Brief an die Familien 10

Das gemeinsame Wohl von Ehe und Familie


10 Der Ehekonsens definiert das der Ehe und der Familie gemeinsame Wohl. »Ich nehme dich . . . als meine Frau – als meinen Mann – und verspreche dir die Treue in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit. Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich lebe.«22 Die Ehe ist eine einzigartige Gemeinsamkeit von Personen. Auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeit ist die Familie berufen, zu einer Gemeinschaft von Personen zu werden. Es handelt sich dabei um eine Verpflichtung, die die Neuvermählten »vor Gott und der Kirche« übernehmen, wie ihnen der Zelebrant im Augenblick des Konsensaustausches in Erinnerung ruft.23 Zeugen dieser Verpflichtung sind alle, die an dem Ritus teilnehmen; in ihnen sind in gewissem Sinne die Kirche und die Gesellschaft als Lebensraum der neuen Familie vertreten.

Die Worte des Ehekonsenses legen fest, worin das gemeinsame Wohl des Ehepaares und der Familie besteht. Zunächst das gemeinsame Wohl der Ehegatten: die Liebe, die Treue, die Ehrerbietung, die Dauerhaftigkeit ihrer Verbindung bis zum Tod: »alle Tage des Lebens.« Das Wohl der beiden, das zugleich das Wohl eines jeden von ihnen ist, mub dann zum Wohl der Kinder werden. Während das gemeinsame Wohl seiner Natur nach die einzelnen Personen verbindet, gewährleistet es das wahre Wohl einer jeden von ihnen. Wenn die Kirche, wie übrigens auch der Staat, den durch die oben wiedergegebenen Worte ausgedrückten Konsens der Ehegatten entgegennimmt, so tut sie das, weil er »ihnen ins Herz geschrieben ist« (
Rm 2,15). Es sind die Ehegatten, die sich gegenseitig den Ehekonsens leisten, indem sie vor Gott schwören, das heibt die Wahrheit ihres Konsenses beteuern. Als Getaufte sind sie in der Kirche Spender des Sakraments der Ehe. Der hl. Paulus lehrt, dab diese gegenseitige Hingabe ein »tiefes Geheimnis« (Ep 5,32) ist.

Die Worte des Konsenses drücken also aus, was das gemeinsame Wohl der Ehegatten darstellt, und weisen auf das hin, was das gemeinsame Wohl der künftigen Familie sein mub. Um das hervorzuheben, richtet die Kirche an sie die Frage, ob sie bereit seien, die Kinder, die Gott ihnen schenken wird, anzunehmen und christlich zu erziehen. Die Frage bezieht sich auf das gemeinsame Wohl des künftigen Kerns der Familie, während sie die in die Gründung der Ehe und Familie eingeschriebene Genealogie der Personen gegenwärtig hält. Die Frage der Kinder und ihrer Erziehung steht in engem Zusammenhang mit dem Ehekonsens, mit dem Schwur von Liebe, ehelicher Achtung und Treue bis zum Tod. Die Annahme und Erziehung der Kinder – zwei der wichtigsten Zwecke – sind von der Erfüllung dieser Verpflichtung abhängig. Die Elternschaft stellt eine Aufgabe nicht nur physischer, sondern geistlicher Natur dar; denn über sie verläuft die Genealogie der Person, die ihren ewigen Anfang in Gott hat und zu Ihm hinführen soll.

Über all das sollte das Jahr der Familie, ein Jahr des besonderen Gebets der Familien, jede Familie in neuer und vertiefter Weise unterrichten. Was für eine Fülle von Stichworten aus der Bibel könnte den Nährboden dieses Gebetes bilden! Wichtig ist nur, dab zu den Worten der Heiligen Schrift stets das persönliche Gedenken an die Ehegatten als Eltern und an die Kinder und Enkel hinzukommt. Durch die Genealogie der Personen wird die eheliche Gemeinsamkeit zu einer Gemeinsamkeit der Generationen. Der in dem festen Vertrag vor Gott geschlossene sakramentale Bund der beiden dauert fort und konsolidiert sich in der Aufeinanderfolge der Generationen. Er mub zur Gebetseinheit werden. Damit das aber im Jahr der Familie auf bedeutsame Weise sichtbar werden kann, mub das Beten zu einer Gewohnheit werden, die im täglichen Leben jeder Familie verwurzelt ist. Das Gebet ist Danksagung, Gotteslob, Bitte um Vergebung, inständige Bitte und Anrufung. In jeder dieser Formen hat das Gebet der Familie Gott viel zu sagen. Es hat auch den Menschen viel zu sagen, angefangen bei der gegenseitigen Gemeinsamkeit der Personen, die durch familiäre Bande verbunden sind.

»Was ist der Mensch, dab du an ihn denkst?« (Ps 8,5), fragt der Psalmist. Das Gebet ist der Ort, wo sich auf die schlichteste Weise das schöpferische und väterliche Gedenken Gottes offenbart. Nicht nur und nicht so sehr das Gedenken an Gott von seiten des Menschen als vielmehr das Gedenken an den Menschen von seiten Gottes. Darum kann das Gebet der Familiengemeinschaft zum Ort gemeinsamen und gegenseitigen Gedenkens werden: denn die Familie ist Generationengemeinschaft. Beim Gebet sollen alle anwesend sein: die Lebenden ebenso wie die bereits Verstorbenen und auch diejenigen, die noch zur Welt kommen sollen. Es ist nötig, dab man in der Familie für jeden betet, im Rahmen des Gutes, das die Familie für ihn, und des Gutes, das er für die Familie darstellt. Das Gebet bekräftigt noch fester dieses Gut eben als gemeinsames Gut der Familie. Ja, es läbt dieses Gut auch auf immer neue Weise entstehen. Im Gebet ist die Familie gleichsam das erste »Wir«, in dem jeder »ich« und »du« ist; jeder ist für den anderen Gatte bzw. Gattin, Vater bzw. Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Grobvater oder Enkel.

Sind das die Familien, an die ich mich mit diesem Schreiben wende? Sicher gibt es nicht wenige Familien von dieser Art, aber die Zeit, in der wir leben, macht die Tendenz zu einer Beschränkung des Familienkerns auf den Umfang von zwei Generationen offenkundig. Dies hat seinen Grund oft in dem nur beschränkt vorhandenen Wohnraum, insbesondere in den groben Städten. Nicht selten liegt es aber auch in der Überzeugung begründet, mehrere Generationen zusammen störten die Vertraulichkeit und erschwerten zu sehr das Leben. Ist aber nicht gerade das der schwächste Punkt? In den Familien unserer Zeit gibt es wenig menschliches Leben. Es fehlen Personen, mit denen man das gemeinsame Wohl schaffen und teilen kann; doch das Wohl verlangt seiner Natur nach, geschaffen und mit anderen geteilt zu werden: bonum est diffusivum sui (»das Guteistauf seine Ausbreitung hin angelegt.«)24 Je mehr das Wohl gemeinsam ist, desto mehr ist es auch eigenes Wohl: mein – dein – unser. Das ist die innere Logik der Existenz im Guten, in der Wahrheit und in der Liebe. Wenn der Mensch diese Logik anzunehmen und ihr zu folgen versteht, wird seine Existenz wahrhaftig zu einer »aufrichtigen Hingabe«.

Die aufrichtige Selbsthingabe


11 Der Feststellung, dab der Mensch auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist, fügt das Konzil sogleich hinzu, dab er »sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann«.25 Das könnte wie ein Widerspruch erscheinen, ist es tatsächlich aber nicht. Es ist vielmehr das grobe staunenswerte Paradoxon der menschlichen Existenz: einer Existenz, die berufen ist, der Wahrheit in der Liebe zu dienen. Die Liebe sorgt dafür, dab sich der Mensch durch die aufrichtige Selbsthingabe verwirklicht: Lieben heibt, alles geben und empfangen, was man weder kaufen noch verkaufen, sondern sich nur aus freien Stücken gegenseitig schenken kann.

Die Hingabe der Person verlangt ihrer Natur nach beständig und unwiderruflich zu sein. Die Unauflöslichkeit der Ehe entspringt hauptsächlich aus dem Wesen solcher Hingabe: Hingabe der Person an die Person. In diesem gegenseitigen Sich-Hingeben kommt der bräutliche Charakter der Liebe zum Ausdruck. Im Ehekonsens nennen sich die Neuvermählten bei ihrem Eigennamen: »Ich . . . nehme dich . . . als meine Frau (als meinen Mann) und verspreche dir die Treue . . . solange ich lebe.« Eine solche Hingabe verpflichtet viel stärker und tiefer als alles, was auf welche Weise und um welchen Preis auch immer »gekauft« werden kann. Während sie ihre Knie vor dem Vater beugen, von dem jede Elternschaft stammt, werden sich die künftigen Eltern bewubt, dab sie »erlöst« worden sind. Sie sind in der Tat um einen teuren Preis losgekauft worden, um den Preis der aufrichtigsten Hingabe, die überhaupt möglich ist, das Blut Christi, an dem sie durch das Sakrament teilhaben. Liturgische Krönung des Ehekonsenses ist die Eucharistie – das Opfer des »hingegebenen Leibes« und des »vergossenen Blutes« –, die im Konsens der Brautleute in gewisser Weise ihren Ausdruck findet.

Wenn sich der Mann und die Frau in der Ehe in der Einheit des »einen Fleisches« gegenseitig schenken und empfangen, tritt die Logik der aufrichtigen Hingabe in ihr Leben ein. Ohne sie wäre die Ehe leer, während die auf diese Logik gegründete Gemeinschaft der Personen zur Gemeinschaft der Eltern wird. Wenn sie das Leben an ein Kind weitergeben, fügt sich im Bereich des »Wir« der Eheleute ein neues menschliches »Du« ein, eine Person, die sie mit einem neuen Namen benennen werden: »unser Sohn . . . ; unsere Tochter . . . « »Ich habe einen Mann vom Herrn erworben« (
Gn 4,1), sagt Eva, die erste Frau der Geschichte. Ein menschliches Wesen, das zunächst neun Monate lang erwartet und den Eltern und Geschwistern dann »offenbar gemacht« wurde. Der Prozeb von Empfängnis und Entwicklung im Mutterschob, Niederkunft und Geburt dient dazu, gleichsam einen geeigneten Raum zu schaffen, damit sich das neue Geschöpf als »Gabe« kundmachen kann: denn das ist es in der Tat von Anfang an. Könnte dieses zarte, hilflose Geschöpf, das in allem von seinen Eltern abhängig und vollständig ihnen anvertraut ist, etwa anders bezeichnet werden? Das Neugeborene gibt sich den Eltern damit hin, dab es zur Existenz gelangt. Seine Existenz ist bereits ein Geschenk, das erste Geschenk des Schöpfers an die Kreatur.

Im Neugeborenen verwirklicht sich das gemeinsame Wohl der Familie. Wie das gemeinsame Wohl der Ehegatten Erfüllung in der ehelichen Liebe findet, bereit, zu geben und das neue Leben zu empfangen, so verwirklicht sich das gemeinsame Wohl der Familie durch dieselbe eheliche Liebe, die im Neugeborenen Gestalt angenommen hat. In die Genealogie der Person ist die Genealogie der Familie eingeschrieben, die durch die Vermerke in den Taufregistern im Gedächtnis festgehalten wird, auch wenn diese nur die soziale Folge der Tatsache sind, »dab ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Jn 16,21). Aber ist es wahr, dab das neue Menschenwesen ein Geschenk für die Eltern ist? Ein Geschenk für die Gesellschaft? Allem Anschein nach deutet nichts darauf hin. Die Geburt eines Menschen scheint manchmal schlicht als ein statistisches Datum auf, das wie viele andere in den Berechnungen zum Bevölkerungswachstum registriert wird. Sicher bedeutet die Geburt eines Kindes für die Eltern zusätzliche Mühen, neue wirtschaftliche Belastungen und andere praktische Bedingtheiten: Dies sind Gründe, die sie zu der Versuchung verleiten können, keine weitere Geburt zu wollen.26 In manchen gesellschaftlichen und kulturellen Kreisen macht sich diese Versuchung sehr stark bemerkbar. Ist also das Kind kein Geschenk? Kommt es nur, um zu nehmen und nicht, um zu geben? Das sind einige besorgniserregende Fragen, von denen sich der heutige Mensch nur mit Mühe zu befreien vermag. Das Kind kommt und beansprucht Platz, während es auf der Welt immer weniger Platz zu geben scheint. Aber stimmt es wirklich, dab das Kind der Familie und der Gesellschaft nichts bringt? Ist es etwa nicht ein »Teilchen« jenes gemeinsamen Gutes, ohne das die menschlichen Gemeinschaften zerbrechen und Gefahr laufen zu sterben? Wie könnte man das leugnen? Das Kind wird von sich aus zu einem Geschenk für die Geschwister, für die Eltern, für die ganze Familie. Sein Leben wird zum Geschenk für die Geber des Lebens, die nicht umhin können werden, die Anwesenheit des Kindes, seine Teilnahme an ihrer Existenz, seinen Beitrag zu ihrem und zum gemeinsamen Wohl der Familiengemeinschaft wahrzunehmen. Das ist eine Wahrheit, die in ihrer Einfachheit und Tiefe selbstverständlich ist trotz der Kompliziertheit und auch möglichen Pathologie der psychologischen Struktur bestimmter Personen. Das Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft liegt im Menschen, der, wie erwähnt, »der Weg der Kirche«27 ist. Er ist zunächst »die Ehre Gottes«: Gloria Dei vivens homo, wie es in dem bekannten Ausspruch des hl. Irenäus heibt,28 der auch so übersetzt werden könnte: »Es gereicht Gott zur Ehre, dab der Mensch lebt.« Wir stehen hier, so könnte man sagen, vor der höchsten Definition des Menschen: Die Ehre Gottes ist das gemeinsame Gut alles Existierenden; das gemeinsame Gut des Menschengeschlechtes.

Ja! Der Mensch ist ein gemeinsames Gut: gemeinsames Gut der Familie und der Menschheit, der einzelnen Gruppen und der vielfältigen sozialen Strukturen. Es bedarf jedoch einer bedeutsamen Unterscheidung nach Grad und Modalität. Der Mensch ist zum Beispiel gemeinsames Gut der Nation, der er angehört, oder des Staates, dessen Bürger er ist; aber er ist es auf konkretere, einzigartige und unwiederholbare Weise für seine Familie; er ist es nicht nur als zur Masse der Menschen gehörendes Individuum, sondern als »dieser Mensch«. Der Schöpfergott ruft ihn »um seiner selbst willen« ins Leben: Und damit, dab der Mensch zur Welt kommt, beginnt sein »grobes Abenteuer«, das Abenteuer des Lebens. »Dieser Mensch« hat auf Grund seiner menschlichen Würde jedenfalls Anspruch auf eigene Behauptung. Genau diese Würde bestimmt ja den Platz der Person unter den Menschen und zunächst in der Familie. In der Tat ist die Familie – mehr als jede andere menschliche Wirklichkeit – der Bereich, in dem der Mensch durch die aufrichtige Selbsthingabe »um seiner selbst willen« existieren kann. Deshalb bleibt sie eine soziale Institution, die man nicht ersetzen kann und nicht ersetzen darf: Sie ist »das Heiligtum des Lebens«.29

Die Tatsache, dab ein Mensch geboren wird, dab »ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Jn 16,21), stellt ein österliches Zeichen dar. Davon spricht, wie der Evangelist Johannes berichtet, Jesus selbst zu den Jüngern vor seinem Leiden und Tod, indem er die Traurigkeit über seinen Weggang mit dem Schmerz einer gebärenden Frau vergleicht: »Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert (d.h. sie leidet), weil ihre Stunde da ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dab ein Mensch zur Welt gekommen ist« (Jn 16,21). Die »Stunde« des Todes Christi (vgl. Joh Jn 13,1) wird hier mit der »Stunde« der Frau in Geburtswehen verglichen; die Geburt eines neuen Menschen findet ihre volle Entsprechung in dem von der Auferstehung des Herrn gewirkten Sieg des Lebens über den Tod. Diese Gegenüberstellung gibt Anlab zu verschiedenen Überlegungen. Wie die Auferstehung Christi die Offenbarung des Lebens jenseits der Schwelle des Todes ist, so ist auch die Geburt eines Kindes Offenbarung des Lebens, das durch Christus immer zur »Fülle des Lebens« bestimmt ist, die in Gott selbst liegt: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10). Damit ist die wahre Bedeutung des Wortes des hl. Irenäus – Gloria Dei vivens homo – in ihrem tiefgründigsten Wert enthüllt.

Es ist die evangelische Wahrheit der Selbsthingabe, ohne die der Mensch nicht »vollkommen zu sich selbst kommen« kann und die ihn erahnen läbt, wie tief diese »aufrichtige Hingabe« in der Hingabe Gottes, des Schöpfers und Erlösers, in »der Gnade des Heiligen Geistes«, deren »Ausgieben« auf die Neuvermählten der Zelebrant während der Trauungsfeier erbittet, verwurzelt ist. Ohne dieses »Ausgieben« wäre es wirklich schwierig, das alles zu begreifen und als Berufung des Menschen zu erfüllen. Jedoch viele Menschen erfassen es intuitiv! So viele Männer und Frauen tun genau diese Wahrheit, wodurch sie zu der Erkenntnis gelangen, dab sie nur in ihr »der Wahrheit und dem Leben« (Jn 14,6) begegnen. Ohne diese Wahrheit vermag das Leben der Ehegatten und der Familie keinen vollkommen menschlichen Sinn zu erlangen.

Darum wird die Kirche niemals müde, diese Wahrheit zu lehren und zu bezeugen. Auch wenn sie mütterliches Verständnis für die zahlreichen und komplizierten Krisensituationen, in die die Familien verwickelt sind, sowie auch für die moralische Schwachheit jedes Menschen bekundet, ist die Kirche der Überzeugung, dab sie der Wahrheit über die menschliche Liebe absolut treu bleiben müsse: andernfalls würde sie sich selbst verraten. Ein Abweichen von dieser heilbringenden Wahrheit wäre in der Tat dasselbe, als würde sie »die Augen eures Herzens« (Ep 1,18) schlieben, die hingegen stets offen bleiben müssen für das Licht, mit dem das Evangelium die menschlichen Geschehnisse erleuchtet (vgl. 2Tm 1,10). Das Bewubtsein jener aufrichtigen Selbsthingabe, durch die der Mensch »sich selbst findet«, wird nachdrücklich erneuert und ständig gewährleistet angesichts der zahlreichen Widerstände, denen die Kirche seitens der Befürworter einer falschen Zivilisation des Fortschritts begegnet.30 Die Familie bringt immer eine neue Dimension des Wohls für die Menschen zum Ausdruck und ruft dadurch neue Verantwortung hervor. Es handelt sich um die Verantwortung für jenes einzigartige gemeinsame Gut, in das das Wohl des Menschen eingeschlossen ist: jedes Mitgliedes der Familiengemeinschaft; ein sicherlich »schwieriges« (bonum arduum), aber faszinierendes Gut.

Die verantwortliche Elternschaft


12 Beim Entwurf des vorliegenden Schreibens an die Familien ist nun der Zeitpunkt gekommen, auf zwei miteinander verknüpfte Fragen einzugehen. Die eine allgemeinere betrifft die Zivilisation der Liebe; die andere spezifischere betrifft die verantwortliche Elternschaft.

Wir haben bereits gesagt, dab die Ehe sich an eine einzigartige Verantwortung für das gemeinsame Wohl wendet: zunächst der Ehegatten, dann der Familie. Dargestellt wird dieses gemeinsame Gut vom Menschen, vom Wert der Person und von allem, was das Mab seiner Würde repräsentiert. Der Mensch bringt diese Dimension in jedes soziale, wirtschaftliche und politische System mit. Im Bereich der Ehe und Familie wird diese Verantwortung aus vielen Gründen noch »verbindlicher«. Nicht ohne Grund spricht die Pastoralkonstitution Gaudium et spes von »Förderung der Würde der Ehe und der Familie«. Das Konzil sieht diese »Förderung« als Aufgabe der Kirche wie des Staates; doch sie bleibt in jeder Kultur vor allem Pflicht der Personen, die ehelich vereint eine bestimmte Familie bilden. Die »verantwortliche Elternschaft« bringt die konkrete Aufgabe zum Ausdruck, diese Pflicht zu erfüllen, die in der heutigen Welt neue Wesensmerkmale angenommen hat.

Diese betrifft insbesondere direkt den Augenblick, wo der Mann und die Frau dadurch, dab sie sich »zu einem Fleisch« vereinen, Eltern werden können. Es ist ein an besonderem Wert reicher Augenblick, sei es für ihre interpersonale Beziehung, sei es für ihren Dienst am Leben: Sie können Eltern – Vater und Mutter – werden und das Leben an ein neues menschliches Wesen weitergeben. Die beiden Dimensionen der ehelichen Vereinigung, nämlich Vereinigung und Zeugung, lassen sich nicht künstlich trennen, ohne die tiefste Wahrheit des ehelichen Aktes selbst anzugreifen.31

Das ist die ständige Lehre der Kirche, und die »Zeichen der Zeit«, deren Zeugen wir heute sind, bieten neue Gründe, sie mit besonderem Nachdruck zu bekräftigen. Der den pastoralen Erfordernissen seiner Zeit gegenüber so aufmerksame hl. Paulus verlangte in Klarheit und Festigkeit, »dafür einzutreten, ob man es hören will oder nicht« (vgl.
2Tm 4,2), ohne jede Angst davor, dab »man die gesunde Lehre nicht erträgt« (vgl. 2Tm 4,3). Seine Worte sind allen gut bekannt, die das Geschehen unserer Zeit zutiefst erfassen und erwarten, dab die Kirche »die gesunde Lehre« nicht nur nicht aufgibt, sondern sie mit erneuerter Kraft verkündet, indem sie in den aktuellen »Zeichen der Zeit« die Gründe für ihre weitere und von der Vorsehung bestimmte Vertiefung erneut sucht.

Viele dieser Gründe finden sich bereits in den Wissenschaften wieder, die sich aus dem alten Stamm der Anthropologie zu verschiedenen Fachgebieten, wie der Biologie, der Psychologie, der Soziologie und deren weiteren Verzweigungen entwickelt haben. Alle kreisen gewissermaben um die Medizin, die zugleich Wissenschaft und Kunst ist (ars medica): im Dienst des Lebens und der Gesundheit des Menschen. Aber die Gründe, auf die hier hingewiesen wird, ergeben sich vor allem aus der menschlichen Erfahrung, die vielfältig ist und die in gewissem Sinne der Wissenschaft selbst vorausgeht und folgt.

Die Ehegatten lernen aus eigener Erfahrung, was die verantwortliche Elternschaft bedeutet; sie lernen es auch dank der Erfahrung anderer Ehepaare, die in ähnlichen Verhältnissen leben und auf diese Weise aufgeschlossener für die Daten der Wissenschaften geworden sind. Man könnte also sagen, die »Gelehrten« lernen gleichsam von den »Eheleuten«, um dann ihrerseits in der Lage zu sein, sie auf kompetentere Weise über die Bedeutung der verantwortungsbewubten Zeugung und über die Methoden ihrer Anwendung zu unterrichten.

Ausführlich wurde dieses Thema in den Konzilsdokumenten behandelt, in der EnzyklikaHumanae vitae, in den »Vorschlägen« der Bischofssynode von 1980, in dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio und in ähnlichen Dokumenten bis hin zu der von der Glaubenskongregation herausgegebenen Instruktion Donum vitae.Die Kirche lehrt die moralische Wahrheit über die verantwortliche Elternschaft und verteidigt sie gegen heute verbreitete irrige Sichtweisen. Warum tut die Kirche das? Etwa weil sie die Problemlage nicht zur Kenntnis nimmt, die von allen beschworen wird, die in diesem Bereich zum Nachgeben raten und die Kirche auch mit unrechtmäbigem Druck, wenn nicht manchmal geradezu mit Drohungen, zu überzeugen suchen? Nicht selten wirft man dem kirchlichen Lehramt in der Tat vor, es sei bereits überholt und verschliebe sich den Forderungen des modernen »Zeitgeistes«; es entfalte ein Vorgehen, das für die Menschheit, ja für die Kirche selbst schädlich sei. Durch das hartnäckige Verharren auf ihren Positionen würde die Kirche – so heibt es – an Popularität verlieren, und die Gläubigen würden sich immer mehr von ihr abwenden.

Doch wie kann man behaupten, die Kirche, besonders die mit dem Papst vereinten Bischöfe, sei unempfindlich für solch schwerwiegende und aktuelle Themen? Paul VI. erkannte gerade in ihnen so lebensentscheidende Fragen, die ihn zur Veröffentlichung der Enzyklika Humanae vitaeveranlabten. Das Fundament, auf das sich die Lehre der Kirche von der »verantwortlichen Elternschaft« gründet, ist umfassender und tragfähiger denn je. Das Konzil bringt das zunächst in der Lehre über den Menschen zur Sprache, wenn es sagt, dab er »auf Erden die einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Kreatur ist« und »sich nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann«.32 Dies deshalb, weil er als Abbild und Gleichnis Gottes geschaffen und von dem für uns und um unseres Heiles willen Mensch gewordenen, eingeborenen Sohn des Vaters erlöst worden ist. Das Zweite Vatikanische Konzil, das dem Problem des Menschen und seiner Berufung besondere Aufmerksamkeit widmete, führt aus, dab die eheliche Vereinigung, das biblische »ein Fleisch«, nur dann vollkommen verstanden und erklärt werden kann, wenn man auf die Werte der »Person« und der »Hingabe« zurückgreift. Jeder Mann und jede Frau verwirklichen sich vollständig durch die aufrichtige Hingabe ihrer selbst, und der Augenblick der ehelichen Vereinigung stellt für die Eheleute eine ganz besondere Erfahrung dar. Da werden der Mann und die Frau in der »Wahrheit« ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit zu gegenseitiger Hingabe. Das ganze Leben in der Ehe ist Hingabe; in einzigartiger Weise wird das aber offenkundig, wenn die Ehegatten durch ihr gegenseitiges Sich-Darbringen in der Liebe jene Begegnung vollziehen, die aus den beiden »ein Fleisch« macht (Gn 2,24).

Sie erleben also auch wegen der mit dem ehelichen Akt verbundenen Zeugungsfähigkeit einen Augenblick besonderer Verantwortung. Die Ehegatten können in jenem Augenblick Vater und Mutter werden, indem sie die Entstehung einer neuen menschlichen Existenz hervorrufen, die sich dann im Schob der Frau entwickeln wird. Wenn die Frau als erste bemerkt, dab sie Mutter geworden ist, so erfährt durch ihr Zeugnis der Mann, mit dem sie sich zu »einem Fleisch« vereinigt hat, seinerseits, dab er Vater geworden ist. Für die mögliche und in der Folge tatsächliche Vater- bzw. Mutterschaft sind beide verantwortlich. Der Mann mub das Ergebnis einer Entscheidung, die auch seine gewesen ist, anerkennen und annehmen. Er kann sich nicht hinter Ausdrucksweisen verstecken wie: »Ich weib nichts«, »ich will nicht«, »du hast gewollt.« Die eheliche Vereinigung schliebt auf jeden Fall die Verantwortung des Mannes und der Frau ein, eine potentiell vorhandene Verantwortung, die zur tatsächlichen wird, wenn die Umstände es auferlegen. Das gilt vor allem für den Mann, der, obwohl er der erste Urheber der Einleitung des Zeugungsprozesses ist, biologisch davon Abstand hat: denn das neue Menschenwesen wächst in der Frau heran. Wie könnte der Mann davon unberührt bleiben? Beide, der Mann und die Frau, müssen gemeinsam sich selbst und den anderen gegenüber die Verantwortung für das von ihnen hervorgerufene neue Leben übernehmen.

Diese Schlubfolgerung wird im wesentlichen von den Humanwissenschaften geteilt. Man mub jedoch tiefer gehen und die Bedeutung des ehelichen Aktes im Lichte der erwähnten Werte der »Person« und der »Hingabe« analysieren. Das ist es, was die Kirche durch ihre beständige Lehre, besonders auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, tut.

Im Augenblick des ehelichen Aktes sind der Mann und die Frau dazu aufgerufen, die gegenseitige Hingabe ihrer selbst, die sie im ehelichen Bund geleistet haben, auf verantwortungsbewubte Weise zu bestätigen. Nun zieht die Logik der totalen Selbsthingabe an den anderen die potentielle Öffnung für die Zeugung nach sich: Die Ehe ist somit aufgerufen, sich als Familie noch vollkommener zu verwirklichen. Sicher hat die gegenseitige Hingabe von Mann und Frau nicht als einziges Ziel die Geburt von Nachwuchs, sondern ist in sich selbst die gegenseitige Gemeinschaft der Liebe und des Lebens. Aber immer mub die innerste Wahrheit dieser Hingabe gewährleistet sein. »Innerste« ist nicht gleichbedeutend mit »subjektiver« Wahrheit. Es bedeutet vielmehr, dab sie wesentlich mit der objektiven Wahrheit desjenigen bzw. derjenigen verbunden ist, der oder die sich hingibt. Die Person darf niemals als Mittel zur Erreichung eines Zweckes betrachtet werden; niemals vor allem als Mittel des »Genusses«. Sie ist und mub einzig das Ziel jedes Aktes sein. Nur dann entspricht die Handlung der wahren Würde der Person.

Zum Abschlub unserer Überlegungen zu diesem so wichtigen und heiklen Thema möchte ich ein besonderes Wort der Ermutigung zunächst an euch, liebe Eheleute, und an alle jene richten, die euch helfen, die Lehre der Kirche über die Ehe, über die verantwortliche Elternschaft zu verstehen und in die Praxis umzusetzen. Ich denke insbesondere an die Seelsorger, an die vielen Gelehrten, Theologen, Philosophen, Schriftsteller und Publizisten, die sich nicht dem herrschenden Kulturkonformismus anpassen, sondern mutig bereit sind, »gegen den Strom zu schwimmen«. Darüber hinaus betrifft diese Ermutigung eine ständig wachsende Gruppe von Experten, Ärzten und Erziehern, wahren Laienaposteln, für die die Förderung der Würde der Ehe und der Familie zu einer wichtigen Lebensaufgabe geworden ist. Im Namen der Kirche sage ich allen meinen Dank! Was könnten ohne sie die Seelsorger, die Priester, die Bischöfe, ja selbst der Nachfolger Petri ausrichten? Davon habe ich mich immer mehr überzeugt seit den ersten Jahren meines Priestertums, von der Zeit an, als ich mich in den Beichtstuhl zu setzen begann, um die Sorgen, Ängste und Hoffnungen so vieler Eheleute zu teilen: Ich bin schwierigen Fällen von Auflehnung und Verweigerung begegnet, gleichzeitig aber zahllosen, in grobartiger Weise verantwortlichen und grobzügigen Personen! Während ich dieses Schreiben verfasse, habe ich alle diese Eheleute vor Augen und umfange sie mit meiner Zuneigung und mit meinem Gebet.

Die zwei Zivilisationen


13 Liebe Familien, die Frage der verantwortlichen Elternschaft ist eingeschrieben in die Gesamtthematik der »Zivilisation der Liebe«, über die ich jetzt zu euch sprechen will. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich klar, dab die Familie die Grundlage dessen bildet, was Paul VI. als »Zivilisation der Liebe« bezeichnete,33 ein Ausdruck, der dann in die Lehre der Kirche Eingang gefunden hat und bereits vertraut und gebräuchlich geworden ist. Heutzutage läbt sich kaum ein Beitrag der Kirche oder über die Kirche denken, der von der Bezugnahme auf die Zivilisation der Liebe absehen würde. Der Ausdruck steht in Verbindung mit der Tradition der »Hauskirche« im Christentum der Anfänge, besitzt aber auch einen klaren Bezug zur heutigen Zeit. Ethymologisch leitet sich der Begriff »Zivilisation« von civis, Staatsbürger, her und unterstreicht die politische Dimension der Existenz jedes Individuums. Der tiefere Sinn des Ausdrucks »Zivilisation« ist jedoch nicht so sehr politisch als eigentlich mehr »humanistisch«. Die Zivilisation gehört zur Geschichte des Menschen, weil sie seinen geistigen und moralischen Bedürfnissen entspricht: als Abbild und Gleichnis Gottes geschaffen, hat er die Welt aus den Händen des Schöpfers mit dem Auftrag empfangen, sie nach seinem Abbild und Gleichnis zu gestalten. Genau aus der Erfüllung dieser Aufgabe entsteht die Zivilisation, die schlieblich nichts anderes ist als die »Humanisierung der Welt«.

Zivilisation hat also in gewisser Hinsicht dieselbe Bedeutung wie »Kultur«. Man könnte daher auch sagen: »Kultur der Liebe«, obwohl es vorzuziehen ist, sich an den bereits vertraut gewordenen Ausdruck zu halten. Die Zivilisation der Liebe im jetzigen Sinn des Ausdrucks inspiriert sich an den Worten aus der Konzilskonstitution Gaudium et spes: »Christus . . . macht . . . dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschliebt ihm seine höchste Berufung.«34 Man kann daher sagen, die Zivilisation der Liebe beginnt mit der Offenbarung Gottes, der »die Liebe ist«, wie Johannes sagt (
1Jn 4,8 1Jn 4,16), und die von Paulus im Hohenlied der Liebe im ersten Korintherbrief () wirkungsvoll beschrieben wird. Diese Zivilisation ist eng verbunden mit der Liebe, die »ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Rm 5,5), und die wächst dank der beständigen Kultivierung, von der die Allegorie aus dem Evangelium vom Weinstock und von den Reben so einprägsam spricht: »Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt« ().

Im Lichte dieser und anderer Texte des Neuen Testamentes vermag man zu erfassen, was man unter »Zivilisation der Liebe« versteht und warum die Familie mit dieser Zivilisation organisch verbunden ist. Wenn die Familie der erste »Weg der Kirche« ist, mub man hinzufügen, dab auch die Zivilisation der Liebe »Weg der Kirche« ist, der in der Welt verläuft und die Familien und die anderen nationalen und internationalen gesellschaftlichen Institutionen eben wegen der Familie und durch die Familien auf diesen Weg ruft. Denn die Familie hängt in vielfacher Hinsicht von der Zivilisation der Liebe ab, in der sie die Gründe ihres Seins als Familie findet. Und gleichzeitig ist die Familie das Zentrum und das Herz der Zivilisation der Liebe.

Es gibt jedoch keine echte Liebe ohne das Bewubtsein, dab Gott »die Liebe ist« und dab der Mensch das einzige Geschöpf Gottes auf Erden ist, das »um seiner selbst willen« ins Leben gerufen wurde. Der als Abbild und Gleichnis Gottes erschaffene Mensch kann sich nur durch die aufrichtige Selbsthingabe in vollem Mabe »wiederfinden«. Ohne einen solchen Begriff vom Menschen, von der Person und von der »Gemeinsamkeit von Personen« in der Familie kann es die Zivilisation der Liebe nicht geben; umgekehrt ist ohne die Zivilisation der Liebe ein solcher Begriff von Person und Gemeinsamkeit von Personen nicht möglich. Die Familie stellt die fundamentale »Zelle« der Gesellschaft dar. Doch bedarf es Christi – des »Weinstocks«, aus dem sich die »Reben« nähren –, damit diese Zelle nicht der Bedrohung einer Art kultureller Entwurzelung ausgesetzt ist, die sowohl von innen wie auch von auben herrühren kann. Denn wenn auf der einen Seite die »Zivilisation der Liebe« besteht, so ist auf der anderen Seite weiterhin die Möglichkeit zu einer destruktiven »Anti-Zivilisation« gegeben, wie das in der Tat heute von vielen Tendenzen und Situationen bestätigt wird.

Wer kann leugnen, dab unsere Zeit eine Zeit grober Krisen ist, die sich an erster Stelle als eine tiefe »Krise der Wahrheit« darstellt? Krise der Wahrheit bedeutet in erster Linie Krise von Begriffen. Bedeuten die Begriffe »Liebe«, »Freiheit«, »aufrichtige Hingabe« und selbst die Begriffe »Person«, »Rechte der Person« wirklich das, was sie von ihrem Wesen her beinhalten? Deshalb hat sich die Enzyklika über den »Glanz der Wahrheit« (Veritatis splendor) für die Kirche und für die Welt – vor allem im Westen – als so kennzeichnend und bedeutsam erwiesen. Nur wenn die Wahrheit über die Freiheit und die Gemeinsamkeit der Personen in Ehe und Familie ihren Glanz zurückgewinnt, wird es wirklich den Aufbau der Zivilisation der Liebe geben und dann möglich sein, wirksam – wie es das Konzil tut – von »Förderung der Würde der Ehe und Familie«35 zu sprechen.

Warum ist der »Glanz der Wahrheit« so wichtig? Er ist es vor allem aus Kontrast: Die Entwicklung der modernen Zivilisation ist an einen naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt gebunden, der sich oft als einseitig erweist und demzufolge rein positivistische Wesensmerkmale aufweist. Der Positivismus hat bekanntlich auf theoretischem Gebiet den Agnostizismus und auf praktischem und sittlichem Gebiet den Utilitarismus zum Ergebnis. In unseren Tagen wiederholt sich die Geschichte in gewisser Hinsicht. Der Utilitarismus ist eine »Zivilisation« der Produktion und des Genusses, eine Zivilisation der Dinge und nicht der »Personen«, eine Zivilisation, in der von »Personen« wie von »Dingen« Gebrauch gemacht wird. Im Zusammenhang mit der Zivilisation des Genusses kann die Frau für den Mann zu einem Objekt werden, die Kinder zu einem Hindernis für die Eltern, die Familie zu einer hemmenden Einrichtung für die Freiheit der Mitglieder, die sie bilden. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur manche Programme der Sexualerziehung zu prüfen, die häufig trotz gegenteiliger Meinung und des Protestes vieler Eltern in den Schulen eingeführt werden; oder die Neigung zur Abtreibung, die sich vergeblich hinter dem sogenannten »Selbstentscheidungsrecht« (pro choice) von seiten beider Ehegatten, im besonderen aber von seiten der Frau zu verstecken sucht. Das sind nur zwei der vielen Beispiele, die man in Erinnerung rufen könnte.

Es leuchtet unmittelbar ein, dab sich in einer solchen kulturellen Situation die Familie bedroht fühlen mub, weil sie in ihren eigentlichen Grundfesten gefährdet ist. Alles, was gegen die Zivilisation der Liebe ist, ist gegen die Wahrheit über den Menschen insgesamt und wird für ihn zu einer Bedrohung: Es erlaubt ihm nicht, zu sich selbst zu finden und sich als Gatte, als Vater oder Mutter, als Kind sicher zu fühlen. Die von der »technischen Zivilisation« propagierte sogenannte »sichere Sexualität« ist im Hinblick auf die globalen Erfordernisse der Person in Wirklichkeit ganz entschieden nicht sicher, ja für die Person äuberst gefährlich. Denn hier befindet sich die Person in Gefahr, so wie sich ihrerseits die Familie in Gefahr bringt. Worin besteht die Gefahr? Es ist der Verlust der Wahrheit über sich selbst, zu der sich das Risiko des Verlustes der Freiheit und demzufolge selbst des Verlustes der Liebe hinzugesellt. »Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen – sagt Jesus – , und die Wahrheit wird euch befreien« (Jn 8,32): Die Wahrheit, nur die Wahrheit wird euch auf eine Liebe vorbereiten, von der man sagen kann, dab sie »schön« ist.

Die Familie unserer Zeit wie aller Zeiten ist auf der Suche nach der »schönen Liebe«. Eine Liebe, die nicht »schön« ist oder die nur auf Befriedigung der Begierde (vgl. 1Jn 2,16), auf einen gegenseitigen »Gebrauch« des Mannes und der Frau verkürzt wird, macht die Person zum Sklaven ihrer Schwächen. Bringen nicht manche moderne »Kulturprogramme« diese Versklavung? Es sind Programme, die auf die Schwächen des Menschen »niederrieseln« und ihn auf diese Weise immer schwächer und schutzloser machen.

Die Zivilisation der Liebe ruft Freude hervor: unter anderem Freude darüber, dab ein Mensch zur Welt kommt (vgl. Joh Jn 16,21), und folglich, weil die Gatten Eltern werden. Zivilisation der Liebe bedeutet »sich an der Wahrheit freuen« (vgl. 1Co 13,6). Aber eine Zivilisation, die sich an einer konsumistischen und geburtenfeindlichen Gesinnung inspiriert, ist keine Zivilisation der Liebe und kann es niemals sein. Wenn die Familie so wichtig für die Zivilisation der Liebe ist, so ist sie es wegen der besonderen Nähe und Intensität der Bande, die in ihr zwischen den Personen und Generationen entstehen. Sie bleibt jedoch verwundbar und kann leicht den Gefahren ausgesetzt sein, die ihre Einheit und Festigkeit schwächen oder sogar zerstören. Infolge solcher Gefahren hören die Familien auf, Zeugnis zu geben für die Zivilisation der Liebe, und können sogar zu ihrer Verneinung, zu einer Art Gegen-Zeugnis werden. Eine zerstörte Familie kann ihrerseits eine spezifische Form von »Anti-Zivilisation« stärken, indem sie die Liebe in den verschiedenen Ausdrucksformen zerstört, mit unvermeidlichen Auswirkungen auf das gesamte soziale Leben.


Brief an die Familien 10