHRFEIER DER JUGENDLICHEN EUCHARISTIEFEIER FÜR DIE TEILNEHMER DES "INTERNATIONALEN JUGENDFORUMS"


Castelgandolfo, 17. August 2000




1. »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt …« (Jr 1,5). Diese Worte, die Gott an den Propheten Jeremia richtete, gehen uns persönlich an. Sie lassen uns an den Plan denken, den Gott für einen jeden von uns vorgesehen hat. Er kennt jeden von uns persönlich, da er uns von Ewigkeit an auserwählt und geliebt hat. Dabei vertraute er jedem von uns eine besondere Berufung im allgemeinen Heilsplan an.

Liebe Jugendliche des »Internationalen Jugendforums «! Es ist mir eine Freude, euch gemeinsam mit dem Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Laien, James Francis Kardinal Stafford, empfangen zu können. Ich entbiete euch meinen herzlichen Gruß.

Zu Recht fühlt ihr euch ganz persönlich von den Worten des Propheten angesprochen. Denn viele von euch tragen bereits in der jeweiligen Ortskirche Verantwortung, und viele werden noch dazu berufen sein, Verantwortung zu übernehmen. Es ist daher wichtig, daß ihr den Reichtum der menschlichen, spirituellen und kirchlichen Erfahrungen dieses Forums mit euch tragt. Ihr seid eingeladen, anderen die Worte des Lebens, die ihr empfangen habt, zu verkündigen: je mehr ihr sie mit den anderen teilt, umso mehr werden sie in euch wirken und Wurzeln schlagen.

Liebe Jugendliche, zweifelt nicht an der Liebe Gottes zu euch! Er sieht für euch einen Platz in seinem Herzen und eine Sendung in der Welt vor. Diese Empfindungen kannte vor euch auch Jeremia: »Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung« (Jr 1,6). Die Aufgabe scheint unermeßlich groß, da sie sich auf die Dimension der Gesellschaft und der Welt erstreckt. Aber vergeßt nicht, daß der Herr, wenn er ruft, auch die nötige Kraft und Gnade schenkt, um auf die Berufung eine Antwort zu geben.

Habt keine Angst davor, Verantwortung zu übernehmen: die Kirche braucht euch, euer Engagement und eure Großherzigkeit. Der Papst braucht euch und bittet euch, zu Beginn dieses neuen Jahrtausends das Evangelium auf die Straßen der Welt zu tragen.

300 2. Im Antwortpsalm hörten wir eine Frage, die in der verschmutzten Welt von heute von besonderer Aktualität ist: »Wie geht ein junger Mann seinen Pfad ohne Tadel?« (Ps 119,9). Und wir vernahmen auch die einfache und eindringliche Antwort: »Wenn er sich hält an dein Wort« (ebd.). Wir müssen daher darum bitten, Verlangen nach dem Wort Gottes zu haben und Freude daran, für etwas Zeugnis ablegen zu können, was größer ist als wir selbst: »Nach deinen Vorschriften zu leben freut mich mehr als großer Besitz« (Ps 119,14).

Freude entsteht auch durch das Bewußtwerden, daß unzählige andere Menschen in der Welt wie wir die »Vorschriften des Herrn« empfangen haben und sie zu ihrem Lebensinhalt machen. Welch großer Reichtum liegt in der Universalität der Kirche, in ihrer »Katholizität«! Welche Unterschiedlichkeit der Länder, Riten und der Spiritualität, der Vereinigungen, Bewegungen und Gemeinschaften, wieviel Schönheit und zugleich welch tiefe Gemeinschaft in den gemeinsamen Werten und in der Treue zur Person Jesu, des Herrn!

Durch euer gemeinsames Gebet und Leben in Gemeinschaft konntet ihr feststellen, daß die Verschiedenheit der Ausdrucksweisen im Glauben nicht voneinander trennt oder zu gegenseitiger Konkurrenz führt. Vielmehr zeigt sich in ihr der Reichtum jenes einzigartigen und außergewöhnlichen Geschenks der Offenbarung, dessen die Welt so sehr bedarf.

3. Im Evangelium, das wir soeben gehört haben, richtet der Auferstandene an Petrus die Frage, die sein ganzes Dasein bestimmen wird: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?« (Jn 21,16). Jesus fragt ihn nicht nach seinen Talenten, seinen Gaben und Fähigkeiten. Er fragt jenen, der ihn kurz zuvor verraten hatte, nicht einmal, ob er ihm von nun an treu sein und nicht mehr fallen werde. Seine Frage zielt auf das ab, worauf allein es ankommt und was allein die Grundlage für eine Berufung darstellen kann: liebst du mich?

Heute richtet Christus dieselbe Frage an einen jeden von euch: liebst du mich? Er fragt euch nicht, ob ihr es versteht, zu Menschenmengen zu sprechen, eine Organisation zu leiten oder ein Erbe zu verwalten. Er bittet euch, ihn zu lieben. Alles weitere wird sich dann von selbst ergeben. Auf den Spuren Jesus zu wandeln bedeutet nicht unmittelbar, etwas tun oder sagen zu müssen, sondern vor allem, ihn zu lieben, bei ihm zu bleiben und ihn voll und ganz in das eigene Leben Eingang finden zu lassen.

Heute gebt ihr eine aufrichtige Antwort auf die Frage Jesu. Einige werden mit Petrus sprechen können: »Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebe« (Jn 21,16). Andere werden sagen: »Herr, du weißt, wie sehr ich es mir wünsche, dich zu lieben. Lehre mich, dich zu lieben, um dir nachfolgen zu können.« Es ist wichtig, auf dem Weg zu bleiben, seinen Weg fortzusetzen, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren bis zu jenem Tag, an dem ihr aus vollem Herzen sprechen könnt: »Du weißt, daß ich dich liebe!«

4. Liebe Jugendliche, liebt Christus und liebt die Kirche! Liebt Christus, so wie er euch liebt. Liebt die Kirche, so wie Christus sie liebt.

Vergeßt hierbei nicht, daß wahre Liebe keine Bedingungen stellt, nicht berechnet, sich nicht beklagt, sondern schlicht und einfach liebt. Wie könntet ihr denn für ein Erbe verantwortlich sein, das ihr nur teilweise annehmt? Wie könnte man am Aufbau von etwas teilhaben, was man nicht aus ganzem Herzen liebt?

Die Gemeinschaft mit dem Leib und Blut Christi helfe einem jeden dabei, in der Liebe zu Jesus und zu seinem Leib, der Kirche, zu wachsen.



SELIGSPRECHUNG VON 5 DIENERN GOTTES



Sonntag, 3. September 2000

1.Im Kontext des Jubiläumsjahres nehme ich mit tiefer Freude die Seligsprechung von zwei Päpsten, Pius IX. und Johannes XXIII., und von drei weiteren Dienern des Evangeliums im Priesteramt und im geweihten Leben vor: der Erzbischof von Genua, Tommaso Reggio, der Diözesanpriester Guillaume-Joseph Chaminade und der Benediktinermönch Columba Marmion.

301 Fünf unterschiedliche Persönlichkeiten, jede mit ihren besonderen Eigenschaften und ihrer eigenen Sendung und doch alle in ihrem Streben nach Heiligkeit vereint. Denn es ist eben ihre Heiligkeit, die wir heute anerkennen: Diese Heiligkeit ist eine tiefe Beziehung zu Gott, die uns verändert. Sie wird im täglichen Bemühen, seinem Willen zu entsprechen, aufgebaut und gelebt. Die Heiligkeit lebt in der Geschichte, und kein Heiliger ist den Beschränkungen und Einflüssen unserer Menschlichkeit entzogen. Mit der Seligsprechung einer ihrer Kinder möchte die Kirche nicht deren besondere historische Entscheidungen rühmen, sondern sie wegen ihrer Tugenden zur Nachahmung und Verehrung herausstellen, zum Lobe der göttlichen Gnade, die in ihnen erstrahlt.

Meinen ehrerbietigen Gruß richte ich an die offiziellen Delegationen von Italien, Frankreich, Irland, Belgien, Bulgarien und der Türkei, die sich zu diesem feierlichen Anlaß hier eingefunden haben. Ich begrüße auch die Verwandten der neuen Seligen, zusammen mit den Kardinälen, den Bischöfen und den Persönlichkeiten des bürgerlichen und religiösen Lebens, die an dieser Feier teilnehmen. Schließlich begrüße ich euch alle, liebe Brüder und Schwestern, die ihr so zahlreich zusammengekommen seid, um diesen Dienern Gottes, die die Kirche heute in das Buch der Seligen einträgt, die Ehre zu erweisen.

2. Als wir die Worte des Hallelujarufs vor dem Evangelium: »Herr, … leite mich auf ebner Bahn…« (
Ps 27,11) hörten, gingen die Gedanken unmittelbar zur menschlichen und religiösen Lebensgeschichte von Papst Pius IX., Giovanni Maria Mastai Ferretti, zurück. Inmitten der turbulenten Ereignisse seiner Zeit war er ein Vorbild für das bedingungslose Festhalten am unveränderlichen Erbe der offenbarten Glaubenswahrheiten. Er blieb in jeder Situation den Verpflichtungen seines Amtes treu und wußte Gott und den spirituellen Werten immer den absoluten Primat einzuräumen. Sein außerordentlich langes Pontifikat war alles andere als einfach, und er hatte bei der Erfüllung seiner Sendung im Dienst des Evangeliums nicht wenig zu leiden. Er wurde von vielen geliebt, von anderen aber wurde er gehaßt und verleumdet.

Doch gerade inmitten dieser Gegensätze vermochte das Licht seiner Tugenden am hellsten zu erstrahlen: Die langanhaltenden Sorgen stärkten sein Vertrauen in die göttliche Vorsehung, und er zweifelte nie daran, daß sie die menschlichen Geschicke leite. Daraus ergab sich die tiefe Gelassenheit von Pius IX. – trotz allen Unverständnisses und aller Angriffe seitens feindlich gesinnter Personen. Denen, die ihm nahestanden, pflegte er zu sagen: »In den menschlichen Dingen muß man sich damit begnügen, das Bestmögliche zu tun, und ansonsten muß man sich der Vorsehung überlassen, die die Mängel und Unzulänglichkeiten des Menschen ausgleicht.«

Von dieser inneren Überzeugung getragen, berief er das I. Vatikanische Konzil ein, das mit lehramtlicher Autorität einige damals umstrittene Fragen klarstellte und die »Harmonie« von Glauben und Vernunft bestätigte. In Zeiten der Prüfung fand Pius IX. Unterstützung bei Maria, die er sehr verehrte. Durch die Verkündung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis erinnerte er alle daran, daß in den Wechselfällen des menschlichen Daseins in Maria das Licht Christi leuchtet, der stärker ist als Sünde und Tod.

3. »Herr, du bist gütig und bereit, zu verzeihen« (Eröffnungsvers 22. Sonntag im Jahreskreis). Heute schauen wir in der Herrlichkeit des Herrn auch einen weiteren Papst, Johannes XXIII.: Er beeindruckte die Welt mit seiner Liebenswürdigkeit, die seine einzigartige Seelengüte erkennen ließ. Im göttlichen Heilsplan war es so vorgesehen, daß zwei Päpste, die unter recht unterschiedlichen geschichtlichen Gegebenheiten lebten, in der Seligsprechung vereint würden; jenseits aller Äußerlichkeiten aber waren sie auf menschlicher und spiritueller Ebene durch nicht wenige Gemeinsamkeiten verbunden. Wohlbekannt ist die tiefe Verehrung, die Papst Johannes XXIII. für Pius IX. hegte, dessen Seligsprechung er selbst schon gewünscht hatte. Während einer Zeit geistlicher Einkehr im Jahr 1959 schrieb er in sein Tagebuch: »Ich denke oft an Pius IX. heiligen und ruhmreichen Angedenkens, und möchte in der Nachahmung seines opfervollen Lebens würdig werden, seine Heiligsprechung noch zu feiern« (Giornale dell’Anima – Geistliches Tagebuch, Freiburg, 11. Aufl. 1964, S. 322).

Von Papst Johannes ist allen Menschen das Bild eines lächelnden Gesichts und von zwei ausgebreiteten Armen zur Umarmung der ganzen Welt in Erinnerung geblieben. Wie viele Leute wurden von der Einfachheit seines Gemüts ergriffen, die begleitet wurde von einer umfassenden Erfahrung mit Menschen und Dingen! Der von ihm gebrachte »frische Wind« betraf sicherlich nicht die Lehre selbst, sondern eher die Art und Weise, sie darzulegen; neu war der Stil im Sprechen und Handeln, neu auch sein sympathisches Wesen, mit der er den gewöhnlichen Menschen und den Mächtigen der Erde begegnete. In diesem Geist berief er das II. Vatikanische Konzil ein, mit dem er eine neue Seite in der Kirchengeschichte aufschlug: Die Christen fühlten sich aufgerufen, das Evangelium mit neuem Mut und mit noch wachsamerer Aufmerksamkeit gegenüber den »Zeichen« der Zeit zu verkünden. Das Konzil war in der Tat eine prophetische Eingebung dieses betagten Papstes, der – trotz mancher Schwierigkeiten – ein Zeitalter der Hoffnung für die Christen und die Menschheit eröffnete.

In den letzten Augenblicken seines irdischen Daseins vertraute er der Kirche sein Testament an: »Was im Leben am meisten gilt: Jesus Christus, seine heilige Kirche, sein Evangelium … die Wahrheit und die Güte« (O. R. dt Dt 1 dt Dt 9 dt Dt 2000). Dieses Testament möchten auch wir heute erwähnen, während wir den Herrn dafür preisen, daß er ihn uns zum Hirten gab.

4. »Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach« (Jc 1,22). An diese Worte des Apostels Jakobus läßt uns das Leben und Apostolat des Priesters und Journalisten Tommaso Reggio denken, der später Bischof von Ventimiglia und schließlich Erzbischof von Genua wurde. Er war ein Mann des Glaubens und der Kultur und vermochte – als Hirte – sich zu einem in jeder Situation aufmerksamen Leiter der Gläubigen zu machen. Er war aufgeschlossen gegenüber dem vielfältigen Leid und der Armut seines Volkes und kam in jeder Notlage prompt zu Hilfe. Vor diesem Hintergrund gründete er die Ordenskongregation der »Suore di Santa Marta« und übertrug ihr den Auftrag, den Hirten der Kirche zu helfen – vor allem im karitativen und erzieherischen Bereich.

Seine Botschaft läßt sich in zwei Worten zusammenfassen: Wahrheit und Nächstenliebe. In erster Linie die Wahrheit, die ein aufmerksames Hören des Wortes Gottes und mutiges Engagement bei der Verteidigung und Verbreitung der Lehren des Evangeliums bedeutet. Dann die Liebe, die den Menschen dazu drängt, Gott zu lieben und sich – aus Liebe zu ihm – aller Menschen anzunehmen, weil sie Brüder in Christus sind. Wenn Tommaso Reggio je in seinen Entscheidungen eine Gruppe bevorzugte, dann waren es jene Menschen, die unter widrigen Umständen und im Leid lebten. Deshalb wird er heute nicht nur den Mitgliedern seiner geistigen Familie, sondern auch den Bischöfen, Priestern und Laien als Vorbild vorgestellt. [Johannes Paul II. fuhr auf französisch fort:]

5. Die während des Jubiläumsjahres vorgenommene Seligsprechung von Guillaume-Joseph Chaminade, dem Gründer der Marianisten, erinnert die Gläubigen an ihre Aufgabe, ständig nach neuen Formen zu suchen, Zeugen des Glaubens zu sein, besonders um jene Mitmenschen zu erreichen, die der Kirche fernstehen und die nicht über die notwendigen Mittel verfügen, um Christus kennenzulernen. Guillaume-Joseph Chaminade lädt jeden Christen dazu ein, sich in der eigenen Taufe zu verankern, die ihn dem Herrn Jesus gleichförmig macht und ihm den Heiligen Geist vermittelt.

302 Die Liebe von P. Chaminade zu Christus, die in die Spiritualität der französischen Schule einzureihen ist, hat ihn dazu bewegt, durch die Gründung von Ordenskongregationen in einer unruhigen Epoche der Geschichte der Religion in Frankreich sein Werk unermüdlich fortzusetzen. Seine kindliche Zuneigung zu Maria bewahrte ihm in allen Situationen seinen inneren Frieden und half ihm so, den Willen Christi zu tun. Seine Sorge um die menschliche, sittliche und religiöse Erziehung ist für die ganze Kirche ein Aufruf zu erneuerter Aufmerksamkeit gegenüber der Jugend, die sowohl Lehrer als auch Zeugen braucht, um sich dem Herrn zuzuwenden und ihren Anteil an der Sendung der Kirche zu übernehmen.

6. Heute freut sich der Benediktinerorden über die Seligsprechung eines ihrer berühmtesten Söhne, Dom Columba Marmion, Mönch und Abt von Maredsous. Dom Marmion hat uns einen wahren Schatz an geistlichen Lehren für die Kirche unserer Zeit hinterlassen. In seinen Schriften lehrt er einen Weg der Heiligkeit, schlicht und dennoch anspruchsvoll, für alle Gläubigen, die Gott aus Liebe dazu bestimmt hat, seine Adoptivkinder durch Christus Jesus zu werden (vgl.
Ep 1,5). Jesus Christus, unser Erlöser und Quelle aller Gnade, ist der Mittelpunkt unseres spirituellen Lebens und unser Vorbild der Heiligkeit. [Der Papst sagte dann auf englisch:]

Bevor er in den Benediktinerorden eintrat, verbrachte Columba Marmion einige Jahre in der Seelsorge als Priester seiner Heimatdiözese Dublin. Sein ganzes Leben lang war der sel. Columba ein einzigartiger spiritueller Leiter, dessen besonderes Augenmerk dem geistigen Leben von Priestern und Ordensleuten galt. Einem jungen Mann, der sich auf die Priesterweihe vorbereitete, schrieb er einmal: »Die beste aller Vorbereitungen auf das Priestertum besteht darin, jeden Tag aus Liebe zu leben, wo immer uns Gehorsam und Vorsehung auch hinstellen« (vgl. Brief vom 27. Dezember 1915). Möge eine breitangelegte Neuentdeckung der spirituellen Schriften des sel. Columba Marmion den Priestern, Ordensleuten und Laien helfen, in Einheit mit Christus zu wachsen und treu Zeugnis für ihn zu geben durch eine tiefempfundene Liebe zu Gott und einen hochherzigen Dienst für die Brüder und Schwestern. [Der Heilige Vater schloß auf italienisch:]

7. Vertrauensvoll bitten wir die neuen Seligen Pius IX., Johannes XXIII., Tommaso Reggio, Guillaume- Joseph Chaminade und Columba Marmion, sie mögen uns dabei helfen, immer mehr im Geist Christi zu leben. Ihre Liebe zu Gott und zu den Brüdern sei Licht auf unseren Wegen zu Beginn des Dritten Jahrtausends!




Predigten 1978-2005 295