Marialis cultus DE 24

II. DIE ERNEUERUNG DER MARIENVEREHRUNG



24 Das Zweite Vatikanische Konzil aber legt nahe, neben dem liturgischen Kult andere Formen der Frömmigkeit zu fördern, vor allem jene, die vom Lehramt der Kirche empfohlen sind. (67) Wie jedoch bekannt ist, hat die Verehrung der Gläubigen zur Gottesmutter entsprechend den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen der verschiedenen Mentalität der Völker und ihrer unterschiedlichen kulturellen Überlieferung vielfältige Formen angenommen. Daraus ergibt sich, daß die Formen, in denen sich eine solche Frömmigkeit äußerte und die dem Wechsel der Zeit unterliegen, einer Reform bedürftig erscheinen, die es erlaubt, die überholten Elemente zu ersetzen, die unvergänglichen Elemente als wertvoll herauszustellen und die wissenschaftlichen Ergebnisse, die durch die theologischen Studien erarbeitet und vom kirchlichen Lehramt vorgelegt wurden, zu berücksichtigen. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, daß die Bischofskonferenzen, die Ortskirchen, die Ordensfamilien und die Gemeinden eine echte schöpferische Tätigkeit entfalten und sich gleichzeitig mit Eifer um eine Überprüfung der Andachtsübungen zur seligsten Jungfrau Maria bemühen, eine Überprüfung, die nach Unserem Willen von Ehrfurcht gegenüber der gesunden Überlieferung getragen und aufgeschlossen sei, die berechtigten Bitten der Menschen von heute entgegenzunehmen. Deswegen scheint es Uns angezeigt, Ehrwürdige Brüder, euch einige Prinzipien anzugeben, wonach auf diesem Gebiet gearbeitet werden kann.

A. Trinitarischer, christologischer und ekklesiologischer Hinweis zur Marienverehrung


25 Es ist vor allem sehr angemessen, daß die Andachtsübungen zur seligen Jungfrau Maria deutlich den trinitarischen und christologischen Charakter zum Ausdruck bringen, der ihnen wesentlich innewohnt. Denn der christliche Kult ist seiner Natur nach ein Kult, der dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist erwiesen wird, oder besser, wie sich die Liturgie ausdrückt, dem Vater durch Christus im Heiligen Geist. In dieser Sicht bezieht sich der Kult berechtigterweise, wenn auch wesentlich verschieden, in erster Linie auf die Mutter des Herrn und dann auf die Heiligen, in denen die Kirche das Ostergeheimnis verkündet, weil sie mit Christus gelitten haben und mit ihm verherrlicht worden sind. (68) Bei Maria ist alles auf Christus hin bezogen und von ihm abhängig: im Hinblick auf ihn hat sie Gottvater von aller Ewigkeit her als ganz heilige Mutter erwählt und sie mit den Gaben des Heiligen Geistes ausgestattet, wie sie keinem anderen zuteil geworden sind. Sicher hat die echte christliche Frömmigkeit niemals verfehlt, die unlösliche Verbindung und die wesentliche Beziehung der Jungfrau zum göttlichen Erlöser (69) ins Licht zu rücken. Immerhin scheint es der geistlichen Ausrichtung unserer Zeit, die ganz beherrscht und eingenommen ist von der ”Christusfrage” (70), in besonderer Weise zu entsprechen, daß bei den Ausdrucksformen der Marienverehrung vornehmlich der christologische Charakter hervorgehoben wird. Es gilt dahin zu wirken, daß diese Ausdrucksformen den Plan Gottes widerspiegeln, der „in ein und demselben Beschluß denUrsprung Mariens und die Menschwerdung der göttlichen Weisheit“ (71) vorherbestimmte. Dies wird ohne Zweifel dazu beitragen, die Andacht zur Mutter Jesu Christi gediegener zu machen und darauf ein wirksames Mittel zu schaffen, um zur „vollen Erkenntnis des Sohnes Gottes zu gelangen, bis zur Erreichung des Vollmaßes des Alters Christi” (Ep 4,13); und andrerseits wird es mithelfen, den Kult, der Christus selbst geschuldet ist, zum Wachstum zu bringen, da nach der ständigen Auffassung der Kirche, die in unseren Tagen maßgeblich bekräftigt worden ist, (72) „auf den Herrn bezogen wird, was der Magd an Verehrung dargebracht wird; auf den Sohn strahlt zurück, was der Mutter an Ehre geleistet wird; (...)dem König gilt die Ehre, die der Königin im Dienste erwiesen wird” (73).


26 Bei dieser Andeutung auf die christologische Ausrichtung der Marienverehrung scheint es Uns nützlich, einen Hinweis darauf folgen zu lassen, wie es angebracht ist, hier einen der wesentlichen Glaubensinhalte entsprechend hervorzuheben: die Person und das Wirken des Heiligen Geistes. Die theologischen Studien und die Liturgie haben in der Tat aufgezeigt, wie das heiligende Eingreifen Gott des Heiligen Geistes bei der Jungfrau von Nazaret ein Höhepunkt seines Wirkens in der Heilsgeschichte gewesen ist. So schrieben zum Beispiel einige heilige Väter und kirchliche Schriftsteller dem Wirken des Heiligen Geistes die ursprüngliche Heiligkeit Mariens zu, die von ihm „gewissermaßen gebildet und zu einem neuen Geschöpf gemacht worden ist” (74); bei der Betrachtung der Texte des Evangeliums – „der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten” (Lc 1,35) und „es fand sich, daß Maria (...) vom Heiligen Geist empfangen hatte; (...) ist Werk des Heiligen Geistes, nämlich was in ihr erzeugt worden ist” (Mt 1,18 Mt 1,20) – erblickten sie im Eingreifen des Heiligen Geistes ein Tun, das die Jungfräulichkeit Mariens heiligte, fruchtbar machte (75) und sie zumFestsaal des Königs oder zum Brautgemach des Wortes, (76) zum Tempel oder Gezelt des Herrn, (77) zur Bundeslade oder Arche der Heiligung (78) umgestaltete; alles reiche Titel, die an die Heilige Schrift anklingen. In noch tieferer Ergründung des Geheimnisses der Menschwerdung sahen sie in der geheimnisvollen Beziehung Heiliger Geist-Maria einen bräutlichen Aspekt, den Prudentius in poetischen Worten festhielt: „Die unvermählte Jungfrau vermählte sich mit dem Heiligen Geist” (79), und nannten sie das Heiligtum des Heiligen Geistes, (80) eine Formulierung, die den Charakter der Heiligkeit Mariens unterstreicht, die der ständige Wohnsitz des Gottesgeistes geworden ist. Beim Studium der Lehre über den Heiligen Geist stellten sie fest, daß von ihm wie aus einer Quelle die Fülle der Gnade hervorging (Lc 1,28) und der Reichtum der Gaben, die Maria schmückten; dem Heiligen Geist schrieben sie darum den Glauben, die Hoffnung und die Liebe zu, die das Herz der Jungfrau beseelten, die Festigkeit, die ihre Hingabe an den Willen Gottes stützte, die Kraft, die sie im Leid zu Füßen des Kreuzes aufrecht erhielt; (81) im prophetischen Lobgesang Mariens (vgl. Lk Lc 1,46 – 55) erblickten sie einen besonderen Einfluß jenes Geistes, der durch den Mund der Propheten gesprochen hatte. (82) Bei Erwägung endlich der Gegenwart der Mutter Jesu im Abendmahlssaal, wo der Heilige Geist auf die werdende Kirche herabkam (vgl. Apg Ac 1,12 – 14; 2, 1 – 3), bereicherten sie das uralte Thema Maria-Kirche mit neuen Gedankengängen; (83) und vor allem baten sie um die Fürsprache Mariens, um vom Heiligen Geist die Fähigkeit zu erlangen, Christus in der eigenen Seele zu erwecken, wie der heilige Ildephons in einem Gebet bezeugt, das durch den Gehalt seiner Lehre und die Kraft der Sprache überrascht: „Ich bitte dich, ja, ich bitte dich, heilige Jungfrau, daß ich von jenem Geist Jesus empfange, durch den du Jesus geboren hast. Durch jenen Geist empfange meine Seele Jesus, durch den dein Leib den gleichen Jesus empfangen hat. (...) in jenem Geist möchte ich Jesus lieben, in dem du ihn als Herrn anbetest und als Sohn” (84).


27 Man behauptet mitunter, daß viele Texte der modernen Frömmigkeit nicht genügend die ganze Lehre über den Heiligen Geist widerspiegeln. Es ist die Aufgabe der Gelehrten, die Richtigkeit dieser Behauptung zu überprüfen und ihre Bedeutung abzuwägen. Uns kommt es zu, alle und insbesondere die Hirten und Theologen aufzufordern, die Überlegungen über das Wirken des Geistes in der Heilsgeschichte zu vertiefen und sich darum zu bemühen, daß die Texte der christlichen Frömmigkeit sein lebenspendendes Wirken ins rechte Licht rücken. Aus einer solchen theologischen Vertiefung wird vor allem die geheimnisvolle Beziehung zwischen dem Geiste Gottes und der Jungfrau von Nazaret und ihrer beider Einwirkung auf die Kirche deutlich hervortreten; und aus den tiefer meditierten Glaubensinhalten wird eine intensiver gelebte Frömmigkeit erwachsen.


28 Es ist sodann notwendig, daß die Andachtsübungen, mit denen die Gläubigen ihre Verehrung zur Mutter des Herrn bekunden, deutlich die Stellung zum Ausdruck bringen, die ihr in der Kirche zukommt, „die nach Christus den höchsten Platz einnimmt und doch uns besonders nahe ist” (85); ein Platz, der in den Kulträumen des byzantinischen Ritus in der architektonischen Gliederung und in der Verteilung der ikonographischen Elemente plastisch dargestellt wird – in der Mitteltür der Ikonostase das Bild von der Verkündigung Mariens, in der Apsis das der glorreichen ”Theotocos” –, so daß daraus klar ersichtlich wird, wie mit dem „Fiat“ der demütigen Magd des Herrn die Menschheit die Rückkehr zu Gott beginnt und in der Herrlichkeit derHeiligsten Jungfrau das Ziel ihres Weges erblickt. Der Symbolismus, mit dem diese Gotteshäuser den Platz Mariens im Mysterium der Kirche ausdrücken, enthält einen fruchtbaren Hinweis und stellt ein günstiges Zeichen dafür dar, daß die verschiedenen Formen der marianischen Frömmigkeit sich auf kirchliche Perspektiven hin öffnen.

Tatsächlich wird es der Hinweis auf die Grundbegriffe, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil hinsichtlich der Natur der Kirche angeführt worden sind, Familie Gottes, Volk Gottes, Reich Gottes, Corpus Christi mysticum, (86) den Gläubigen ermöglichen, die Sendung Mariens im Geheimnis der Kirche und ihren hervorragenden Platz in der Gemeinschaft der Heiligen leichter zu erkennen; intensiver das brüderliche Band zu erfahren, das alle Gläubigen verbindet, weil sie Kinder der Jungfrau sind, „bei deren Geburt und Erziehung sie in mütterlicher Liebe mitwirkt” (87), wie auch Kinder der Kirche, da „wir aus ihrem Schoß geboren, mit ihrer Milch genährt und deren Geist belebt werden” (88). Denn beide wirken bei der Zeugung des geheimnisvollen Leibes Christi zusammen: „Beide sind Christi Mutter, aber keine von beiden gebiert ohne die andere den ganzen (Leib)” (89). Schließlich werden sie klarer erfassen, daß das Wirken der Kirche in der Welt gleichsam eine Weiterführung der Sorge Mariens ist: denn die tätige Liebe der Jungfrau in Nazaret, im Hause der Elisabet, in Kana, auf Golgota – alles Heilsmomente von weitreichender kirchlicher Bedeutung – findet ihre Fortsetzung in dem sehnlichen mütterlichen Wunsch der Kirche, daß alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (vgl.
1Tm 2,4); in ihrer Sorge für die Kleinen, die Armen und Schwachen; in ihrem ständigen Einsatz für den Frieden und die soziale Gerechtigkeit; in ihrem Bemühen darum, daß alle Menschen des Heiles teilhaftig werden, das ihnen durch den Tod Christi erworben worden ist. Auf diese Weise wird sich die Liebe zur Kirche auf die Liebe zu Maria übertragen und umgekehrt; denn die eine kann nicht ohne die andere bestehen, wie es der heilige Kromatius von Aquileia scharfsinnig bemerkt: „Die Kirche ist im Obergemach versammelt mit Maria, die die Mutter Jesu war, und mit seinen Brüdern. Man könnte sie deshalb nicht Kirche nennen, wenn nicht Maria die Mutter des Herrn mit seinen Brüdern dort gewesen wäre” (90). Abschließend unterstreichen Wir erneut die Notwendigkeit, daß die Verehrung, die der Seligen Jungfrau erwiesen wird, ihren inneren kirchlichen Gehalt deutlich zum Ausdruck bringt; das will besagen, sich einer Kraft zu bedienen, die fähig ist, Formen und Texte auf ersprießliche Weise zu erneuern.

B. Vier Gesichtspunkte der Marienverehrung: Biblischer, liturgischer, ökumenischer und anthropologischer Aspekt


29 Den voraufgehenden Ausführungen, die sich aus der Betrachtung der Beziehungen der Jungfrau Maria mit Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist – und mit der Kirche ergeben, wollen Wir, indem Wir auf der Linie der konziliaren Unterweisung fortfahren, (91) noch einige Orientierungspunkte biblischer, liturgischer ökumenischer und anthropologischer Natur – hinzufügen, die zu beachten sind, um bei der Überprüfung oder Neuschöpfung von Andachtsformen das Band, das uns mit der Mutter Christi und unserer Mutter in der Gemeinschaft der Heiligen verbindet, lebendiger und bewußter zu gestalten.


30 Die Notwendigkeit einer biblischen Ausrichtung in jeder Form des Kultus wird heute als eine allgemeine Forderung der christlichen Frömmigkeit empfunden. Der Fortschritt in den biblischen Studien, die wachsende Verbreitung der Heiligen Schriften und vor allem das Beispiel der Tradition und die innere Führung des Geistes veranlassen die Christen unserer Zeit dazu, immer mehr die Bibel als das für das Gebet grundlegende Buch zu benutzen und aus ihr echte Anregungen und unübertreffliche Modelle zu entnehmen. Der Marienkult kann sich dieser allgemeinen Ausrichtung der christlichen Frömmigkeit nicht entziehen, (92) vielmehr muß gerade er sich im besonderen dadurch inspirieren lassen, um neue Kraft und sicheren Nutzen daraus zu gewinnen. Die Bibel ist, indem sie auf wunderbare Weise den Heilsplan Gottes für die Menschen darstellt, als Ganzes vom Mysterium des Erlösers durchdrungen und enthält auch, von der Genesis bis zur Apokalypse, unzweifelbare Hinweise auf die, die die Mutter und Gefährtin des Erlösers war. Wir möchten jedoch nicht, daß die biblische Ausrichtung sich nur auf einen eifrigen Gebrauch von Texten und Symbolen beschränkt, die mit Umsicht aus den Heiligen Schriften genommen werden. Sie besagt mehr; sie verlangt, daß die Gebetsformeln und die für den Gesang bestimmten Texte aus der Bibel Begriffe und Anregungen schöpfen. Gefordert ist vor allem, daß der Marienkult von den großen Themen der christlichen Botschaft geprägt wird, damit die Gläubigen, während sie den Sitz der Weisheit verehren, selbst vom Licht des göttlichen Wortes erleuchtet und dazu geführt werden, nach den Anweisungen der menschgewordenen Weisheit zu handeln.


31 Von der Verehrung, die die Kirche der Gottesmutter in der Feier der Liturgie erweist, haben Wir bereits gesprochen. Doch können Wir jetzt, da Wir die anderen Formen des Kultes und die Kriterien erörtern, nach denen sich diese zu richten haben, es nicht unterlassen, an die Norm der Konstitution „Sacrosanctum Concilium“ zu erinnern, die, während sie die Andachtsübungen des christlichen Volkes nachdrücklich empfiehlt, hinzufügt: „Diese Übungen... sollen indes die liturgische Zeit gebührend berücksichtigen und so geordnet sein, daß sie mit der heiligen Liturgie zusammenstimmen, gewissermaßen aus ihr herausfließen und das Volk zu ihr hinführen; denn sie steht von Natur aus weit über ihnen“ (93). Eine kluge und klare Norm, deren Durchführung sich jedoch nicht als leicht erweist, besonders im Bereich des Marienkultus, der in seinen Ausdrucksformen so verschieden ist. Sie verlangt in der Tat von seiten der Verantwortlichen der örtlichen Gemeinschaften Einsatz, pastorales Einfühlungsvermögen und Beharrlichkeit; von seiten der Gläubigen die Bereitschaft, die Anweisungen und Vorschläge anzunehmen, die, da sie sich aus der wahren Natur des christlichen Kultes herleiten, mitunter die Änderung veralteter Bräuche mit sich bringt, in denen jene Natur in gewisser Weise verdunkelt worden ist.

Wir möchten diesbezüglich auf zwei Verhaltensweisen aufmerksam machen, die die Norm des Zweiten Vatikanischen Konzils in der pastoralen Praxis ihrer Wirkung berauben. So vor allem das Verhalten einiger, die in der Seelsorge tätig sind, die die Andachtsübungen von vornherein ablehnen, selbst jene, welche in den gebührenden Formen vom Lehramt empfohlen werden, sie unterlassen und dadurch eine Leere schaffen, die sie ihrerseits nicht auszufüllen suchen. Diese vergessen, daß das Konzil davon spricht, daß die Andachtsübungen mit der Liturgie in Einklang zu bringen und nicht abzuschaffen sind.

An zweiter Stelle steht das Verhalten derer, die unabhängig von einem gesunden liturgischen und pastoralen Kriterium Andachtsübungen und liturgische Handlungen miteinander vermischen oder zu ungeordneten Feiern vereinigen. Dies geschieht, wenn in dieselbe Feier des eucharistischen Opfers Elemente von Novenen oder anderen Andachtsübungen eingefügt werden, womit die Gefahr verbunden ist, daß das Gedächtnis des Herrn selbst nicht den Höhepunkt der Versammlung der christlichen Gemeinde bildet, sondern fast nur eine Gelegenheit für irgendeine Andachtsform. Jene, die so handeln, möchten Wir daran erinnern, daß die Norm des Konzils vorschreibt, daß die Andachtsübungen mit der Liturgie in Einklang gebracht werden und nicht mit ihr vermischt werden sollen. Eine kluge Pastoral muß einerseits die den liturgischen Handlungen eigene Natur unterscheiden und hervorheben, andererseits muß sie den Andachtsübungen den ihnen gebührenden Wert beimessen, um sie den Erfordernissen der einzelnen kirchlichen Gemeinschaften anzupassen und sie zu wertvollen Hilfen für die Liturgie zu machen.


32 Wegen seines kirchlichen Charakters spiegeln sich im Marienkult die Sorgen und Anliegen der Kirche selbst, unter denen in unseren Tagen der sehnliche Wunsch nach der Wiederherstellung der Einheit der Christen besonders hervorragt. Die Ausdrucksformen der Verehrung der Mutter des Herrn werden somit offen für die Nöte und Ziele der ökumenischen Bewegung, das heißt, sie erhält selbst eine ökumenische Prägung, Und dies aus verschiedenen Gründen.

Vor allem, weil sich die katholischen Gläubigen mit den Brüdern der orthodoxen Kirchen vereinen, in denen die Verehrung der Seligen Jungfrau Ausdrucksformen hoher Poesie und tiefgründiger Lehre besitzt, indem sie mit besonderer Liebe die glorreiche Gottesmutter (Theotocos) verehren und sie als ”Hoffnung der Christen” (94) anrufen. Sie verbinden sich mit den Anglikanern, deren klassische Theologen schon die solide biblische Grundlage des Kultes der Mutter unseres Herrn aufgezeigt haben und deren zeitgenössische Theologen zum großen Teil die Bedeutung der Stellung hervorheben, die Maria im christlichen Leben einnimmt. Ferner verbinden sie sich auch mit den Brüdern der reformierten Kirchen, in denen die Liebe zu den Heiligen Schriften besonders lebendig ist, wenn sie Gott mit denselben Worten der Jungfrau (vgl.
Lc 1,46 – 55) verherrlichen. Sodann, weil die Andacht zur Mutter Christi und der Christen eine selbstverständliche und häufige Gelegenheit bietet, sie darum zu bitten, daß sie bei ihrem Sohne für die Einheit aller Getauften in einem einzigen Gottesvolk fürbittend eintritt. (95) Ferner auch deshalb, weil es der Wille der katholischen Kirche ist, daß in diesem Kult, ohne daß sein besonderer Charakter abgeschwächt wird, (96) mit aller Sorgfalt jegliche Übertreibung vermieden wird, die die anderen christlichen Brüder hinsichtlich der wahren Lehre der katholischen Kirche in Irrtum führen könnte, (97) und jede kultische Ausdrucksform unterbunden wird, die zur richtigen katholischen Praxis in Gegensatz steht. Da es dem echten Kult der Seligen Jungfrau wesentlich eigen ist, daß „in der Verehrung der Mutter der Sohn... richtig erkannt, geliebt, verherrlicht wird” (98), wird er schließlich ein Weg zu Christus, der Quelle und dem Mittelpunkt der kirchlichen Gemeinschaft, in der alle, die aufrichtig bekennen, daß er Gott und Herr, Erlöser und einziger Mittler ist (vgl. 1Tm 2,5), berufen sind, untereinander mit ihm und dem Vater in der Einheit des Heiligen Geistes eins zu sein. (99)


33 Wir sind Uns dessen bewußt, daß es zwischen den Vorstellungen „über die Aufgabe Mariens im Heilswerk! (100) und somit dem ihr zu erweisenden Kult bei vielen Brüdern anderer Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und der katholischen Lehre nicht geringe Unterschiede gibt. Da jedoch dieselbe Macht des Allerhöchsten, der die Jungfrau von Nazaret überschattete (vgl. Lk l, 85), auch in der heutigen ökumenischen Bewegung wirkt und sie befruchtet, möchten Wir Unserem Vertrauen Ausdruck geben, daß die Verehrung der demütigen Magd des Herrn, an der der Allmächtige Großes getan hat (vgl. Lk Lc 1,49), nicht ein Hindernis, sondern, wenn auch nur langsam, Weg und Punkt der Begegnung für die Einheit aller Christgläubigen wird. Wir freuen Uns, feststellen zu können, daß ein besseres Verständnis der Stellung Mariens im Geheimnis Christi und der Kirche, auch von seiten der getrennten Brüder, den Weg zu einer Begegnung weiter geebnet hat. Wie die Jungfrau in Kana durch ihre Vermittlung erreichte, daß Jesus das erste seiner Wunder wirkte (vgl. Joh Jn 2,1 – 12), so wird sie in unserer Epoche durch ihre Fürsprache das Herannahen jener Stunde begünstigen, in der die Jünger Christi die volle Gemeinschaft im Glauben wiederfinden werden. Diese unsere Hoffnung wird durch eine Bemerkung Unseres Vorgängers Leos XIII. bestärkt: Das Anliegen der Einheit der Christen „gehört eigentlich zu ihrer (Mariens) geistig mütterlichen Aufgabe. Denn die Christus angehören, hat Maria nicht geboren und nicht gebären können, es sei denn in dem einen Glauben und der einen Liebe: ist ,Christus etwa geteilt?’ (1Co 1,13); wir müssen also alle zusammen das eine Leben Christi leben, um in ein und demselben Leibe ,vor Gott Frucht zu bringen’ (Rm 7,4)“101.


34 Im Marienkult muß man auch den sicheren und bewiesenen Ergebnissen der Humanwissenschaften aufmerksame Beachtung schenken. Dies wird nämlich mit dazu beitragen, einen der Gründe für das Unbehagen zu beseitigen, das man im Bereich des Kultes der Mutter des Herrn antrifft: der Unterschied zwischen einigen seiner Inhalte und den heutigen anthropologischen Anschauungen sowie der tiefgreifend veränderten psychologisch-sozialen Wirklichkeit, in der die Menschen unserer Zeit leben und wirken. Man stellt fest, daß es wirklich schwierig ist, das Bild von der Jungfrau, wie es in einer bestimmten Andachtsliturgie zu finden ist, in die Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft und insbesondere die der Frau einzuordnen; sei es im häuslichen Bereich, wo die Gesetze und die Entwicklung der Sitten berechtigterweise darauf hinwirken, der Frau in der Leitung des Familienlebens die Gleichheit der Mitverantwortung mit dem Mann zuzuerkennen; sei es auf dem Gebiet der Politik, wo sie in vielen Ländern in den öffentlichen Angelegenheiten die Möglichkeit zur Mitarbeit erworben hat, die der des Mannes gleichkommt; sei es im sozialen Bereich, in dem sie in den verschiedenartigsten Betätigungsfeldern ihre Aktivität ausübt und von Tag zu Tag mehr die begrenzte häusliche Umgebung verläßt; sei es auf dem Gebiet der Kultur, wo ihr neue Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Forschung und intellektuellen Leistung offenstehen.

Daraus ergeben sich bei einigen eine gewisse gefühlsmäßige Entfremdung dem Marienkult gegenüber und bestimmte Schwierigkeiten, sich Maria von Nazaret zum Vorbild zu nehmen, weil – wie man behauptet – sich der Horizont ihres Lebens im Gegensatz zu dem weiten Betätigungsbereich, in dem der heutige Mensch zu wirken berufen ist, als zu begrenzt erweist. Im Hinblick darauf scheint es Uns nützlich zu sein, daß auch Wir, während Wir die Theologen, die Verantwortlichen der christlichen Gemeinschaften und die Gläubigen selbst ermahnen, diesen Problemen die gebührende Aufmerksamkeit zuzuwenden, einen Beitrag für deren Lösung geben, indem Wir einige Erwägungen darüber anstellen.


35 Die Jungfrau Maria ist von der Kirche den Gläubigen nicht wegen der Art des Lebens, das sie geführt hat, zur Nachahmung empfohlen worden und noch weniger wegen der soziologisch-kulturellen Umgebung, in der es sich zugetragen hat und die heute fast überall überholt ist, sondern vielmehr stets deswegen, weil sie in ihren konkreten Lebensbedingungen vorbehaltlos und verantwortungsbewußt dem Willen Gottes Folge geleistet hat (vgl. Lk Lc 1,88); weil sie von ihm das Wort entgegennahm und in die Praxis umsetzte; weil ihr Handeln von der Liebe und der Bereitschaft zum Dienen beseelt war; weil sie die erste und vollkommenste Jüngerin Christi gewesen ist, was einen universalen und bleibenden vorbildlichen Wert besitzt.


36 An zweiter Stelle möchten Wir bemerken, daß die obengenannten Schwierigkeiten in engem Zusammenhang stehen mit einigen Zügen des volkstümlichen und literarischen Bildes Mariens, nicht aber mit ihrer biblischen Gestalt noch mit den Lehraussagen, die in dem allmählich und gewissenhaft erfolgten Auslegungsprozeß des geoffenbarten Wortes näher bestimmt worden sind. Man muß es vielmehr als normal ansehen, daß die christlichen Generationen, die einander in verschiedenen soziologisch-kulturellen Zeitverhältnissen gefolgt sind, bei der Betrachtung der Gestalt und der Sendung Mariens – als neue Frau und vollkommene Christin, die als Jungfrau, Braut und Mutter die charakteristischsten Lebenssituationen einer Frau in sich vereint – die Mutter Jesu als den hervorragenden Typus für die Situation der Frau und als erhabenes Vorbild des evangelischen Lebens angesehen haben und diesen ihren Überzeugungen gemäß den Kategorien und Vorstellungen ihrer Zeit Ausdruck gegeben haben. Die Kirche freut sich, wenn sie die lange Geschichte der marianischen Frömmigkeit betrachtet, die Kontinuität des Kultes festzustellen, doch bindet sie sich nicht an die Darstellungsschemen der verschiedenen kulturellen Epochen noch an die besonderen anthropologischen Anschauungen, die sie begleiten, und versteht, wie manche Ausdrucksformen des Kultes, die in sich durchaus gültig sind, für Menschen, die verschiedenen Epochen und Zivilisationen angehören, weniger geeignet sind.


37 Wir möchten schließlich noch hervorheben, daß unsere Epoche, nicht anders als die vorausgehende, aufgerufen ist, die eigene Erkenntnis der Wirklichkeit anhand des Wortes Gottes zu überprüfen und, um Uns auf den hier behandelten Gegenstand zu beschränken, ihre anthropologischen Anschauungen und Probleme, die sich daraus ergeben, mit der Gestalt der Heiligen Jungfrau zu konfrontieren, wie sie uns das Evangelium vorstellt. Das Lesen der göttlichen Schriften, das vom Geist geleitet ist und so geschieht, daß man sich dabei die Ergebnisse der Humanwissenschaften und die verschiedenen Situationen der heutigen Welt vor Augen hält, wird entdecken helfen, wie Maria als Spiegel der Erwartungen der Menschen unserer Zeit angesehen werden kann. So wird, um ein Beispiel anzuführen, die heutige Frau, die danach strebt, mit Entscheidungsvollmacht an den zu treffenden Wahlen der Gemeinschaft teilzunehmen, mit inniger Freude Maria betrachten, die, da sie in den Dialog mit Gott aufgenommen wird, ihre aktive und verantwortungsbewußte Zustimmung gibt, (102) nicht zur Lösung eines zufälligen Problems, sondern zum ”saeculorum negotium” (Ereignis der Jahrhunderte), wie die Inkarnation des Wortes zurecht genannt worden ist. (103) Sie wird erkennen, daß die Wahl des jungfräulichen Standes von seiten Mariens, der sie im Plan Gottes auf das Geheimnis der Menschwerdung vorbereitete, kein Sich-Verschließen gegenüber irgendwelchen Werten des Ehestandes bedeutete, sondern eine mutige Entscheidung war, die getroffen wurde, um sich vorbehaltlos der Liebe Gottes zu überantworten; sie wird mit freudiger Überraschung feststellen, daß Maria von Nazaret, obwohl sie sich vollkommen dem Willen des Herrn überließ, alles andere war als eine passiv unterwürfige oder von einer befremdenden Religiösität geprägte Frau, sondern eine Frau, die nicht zögerte zu verkünden, daß Gott der Rächer der Niedrigen und Bedrückten ist und die Mächtigen dieser Welt von ihren Thronen stürzt (vgl. Lk Lc 1,51 – 58); sie wird an Maria, die „unter den Demütigen und Armen des Herrn hervorragte“ (104), eine starke Frau erkennen, die Armut und Leid, Flucht und Exil kannte (vgl. Mt Mt 2,13 – 23); Situationen, die der Aufmerksamkeit dessen nicht entgehen können, der die befreienden Kräfte des Menschen und der Gesellschaft im Geist des Evangeliums unterstützen möchte. Ihr wird Maria nicht als eine Mutter erscheinen, die sich eifersüchtig über ihren göttlichen Sohn beugt, sondern als Frau, die durch ihr Handeln den Glauben der apostolischen Gemeinde in Christus förderte (vgl. Joh Jn 2,1 – 12) und deren mütterliche Sendung sich weitete und auf dem Kalvarienberg universale Dimensionen annahm. (105) Dies sind einige Beispiele. An ihnen zeigt sich jedoch deutlich, daß die Gestalt der Jungfrau keine der tiefen Erwartungen der Menschen unserer Zeit enttäuscht und ihnen das vollendete Vorbild des Jüngers des Herrn darstellt: Erbauer zu sein der irdischen und zeitlichen Stadt, jedoch als eifriger Pilger auf dem Weg zu jener himmlischen und ewigen; Förderer der Gerechtigkeit, die den Unterdrückten befreit; und der Liebe, die dem Bedürftigen beisteht; vor allem aber tatkräftiger Zeuge der Liebe, die Christus in den Herzen auferbaut.


38 Nachdem Wir diese Hinweise gegeben haben, die darauf abzielen, die harmonische Entwicklung des Kultes der Mutter des Herrn zu fördern, halten Wir es für nützlich, die Aufmerksamkeit auf einige irrige kultische Ausdrucksformen zu lenken. Das Zweite Vatikanische Konzil hat bereits die Übertreibung im Inhalt oder in der Form, die zu einer Verfälschung der Lehre führen, als auch jene Engherzigkeit des Geistes, die die Gestalt und die Sendung Mariens verdunkelt, autoritativ aufgezeigt. Sodann auch einige kultische Abweichungen: so die eitle Leichtgläubigkeit, die das ernsthafte Bemühen durch ein leichtfertiges Vertrauen auf rein äußerliche Praktiken ersetzt; die unnützen und flüchtigen Gefühlsbewegungen, die dem Charakter des Evangeliums so fremd sind, das beharrliche und tätige Werke verlangt. (106) Wir beklagen dies erneut: sie stehen nicht im Einklang mit dem katholischen Glauben und dürfen deshalb auch nicht im katholischen Kult fortbestehen. Der wachsame Schutz vor diesen Irrtümern und Fehlentwicklungen wird den Marienkult kraftvoller und echter machen: fest in seinem Fundament, weshalb in ihm das Studium der Offenbarungsquellen und die Beobachtung der Dokumente des Lehramtes vor einer übertriebenen Suche nach Neuem oder nach außergewöhnlichen Ereignissen den Vorrang haben; objektiv in seiner geschichtlichen Einordnung, weshalb alles, was offenkundig legendär oder falsch ist, ausgeschieden werden muß; dem Inhalt der Lehre entsprechend, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, einseitige Darstellungen der Gestalt Mariens zu vermeiden, die, weil sie über die Maßen ein bestimmtes Element betonen, die Gesamtheit des biblischen Bildes gefährden; klar in seinen Motivierungen, weshalb mit aller Sorgfalt vom Heiligtum jedes nichtige Interesse ferngehalten werden muß.


39 Schließlich wollen Wir, falls es noch nötig ist, betonen, daß das letzte Ziel des Kultes der Seligen Jungfrau darin besteht, Gott zu verherrlichen und die Christen zu einem Leben anzuhalten, das seinem Willen völlig entspricht. Wenn nämlich die Söhne der Kirche ihre Stimme mit der Stimme jener unbekannten Frau im Evangelium vereinen und mit ihr die Mutter Jesu preisen, indem sie auf Jesus selbst gewandt ausrufen: „Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brust, die dich genährt hat!” (Lc 11,27), werden sie dazu geführt, die bedeutungsvolle Antwort des göttlichen Meisters zu betrachten: „Ja, selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen!” (Lc 11,28). Diese Antwort bedeutet für uns, wenn sie auch in sich, wie sie einige Kirchenväter verstehen107 und es auch das Zweite Vatikanische Konzil bekräftigt hat,108 ein hohes Lob der Heiligen Jungfrau darstellt, zugleich eine Ermahnung, nach den Geboten Gottes zu leben, und ist gleichsam ein Widerhall anderer mahnender Worte desselben göttlichen Erlösers: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr!, wird in das Himmelreich eingehen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist” (Mt 7,21), und „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr das tut, was ich euch gebiete” (Jb 15,14).

III. HINWEISE AUF ZWEI RELIGIÖSE ÜBUNGEN:


DEN "ENGEL DES HERRN" UND DAS ROSENKRANZGEBET



40 Wir haben einige Grundsätze angeführt, die geeignet sind, dem Kult der Mutter des Herrn neue Lebenskraft zu geben. Es ist nun die Aufgabe der Bischofskonferenzen, der Verantwortlichen der örtlichen Gemeinschaften und der verschiedenen religiösen Familien, die bisher gebräuchlichen Formen und Andachtsübungen zur Verehrung der Seligen Jungfrau mit Umsicht zu erneuern und die schöpferischen Initiativen derjenigen zu fördern, die aufgrund echter religiöser Inspiration oder aus pastoralem Empfinden heraus neue Formen ins Leben zu rufen wünschen. Dennoch scheint es Uns, wenn auch aus verschiedenen Gründen, angebracht zu sein, daß Wir noch zwei im Abendland sehr verbreitete Andachtsübungen erörtern, mit denen sich dieser Apostolische Stuhl schon zu verschiedenen Anlässen befaßt hat: den Engel des Herrnund den Rosenkranz der seligen Jungfrau Maria.


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