Predigten 1978-2005 471


APOSTOLISCHE REISE NACH TORONTO,

GUATEMALA-STADT UND MEXIKO-STADT

HEILIGSPRECHUNG VON JUAN DIEGO CUAUHTLATOATZIN

PREDIGT DES HEILIGEN VATERS JOHANNES PAUL II.

Mexiko-Stadt

472

Mittwoch, 31. Juli 2002


1. »Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen« (Mt 11,25 –26).

Liebe Brüder und Schwestern! Diese Worte Jesu im heutigen Evangelium stellen für uns eine besondere Einladung dar, Gott zu loben und ihm zu danken für das Geschenk des ersten heiligen Indios des amerikanischen Kontinents.

Mit großer Freude bin ich zu dieser Basilika von Guadalupe, dem arianischen Herzen Mexikos und Amerikas, gepilgert, um die Heiligkeit von Juan Diego Cuauhtlatoatzin zu verkünden, des einfachen und demütigen Indios, der das milde und reine Gesicht der Jungfrau von Tepeyac, die der Bevölkerung Mexikos so sehr am Herzen liegt, betrachtete.

2. Danken möchte ich für die freundlichen Worte, die Kardinal Norberto Carrera Rivera, Erzbischof von Mexiko, an mich gerichtet hat, wie auch für den warmherzigen Empfang der Männer und Frauen in dieser herausragenden Erzdiözese: An sie alle geht mein herzlichster Gruß. In Verbundenheit begrüße ich auch Kardinal Ernesto Corripio Ahumada, den emeritierten Erzbischof von Mexiko, und alle weiteren Kardinäle, die Bischöfe aus Mexiko, aus den anderen Ländern Amerikas, von den Philippinen und aus anderen Teilen der Welt. Zugleich danke ich in besonderer Weise dem Herrn Präsidenten und den Vertretern der zivilen Autoritäten für ihre Teilnahme an dieser Feier.

Einen besonders herzlichen Gruß richte ich heute an die zahlreichen Ureinwohner, die aus den verschiedenen Teilen des Landes hierhergekommen sind; sie vertreten die vielen ethnischen Gruppen und Kulturen, aus denen die reiche und vielfältige mexikanische Bevölkerung besteht. Der Papst spricht ihnen seine Nähe sowie seine tiefe Achtung und Bewunderung aus und heißt sie im Namen des Herrn brüderlich willkommen.

3. Wie war Juan Diego? Warum richtete Gott seinen Blick auf ihn? Das Buch Jesus Sirach, aus dem wir soeben einen Abschnitt gehört haben, lehrt uns folgendes: »Groß ist die Macht Gottes, und von den Demütigen wird er verherrlicht« (Si 3,20). Auch die Worte des hl. Paulus, die während dieser Feier vorgelesen wurden, erhellen diese göttliche Art des heilbringenden Wirkens: »Das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott« (1Co 1,28 –29).

Es ist bewegend, die Erzählungen von Guadalupe zu lesen, denn sie sind mit großem Feingefühl geschrieben und voller Empfindsamkeit. In ihnen offenbart sich die Jungfrau Maria, die Magd, die »den Herrn preist« (vgl. Lc 1,46), dem Juan Diego als Mutter des wahren Gottes. Als Zeichen schenkt sie ihm einige kostbare Rosen: Als er sie seinem Bischof zeigt, entdeckt er auf seinem Mantel das gesegnete Bildnis Unserer Lieben Frau.

»Das Ereignis von Guadalupe« – so betonte der mexikanische Episkopat – »bedeutete den Beginn der Evangelisierung mit einer Vitalität, die alle Erwartungen übertraf. Die Botschaft Christi, durch seine Mutter übermittelt, nahm die zentralen Elemente der einheimischen Kultur auf, reinigte sie und gab ihnen ihre endgültige Heilsbedeutung« (vgl. 14. Mai 2002, Nr. 8). Deshalb besitzen Guadalupe und Juan Diego einen tiefen kirchlichen und missionarischen Sinn;sie sind das Vorbild einer auf vollkommene Weise inkulturierten Evangelisierung.

4. »Der Herr blickt herab vom Himmel, er sieht auf alle Menschen« (Ps 33,13), haben wir mit dem Psalmisten gebetet und damit aufs neue unseren Glauben an Gott bekannt, der keinen Unterschied hinsichtlich Rasse oder Kultur macht. Juan Diego nahm die christliche Botschaft an, ohne dabei seine Identität als Ureinwohner aufzugeben; so entdeckte er die tiefe Wahrheit der neuen Menschheit, in der alle dazu berufen sind, Kinder Gottes zu sein. Auf diese Weise erleichterte er die fruchtbringende Begegnung zwischen zwei Welten und wurde zu einem Protagonisten der neuen mexikanischen Identität. Diese steht in ganz enger Verbindung zur Jungfrau von Guadalupe, deren mestizisches Gesicht ihre geistige Mutterschaft zum Ausdruck bringt, die alle Mexikaner einschließt. Daher muß sein Lebenzeugnis auch in Zukunft dem Aufbau der mexikanischen Nation Kraft schenken, die Brüderlichkeit unter allen ihren Söhnen und Töchtern fördern und die Versöhnung Mexikos mit seinen Ursprüngen, seinen Werten und seinen Traditionen immer weiter voranbringen.

Diese edle Aufgabe, nämlich der Aufbau eines besseren, gerechteren und solidarischeren Mexiko, erfordert die Mitarbeit eines jeden. Insbesondere ist es heute nötig, die Ureinwohner in ihren berechtigten Ansprüchen zu unterstützen, indem die wahren Werte jeder ethnischen Gruppe geachtet und verteidigt werden. Mexiko braucht seine Ureinwohner, und die Ureinwohner brauchen Mexiko!

473 Liebe Brüder und Schwestern aller ethnischen Gruppen Mexikos und Amerikas! Wenn ich heute die Gestalt des Indio Juan Diego ehre, möchte ich dadurch die Nähe der Kirche und des Papstes zu euch allen zum Ausdruck bringen. Ich umarme euch in herzlicher Zuneigung und fordere euch auf, die schwierigen gegenwärtigen Umstände hoffnungsvoll zu überwinden.

5. In diesem entscheidenden Abschnitt der Geschichte Mexikos, nun da die Schwelle zum neuen Jahrtausend bereits überschritten ist, vertraue ich der mächtigen Fürsprache des hl. Juan Diego die Freuden und Hoffnungen, die Ängste und Sorgen des geschätzten mexikanischen Volkes an, das mir so am Herzen liegt.

Gesegneter Juan Diego, guter und christlicher Indio, den das einfache Volk immer als wahren Heiligen angesehen hat, wir bitten dich, die in Mexiko pilgernde Kirche zu begleiten, damit sie ihren Auftrag der Mission und der Evangelisierung Tag für Tag besser erfülle. Ermutige die Bischöfe, unterstütze die Priester, wecke neue und heilige Berufungen, hilf allen, die ihr Leben für die Sache Christi und für die Verbreitung seines Reiches hingeben.

Glückseliger Juan Diego, gläubiger und wahrhaftiger Mensch, dir empfehlen wir unsere Brüder und Schwestern, die Laiengläubige sind: Sie mögen sich zur Heiligkeit berufen fühlen und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit dem Geist des Evangeliums erfüllen. Segne die Familien, unterstütze die Brautleute in ihrer Ehe, stehe den Eltern in ihren Bemühungen um die christliche Erziehung ihrer Kinder bei. Schau gütig auf den Schmerz der Menschen, die an Leib und Seele leiden oder die von Armut, Einsamkeit, Ausgrenzung oder mangelnder Bildung betroffen sind. Alle, Regierende und Volk, mögen stets gemäß den Anforderungen der Gerechtigkeit und der Achtung der Würde jedes Menschen handeln, damit auf diese Weise der wahre Friede gefestigt werde.

Geliebter Juan Diego, »sprechender Adler«! Zeig uns den Weg, der zur »Virgen Morena del Tepeyac« führt: Sie möge uns im Innersten ihres Herzens aufnehmen, denn sie ist die liebevolle und mitfühlende Mutter, die uns bis zum wahren Gott geleitet. Amen.

Der Papst sagte zum Schluß der Eucharistiefeier:

Zum Abschluß der Heiligsprechung von Juan Diego möchte ich euch alle erneut begrüßen, die ihr an dieser Feier teilgenommen habt, einige in dieser Basilika, andere in näherer oder weiterer Umgebung, sowie all jene, die über Radio und Fernsehen it uns verbunden sind. Von Herzen danke ich für die Zuneigung, die mir von den vielen Menschen entgegengebracht wurde, denen ich auf dem Weg, den ich bis hierher zurückgelegt habe, begegnet bin. Im neuen Heiligen habt ihr ein wunderbares Beispiel eines guten Menschen mit rechtem Lebenswandel, einen treuen Sohn der Kirche, gehorsam gegenüber den Hirten, von Liebe zur Jungfrau Maria erfüllt, ein guter Jünger Jesu. Er sei ein Vorbild für euch, die ihr ihn so liebt, und er lege Fürsprache ein für Mexiko, damit es immer treu bleibe. Übermittelt allen die Botschaft dieser Feier und den Gruß und die Zuneigung des Papstes für alle Mexikaner.



APOSTOLISCHE REISE NACH TORONTO,

GUATEMALA-STADT UND MEXIKO-STADT

SELIGSPRECHUNG VON JUAN BATTISTA UND JACINTO DE LOS ÁNGELES

PREDIGT DES HEILIGEN VATERS JOHANNES PAUL II.

Mexiko-Stadt

Donnerstag, 1. August 2002


Liebe Brüder und Schwestern!

1. »Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,10). Diese letzte der Seligpreisungen des Evangeliums bestärkt uns, angesichts der Verfolgungen, denen die Kirche von Anfang an ausgesetzt war, nicht den Mut zu verlieren. In der Bergpredigt verheißt Jesus die wahre Glückseligkeit all jenen, die arm sind vor Gott, den Trauernden und den Sanftmütigen sowie denjenigen, die nach Gerechtigkeit und Frieden trachten, die barmherzig und reinen Herzens sind.

474 Angesichts des menschlichen Leidens, das den Weg des Glaubens begleitet, ermuntert uns der hl. Petrus: »Statt dessen freut euch, daß ihr Anteil an den Leiden Christi habt; denn so könnt ihr auch bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit voll Freude jubeln« (1P 4,13).

Von dieser Überzeugung beseelt, nahmen Juan Bautista und Jacinto de los Ángeles das Martyrium auf sich, wobei sie dem Glauben an den lebendigen und wahren Gott treu blieben und die Götzen zurückwiesen.

Obwohl sie schwere Qualen zu ertragen hatten, antworteten sie mit Entschlossenheit auf die Aufforderung, den katholischen Glauben zu verleugnen und sich dadurch zu retten: »Unserem Taufversprechen gemäß werden wir dem wahren Glauben stets folgen.« Dieses leuchtende Beispiel zeigt uns, daß wir nichts, nicht einmal das eigene Leben, dem Taufversprechen vorziehen dürfen, so wie dies die ersten Christen taten, die – durch die Taufe erneuert – sich von jeder Form des Götzendienstes abwendeten (vgl. Tertullian, De baptismo, 12, 15).

2. Saluto con affetto i Signori Cardinali e i Vescovi convenuti in questa Basilica. In particolare l'Arcivescovo di Oaxaca, Mons. Héctor Gonzáles Martínez, i Sacerdoti, i Religiosi, le Religiose e i fedeli laici, specialmente quelli provenienti da Oaxaca, terra natale dei nuovi beati, dove il loro ricordo permane così vivo.

In eurem Land kam es zu einer starken Verschmelzung von Kulturen. Im Jahr 1529 gelangte das Evangelium in dieses Gebiet durch die Dominikaner, die sich der Sprachen wie auch der Sitten und Bräuche der einheimischen Gemeinschaften bedienten. So fing man an, Gott in den jeweiligen Muttersprachen kennenzulernen. Unter den Früchten dieser christlichen Saat zeichnen sich diese beiden großen Märtyrer aus.

3. In der Zweiten Lesung erinnert uns der hl. Petrus daran, daß wenn jemand »leidet, weil er Christ ist, dann soll er sich nicht schämen, sondern Gott verherrlichen, indem er sich zu diesem Namen bekennt« (1P 4,16). Da Juan Bautista und Jacinto de los Ángeles ihr Blut für Christus hingegeben haben, wurden sie zu wahren Märtyrern des Glaubens. Wie der Apostel Paulus können auch sie sich fragen: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?« (Rm 8,35).

Diese beiden christlichen Indios, die sich durch ein tadelloses persönliches und familiäres Leben auszeichneten, erlitten das Martyrium in freudiger Treue gegenüber ihrem Taufversprechen und gegenüber dem katholischen Glauben. Sie mögen ein Vorbild sein für die Laiengläubigen, die im alltäglichen Leben zur Heiligkeit berufen sind.

4. Mit dieser Seligsprechung stellt die Kirche ihre Sendung heraus, die darin besteht, allen Völkern das Evangelium zu verkünden. Die neuen Seligen, Frucht der Heiligkeit der ersten Evangelisierung unter den Zapoteken, ermutigen die heutigen Indios, ihre Kultur, ihre Sprache und vor allem ihre Würde als Kinder Gottes wertzuschätzen. Diese Würde müssen die anderen Menschen im Kontext der mexikanischen Nation achten, die mit ihrer Bevölkerung unterschiedlicher Abstammung bereit ist, in Solidarität und Gerechtigkeit eine gemeinsame Familie aufzubauen.

Das Vorbild dieser beiden Seligen zeigt uns, wie wir – ohne die Bräuche der Vorfahren zum Mythos zu machen und ohne auf die eigene Kultur zu verzichten – zu Gott gelangen können, wenn wir uns vom Licht Christi erleuchten lassen, der den religiösen Geist der besten Traditionen der Völker erneuert.

5. »Ja, Großes hat der Herr an uns getan. Da waren wir fröhlich« (Ps 126,3). Diese Worte des Psalmisten erfüllen unser Herz mit Freude, denn Gott segnete die Kirche von Oaxaca und das mexikanische Volk it zweien seiner Kinder, die heute seliggesprochen werden. Durch die beispielhafte Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben sind sie für all jene ein Vorbild geworden, die in kleinen Dörfern oder großen sozialen Einrichtungen die Aufgabe haben, das Gemeinwohl sorgfältig und uneigennützig zu fördern.

Juan Bautista und Jacinto de los Ángeles, von ihren Mitmenschen damals als beispielhafte Ehegatten und Familienväter anerkannt, erinnern die heutigen mexikanischen Familien an die Größe ihrer Berufung, den Wert treuer Liebe und die hochherzige Annahme des Lebens.

475 Somit jubelt die Kirche, denn diese neuen Seligen sind sichere Zeichen der Liebe Gottes zu uns (vgl. Präfation der Heiligen II ). Es freut sich auch die christliche Gemeinde von Oaxaca und von ganz Mexiko, denn der Allmächtige hat seine Augen auf zwei ihrer Kinder gerichtet.

6. Vor dem sanften Antlitz der Jungfrau von Guadalupe, die den Glauben ihrer mexikanischen Kinder stets genährt hat, bekräftigen wir erneut unsere Aufgabe, das Evangelium zu verkünden, jene Aufgabe, die auch das Leben von Juan Bautista und Jacinto de los Angeles auszeichnete. Mögen alle christlichen Gemeinschaften an dieser Sendung teilhaben, damit sie voll Begeisterung ihren Glauben verkünden und ihn unversehrt an die neuen Generationen weitergeben. Verkündet das Evangelium, festigt die Bande brüderlicher Gemeinschaft, und bezeugt den Glauben durch ein beispielhaftes Leben in der Familie, bei der Arbeit und in den Beziehungen zu anderen! Sucht das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit bereits hier auf Erden durch tatkräftige und brüderliche Solidarität mit den Unglücklichen und Ausgeschlossenen (vgl.
Mt 25,34 –35).

Voll Freude wenden wir uns an unsere himmlische Mutter, denn zwei ihrer Kinder sind seliggesprochen worden. Zugleich bitten wir sie, das geliebte mexikanische Volk und ganz Amerika von diesem Heiligtum auf dem Tepeyac aus auch weiterhin zu segnen, zu führen und zu unterstützen.

Ich erinnere mich, daß ich bei meinem ersten Besuch im Jahr 1979 Oaxaca besucht habe. Es ist mir eine Freude, daß ich nun zwei seiner Söhne seligsprechen konnte. Dank sei Gott!

Nach der Eucharistiefeier sagte der Papst:

Es war hier eine große Wertschätzung zu spüren, und meine Rückkehr hat mich eine tiefe geistliche Freude empfinden lassen, für die ich Gott und der allerseligsten Muttergottes danke.

Mein Dank gilt auch euch, die ihr diesen Besuch vorbereitet und euch um alle Details gekümmert habt. Dankeschön euch allen, die ihr mich mit so großer Herzlichkeit auf den Straßen eurer Stadt empfangen habt, euch, die ihr von weitem hierhergekommen seid und die Botschaft, die ich euch verkündigt habe, gehört und aufgenommen habt, und euch, die ihr so sehr für mein Amt als Nachfolger des hl. Petrus betet.

Da ich nun bald dieses gesegnete Land verlassen werde, kommen mir die Worte eines Volksliedes in spanischer Sprache in den Sinn: »Ich gehe weg, und doch gehe ich nicht weg. Ich gehe, und doch entferne ich mich nicht, auch wenn ich fortgehe, bleibt mein Herz hier.«

Mexiko, Mexiko, schönes Mexiko, Gott segne dich!



APOSTOLISCHE REISE NACH POLEN

WEIHE DES NEUEN HEILIGTUMS DER GÖTTLICHEN BARMHERZIGKEIT

PREDIGT DES HEILIGEN VATERS JOHANNES PAUL II.

Krakau-Lagiewniki

Samstag, 17. August 2002


476 »O unbegreifliche und unergründliche Barmherzigkeit Gottes,
wer vermag dich würdig zu ehren und zu rühmen?
Du größte Eigenschaft des Allmächtigen Gottes,
Du süße Hoffnung des sündigen Menschen«
(Tagebuch, 951).

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Heute wiederhole ich diese einfachen und aufrichtigen Worte der hl. Faustyna, um gemeinsam mit ihr und mit euch allen das unbegreifliche und unergründliche Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit zu verehren. Ebenso wie sie wollen auch wir bekennen, daß es für den Menschen keine andere Quelle der Hoffnung als das Erbarmen Gottes geben kann. In tiefem Glauben wiederholen wir: Jesus, ich vertraue auf dich!

Diese Botschaft, die das Vertrauen auf die allmächtige Liebe Gottes zum Ausdruck bringt, brauchen wir vor allem in der heutigen Zeit, in der der Mensch mit Verwirrung den zahlreichen Formen des Bösen gegenübersteht. Die flehentliche Bitte um das göttliche Erbarmen muß aus der Tiefe der Herzen kommen, die voller Leid, Angst und Unsicherheit sind, gleichzeitig aber nach einer untrüglichen Quelle der Hoffnung suchen. Daher sind wir heute an diesen Ort gekommen, zum Heiligtum von Lagiewniki, um in Christus das Antlitz des Vaters wiederzuentdecken:das Antlitz dessen, der »Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes« (
2Co 1,3) ist. Mit den Augen der Seele wollen wir fest in die Augen des barmherzigen Jesus schauen, um in der Tiefe dieses Blickes den Widerschein seines Lebens sowie das Licht der Gnade zu finden, das wir schon so oft empfangen haben und das uns Gott jeden Tag und am letzten Tag erweist. Zeit und Raum gehören vollkommen Gott

2. Nun werden wir dieses neue Heiligtum der Barmherzigkeit Gottes weihen. Doch zuvor möchte ich all jenen herzlich danken, die zu seiner Errichtung beigetragen haben. Insbesondere danke ich Kardinal Franciszek Macharski, der sich in treuer Verehrung der göttlichen Barmherzigkeit so sehr für dieses Vorhaben eingesetzt hat. Von Herzen umarme ich die Schwestern aus der Kongregation der Muttergottes von der Barmherzigkeit und danke ihnen für ihr Wirken zur Verbreitung der von Schwester Faustyna hinterlassenen Botschaft. Ferner grüße ich die Kardinäle und Bischöfe Polens mit ihrem Oberhaupt, dem Kardinalprimas, sowie die Bischöfe aus verschiedenen Teilen der Welt. Die Anwesenheit der Priester, Ordensleute und Seminaristen der Diözese erfüllt mich mit Freude.

Von Herzen grüße ich alle Teilnehmer an dieser Feier, insbesondere die Vertreter der Stiftung für das Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit, die sich um die Bauarbeiten gekümmert hat, sowie das Personal der verschiedenen Unternehmen. Ich weiß, daß viele der hier Anwesenden diesen Bau in materieller Hinsicht hochherzig unterstützt haben. Gott möge ihre Großzügigkeit und ihren Einsatz mit seinem Segen belohnen!

3. Brüder und Schwestern! Während wir diese neue Kirche weihen, können wir uns jene Frage stellen, die König Salomon quälte, als er den Tempel von Jerusalem zum Haus Gottes weihte: »Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe« (1R 8,27). Ja, auf den ersten Blick könnte es unangemessen scheinen, einen bestimmten »Raum« mit der Gegenwart Gottes in Verbindung zu bringen. Doch wir sollten uns daran erinnern, daß Zeit und Raum vollkommen Gott gehören. Auch wenn die Zeit und die ganze Welt als sein »Tempel« anzusehen sind, so gibt es dennoch Zeiten und Orte, die Gott wählt, damit die Menschen in ihnen seine Gegenwart und Gnade auf besondere Art und Weise erfahren. Und die Menschen, vom Geist des Glaubens bestärkt, kommen an diese Orte in der Gewißheit, Gott, der in ihnen gegenwärtig ist, wahrhaft gegenüberzutreten.

477 Mit dem gleichen Glaubensgeist sind sie nach Lagiewniki gekommen, um dieses neue Heiligtum zu weihen in der Überzeugung, daß es ein besonderer Ort ist, den Gott auserwählt hat, um die Gnade seines Erbarmens allen zuteil werden zu lassen. Möge diese Kirche stets ein Ort der Verkündigung der Botschaft von der erbarmenden Liebe Gottes sein, ein Ort der Bekehrung und der Reue, ein Ort der Feier der Eucharistie, Quelle des Erbarmens, ein Ort des Gebets, an dem inständig das Erbarmen für uns und für die ganze Welt erfleht wird. Mit den Worten Salomons bete ich: »Wende dich, Herr, mein Gott, dem Beten und Flehen deines Knechtes zu! Höre auf das Rufen und auf das Gebet, das dein Knecht heute vor dir verrichtet. Halte deine Augen offen über diesem Haus bei Nacht und bei Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast, daß dein Name hier wohnen soll. Höre auf das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte verrichtet. Achte auf das Flehen deines Knechtes und deines Volkes Israel, wenn sie an dieser Stätte beten. Höre sie im Himmel, dem Ort, wo du wohnst. Höre sie, und verzeih!« ().

4. »Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit;denn so will der Vater angebetet werden« (
Jn 4,23). Wenn wir diese Worte des Herrn Jesus im Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit lesen, wird uns in besonderer Weise bewußt, daß man hier einzig und allein im Geist und in der Wahrheit verweilen kann. Es ist der Heilige Geist, Tröster und Geist der Wahrheit, der uns auf den Wegen des göttlichen Erbarmens führt. Er, der die Welt »überführt« und aufdeckt, was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist (Jn 16,8), offenbart gleichzeitig die Fülle des Heils in Christus. Dieses Aufdecken der Sünde steht in einem zweifachen Zusammenhang zum Kreuz Christi. Einerseits ermöglicht uns der Heilige Geist, durch das Kreuz Christi die Sünde, jede Sünde, in der ganzen Dimension des in ihr enthaltenen und verborgenen Bösen zu erkennen. Andererseits ermöglicht uns der Geist, wiederum durch das Kreuz Christi, die Sünde im Licht des »mysterium pietatis« zu sehen, d.h. im Licht der erbarmenden und nachsichtigen Liebe Gottes (vgl. Dominum et vivificantem DEV 32).

Und so wird das »Aufdecken der Sünde« gleichzeitig zur Überzeugung, daß die Sünden verziehen werden und der Mensch erneut der Würde des von Gott geliebten Sohnes entsprechen kann. »Im Kreuz neigt sich Gott am tiefsten zum Menschen herab … Im Kreuz werden gleichsam von einem heiligen Hauch der ewigen Liebe die schmerzlichsten Wunden der irdischen Existenz des Menschen berührt« (Dives in misericordia DM 8). An diese Wahrheit wird stets der Grundstein dieses Heiligtums erinnern, der vom Kalvarienberg stammt; er wurde gewissermaßen unter jenem Kreuz hervorgeholt, auf dem Jesus Christus die Sünde und den Tod besiegt hat.

Ich glaube fest daran, daß dieses neue Heiligtum stets ein Ort sein wird, an dem die Menschen im Geist und in der Wahrheit Gott gegenübertreten. Sie werden mit jenem Vertrauen kommen, das diejenigen stärkt, die demütig ihr Herz dem barmherzigen Wirken Gottes öffnen, mit jener Liebe, die auch die schwerste Sünde nicht besiegen kann. Hier, im Feuer der göttlichen Liebe, brennen die Herzen im Verlangen nach Bekehrung, und jeder, der Hoffnung sucht, wird Trost finden.

5. »Ewiger Vater, ich opfere Dir den Leib und das Blut auf, die Seele und die Gottheit Deines geliebten Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus, als Sühne für unsere Sünden und die der ganzen Welt. Um Seines schmerzhaften Leidens willen habe Erbarmen mit uns und mit der ganzen Welt« (Tagebuch, 476). Mit uns und mit der ganzen Welt …Wie dringend braucht die heutige Welt das Erbarmen Gottes! Aus der Tiefe des menschlichen Leids erhebt sich auf allen Erdteilen der Ruf nach Erbarmen. Wo Haß und Rachsucht vorherrschen, wo Krieg das Leid und den Tod unschuldiger Menschen verursacht, überall dort ist die Gnade des Erbarmens notwendig, um den Geist und das Herz der Menschen zu versöhnen und Frieden herbeizuführen. Wo das Leben und die Würde des Menschen nicht geachtet werden, ist die erbarmende Liebe Gottes nötig, in deren Licht der unfaßbare Wert jedes Menschen zum Ausdruck kommt. Wir bedürfen der Barmherzigkeit, damit jede Ungerechtigkeit in der Welt im Glanz der Wahrheit ein Ende findet.

In diesem Heiligtum möchte ich daher heute die Welt feierlich der Barmherzigkeit Gottes weihen mit dem innigen Wunsch, daß die Botschaft von der erbarmenden Liebe Gottes, die hier durch Schwester Faustyna verkündet wurde, alle Menschen der Erde erreichen und ihre Herzen mit Hoffnung erfüllen möge. Jene Botschaft möge, von diesem Ort ausgehend, überall in unserer geliebten Heimat und in der Welt Verbreitung finden. Möge sich die Verheißung des Herrn Jesus Christus erfüllen: Von hier wird »ein Funke hervorgehen, der die Welt auf Mein endgültiges Kommen vorbereitet« (vgl. Tagebuch, 1732).

Diesen Funken der Gnade Gottes müssen wir entfachen und dieses Feuer des Erbarmens an die Welt weitergeben. Im Erbarmen Gottes wird die Welt Frieden und der Mensch Glückseligkeit finden! Euch, lieben Brüdern und Schwestern, der Kirche in Krakau und Polen und allen, die die Barmherzigkeit Gottes verehren und aus Polen und der ganzen Welt diesen Ort aufsuchen, vertraue ich diese Aufgabe an. Seid Zeugen der Barmherzigkeit!

6. Gott, barmherziger Vater,
der Du Deine Liebe in Deinem Sohn Jesus Christus offenbart
und über uns ausgegossen hast im Heiligen Geist, dem Tröster,
Dir vertrauen wir heute die Geschicke der Welt und jedes Menschen an.

478 Neige dich zu uns Sündern herab,
heile unsere Schwäche,
besiege alles Böse,
hilf, daß alle Menschen der Erde Dein Erbarmen erfahren,
und in Dir, dem dreieinigen Gott, die Quelle der Hoffnung finden.

Ewiger Vater,
um des schmerzvollen Leidens und der Auferstehung Deines Sohnes willen,
habe Erbarmen mit uns und mit der ganzen Welt!

Amen.

* * *


Am Ende der Eucharistiefeier sagte der Papst:

479 Zum Abschluß dieses festlichen Gottesdienstes möchte ich anmerken, daß viele meiner persönlichen Erinnerungen mit diesem Ort in Verbindung stehen. Ich kam vor allem während der Besatzung durch die Nationalsozialisten hierher, als ich in der nahegelegenen Solvay-Fabrik arbeitete. Noch heute erinnere ich mich an den Weg von Borek Falecki nach Debniki, den ich jeden Tag mit Holzschuhen an den Füßen zurücklegen mußte, wenn ich zur Schichtarbeit ging. Wer hätte geglaubt, daß dieser Mann mit den Holzpantoffeln eines Tages die Basilika von der Göttlichen Barmherzigkeit in Lagiewniki bei Krakau weihen wird.

Ich freue mich über den Bau dieses schönen Gotteshauses, das der Göttlichen Barmherzigkeit geweiht ist. Ich empfehle der Obhut von Kardinal Macharski, der ganzen Erzdiözese Krakau und den Schwestern der Muttergottes von der Barmherzigkeit das Heiligtum und vor allem dessen geistliche Dimension an. Möge diese Zusammenarbeit bei der Verbreitung der Verehrung des barmherzigen Jesus reiche Früchte des Segens in den Herzen der Gläubigen in Polen und der ganzen Welt hervorbringen.

Der barmherzige Gott segne alle Pilger, die heute und in Zukunft hierherkommen, mit seinen überreichen Gaben.



APOSTOLISCHE REISE NACH POLEN

SELIGSPRECHUNG VON 4 DIENERN GOTTES:

Zygmunt Szczesny Felinski

Jan Balicki Jan Beyzym Sancja Szymkowiak PREDIGT DES HEILIGEN VATERS JOHANNES PAUL II.


Blonie-Park, Krakau

Sonntag, 18. August 2002

»Das ist mein Gebot:

Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe« (Jn 15,12).

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Die Worte unseres Herrn Jesus, die wir soeben gehört haben, stehen in besonderer Beziehung zum Thema der heutigen Liturgiefeier im Blonie-Park bei Krakau: »Gott, der voll Erbarmen ist.« Dieses Leitwort schließt gewissermaßen die ganze Wahrheit ein über die Liebe Gottes, der die Menschheit erlöst hat. »Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht« (Ep 2, 4–5). Die Fülle dieser Liebe ist im Kreuzesopfer offenbar geworden. Denn »…es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Jn 15,13). Das ist das Maß der Liebe Gottes! Das ist das Maß des göttlichen Erbarmens!

Wenn wir uns dieser Wahrheit bewußt sind, erkennen wir, daß die Aufforderung Christi, den Nächsten zu lieben, so wie er uns geliebt hat, uns allen das gleiche Maß nahelegt. Wie fühlen uns gewissermaßen gedrängt, Tag für Tag unser Leben darzubringen und, kraft der uns geschenkten erbarmenden Liebe Gottes, unseren Brüdern gegenüber Barmherzigkeit zu üben. Wir erkennen, daß Gott, der sich unser erbarmt, von uns erwartet, in der Welt von heute Zeugen der Barmherzigkeit zu sein.

2. Besonders eindringlich ist die Aufforderung zum Zeugnisgeben für die Barmherzigkeit hier im geliebten Krakau, das überragt wird vom Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit von Lagiewniki und dem neuen Gotteshaus, das ich gestern zu meiner großen Freude geweiht habe. Hier klingt diese Aufforderung vertraut, denn sie erinnert an die jahrhundertealte Tradition der Stadt, die sich stets durch die Bereitschaft, die Bedürftigen zu unterstützen, ausgezeichnet hat. Es darf nicht vergessen werden, daß zahlreiche Heilige und Selige dieser Tradition entsprechend gehandelt haben – Priester, Ordensleute und Laien –, die ihr Leben den Werken der Barmherzigkeit widmeten. Angefangen bei Bischof Stanislaus, Königin Hedwig, Johannes von Kety, Piotr Skarga bis hin zu Bruder Albert, Angela Salawa und Kardinal Sapieha haben Generationen von Gläubigen dieser Stadt das Erbe der Barmherzigkeit über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben. Heute ist dieses Erbe uns übergeben worden und darf nicht in Vergessenheit geraten.

480 Ich danke Kardinal Franciszek Macharski, der uns in seinem Grußwort an diese Tradition erinnert hat. Dankbar bin ich auch für die Einladung, mein Krakau zu besuchen, und für die Gastfreundschaft, die mir hier entgegengebracht wird. Ich grüße alle Anwesenden, angefangen bei den Kardinälen und Bischöfen, wie auch all jene, die über Rundfunk und Fernsehen an dieser Eucharistiefeier teilnehmen.

Ich grüße ganz Polen. Im Geiste folge ich dem leuchtenden Weg, auf dem die hl. Faustyna Kowalska sich vorbereitet hat, um die Botschaft der Barmherzigkeit zu empfangen – von Warschau über Plock, Vilnius, bis nach Krakau – in Erinnerung auch an diejenigen, die auf diesem Weg mit der Verkünderin der Barmherzigkeit zusammengearbeitet haben. Ich möchte unsere Gäste grüßen. Mein Gruß gilt dem Herrn Präsidenten der Republik Polen, dem Herrn Premierminister sowie den Vertretern der staatlichen und kommunalen Behörden. Von Herzen umarme ich meine Landsleute, vor allem jene, die von Leid und Krankheit betroffen oder von Schwierigkeiten verschiedenster Art geplagt werden, die Arbeitslosen, die Obdachlosen, die Alten und Einsamen, die kinderreichen Familien. Ihnen versichere ich meine geistige Nähe und meine ständige Begleitung im Gebet. Mein Gruß gilt ferner den in aller Welt verstreut lebenden Landsleuten. Herzlich grüße ich auch die hier versammelten Pilger aus verschiedenen europäischen Ländern und aus aller Welt. Mein besonderer Gruß geht an die Präsidenten Litauens und der Slowakei, die heute hier anwesend sind.

3. Seit ihren Anfängen verkündet die Kirche unter Berufung auf das Geheimnis des Kreuzes und der Auferstehung die Barmherzigkeit Gottes als Unterpfand der Hoffnung und Quelle des Heils für den Menschen. Sie scheint jedoch vor allem heute dazu aufgefordert zu sein, diese Botschaft der Welt zu verkünden. Sie darf diesen Auftrag nicht vernachlässigen, denn Gott selbst ruft sie durch das Zeugnis der hl. Faustyna dazu auf. Die Stimme Gottes im Herzen tragen

Dafür hat Gott unser Zeitalter erwählt. Vielleicht weil das 20. Jahrhundert trotz unbestreitbarer Erfolge auf vielen Gebieten ganz besonders vom »mysterium iniquitatis« gekennzeichnet war. Mit diesem Erbe des Guten, aber auch des Bösen sind wir in das neue Jahrtausend eingetreten. Der Menschheit eröffnen sich neue Möglichkeiten der Entwicklung, zugleich steht sie aber auch vor bisher unbekannten Gefahren. Häufig lebt der Mensch so, als ob es Gott nicht gäbe, und er setzt sich selbst an die Stelle Gottes. Er maßt sich das Recht des Schöpfers an, in das Geheimnis des menschlichen Lebens einzugreifen. Durch genetische Manipulationen will er über das Leben des Menschen entscheiden und die Grenze des Todes festlegen. Dadurch daß er die Gebote Gottes und die moralischen Grundsätze zurückweist, bringt er die Familie offenkundig in Gefahr. Auf verschiedene Weise versucht er, die Stimme Gottes im Herzen der Menschen zum Schweigen zu bringen; er will Gott aus der Kultur und dem Gewissen der Völker ausschließen. Nach wie vor kennzeichnet das »mysterium iniquitatis« die Wirklichkeit der Welt.

Unter den Eindrücken dieses Geheimnisses durchlebt der Mensch die Angst vor der Zukunft, vor der Leere, vor dem Schmerz und vor der Zerstörung. Es scheint, als wäre Christus gerade deswegen durch das Zeugnis einer demütigen Ordensschwester in unsere Zeit gekommen, um die im ewigen Erbarmen Gottes enthaltene Quelle des Trostes und der Hoffnung aufzuzeigen.

Die Botschaft der barmherzigen Liebe muß mit neuer Kraft verkündet werden. Die Welt braucht diese Liebe. Es ist Zeit, die Botschaft Christi allen Menschen zu verkünden: insbesondere denjenigen, deren Menschlichkeit und Würde sich im »mysterium iniquitatis« zu verlieren scheinen. Die Stunde ist gekommen, in der die Botschaft vom Erbarmen Gottes die Herzen mit Hoffnung erfüllt und zum Funken einer neuen Zivilisation – der Zivilisation der Liebe – wird.

4. Unermüdlich will die Kirche diese Botschaft verkünden, nicht nur mit eindringlichen Worten, sondern auch durch die eifrige Übung der Barmherzigkeit. Unablässig weist sie daher auf die wunderbaren Beispiele jener Menschen hin, die, im Namen der Liebe zu Gott und zum Menschen, »ausgezogen sind und Früchte gebracht haben«. Heute werden dieser Schar vier neue Selige hinzugesellt. Verschieden sind die Zeiten, in denen sie gelebt haben, und verschieden sind ihre jeweiligen Schicksale. Doch es vereint sie ein besonderer Aspekt der Heiligkeit, ihre Hingabe an die Sache der Barmherzigkeit.

Der sel. Zygmunt Szczesny Felinski, der in einer schwierigen, durch fehlende nationale Freiheit gekennzeichneten Zeit Erzbischof von Warschau war, forderte dazu auf, den Armen stets hochherzig zu dienen und ihnen Bildungseinrichtungen sowie karitative Strukturen zugänglich zu machen. Er selbst gründete ein Waisenhaus und eine Schule und ließ die Schwestern von der Muttergottes der Barmherzigkeit in die Hauptstadt kommen, um das von ihnen begonnene Werk zu unterstützen.

Nach dem Scheitern des Aufstands von 1863 wagte er es, vom Gefühl der Barmherzigkeit den Brüdern gegenüber geleitet, die Verfolgten offen zu verteidigen. Der Preis, den er für diese treue Haltung zahlen mußte, war die 20 Jahre dauernde Deportation in die inneren Gebiete Rußlands. Auch dort galt seine Aufmerksamkeit stets den Armen und Verlorenen, denen er viel Liebe, Geduld und Verständnis entgegenbrachte. Über ihn ist geschrieben worden, daß er »während seines Exils, von allen Seiten unterdrückt, in der Armut des Gebets, stets allein am Fuß des Kreuzes stand und sich dem Erbarmen Gottes anvertraute«.

Diesen vorbildlichen pastoralen Dienst möchte ich heute in besonderer Weise meinen Mitbrüdern im Bischofsamt anvertrauen. Meine Lieben, Erzbischof Felin´ski unterstützt eure Bemühungen zur Ausarbeitung und Durchführung eines Pastoralplans der Barmherzigkeit. Dieses Projekt ist eure Aufgabe vor allem im Leben der Kirche und auch, notwendiger- und angebrachterweise, im gesellschaftlichen und politischen Leben der Nation, Europas und der Welt.

Von diesem Geist sozialer Wohltätigkeit angetrieben, setzte sich Erzbischof Felin´ski intensiv für die Verteidigung der nationalen Freiheit ein. Dies ist auch heute notwendig, da verschiedene Kräfte, die sich häufig von einer falschen Ideologie der Freiheit leiten lassen, sich dieses Gebiets zu bemächtigen versuchen. Wenn eine Propaganda, die lautstark den Liberalismus und eine Freiheit ohne Wahrheit und Verantwortung verficht, sich auch in unserem Land zunehmend ausbreitet, müssen die Hirten der Kirche die eine und unfehlbare Philosophie der Freiheit verkünden: die Wahrheit des Kreuzes Christi. Diese Philosophie der Freiheit ist strukturell mit der Geschichte unserer Nation verbunden.

481 5. Der Wunsch, den Bedürftigsten die Barmherzigkeit zuteil werden zu lassen, führte den sel. Jan Beyzym – der Jesuit und ein großartiger Missionar war – in das ferne Madagaskar, wo er aus Liebe zu Christus sein Leben den Leprakranken widmete. Tag und Nacht diente er jenen, die vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt und ausgeschlossen sind. Durch sein Werk der Barmherzigkeit für die verlassenen und verachteten Menschen hat er ein außergewöhnliches Zeugnis gegeben, ein Zeugnis, das zunächst in Krakau Widerhall fand, dann in ganz Polen und schließlich auch unter den im Ausland lebenden polnischen Landsleuten. Es wurden Spenden gesammelt, um das nach der Muttergottes von Tschenstochau benannte Krankenhaus zu bauen, das heute noch existiert. Unter den Förderern dieser Hilfsaktion war auch der heilige Bruder Albert.

Es freut mich, daß dieser Geist der Solidarität in der Barmherzigkeit weiterhin in der polnischen Kirche lebendig ist; das beweisen zahlreiche Hilfsaktionen für die von Naturkatastrophen heimgesuchten Gemeinden in verschiedenen Gebieten der Welt wie auch die jüngste Initiative zum Ankauf des Getreideüberschusses zugunsten der hungernden Bevölkerung Afrikas. Ich hoffe, daß sich dieses edle Vorhaben verwirklichen läßt.

Das barmherzige Werk des sel. Jan Beyzym war verbunden mit seiner bedeutsamen Sendung, jenen das Evangelium zu bringen, die es nicht kennen. Das ist das größte Geschenk der Barmherzigkeit: die Menschen zu Christus zu führen und ihnen zu ermöglichen, seine Liebe kennenzulernen und zu verspüren. Daher bitte ich euch:Betet für neue missionarische Berufungen in der polnischen Kirche. Unterstützt die Missionare immerfort durch eure Hilfe und euer Gebet.

6. Der Dienst der Barmherzigkeit zeichnete das Leben des sel. Jan Balicki aus. Als Priester hatte er stets ein offenes Herz für die Bedürftigen. Sein Dienst der Barmherzigkeit kam nicht nur in der Unterstützung der Kranken und Armen zum Ausdruck, sondern mit besonderer Intensität im Dienst der Versöhnung, bei dem er mit viel Geduld und Demut stets bereit war, den reuigen Sünder an den Thron der göttlichen Gnade zurückzuführen.

Zu seinem Gedenken rufe ich den Priestern und Seminaristen zu: Brüder, bitte vergeßt nicht, daß ihr als Ausspender des göttlichen Erbarmens große Verantwortung tragt; bedenkt auch, daß Christus selbst euch mit der durch Schwester Faustyna vermittelten Verheißung tröstet: »Sage Meinen Priestern, daß verhärtete Sünder durch ihre Worte reumütig werden, wenn sie von Meiner unergründlichen Barmherzigkeit sprechen, vom Erbarmen, das Ich für sie im Herzen habe« (Tagebuch, 1521).

7. Das Werk der Barmherzigkeit hat auch den Weg der Berufung zum geweihten Leben der seligen »Seraphischen Schwester« Sancja Szymkowiak geprägt. Bereits in ihrer Familie wurde ihr die innige Liebe zum Heiligsten Herzen Jesu nahegebracht, und in diesem Geist war sie voller Güte gegenüber allen Menschen, insbesondere gegenüber den Ärmsten und Bedürftigsten. Anfänglich unterstützt sie die Armen als Mitglied der Marianischen Sodalität und der Vereinigung der Barmherzigkeit vom hl. Vinzenz, um sich später als Ordensfrau mit noch größerem Eifer dem Dienst am Nächsten zu widmen. Die harte Zeit der nationalsozialistischen Besatzung betrachtete sie als Gelegenheit, um sich vollkommen den Hilfsbedürftigen zu widmen. Ihre Berufung zum geweihten Leben erkannte sie als Geschenk des göttlichen Erbarmens.

Indem ich die Kongregation der schmerzensreichen Jungfrau Maria – die »Seraphischen Schwestern« – grüße, wende ich mich an alle Ordensleute und geweihten Personen. Die sel. Sancja möge eure Schutzpatronin sein. Macht euch ihr spirituelles Testament zu eigen, das sich in einem einfachen Satz zusammenfassen läßt: »Wenn man sich Gott weiht, muß man sich ihm hinschenken, bis man sich selbst völlig verliert.«

8. Liebe Brüder und Schwestern, bei der Betrachtung dieser Seligen möchte ich nochmals an das erinnern, was ich in meiner Enzyklika über das Göttliche Erbarmen geschrieben habe: »Der Mensch hat Zugang zur erbarmenden Liebe Gottes, zu seinem Erbarmen, im Maß und insofern er sich selbst innerlich von diesem Geist der Liebe zum Nächsten umwandeln läßt« (Dives in misericordia
DM 14). Könnten wir doch auf diesem Weg das Geheimnis des göttlichen Erbarmens stets intensiver wiederentdecken und täglich leben!

Angesichts der modernen Formen der Armut, die – wie ich sehr wohl weiß – auch in unserem Land nicht ausbleiben, brauchen wir heute das, was ich in meinem Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte als »Phantasie der Nächstenliebe« im Geist der Solidarität gegenüber dem Nächsten bezeichnet habe; bei ihr wird die Hilfeleistung als Zeugnis »brüderlichen Teilens« empfunden (vgl. NM 50). Diese »Phantasie« möge den Bürgern Krakaus wie der gesamten polnischen Heimat nicht fehlen. An ihr soll sich das pastorale Programm der Kirche Polens ausrichten. Möge die Botschaft vom Erbarmen Gottes sich stets in den menschlichen Werken der Barmherzigkeit widerspiegeln!

Dieser liebevolle Blick ist notwendig, um auf den Bruder an unserer Seite aufmerksam zu werden, der durch den Verlust der Arbeit, der Wohnung, der Möglichkeit, die Familie würdig zu unterhalten und für die Ausbildung der Kinder zu sorgen, ein Gefühl der Verlassenheit, der Verwirrung und der Mutlosigkeit verspürt. Die »Phantasie der Nächstenliebe« ist notwendig, um den in materieller und geistlicher Hinsicht vernachlässigten Kindern zu helfen, um jenen jungen Männern und Frauen nicht den Rücken zu kehren, die in der Welt verschiedenartigster Abhängigkeiten und der Kriminalität verstrickt sind, um all jenen Rat, Trost sowie geistige und moralische Unterstützung zu bringen, die einen inneren Kampf gegen das Böse führen. Möge auch dort die »Phantasie« nicht fehlen, wo ein Bedürftiger bittet: »Unser tägliches Brot gib uns heute.« Dieses Brot soll dank der brüderlichen Liebe nie fehlen. »Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden« (Mt 5,7).

9. Bei meiner ersten Pilgerreise in die Heimat im Jahr 1979 habe ich hier im Blonie-Park gesagt: »Wenn wir stark durch den Geist Gottes sind, sind wir auch stark im Glauben an den Menschen, stark im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe, die nicht voneinander zu trennen sind. Wir sind bereit, Zeugnis für die Sache des Menschen dem gegenüber zu geben, dem sie wirklich am Herzen liegt …« Deshalb habe ich euch gebeten: »Verachtet nie die Liebe, die die größte ist, die sich im Kreuz ausdrückt und ohne die das menschliche Leben weder Wurzel noch Sinn hat« (Ansprache vom 10.6.1979 ;in: O.R. dt., Nr. 25, 22.6.1979).

482 Brüder und Schwestern, heute wiederhole ich diese Aufforderung: Öffnet euch dem größten Geschenk Gottes, seiner Liebe, die sich durch das Kreuz Christi als barmherzige Liebe offenbart hat. Seid auch heute in einer anderen Zeit, auf der Schwelle eines neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, stets »bereit, Zeugnis zu geben für die Sache des Menschen«. Mit Nachdruck bitte ich heute die Söhne und Töchter der Kirche und alle Menschen guten Willens, nie und nimmer »die Sache des Menschen« von der Liebe Gottes zu trennen. Helft dem modernen Menschen, die barmherzige Liebe Gottes zu erfahren! Möge deren Glanz und Wärme seine Menschlichkeit retten!



Predigten 1978-2005 471