Pacem in terris DE 64

In Freiheit


64 Eine weitere Forderung ist, daß die gegenseitigen Beziehungen der Staaten in Freiheit zu ordnen sind. Das heißt, daß keine Nation das Recht hat, irgend etwas zu tun, wodurch sie andere ungerechterweise unterdrückt oder sich ungebührlich in deren Angelegenheiten einmischt. Vielmehr sollen alle den anderen helfen, damit diese sich mehr und mehr ihrer Pflichten bewußt werden, selbst die Initiative zu Neuem und Nützlichem ergreifen und aus eigenen Kräften auf jedwedem Gebiete Fortschritte machen.

Der Aufstieg der Entwicklungsländer


65 Da alle Menschen durch die Gemeinsamkeit des Ursprungs, der christlichen Erlösung und des letzten Zieles untereinander verbunden sind und dazu berufen, eine einzige christliche Familie zu bilden, haben Wir in der Enzyklika Mater et magistra die wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten ermahnt, jenen Völkern, deren wirtschaftliche Entwicklung sich noch im Aufbau befindet, alle nur mögliche Hilfe zu leisten (Enz. Mater et Magistra ).

Mit großer innerer Genugtuung müssen Wir sagen, daß diese Mahnungen heute weitgehend angenommen worden sind, und Wir hegen die Hoffnung, daß sie in Zukunft noch weiter aufgegriffen werden, damit die wirtschaftlich bedürftigeren Völker bald so weit voranschreiten, daß ihre Bürger ein Leben führen können, das der Menschenwürde entspricht.


66 Und doch muß man sich immer wieder vor Augen halten, daß man jenen Völkern so zu Hilfe kommen muß, daß sie ihre Freiheit unversehrt wahren können. Auch müssen sie wissen, daß bei diesem wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Aufstieg ihnen selbst die erste Verantwortung zukommt und daß sie dabei die Hauptarbeit zu leisten haben.

Deshalb hat Unser Vorgänger seligen Andenkens Pius XII. weise gelehrt: "Im Rahmen einer sittlich begründeten neuen Ordnung ist kein Platz für die Antastung der Freiheit, Unverletzlichkeit und Sicherheit anderer Nationen, gleichviel welcher Ausdehnung und Wehrhaftigkeit sie sein mögen. So unvermeidlich es ist, daß die überragende Leistungsfähigkeit und Macht von Groß-Staaten der wirtschaftlichen Gruppenbildung zwischen ihnen selbst und den kleineren und schwächeren Staaten die Wege weist, so muß doch - wie für alle im Rahmen des Allgemeininteresses - auch für die kleineren Staaten unbestritten bleiben das Recht auf die Achtung vor ihrer politischen Freiheit, auf die wirksame Wahrung jener Neutralität, die ihnen nach Natur- und Völkerrecht bei politischen Verwicklungen zusteht, auf den Schutz ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Denn nur so werden sie das Gemeinwohl, dem materiellen und geistig-sittlichen Wohlstand ihres eigenen Volkes entsprechend, erreichen können" (Pius XII., Weihnachtsbotschaft 1941). Daher müssen die höherentwickelten Staaten bei der vielfältigen Hilfeleistung für die bedürftigeren die besonderen Eigenarten eines jeden Volkes und die von seinen Vorfahren überkommenen Bräuche unbedingt achten und sich in jeder Weise vor der Absicht hüten, eine Vorherrschaft auszuüben. Wenn sie sich daran halten, "werden sie nicht wenig dazu beitragen, alle Staaten zu einer Gemeinschaft zu verbinden, deren einzelne Glieder im Bewußtsein ihrer Rechte und Pflichten übereinstimmend zur Wohlfahrt aller beitragen" (Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra ).


Zeichen der Zeit


67 Mehr und mehr hat sich in unseren Tagen die Überzeugung unter den Menschen verbreitet, daß die Streitigkeiten, die unter Umständen zwischen den Völkern entstehen, nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen sind.

Freilich gestehen Wir, daß diese Überzeugung meist von der schrecklichen Zerstörungsgewalt der modernen Waffen herrührt, von der Furcht vor dem Unheil grausamer Vernichtung, die diese Art von Waffen herbeiführen kann. Darum widerstrebt es in unserem Zeitalter, das sich rühmt, Atomzeitalter zu sein, der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten.

Leider sehen Wir jedoch häufig Völker, die der Furcht als dem sozusagen höchsten Gesetz verfallen sind und deshalb größte Summen für die Rüstung ausgeben. Sie erklären - und es ist kein Grund vorhanden, warum man ihnen nicht glauben sollte -, daß sie dabei nicht die Absicht haben, andere anzugreifen, sondern sie nur von einem Angriff abzuschrecken.

Trotz allem ist zu hoffen, die Völker werden durch freundschaftliche wechselseitige Beziehungen und Verhandlungen die Bande der menschlichen Natur besser anerkennen, durch die sie aneinandergeknüpft sind; sie werden ferner deutlicher einsehen, daß es zu den hauptsächlichen Pflichten der menschlichen Natur gehört, darauf hinzuwirken, daß die Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen und den Völkern nicht der Furcht, sondern der Liebe gehorchen sollen, denn der Liebe ist es vor allem eigen, die Menschen zu jener aufrichtigen, äußeren und inneren Verbundenheit zu führen, aus der für sie so viel Gutes hervorzusprießen vermag.




IV.


DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN EINZELNEN


POLTISCHEN GEMEINSCHAFTEN


UND DER VÖLKERGEMEINSCHAFT



Gegenseitige Abhängigkeit der politischen Gemeinschaften


68 Die neueren Fortschritte in Wissenschaft und Technik, die das menschliche Verhalten so stark beeinflussen, leiten die Menschen der ganzen Erde zu immer größerer Zusammenarbeit und innerer Verbundenheit an. Tatsächlich hat sich heute der Austausch von Gütern, Ideen und Menschen sehr verstärkt. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen, den Familien und den internationalen sozialen Organisationen sind sehr stark angewachsen, und auch die Fühlungnahme zwischen verschiedenen Regierungen ist häufiger geworden. Die Volkswirtschaften der verschiedenen Staaten verflechten sich stufenweise so sehr, daß aus diesem Zusammenschluß gewissermaßen eine Wirtschaftsgemeinschaft der ganzen Welt entsteht. Schließlich hängen sozialer Fortschritt, Ordnung, Sicherheit und Ruhe jedes einzelnen Staates notwendig mit denselben Gegebenheiten in allen übrigen Nationen zusammen.

Bei dieser Sachlage ist es klar, daß die einzelnen Staaten, wenn sie von den übrigen getrennt sind, keineswegs in der Lage sind, ihre Interessen wahrzunehmen und sich entsprechend zu entwickeln, da der Wohlstand und der Fortschritt des einen Staates den Wohlstand und den Fortschritt der anderen teils zur Ursache hat, teils verursacht.


Ungenügen der gegenwärtigen Organisationen für das universale Gemeinwohl


69 Kein Zeitalter wird die Einheit der menschlichen Schicksalsgemeinschaft zerstören, da diese aus Menschen besteht, die gleichberechtigt an der naturgegebenen Würde teilhaben. Deshalb fordert die in der Natur des Menschen gründende Notwendigkeit immer, daß in geziemender Weise jenes umfassende Gemeinwohl angestrebt wird, welches die gesamte Menschheitsfamilie angeht.

In den vergangenen Zeiten konnten die Staatslenker, wie es scheint, hinreichend für das universale Gemeinwohl sorgen. Sie suchten es zu erreichen durch Diplomaten, durch Zusammenkünfte und Gespräche auf höchster Ebene und durch Abschluß von Konventionen und Verträgen, durch Mittel und Wege also, die sich im Rahmen des Naturrechts, des Völkerrechts oder des internationalen Rechts hielten.

In unseren Tagen aber haben die gegenseitigen Beziehungen der Staaten große Veränderungen erfahren. Denn das gemeinsame Wohl aller Völker wirft einerseits schwierige Fragen von höchster Tragweite auf, besonders bezüglich der Wahrung von Sicherheit und Frieden in der ganzen Welt. Anderseits können die Lenker der einzelnen Nationen, da sie unter sich gleichberechtigt sind und obgleich sie sehr viele Kongresse veranstalten und ihre Anstrengungen vervielfältigen, um geeignetere Rechtsmittel zu finden, die Probleme doch nicht in genügender Weise lösen. Nicht daß es ihnen am guten Willen oder an Unternehmungsgeist fehlte, sondern weil ihre Autorität nicht über die nötige Macht verfügt.

Deshalb sind bei dem heutigen Zustand der menschlichen Gesellschaft sowohl die staatliche Organisation als auch der Einfluß, über welchen die einzelne Staatsgewalt bei allen übrigen Nationen des Erdkreises verfügt, als ungenügend anzusehen, um das gemeinsame Wohl aller Völker zu fördern.


Beziehungen zwischen dem konkreten Inhalt des Gemeinwohls und dem Aufbau und der Wirksamkeit der politischen Gewalt


71 Wer vollends aufmerksam einerseits die konkreten Bedingungen des Gemeinwohls und anderseits Natur und Wirksamkeit der politischen Gewalt bedenkt, sieht sehr deutlich, daß die beiden notwendigerweise aufeinander abgestimmt sein müssen. Denn wie die moralische Ordnung die staatliche Gewalt erfordert zur Förderung des Gemeinwohls im bürgerlichen Zusammenleben, so fordert sie auch, daß die staatliche Gewalt diese Aufgabe wirksam durchführen kann. Daher kommt es, daß die staatlichen Einrichtungen - in denen die politische Gewalt Gestalt annimmt, wirkt und ihr Ziel verfolgt - so angelegt und von solcher Gestalt und Wirkkraft sind, daß sie zum Gemeinwohl in jenen Methoden und Maßnahmen fahren, welche der jeweiligen Situation entsprechen.

Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft die alle Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine politische Gewalt geklärt werden können, deren Macht und Organisation und deren Mittel einen dementsprechenden Umfang haben müssen, deren Wirksamkeit sich somit über den ganzen Erdkreis erstrecken muß, so folgt um der sittlichen Ordnung willen zwingend, daß eine universale politische Gewalt eingesetzt werden muß.


Die politische Gewalt durch gemeinsames Übereinkommen eingesetzt und nicht aufgezwungen


72 Diese allgemeine politische Gewalt, deren Macht überall auf Erden Geltung haben soll und deren Mittel in geeigneter Weise zu einem universalen Gemeinwohl führen sollen, muß freilich durch Übereinkunft der Völker begründet und nicht mit Gewalt auferlegt werden. Denn um ihres Amtes wirksam zu walten, muß diese Gewalt allen gegenüber sich voll und ganz unparteiisch verhalten und bestrebt sein, das allgemeine Wohl aller Völker zu fördern. Würde dagegen diese allgemeine Autorität von den mächtigeren Nationen gewaltsam eingesetzt, wäre mit Recht zu fürchten, daß sie entweder nur den Interessen einiger weniger dienen oder von einer einzigen Nation abhängen würde; und so wären Kraft und Wirksamkeit ihres Handelns in Gefahr.

Denn wenn die Nationen untereinander auch sehr verschieden sind hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und ihrer militärischen Macht, so sind sie doch sehr darauf bedacht, ihre Rechtsgleichheit und die Werte ihres Eigenlebens zu wahren. Deshalb unterstehen politische Gemeinschaften mit Recht nur unwillig einer Gewalt, die ihnen entweder aufgebürdet wurde oder die sie nicht mitbegründet haben oder der sie sich nicht freiwillig gebeugt haben.


Das universale Gemeinwohl und die Rechte der Person


73 Wie das Gemeinwohl der einzelnen Staaten nicht bestimmt werden kann ohne Rücksicht auf die menschliche Person, so auch nicht das universale Gemeinwohl aller Staaten zusammen. Deshalb muß die universale politische Gewalt ganz besonders darauf achten, daß die Rechte der menschlichen Person anerkannt werden und ihnen die geschuldete Ehre zuteil wird, daß sie unverletzlich sind und wirksam gefördert werden. Das kann sie entweder unmittelbar aus sich tun, sofern es der einzelne Fall erheischt, oder durch Schaffung von solchen Lebensbedingungen auf der ganzen Welt, mit deren Hilfe die Lenker der Einzelstaaten leichter ihre Aufgabe zu erfüllen instand gesetzt werden.

Das Subsidiaritätsprinzip


74 Wie in den Einzelstaaten die Beziehungen zwischen der staatlichen Gewalt und den Bürgern, den Familien und den zwischen ihnen und dem Staat stehenden Verbänden durch das Subsidiaritätsprinzip gelenkt und geordnet werden müssen, so müssen durch dieses Prinzip natürlich auch jene Beziehungen geregelt werden, welche zwischen der Autorität der universalen politischen Gewalt und den Staatsgewalten der einzelnen Nationen bestehen. Denn dieser universalen Autorität kommt als besondere Aufgabe zu, jene Fragen zu behandeln und zu entscheiden, die sich bezüglich des universalen Gemeinwohls stellen, und zwar in wirtschaftlicher, sozialer und politischer wie auch in kultureller Hinsicht: Fragen, die wegen ihres Gewichtes, wegen ihres weitverflochtenen Zusammenhangs und ihrer Dringlichkeit als zu schwierig angesehen werden müssen, als daß sie von den Lenkern der Einzelstaaten glücklich gelöst werden könnten.

Es ist natürlich nicht Aufgabe dieser universalen Autorität, den Machtbereich der Einzelstaaten einzuschränken oder ihre Angelegenheiten an sich zu ziehen. Sie muß sich im Gegenteil um die Schaffung solcher Daseinsbedingungen auf der ganzen Welt bemühen, in denen nicht nur die Staatsgewalt jeder einzelnen Nation, sondern auch die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen in größerer Sicherheit ihre Angelegenheiten erledigen, ihre Pflichten erfüllen und ihre Rechte ausüben können (vgl. Pius XII., Ansprache vom 12.9.1948).


Zeichen der Zeit


75 Wie allen bekannt ist, wurde am 26. Juni 1945 die Organisation der Vereinten Nationen (UN) gegründet, der in der Folgezeit kleinere Institutionen beigefügt wurden, die sich aus bevollmächtigten Mitgliedern verschiedener Nationen zusammensetzen. Ihnen sind große, in allen Teilen der Welt zu erfüllende Aufgaben auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem, erzieherischem Gebiet und auf dem Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens übertragen. Ferner stellen sich die Vereinten Nationen als Hauptaufgabe, den Frieden unter den Völkern zu schützen und zu festigen sowie freundschaftliche Beziehungen unter ihnen zu pflegen und zu entwickeln, die auf den Grundsätzen der Gleichheit, der gegenseitigen Hochachtung und der vielfältigen Zusammenarbeit auf allen Gebieten menschlicher Aktivität gründen.

Ein Akt von höchster Bedeutung ist die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die am 10. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde. In der Präambel dieser Erklärung wird eingeschärft, alle Völker und Nationen mußten in erster Linie danach trachten, daß alle Rechte und Formen der Freiheit, die in der Erklärung beschrieben sind, tatsächlich anerkannt und unverletzt gewahrt werden.

Wir verkennen nicht, daß gegenüber einigen Kapiteln dieser Erklärung mit Recht von manchen Einwände geäußert worden sind. Nichtsdestoweniger ist diese Erklärung gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt zu betrachten. Denn durch sie wird die Würde der Person für alle Menschen feierlich anerkannt, und es werden jedem Menschen die Rechte zugesprochen, die Wahrheit frei zu suchen, den Normen der Sittlichkeit zu folgen, die Pflichten der Gerechtigkeit auszuüben, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Darüber hinaus werden noch andere Rechte ausgesprochen, die mit den erwähnten in Zusammenhang stehen.

Es ist daher zu wünschen, die Vereinten Nationen möchten ihre Organisation und ihre Mittel immer mehr der Weite und dem hohen Rang ihrer Aufgaben anzupassen imstande sein, damit bald die Zeit komme, in der diese Vereinigung die Rechte der menschlichen Person wirksam schützen kann; Rechte, die deswegen allgemein, unverletzlich und unveränderlich sind, weil sie unmittelbar aus der Würde der menschlichen Person entspringen. Und das um so mehr, weil die Menschen gegenwärtig in ihrer Nation mehr an der Gestaltung des öffentlichen Lebens teilhaben, mit lebhafterem Interesse die Anliegen aller Völker ununterbrochen verfolgen und sich immer mehr bewußt sind, daß sie als lebendige Glieder zur allgemeinen Menschheitsfamilie gehören.




V.

PASTORALE WEISUNGEN

Die Pflicht, am öffentlichen Leben teilzunehmen


76 Nochmals ermahnen Wir Unsere Söhne, sie möchten sich für die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben bereitwillig zur Verfügung stellen und mitwirken, das Wohl der gesamten Menschheit und des eigenen Staates zu fördern. Ebenso sollen sie im Lichte des christlichen Glaubens und in der Kraft der Liebe sich darum bemühen, daß die dem wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben dienenden Einrichtungen den Menschen nicht nur keine Hindernisse bereiten, sondern darüber hinaus ihnen helfen, sich im Bereich des Natürlichen wie des Übernatürlichen zu vervollkommnen.

Zuständigkeit im Wissen, in technischer Befähigung und beruflicher Erfahrung


77 Es genügt nicht, vom Glauben erleuchtet zu sein und beseelt vom Wunsch, Gutes zu tun, um eine Kultur mit gesunden Grundsätzen zu durchdringen und sie im Geist des Evangeliums zu beleben. Zu solchem Zweck ist es notwendig, sich in ihren Einrichtungen zu engagieren und tatkräftig von innen her auf sie zu wirken.

Da die gegenwärtige profane Kultur am stärksten durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt geprägt ist, kann natürlich niemand in den öffentlichen Einrichtungen Einfluß gewinnen, wenn er nicht über reiches Wissen, technisches Können und berufliche Erfahrung verfügt.

Das Handeln als Einheit von Elementen des beruflichen Wissens und Könnens sowie der geistigen Werte


78 Wir möchten darauf hinweisen, daß alles dieses, so notwendig es ist, keineswegs als genügend erachtet werden kann, wenn man dem alltäglichen Zusammenleben eine menschenwürdigere Form geben will. Muß doch solch eine Form auf der Wahrheit beruhen, von der Gerechtigkeit geprägt sein, ihre Kraft aus der gegenseitigen Liebe schöpfen und die Lebensform der Freiheit wahren.

Sollen die Menschen zur Verwirklichung dieser Grundsätze gelangen, so müssen sie sich sorgfältig bemühen, die jeder Sache dieser Welt eigentümlichen Gesetze und Normen zu beachten, sodann ihr Handeln nach dem Sittengesetz zu richten, sich demnach so zu verhalten, daß sie ihr Recht ausüben und ihre Pflicht erfüllen. Ja, auch das verlangt die rechte Ordnung, daß die Menschen in gewissenhafter Befolgung der unser Heil beabsichtigenden Weisungen und Gebote Gottes ihre wissenschaftliche, technische und berufliche Betätigung in eine Einheit mit den höheren inneren Werten bringen.

Kein Zwiespalt zwischen Glauben und Leben


79 In den Völkern mit alter christlicher Kultur weisen gegenwärtig die zivilisatorischen Einrichtungen unbestreitbar einen hohen Grad wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf und verfügen über einen Reichtum von Mitteln zur Verwirklichung aller möglichen Ziele. Aber von christlichem Geist und Antrieb sind sie oft wenig durchdrungen.

Man fragt sich mit Recht, wie es dazu kommen konnte, da diese Lebensbedingungen unter erheblicher Beteiligung von Menschen entstanden sind und getragen werden, die sich als Christen bekennen und tatsächlich ihr Leben wenigstens teilweise der christlichen Norm angleichen. Der Grund dafür liegt wohl darin, daß ihr Handeln keinen Zusammenhang mit ihrem Glauben aufweist. In ihnen muß darum die Einheit von Geist und Leben wiederhergestellt werden, damit in ihrem Handeln das Licht des Glaubens und die Kraft der Liebe beherrschend wirksam werden.

Gleicher Fortschritt in der religiösen Bildung


80 Wenn in den Christen der Glaube vom Handeln so oft abweicht, wird es, wie Wir das beurteilen, auch daher rühren, daß sie in christlicher Lebensführung und christlicher Lehre nicht genügend gebildet sind. Zu oft und allenthalben geschieht es, daß für die religiöse und profane Ausbildung nicht gleichermaßen Sorge getragen wird, und während die wissenschaftliche Ausbildung auf dem Höhepunkt ist, reichen die Kenntnisse in der Religion über den Elementarunterricht gemeinhin nicht hinaus. Der Religionsunterricht der Jugend muß also notwendig umfassend sein, ununterbrochen fortgesetzt und so erteilt werden, daß religiöse Bildung und sittliche Festigung gleichen Schritt halten mit der wissenschaftlichen Ausbildung und der ständig fortschreitenden technischen Vervollkommnung. Auch die Jugend soll angeleitet werden, wie sie im einzelnen ihre Aufgaben in rechter Weise zu erfüllen hat (vgl. Johannes XXIII., Enz. Mater et Magistra ).

Ständiges Bereitsein


81 Es dürfte angebracht sein, hier darauf aufmerksam zu machen, wie schwer es ist, das Verhältnis zwischen dem wirklichen Leben und den Forderungen von Recht und Gerechtigkeit genau zu erfassen, also zuverlässig die Stufungen und die Formen zu umschreiben, in denen die lehrhaften Grundsätze und Weisungen dem gegenwärtigen Stand des Gesellschaftslebens anzupassen sind.

Die Bestimmung dieser Stufungen und dieser Formen ist um so schwieriger, als unsere Zeit, in der jeder einzelne zum Gemeinwohl beitragen muß, unter dem Druck eines überstarken Dynamismus steht. Da deshalb täglich zu prüfen ist, wie die einzelnen sozialen Vorgänge am besten den Grundsätzen der Gerechtigkeit anzupassen sind, dürfen Unsere Söhne gewiß nicht glauben, sie könnten jetzt innehalten und sich mit dem Erreichten zufriedengeben.

Alle Menschen sollen vielmehr bedenken, daß, was sie bisher getan haben, nicht genügt, daß sie vielmehr noch größere und zweckmäßigere Anstrengungen machen müssen auf den Gebieten der wirtschaftlichen Produktion, in den Bereichen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, der Berufsverbände, des öffentlichen Versicherungswesens, der Förderung der Kultur, auf dem Gebiet der Rechtspflege, der Politik, des Gesundheitswesens, des Sports und dergleichen. Das alles verlangt unsere Zeit des Atoms und des Einbruchs in den Weltenraum, ein Zeitalter, in dem die Menschheit ihren neuen Weg in grenzenlose Weite schon begonnen hat.

Beziehungen zwischen Katholiken und Nichtkatholiken auf dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sektor


82 Die Grundsätze, die Wir hier aufgestellt haben, ergeben sich aus der Natur der Dinge selbst und sehr oft aus dem Naturrecht. In der Verwirklichung dieser Prinzipien kommt es oft vor, daß die Katholiken vielfältig mit Christen, die vom Apostolischen Stuhl getrennt sind, zusammenarbeiten oder mit Nichtchristen, die von vernünftigem Denken bestimmt und von natürlich-untadeligem Charakter sind. "Da sollen die Katholiken sorgfältig darauf achten, sich selber treu zu bleiben. Sie sollen sich nicht auf Kompromisse einlassen, durch die in irgendeiner Weise der volle Glaube oder die Sittlichkeit Schaden leidet. Sie sollen aber auch andere Auffassungen mit dem gebührenden Wohlwollen prüfen; Sie sollen nicht überall nur auf ihr eigenes Interesse schauen; vielmehr bereit sein, in ehrlicher Zusammenarbeit dort mitzuwirken, wo es um etwas geht, was seiner Natur nach gut ist oder zum Guten führen kann" (vgl. ebd.239).


83 Man muß ferner immer unterscheiden zwischen dem Irrtum und den Irrenden, auch wenn es sich um Menschen handelt, die im Irrtum oder in ungenügender Kenntnis über Dinge befangen sind, die mit religiös-sittlichen Werten zusammenhängen. Denn der dem Irrtum Verfallene hört nicht auf, Mensch zu sein, und verliert nie seine persönliche Würde, die doch immer geachtet werden muß. In der Natur des Menschen geht auch nie die Fähigkeit verloren, sich vom Irrtum frei zu machen und den Weg zur Wahrheit zu suchen. Hierin fehlt dem Menschen auch nie die Hilfe des vorsehenden Gottes. Wenn heute also jemand der Klarheit des Glaubens ermangelt oder zu falschen Lehren abgewichen ist, kann es sein, daß er später, von Gottes Licht erleuchtet, die Wahrheit annimmt. Wenn nämlich Gläubige weltlicher Belange wegen mit Menschen in Verbindung stehen, die überhaupt nicht oder, weil im Irrtum, nicht richtig an Christus glauben, so können sie ihnen Anlaß oder Antrieb sein, zur Wahrheit zu gelangen.


84 Von da aus gesehen, ist es durchaus angemessen, bestimmte Bewegungen, die sich mit wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Fragen oder der Politik befassen, zu unterscheiden von falschen philosophischen Lehrmeinungen über das Wesen, den Ursprung und das Ziel der Welt und des Menschen, auch wenn diese Bewegungen aus solchen Lehrmeinungen entstanden und von ihnen angeregt sind. Während die in ein System gefaßte und endgültig niedergelegte Weltanschauung nicht mehr geändert werden kann, unterliegen diese Bewegungen dort, wo sie sich mit den je und je sich wandelnden Verhältnissen befassen, doch notwendigerweise diesen Veränderungen. Wer könnte übrigens leugnen, daß in solchen Bewegungen, soweit sie sich den Gesetzen einer geordneten Vernunft anpassen und die gerechten Forderungen der menschlichen Person berücksichtigen, etwas Gutes und Anerkennenswertes sich finden kann?


85 Daher kann der Fall eintreten, daß Fühlungnahmen und Begegnungen über praktische Fragen, die in der Vergangenheit unter keiner Rücksicht sinnvoll erschienen, jetzt wirklich fruchtbringend sind oder es morgen sein können. Das Urteil jedoch, ob man jetzt schon so weit gekommen sei oder noch nicht, die Entscheidung, in welcher Weise und in welchem Grade eine echte nützliche Zusammenarbeit gesucht werden soll auf sozialem, wirtschaftlichem, kulturellem und politischem Gebiet, dieses Urteil steht allein der Klugheit zu, die maßgebend ist für alle menschlichen Tugenden, von denen das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft bestimmt wird. Soweit es sich um den Standpunkt der Katholiken handelt, wird die Entscheidung über Dinge dieser Art vornehmlich bei den Männern liegen, die in der politischen Gemeinschaft und in diesem Problembereich führend sind. Allerdings müssen sie immer auf die Grundsätze des Naturrechts achten, sich nach der Soziallehre der Kirche richten und in Übereinstimmung mit den Richtlinien des kirchlichen Lehramts stehen. In der Tat darf niemand außer acht lassen, daß es Recht und Pflicht der Kirche ist, nicht nur die Reinheit der Glaubens- und Sittenlehre zu schützen, sondern ihre Autorität auch im Bereich diesseitiger Dinge einzusetzen, wenn nämlich die Durchführung der kirchlichen Lehre in konkreten Fällen ein solches Urteil notwendig macht (ebd. ; vgl. Leo MII., Enz. Immortale Dei; Pius XI., Enz. Ubi arcano).

Stufenweise Entwicklung


86 Tatsächlich fehlt es angesichts der Verhältnisse, die nur wenig oder überhaupt nicht den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen, nicht an hochgemuten Geistern, die darauf brennen, alles neu zu ordnen, und die so stürmisch vorangehen wollen, daß sich ihr Tun fast wie eine Revolution ausnimmt.

Sie mögen sich stets vor Augen halten, daß naturnotwendig alles Sein und Wachsen sich stufenweise vollzieht. Man kann deshalb menschliche Einrichtungen nur verbessern, wenn man von innen her und behutsam vorangeht.

Dies hat Unser Vorgänger Pius MI. folgendermaßen erklärt: "Nicht im Umsturz, sondern in der Entwicklung in Eintracht liegt Heil und Gerechtigkeit. Gewalt hat immer nur niedergerissen, nie aufgebaut, die Leidenschaften entfacht, nie beruhigt. Sie hat Menschen und Klassen immer nur in die harte Notwendigkeit gestürzt, nach leidvollen Prüfungen auf den Ruinen der Zwietracht zum mühevollen Wiederaufbau zu schreiten" (Pius XII., Pfingstansprache 13.6.1943).

Eine gewaltige Aufgabe


87 Allen Menschen guten Willens ist hier eine große Aufgabe gestellt: unter dem Leitstern der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit in der menschlichen Gesellschaft neue Wege der gegenseitigen Beziehungen zu finden; Beziehungen der einzelnen untereinander; zwischen den einzelnen und ihren Staaten; den Staaten untereinander; schließlich Beziehungen der einzelnen, der Familien, der intermediären Körperschaften, den Staaten auf der einen Seite zur Gemeinschaft aller Menschen auf der anderen. Ein solches Werk ist gewiß außerordentlich bedeutsam, da aus ihm der wahre Friede nach der gottgewollten Ordnung erwachsen kann.


88 Diesen Männern, gewiß zu wenige angesichts der Not, doch hochverdient um die menschliche Gemeinschaft, zollen Wir billigerweise öffentlich Anerkennung, verbunden mit der herzlichen Einladung, alle Kraft an jenes glückverheißende Unternehmen zu setzen. Zugleich hoffen Wir, daß viele andere, vor allem gläubige Christen, gedrängt von Pflichtbewußtsein und Liebe, sich zu ihnen gesellen. Für alle, die sich zu Christus bekennen, ziemt es sich besonders, in die menschliche Gesellschaft Licht und Liebe zu tragen, wie Sauerteig in der Masse zu wirken. Dies wird um so mehr der Fall sein, je enger sich das Herz eines jeden an Gott bindet.

Denn es wird gewiß kein Friede in der menschlichen Gesellschaft herrschen, wenn er nicht zuerst im Herzen jedes einzelnen Wohnung nimmt, wenn nicht jeder in sich die gottgewollte Ordnung wahrt. Deshalb stellt der heilige Augustinus an den Menschen die Frage: "Wird dein Geist fähig sein, deine Leidenschaften zu besiegen? Er ordne sich selbst dem Höheren unter und mache das Niedere sich untertan. Dann wird in dir ein wahrer, sicherer und geordneter Friede herrschen. Wie sieht diese Friedensordnung aus? Gott herrscht über die Seele, die Seele aber beherrscht den Leib. Eine bessere Ordnung gibt es nicht" (Miscellanea Augustiniana).

Der Friedensfürst


89 Was Wir bisher über die Fragen ausgeführt haben, welche die menschliche Gesellschaft gegenwärtig so beunruhigen und die mit dem Fortschritt der Menschheitsfamilie eng zusammenhängen, das hat Unserm Herzen jene starke Sehnsucht eingegeben, von der alte Menschen guten Willens entflammt sind: daß auf dieser Erde der Friede gesichert werde.

Da Wir - wenn auch dieses Amtes unwürdig - der Stellvertreter dessen sind, den der Prophet in göttlicher Sehergabe den Friedensfürsten (vgl. Jes
Is 9,5) genannt hat, halten Wir es für Unsere heilige Pflicht, Unsere sorgenden Überlegungen und Unsere ganze Kraft der Förderung dieses allumfassenden Gutes zu weihen. Der Friede muß jedoch ein leeres Wort bleiben, wenn er sich nicht in jenem Ordnungsgefüge entwickelt, das Wir voller Hoffnung in diesem Rundschreiben in den Umrissen angedeutet haben: Wir meinen ein Ordnungsgefüge, das in der Wahrheit gegründet, nach den Richtlinien der Gerechtigkeit erbaut, von lebendiger Liebe erfüllt ist und sich schließlich in der Freiheit verwirklicht.

Es handelt sich hier um eine so hohe und so bedeutende Aufgabe, daß ein Mensch - sei er auch höchsten Lobes würdig und vom besten Willen beseelt - sie nie erfüllen könnte, wenn er sich nur auf seine eigene Kraft verließe. Daß die menschliche Gesellschaft soweit als möglich ein Abbild des Gottesreiches werde, dazu braucht es dringend der Hilfe des göttlichen Geistes.


90 Die Sache selbst fordert von uns, in diesen heiligen Tagen flehentliche Gebete an den zu richten, der in seinem bitteren Leiden und Sterben nicht nur unsere Schuld, den Quell der Zwietracht, des Elends und der Ungerechtigkeiten, getilgt, sondern auch durch sein Blut das Menschengeschlecht mit seinem himmlischen Vater versöhnt hat: "Er selbst ist ja unser Friede, er hat das Getrennte vereint,. . und so kam er, euch, den Fernen wie auch den Nahen, den Frieden kundzutun" (Ep 2,14-17).

Auch in der heiligen Liturgie dieser Ostertage hören wir dieselbe Botschaft: "Nach seiner Auferstehung stand unser Herr Jesus inmitten seiner Jünger und sprach: ,Der Friede sei mit euch, alleluja': Da freuten sich die Jünger, weil sie den Herrn sahen" (Resp. ad Mat., Freitag in der Osterwoche). Christus selbst hat uns ja den Frieden geschenkt und zum Vermächtnis gegeben: "Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch" (Jn 14,27).


91 Diesen Frieden, den der göttliche Erlöser uns gebracht hat, müssen wir von ihm in eindringlichem Gebet erbitten. Christus möge von den menschlichen Herzen entfernen, was immer den Frieden gefährden kann; er möge alle zu Zeugen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der brüderlichen Liebe machen. Er möge auch den Geist der Regierenden erleuchten, daß sie mit angemessenem Wohlstand ihren Bürgern auch das schöne Geschenk des Friedens sichern. Endlich möge Christus selbst den Willen aller Menschen entzünden, daß sie die Schranken zerbrechen, die die einen von den andern trennen; daß sie die Bande gegenseitiger Liebe festigen, einander besser verstehen; daß sie schließlich allen verzeihen, die ihnen Unrecht getan haben. So werden unter Gottes Führung und Schutz alle Völker sich brüderlich umarmen, und so wird stets in ihnen der ersehnte Friede herrschen.

Zum Schluß wünschen Wir, Ehrwürdige Brüder, daß dieser Friede zu der euch anvertrauten Herde gelange, zum Nutzen vor allem der Schwächsten unter den Menschen, die der Hilfe und des Schutzes besonders bedürfen. So erteilen Wir euch, den Welt- und Ordenspriestern, den gottgeweihten Männern und Frauen, allen Christgläubigen, namentlich denen, welche Unseren Ermahnungen hochherzig Folge leisten werden, in väterlicher Liebe den Apostolischen Segen. Allen Menschen guten Willens aber, an die sich dieser Unser Brief ebenfalls richtet, erflehen Wir Heil und Segen von Gott dem Allmächtigen.

Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am Gründonnerstag, dem 11. April 1963, im fünften Jahr Unseres Pontifikates.

IOANNES PP. XXIII






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